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Kosovo

 

April 1999:

 

Der Soldat Drako erschießt sechs Menschen. 

 

Hamburg

 

Januar 2006:

 

Der Hacker Christian Markgraf stürzt von einem Balkon im vierten Stock in den Tod. Ein Unfall, so scheint es, werden ihm doch 2,8 Promille Alkohol im Blut nachgewiesen.

Jedoch hat eine Zeugin eine zweite Person auf dem Balkon beobachtet, unmittelbar bevor Markgraf fiel.

Hauptkommissar Remmer nimmt die Ermittlungen auf.

 

August 2009:

 

Die junge Journalistin Judith wird in eine Kunstausstellung ihres Vaters, des bedeutenden Reeders und Kunstmäzens Wolfgang von Erlen, gelockt und als Geisel genommen. Ihr Entführer droht sie zu töten, sollte nicht innerhalb von 24 Stunden ein beträchtliches Lösegeld gezahlt worden sein. Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, wird er zu jeder vollen Stunde eines der Kunstwerke im Museum zerstören. Er gibt außerdem vor, aus Rache zu handeln, behauptet von Erlen sei schuld am Tod seiner Frau durch einen terroristischen Anschlag vor sieben Jahren. Als Beweis führt er ein Foto auf, das von Erlen zusammen mit einem Mann zeigt, dessen abruptes Erscheinen internationale Geheimdienste auf den Plan ruft. Da tritt, kaum ist die Geiselnahme beendet, der geheimnisvolle Becker in Judiths Leben. Welche Rolle spielt er in einem Spiel, dessen wahre Bedeutung und Ausmaße niemand abzuschätzen vermag?

 

Nicht nur Judith, auch Kriminalrat Remmer, geraten zusehends tiefer in einen Sumpf aus Misstrauen und alten Geheimnissen. Die Wahrheit scheint eine wandelbare Größe und bald ist nicht mehr sicher, wer gut und wer böse, wer Opfer und wer Täter ist

Prolog

Vergangenheit

      

 

Als die Front seines Verfolgers fast sein Heck touchierte, grinste er und trat das Gaspedal voll durch. Der Motor heulte auf; er liebte dieses Geräusch. Er liebte dieses Auto.

   Ben Stein liebte diesen Tag.

Die Sonne strahlte von einem makellos blauen Himmel herunter, durch die offenen Fenster strömte Meeresluft. Als er zur Seite sah, überblickte er die unendliche Weite des azurblauen Meeres. Die andere Seite hielt den Anblick einer wunderschönen Frau bereit.

Seiner Freundin. Er konnte es immer noch kaum fassen.

Der leicht beunruhigte Ausdruck in ihren Augen machte sie womöglich noch hübscher, sofern das überhaupt möglich war. Er musste unwillkürlich lächeln.

Er schnitt die nächste Kurve, was der Lenkung ihr Möglichstes abverlangte. Ein Laut der Verzückung brach sich Bahn, dass sein Verfolger so zum Abbremsen gezwungen war.

„Pass auf!“, rief seine Schwester vom Rücksitz.

Dieser Kerl war schon ein Spaßvogel.

Es war ein Spaß. Ein riesengroßer, wunderbarer, erfrischender Spaß.

Der Mann kam links heran, setzte sich neben sie. Nun konnte er sein Gesicht erstmals wirklich sehen. Kein flüchtiger Schemen, kein Schattenriss. Er sah das breite Grinsen und die weit aufgerissenen und –

Das, was er in den Augen sah, war kein Triumphieren, keine Freude, nein, es war Angst.

Ben stutzte.

Es war auch kein Grinsen auf den Lippen des Mannes, es war ein Schrei. Wollte er ihnen etwas mitteilen?

Ein Schrei, diesmal von der anderen Seite.

Ein harter Schlag vor die Motorhaube, er sah das Entsetzen in den Augen seiner Freundin.

„Ein Schlagloch.“, beruhigte er sie. Aber er fühlte sich seltsam. Er spürte nicht die Unebenheiten der Straße, im Gegenteil: Es war als flögen sie.

Ja, als flögen sie geradewegs auf das Meer zu, schwebten sanft. Der Blick war atemberaubend. Rundherum blaue Ebene, wo er auch hinsah. Er wollte darauf hinweisen, als ihm auffiel, dass sie sanken. Langsam zunächst, dann immer schneller.

Der Aufschlag. Sich drehende Bilder.

Noch ein Aufschlag.

Und noch einer. Und wieder. Der Boden bebte. Er sah, wie der Wagen ansetzte zu einer neuen Drehung, eine elegante Schraube vollführte und wieder aufschlug. Gleich einer Endlosschleife. Schon wieder.

Nun taumelte er, gleich einem getroffenen Tier, schien sich nicht für eine Seite entscheiden zu können. Schließlich kippte er doch und landete auf dem Dach. Stille.

Stille. Nur das Wellenrauschen weiter unten war zu hören.

Er setzte sich auf und schaute sich um. Überall Steine. Ausgedorrte Sträucher. Dort lag der Wagen, wie ein Insekt auf dem Rücken.

Dann fiel ihm auf, dass er nicht in dem Wagen saß.

Er stand auf, grauenhafter Schmerz schoss durch sein rechtes Bein. Er  taumelte auf das Auto zu. Totalschaden. Ob man den wieder hinkriegen könnte. Der silberne Mustang blitzte ihn vom Kühler her an. Er humpelte um die weit überhängende Haube herum.

Sein Mund war trocken. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Er flüsterte ihre Namen.

Er wiederholte sie. Er versuchte, nicht zu denken.

Er schrie ihre Namen. Brüllte sie in die umgebende Landschaft. Sinnlos, Hirnlos, Ungehört.

Nur nicht Denken. Nicht Denken.

Er sah ihre Gesichter.

Nicht denken.

Er sah die Augen.

Sie blickten ihn an.

 

Der Fall des Christian Markgraf

Mittwochmorgen, 3. Januar 2007

 

Langer Jammer. Hamburg – Veddel.

 

 

„Und sie behauptet, dass es kein Selbstmord war?“, fragte er.

Eine türkische Hausfrau hatte ihn gegen sechs Uhr am Morgen gefunden, die Gliedmaßen in irrwitziger Konstellation von sich gestreckt und verwinkelt. Es hatte etwas makaber kubistisches, wie er da lag, bäuchlings auf dem Bürgersteig, die Erde mit allen Extremitäten umarmte. Um ihn herum bildete sein Blut eine annähernd kreisrunde Lache, die im Versuch, in den Fugen der Pflastersteine zu versickern, geronnen und erstarrt war. Sein Gesicht sah man nicht und man wollte es nicht sehen. Seine Brille lag  ein Stück entfernt von ihm, sie war erstaunlicherweise unversehrt.

Christian Markgraf war tot.

So tot, dass dieselbe türkische Hausfrau nach ihrer Entdeckung schreiend in die Wohnung ihrer Familie gerannt war, so schnell sie ihre Beine trugen. Es hatte Minuten gedauert, bis ihre schlagartig erwachte Familie die Botschaft aus ihr heraus getröstet hatte: Ein Mensch liege unten auf der Straße, ganz zermatscht, sagte sie. Ganz zermatscht.

Eine weitere Viertelstunde verstrich, während der man sich allgemein soweit beruhigte und sich von der Wahrhaftigkeit ihrer Schilderung überzeugte, indem man das absonderliche Stück Mensch einer genaueren Begutachtung unterzog.

Dann rief man die Polizei.

Diese fand, als sie eintraf, eine weitestgehend traumatisierte Familie vor, der alle paar Sekunden kollektiv der Mageninhalt hochzukommen drohte und nicht immer beließ er es bei dieser Drohung.

Etwa eine Stunde später nun stellte Hauptkommissar Remmer von der Mordkommission jene Frage und erhielt keine Antwort.

„Sie behauptet, dass es kein Selbstmord war?“, wiederholte er und blies eine Atemwolke in die eiskalte Luft.

„Sie hat ihn vom Balkon stürzen sehen. Und sie ist sich sicher, dass noch jemand dort war.“, antwortete jetzt der Streifenpolizist.

„Auf dem Balkon?“

„Ja. Und in der Wohnung. Sie sagt, dass sich in der Wohnung ein Schatten bewegt hat, nachdem Markgraf stürzte. Soweit wir es verstanden haben.“

Remmer schüttelte den Kopf. „Wenn sie doch alles gesehen hat, um vier Uhr, wie Sie sagen, warum hat sie dann nicht die Polizei gerufen? Hat Sie das gesagt?“

„Sie hat uns gesagt, sie hätte es versucht. Es sei niemand rangegangen.“

Remmer zog die Augenbrauen in die Höhe. „Das ist hoffentlich Blödsinn.“

Der Uniformierte seufzte. „Selbstverständlich ist das Blödsinn. Vollkommener Blödsinn. Aber kommen Sie doch einfach mit, ich werde Ihnen die Dame vorstellen. Merck erwartet sie oben.“

Remmer folgte ihm auf die andere Straßenseite und durch ein Treppenhaus, dem ein Odeur von Pisse und Schweiß anhaftete, nach oben.

„Sie sollten vielleicht wissen, dass wir ihre frühe Zeugenaussage einem lächerlichen Zufall verdanken.“, meinte der Uniformierte. „Unsere Leute haben zunächst in verschieden Wohnungen geklingelt, da der Namen der Anruferin nicht sehr deutlich zu verstehen war – das bringt wohl die Veddel mit sich. Und dabei haben Sie auch die Dame angeklingelt. Sie hat sofort geredet, wenn man das so nennen kann.“

Zu einer Frage kam Remmer nicht mehr, denn im vierten Stock betraten sie eine Wohnung.

Ihn traf fast ein Temperaturschock, so warm war es hier. Sie war klein und vollgestopft mit Blumen. Blumen aus Plastik, Blumen auf Bildern, auf einem Kalender an der Wand.

Im größten, wenngleich nicht besonders großen, Zimmer stand ein zusammengewürfeltes Sortiment von Sesseln und einem hölzernen Couchtisch. Überall lagen dicke alte Teppich herum. Alles schien flauschig und weich und überladen.

Die Dame hieß Galina Czentovic, war etwa Mitte Dreißig, blond und üppig.

Remmer begrüßte Kriminaloberkommissar Jürgen Merck mit Handschlag und ließ sich auf den neben ihm stehenden Sessel sinken.

„Waren Sie schon drüben in der Wohnung des Opfers?“, fragte Merck.

„Nein. Ich bin gerade erst angekommen.“, erwiderte Remmer. „Ich hatte leider noch keine Zeit.“

„Auch gut. Ich glaube gerade ist sowieso die Spurensicherung drin, Sie können sich das Ganze dann nachher ansehen. Zunächst sollten wir uns um Frau Czentovic kümmern, sie ist noch ganz verwirrt.“ Merck sah sie bedauernd an.

Und in der Tat schien verwirrt eine schwache Beschreibung ihres Zustandes. Sie wirkte absolut aufgelöst, verängstigt und rutschte unentwegt nervös mit dem Hintern auf der Sitzfläche ihres Sessels hin und her. In ihren Augen lag ein gehetzter Ausdruck.

Remmer streckte ihr die Hand entgegen. „Freut mich.“, sagte er.

Aber sie blickte die Hand bloß an, als sei sie etwas ungemein Abstoßendes, vielleicht Hinterhältiges, ganz und gar Fieses.

Etwas irritiert zog er die Hand zurück und fuhr fort: „Meine Name ist Remmer. Ich habe gehört, dass Sie etwas beobachtet haben.“

„Isch nisch gutt spreschen Deutsch.“, nuschelte sie und Remmer begann zu verstehen.

„Sie kommt aus der Ukraine.“, sagte Merck. „Der Russisch-Übersetzer ist unterwegs. – Wir glauben, dass sie aus der Ostukraine ist. Da sprechen sie Russisch.“

Remmer sah ihn fragend an.

„Sie hat Angst vor uns.“, fuhr Merck fort. „Sie ist nur geduldet.“

Also das war es.

Sie hatte Angst vor der Abschiebung.

„Aber –“, sagte Remmer an Czentovic gewandt. „ – da brauchen Sie vor uns keine Angst zu haben.“

Der Uniformierte schüttelte den Kopf.

Das hilft rein gar nichts, das haben wir auch versucht ihr klarzumachen. Sie lässt sich davon nicht überzeugen. Ich schätze, das ist keine Kopfsache.“

Merck stimmte zu. „Polizei ist für sie gleich Polizei, es macht keinen Unterschied, ob Mordkommission oder sonst etwas. Sie hat den Kollegen aufgemacht, die hier geklingelt haben und sofort ist sie mit allem herausgeplatzt, was sie gesehen hat, weil sie davon ausging, dass sie nur aus dem Grund hier waren, sie zu verhören.

Die Kollegen haben zwar etwas gebraucht, um sie zu verstehen aber letztendlich ist dabei rausgekommen, dass sie meint eine zweite Person auf dem Balkon gesehen zu haben, bevor Markgraf in die Tiefe stürzte, aber das wissen Sie vermutlich schon?“

„Ja.“ Remmer. „Wer hat die die Kollegen überhaupt informiert?“

„Eine türkische Familie hat Meldung gemacht. Sie haben ihn auf der Straße gefunden. Sie haben sonst aber nichts gesehen oder bemerkt.“

„Sie waren wohl ziemlich geschockt?“

„Mmh.“

„Kannten sie ihn? Kannten Sie ihn?“, fragte er Czentovic.

Wieder antwortete der Uniformierte für sie. „Ich glaube hier kennt jeder jeden. Irgendwie vom Sehen. Aber andererseits hat wohl kaum jemand Markgraf so wirklich gekannt. Sie werden es verstehen, wenn Sie seine Wohnung gesehen haben.“

„Isch kenne nisch Markgraf.“, sagte Czentovic zitternd. „Isch habe nur gefallen sehn.“

Merck nickte freundlich. Dann nahm er den Faden wieder auf. „Wir haben noch keinen Verwandten von Markgraf ausfindig machen können. Es scheint, dass er ziemlich allein auf der Welt war.“

„Wie kommt es, dass so schnell klar war, dass er es ist?“, wollte Remmer wissen. „Hatte er Papiere bei sich?“

„Ja.“, erwiderte Merck. „Einen Personalausweis. Außerdem lag er direkt unter seinem Balkon.

Seine Balkontür stand sperrangelweit offen und seine Wohnungstür auch.“

„Seine Wohnungstür?“

Remmer horchte auf.

„Irgendwelche Spuren von Einbruch?“

„Wie gesagt: Die Spurensicherung ist noch drin. Ich kann jetzt noch nichts Genaues sagen. Schließlich ist auch Markgraf noch nicht untersucht worden.

Es kann ja ebenfalls sein, dass bei ihm Hinweise auf Fremdeinwirkung gefunden werden.“

Remmer dachte an Markgraf. Als er eingetroffen war, hatte er noch einen kurzen Blick unter die Plane auf die Überreste des Mannes werfen können, bevor diese in das gerichtsmedizinische Institut der Stadt gebracht worden waren. Trotzdem er in seinen mehr als dreißig Jahren im Polizeidienst das Grauen und die Satanie tagaus, tagein, sozusagen pro die, verabreicht bekommen hatte, ließ ihn kein Gräuel kalt.

Er war unempfindlicher geworden, ja, er musste sich nicht mehr übergeben, aber kalt ließ es ihn nicht. Auch wenn es sich hier zunächst nur um einen schrecklichen optischen Eindruck und keine psychologisch oder moralisch krude Tat handelte.

Noch nicht.

Es war ein grauenhafter Anblick gewesen.

Zwei weitere uniformierte Polizisten betraten den Raum. Der eine ging sofort wieder, der andere war mittleren Alters und hatte schwarzes Haar. Der Übersetzer.

Sie begrüßten sich. Merck stand auf, um ihm seinen Sessel anzubieten.

Der Mann, der sich als Polizeihauptmeister Juschenkow vorstellte, nahm dankend an.

Sie besprachen sich kurz, Juschenkow wurde mit den grundlegenden Fakten vertraut gemacht. Dann begann er mit einigen Remmer unverständlichen Worten. Die Frau war sichtbar erleichtert und redete sofort drauflos. Nach wenigen Sätzen wurde sie von dem Polizisten angehalten.

„Sie sagt, sie heiße Galina Czentovic und lebe in Hamburg.“, übersetzte er. „Sie lebe schon lange hier. Sie habe Arbeit und diese Wohnung. Sie hat eine Aufenthaltserlaubnis.“ Den letzten Satz machte er zur Frage und sah Remmer fragend an.

Remmer nickte. „Wann haben Sie den Sturz gesehen?“, fragte er.

Juschenkow gab die Frage weiter, hörte und antwortete. „Ungefähr um vier Uhr.“, sagte er.

Noch wusste Remmer nicht, ob sich das mit den Untersuchungen der Rechtsmedizin decken würde.

„Wie kamen Sie dazu? Die meisten Menschen sind um vier Uhr im Bett.“

„Es gibt auch Menschen, die arbeiten nachts.“, erwiderte Juschenkow kurze Zeit später, sein Gesicht war leicht verzogen. „Sie ist so gegen Vier von der Arbeit nach Hause gekommen. Ihr ist, als sie aus dem Fenster gesehen hat, aufgefallen, dass die Wohnung erleuchtet war. Da hat sie angefangen sie zu beobachten…“

Czentovic fügte einige Worte hinzu, während er noch sprach.

„Ohne Hintergedanken.“, sagte Juschenkow schnell. „Einfach nur so, hat sie die Wohnung beobachtet. Sie wusste natürlich nicht, dass etwas dieser Art geschehen würde...“

„Einen Moment.“, unterbrach Merck. „Bevor wir dazu kommen: Wo arbeitet sie denn? Kann jemand die Zeit bestätigen?“

Juschenkow fragte sie. Ihre Augen weiteten sich, sie begann erneut hin und her zu rutschen. Was sie mit unsicherer Stimme sagte, bedurfte keiner Übersetzung: „Pauli.“

Sankt Pauli. Reeperbahn.

Remmer hatte sich so etwas schon gedacht, auch wenn er eigentlich nie den Fehler machen wollte, Menschen nach Stereotypen abzuurteilen. Instinktiv hatte er es doch getan.

Aller Wahrscheinlichkeit nach war sie Prostituierte.

Er wollte sie nicht plagen. „Was genau haben Sie denn nun beobachtet?“, fragte er.

Sie schien dankbar.

„Sie hat beobachtet, wie Markgraf auf den Balkon hinausging...“

„Es war stockdüstere Nacht.“, bemerkte Remmer. „Wie konnten Sie ihn erkennen?“

Juschenkow und Czentovic wechselten einige Worte auf Russisch. „Sie hat eine Gestalt gesehen. Dass es Markgraf war, weiß sie von Ihnen.“

„In Ordnung. Weiter.“

„Sie hat also gesehen, wie er auf den Balkon trat, in der Hand einen Gegenstand, mit dem er fortwährend herum gewedelt hat. Das konnte sie alles, nehme ich an, als Schattenriss sehen, weil die Fenster und die Türöffnung dahinter erleuchtet waren.“ Er fragte sie etwas und sie nickte. „Ja. Genau so war es, sagt sie. Er hat sich sehr seltsam bewegt, ist von einem Ende des Balkons zu anderen gelaufen.“

Czentovic schien mit einem Mal tatsächlich sehr redselig. Juschenkow fuhr fort.

„Dann kam eine zweite Gestalt auf den Balkon. Sie sagt, sie habe sich ganz langsam heraus bewegt. Sie ist größer gewesen, und breiter. Aber die meiste Zeit hat Markgraf den größten Teil von ihr verdeckt.

Sie haben offenbar ein Gespräch geführt. Dann ist er heruntergefallen. Einfach so. Ganz plötzlich. Es ging ganz schnell.“ Er fragte sie wieder etwas und sie nickte abermals.

Remmer sah ihn erwartungsvoll an. „Und dann?“, drängte er.

Juschenkow sprach mit der mittlerweile entspannter wirkenden Frau. „Dann ist die zweite Gestalt wieder hinein gegangen und noch einige Minuten in der Wohnung herumgelaufen. Dann ging das Licht aus.“

„Was haben Sie dann getan?“, wollte Merck wissen.

„Sie hat dann noch eine lange Zeit still am Fenster gesessen.“, antwortete Juschenkow. „Sie hatte Angst.“, setzte er hinzu.

 

„Was halten sie davon?“, wollte Remmer kurz darauf unten auf der Straße von Merck wissen.

„Naja.“, erwiderte dieser. „Es hört sich schon etwas seltsam an. Ich denke, wenn es stimmt haben wir es hier mit Totschlag zu tun. Und dieser Zweite hat Markgraf vom Balkon gestoßen.“

„Nicht unbedingt. Kann es nicht ebenso ein Unfall gewesen, den die andere Person aus schlechtem Gewissen nicht melden wollte.“, gab Remmer zu bedenken. „So etwas kommt vor. Oder sie ist dazu gekommen, um den Suizid zu verhindern, was ihr nicht gelungen ist.“

Merck schüttelte den Kopf. „Der Unfall, okay. Aber wenn die zweite Person einen Selbstmord verhindern wollte, hätte sie nach dem Misserfolg sicherlich die Polizei, mindestens aber einen Krankenwagen gerufen. Außerdem hätte sie sich mit Sicherheit nicht ruhig und langsam bewegt, wie die Zeugin aussagt.“

„Ich weiß nicht.“, meinte Remmer. „Aber ich gebe zu, das zweite Szenario ist unwahrscheinlich. Apropos: Wie sieht es eigentlich mit Motiven für einen Selbstmord beziehungsweise Mord aus?“

 

Christian Markgrafs Wohnung war nicht viel größer als die der Zeugin Czentovic, aber sie war phänomenal anders eingerichtet.

Anstelle des vegetativen Kitsches herrschte hier kalter Pragmatismus bis hin zur Verwahrlosung. Es gab kein Bett, nur ein Lattenrost mit Matratze. Es gab keinen Tisch, es gab eine Platte auf zwei Böcken. Es gab keinerlei Wandschmuck und nur einen einheitlichen Teppichboden, alles war weiß oder grau, der Bettbezug blau. In einem Mülleimer mitten in dem, was wohl ein Wohn-Schlaf-Esszimmer sein sollte, stapelten sich leere Pizzakartons und Dönerverpackungen. Bis auf eine Art Spind an der Wand war hier weiter nichts. Nur die weißvermummten Spurensicherer, die alles unter die Lupe nahmen.

Die winzige Küche wirkte unbenutzt, Remmer sah den Eingang zu einem noch winzigeren Bad. Die Glastür zum Balkon stand noch offen, was die Raumtemperatur auf wenige Grade sinken ließ.

„Und hier soll jemand gelebt haben?“, fragte Remmer mehr sich selbst, während er sich in seinem Mantel verkroch.

„Nein.“, antwortete Merck trocken. „Aber da.“ Und er deutete auf die letzte, bisher verschlossene, Tür. Sie öffnete sich eben. Ein Spurensicherer kam gerade heraus, unter dem Arm einen silbernen Kasten.

Merck und Remmer betraten den dahinter liegenden Raum. Der gleiche graue Teppichboden, die gleichen weißen Wände aber da war noch etwas. Die Computer.

Vier monströse Flachbildschirme standen auf einem großen Tisch an der gegenüberliegenden Wand. Unter dem Tisch waren große rechteckige Kästen zu sehen – die Computer selbst,  und viele kleinere, die Remmer als externe Festplatten identifizieren konnte, weil ihm sein Sohn vor kurzer Zeit eine gezeigt hatte. Außerdem lag ein zugeklappter Laptop auf dem Tisch. Technischer Kram überall. Kabel, Adapter und Geräte, deren Sinn und Zweck Remmer gänzlich schleierhaft blieb. Eine große offene Platine, wie hingeworfen auf dem Boden. Auch hier ein leerer Pizzakarton. Er war sich ziemlich  sicher, was die Gerichtsmedizin in Markgrafs Magen finden würde.

Remmer hatte keine Ahnung von Computern, was ihm im Büro zunehmend zu schaffen machte, aber eines erkannte er.

Markgraf war ein Profi gewesen.

Merck hatte den Jargon parat. „Ein Nerd.“, sagte er. „Ein echter Freak.“

Remmer ging zu etwas eingerahmten an der Wand. Es war eine Urkunde.

Die Mitgliedschaftsurkunde des berühmten Hamburger Chaos Computer Club, als einziger Schmuck.

Der CCC war schon Mitte der Achtziger Jahre beispielweise durch den sogenannten NASA-Hack überregional zu einiger Prominenz gelangt und fungierte heute vor allem als Vereinigung und Sprachrohr der Hackerszene und als klarer Verfechter von Datenschutz und weltweiter Informationsfreiheit. Soviel wusste Remmer.

Zwei Spezialisten mit Plastikhandschuhen saßen auf zwei Bürostühlen vor dem Tisch und starrten angestrengt auf Zahlenreihen.

Merck sprach einen von ihnen an.  „Und? Haben Sie schon was gefunden?“

Remmer fragte sich, wie jemand aus diesen endlosen Ziffernkolonnen einen Sinn ersehen konnte. Er wurde beruhigt.

Der Mann bewegte sich nicht. „Etwas gefunden ist gut.“ Er zog die Luft durch die Zähne. „Der Typ war ein Wahnsinniger. Ich hab keinen blassen Schimmer, was das hier alles ist. Ich fürchte, es wird seine Zeit dauern, bis wir hier durch sind. Wahrscheinlich müssen wir das ganze Zeug mitnehmen. Da fällt mir ein: Die Schuhmann wollte irgendwas von Ihnen, hat Sie gesucht.“

„Danke.“, meinte Merck. „Wo ist sie denn?“„Weiß nicht. Vielleicht auf dem Balkon.“

Simone Schuhmann war nicht auf dem Balkon. Sie kam ihnen entgegen, als sie das Zimmer verließen, eine große Blondine mit forschen Bewegungen und etwas maskulinem Körperbau.

„Sie sollten sich das hier mal ansehen.“, forderte sie sie auf und ging schnellen Schrittes in Richtung des Schlaflagers. Sie hatte das Bettzeug zurückgeschlagen.

Dort, auf dem Laken, lagen, übereinandergeworfen, drei Literflaschen Wodka.

Leer.

„Ich bin relativ sicher...“, bemerkte Schuhmann. „...das wir nicht nur Pizza finden, wenn wir seinen Mageninhalt untersuchen.“

Merck blies die Lippen auf. „Das macht Ihre Theorie eines Unfalls sehr viel wahrscheinlicher.“, sagte er an Remmer gewandt.

Schuhmann fuhr fort. „Er hat nicht alles getrunken. Einiges haben wir in großen Flecken auf dem Boden gefunden und einiges hat wohl auch die Matratze abgekriegt. Aber nichtsdestoweniger: Das allein hätte  schon seinen Tod verursachen können.“

„Was ist mit der Wohnungstür? Wurde ihr Schloss aufgebrochen?“, fragte Remmer.

Schuhmann zuckte die Schultern. „Nein. Es ist nichts davon zu sehen.“

„Das heißt, Markgraf kannte den Täter.“, schloss Merck. „Wenn es einen Täter gab. Er hat ihn eingelassen.“ Er überlegte. „Oder die Person hatte den Schlüssel.“

„Oder Markgraf kam schon sturzbetrunken nach Hause und hat darum die Tür offengelassen. Oder, oder. Es gibt viele Möglichkeiten.“, fand Remmer. „Wir brauchen Zeugenaussagen. Wir brauchen Freunde, Verwandte, Bekannte. Wir brauchen die Ergebnisse der Obduktion. Irgendwelche Fingerabdrücke?“

„Nur die von Markgraf.“, erwiderte Schuhmann. „Er scheint hier ziemlich allein gewesen zu sein.“

Merck nickte. „So, wie es für mich aussieht, hat er seine meisten Sozialkontakte im Internet gehabt. Das, was man so Sozialkontakte nennt. Vielleicht alle.“

Exposition

2009 / Gegenwart

Sonntag, 26. Juli

 

 

K2021 – Neues Museum für bildende Kunst des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts. Am Sandtorkai. Speicherstadt. Hamburg – Altstadt.

 

Vereinigung! Das ist das Thema der Ausstellung.

Vereinigung als Wort. Jede ihrer Ausdrucksweisen und Interpretationen.

Die Vereinigung als Organisation von Menschen, zum Erreichen von Zielen, die Vereinigung von Mann und Frau in sexueller wie spiritueller Hinsicht, die Vereinigung von Stoffen, Elementen und einiges mehr.

In gesellschaftspolitischem Sinn ist es wohl die Vereinigung im Sinne der Gleichheit und Brüderlichkeit, obgleich die Auswahl der Personen, mit denen die Stühle besetzt sind eine andere Sprache spricht.

Große Teile der Hamburger Schickeria, der Reichen – von denen es dort nicht wenige gibt – und der Schönen, deren Schönheit nicht im Auge des Betrachters liegt, haben sich vereinigt um der Eröffnung der ersten Ausstellung im neuen Museumsbau beizuwohnen. Lokale Größen in Kunst und Kunsthandel sind ebenso anwesend wie besondere Liebhaber derselben oder ihrer Produkte. Alles unter den linsenden Blicken der regionalen und überregionalen Presse.

Judith von Erlen, Vertreterin der letzten Zunft, wartet auf ihren Vater.

Wartet darauf, dass die Oberbürgermeisterin mit der nervösen Gestik und den raumgreifenden Sätzen endlich die Bühne verlässt und er sie betritt. Nun schon seit zwanzig Minuten singt die Oberbürgermeisterin ein Loblied auf dem Architekten des Gebäudes, auf die Künstler und ihre Kunst, auf den grandiosen Kunstmäzen Wolfgang von Erlen, „den ich überaus schätze“ und „der so gütig war“, auf den Direktor, die Stadt Hamburg und überhaupt sowieso ihre gesamte Verwaltung.

Zuvor hat schon der Direktor des Museums, ausübend Pflicht und Funktion als Hausherr, die Gäste begrüßt, eingeführt und jene besonders wichtigen unter ihnen einzeln vorgestellt, dann zu einer Hymne auf sämtliche eben genannte und noch viel mehr, mehr oder minder an was auch immer, beteiligte Personen  angehoben und war in Selbstgefälligkeit ertrunken.

Blubb, blubb, wurde er durch den großen Häuptling ersetzt.

Judith hasst Loblieder fast so wie die Arroganz und Borniertheit, die Schein- und Lügenwelt selbstgekrönter Lokaleliten.

Umso größer die Freude und dann die Enttäuschung ihrerseits, als ihr Vater nun das Rednerpult besteigt und den Ton seiner Vorgänger nahtlos mit einem Scherz übernimmt, der keiner ist, das Auditorium aber zu höflichem Lachen herausfordert.

Nachher ist sie froh, als die Laudatio vorüber ist und der wohlverdiente Champagner ausgegeben wird. Sie bahnt sich einen Weg durch die Kunst betrachtenden Genießer der Hochkultur, wie sie mit ihren Kristallen in den Händen in Grüppchen beisammen stehen, auf ihren Vater zu.

Herzliche Begrüßung der lange nicht gesehenen Tochter, Nett sein den ihr vorgestellten üblichen alten Freunden gegenüber, Fragen und Antworten betreffs des allgemeinen Befindens.

„Ich habe ein paar Fragen an dich, Papa. In Ordnung?“

„Natürlich. Ich habe schließlich auch welche an dich.“

„Also. Hast du Zeit?“

Kein Problem. Kurze Verabschiedung der alten Freunde. Dort hinein, bitte.

Endlich Ruhe.

„So, meine Liebe. Wie geht es dir nun wirklich?“

„Im Allgemeinen wirklich gut. Ich habe viel um die Ohren, aber die Arbeit macht mir Spaß.“

„Ich meine Privat. In Liebesdingen beispielsweise?“

„Weißt du, ich beschäftige mich momentan anderweitig.“ Irgendwie abweisend.

„Toni?“, fragt er.

„Toni?“ Wo hat er das her?

„StudiVZ.“, antwortet er, als habe er die Frage gehört. „Auf die Frage des Beziehungsstatus, steht da vergeben. Im Folgenden taucht mehrmals der Name Toni auf.   Eine Abkürzung für was? Antonio?“

„Du spionierst mir nach.“ Sie war verärgert. Sie hätte besser aufpassen müssen. „Das war nichts, nichts Ernstes.“ Warum sagt sie ihm eigentlich nicht die Wahrheit? Wovor hat sie Angst?

„Schade.“, meint er aufrichtig bedauernd. Er ist rührend!

 

„Außerdem...“

Judith lächelt. „...mit welcher Rechtfertigung ist ein sechsundfünfzigjähriger, bekannter Geschäftsmann bei einer Studentenplattform registriert?“

„Oder eine vollwertige Journalistin, die schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr studiert?“

„Ich wollte dich eigentlich nur interviewen, okay?“

„Die Tochter bequemt sich seit langem das erste Mal ihren alten Vater zu besuchen, weil in Berlin gerade Sommerloch ist, und dann will sie einen nur interviewen, okay? Okay.“

Sie räuspert sich, er sucht eine bequemere Sitzposition.

„Was bedeutet dir dieser Tag heute?“

„Dieser Tag bedeutet mir sehr viel. Schließlich habe ich lange auf ihn hingearbeitet. Der Tag ist der Höhepunkt meines Schaffens auf diesem Gebiet in der letzten Zeit. Außerdem bin ich natürlich glücklich, dass es ein weiteres Museum in dieser schönen Stadt gibt und dass viele meiner Lieblingsstücke, erstmals zusammengeführt, die erste Ausstellung ergänzen. Ich denke es ist ein guter Tag, an dem vielen Hamburgern die Kunst vielleicht wieder ein bisschen ins Blickfeld gerückt ist. Ich freue mich an all dem hier mitgewirkt haben zu können und eines kleinen ganz unbescheidenen Stolzes auf meine Auswahl und Gestaltung kann ich mich auch nicht erwehren.“

„Ein guter Tag. Wieso aber muss die Kunst solche Tage bekommen? Was ist sie für dich? Warum ist sie dir so wichtig?“

„Das ist eine Standartfrage, die ich mir mit einer Standartantwort zu beantworten erlauben möchte. Sie ist gültig wie eh und je. Ich denke einzig in der Kunst ist der Mensch wirklich Mensch. Er drückt aus, was ihn zum denkenden und bewusst fühlendem Wesen macht.

Ein Aspekt: Um es mit den Worten von Gottfried Benn zu sagen, Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Größe.

Kunst bedeutet den Beginn einer Freiheit, die einzig dem Menschen vorbehalten ist. Da nämlich, wo er über die Gesetze der materiellen Notwendigkeit hinaus als Geschöpf auf seine Weise selbst zum Schöpfer wird, ist er künstlerisch tätig. Beinahe alle Taten, die zu begehen möglich und nötig ist, sind mit biologisch veranlagten Grundbedürfnissen zu erklären, wie sie – vielleicht weniger komplex – auch beim Tier vorhanden sind. Die Kunst ist anders. Sie ist, rein biologisch, abkömmlich. Gerade deshalb ist es so wichtig sie zu beachten. Weil das grundsätzliche Bedürfnis nach ihrer Existenz eine höhere Stufe von Mensch-, von Bewusstsein erahnen lässt, auf die zu hoffen sich lohnt.“

„Kunst ist so wichtig, weil sie so überflüssig, ergo so unwichtig, ist?“, hakt sie wohlweißlich provokant nach. „Ist das die These?“

„Nein. Ganz und gar nicht. Begehe nie den Fehler die Abwesenheit von Notwendigkeit mit der von Sinn oder Relevanz gleichzusetzen. Außerdem ist Kunst genau genommen notwendig, das ist daran, dass schon Urvölker sich mit ihrer Ausübung beschäftigten und seitdem eigentlich jede Kultur auch ihre eigene Kunst hatte, zweifellos ersichtlich. Nur ist sie nicht biologisch  notwendig. Nur sind ihr Wirken und ihre Facetten nicht so eindeutig und erklärbar, wie vieles andere. Aber das ist ja gerade der geistige und auch geistliche, spirituelle Faktor. Tatsache ist, dass Kunst eine Art ist Höherem zu begegnen, ebenso wie zu verarbeiten, darzustellen und das Wesentliche, Existenzielle zu beleuchten.

Picasso sagte einmal, Kunst sei eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lasse. Ich erachte diesen als einen wunderbaren Satz.

Außerdem ist sie natürlich einfach schön und beeindruckend.“

„Du bist also ein Anhänger eines letztendlich geistig erleuchteten Menschseins und siehst die Kunst als Weg, Reflektion und Botschaft. Abgesehen vom Selbstzweck. Könnte man das so sagen?“

„Ich denke schon, ja. Aber das ist vereinfacht. Sehr sogar.“

 

„Einverstanden. Aber bei aller Liebe für die Kunst, wieso sie sammeln?

Ein Statussymbol? Kleine Eitelkeiten deinerseits?“

„Vielleicht. Zum Teil. Aber hauptsächlich ist es etwas anderes. Es ist ja nicht so, als kaufte ich den Museen Kunst ab, um sie in mein privates Wohnzimmer zu hängen, sie vor der Welt zu verschließen und beschützen zu lassen. Okay ertappt, du kennst mein Wohnzimmer. Dort hängt unter anderem ein Matisse und in einem Schlafzimmer ein van Gogh. Gut. Ein anderer hält sich ein paar Flugzeuge, ich hänge mir einen Matisse ins Wohnzimmer. Was ich meine ist, dass ich Kunst vor allem aufkaufe, um sie zusammenzuführen.

Zu Themengebieten, zu Ähnlichkeitsgruppen, um sie dann ausstellen zu lassen. Um sie der Öffentlichkeit in bestimmten Kontexten zu zeigen, ihr etwas zu sagen, auf etwas hinzuweisen. Und zuletzt: Ich meine ich könnte doch Autos sammeln oder Briefmarken. Da ist Kunst doch eine sehr löbliche Alternative.“

„Wo wir schon bei Kontexten sind, warum Vereinigung? Was ist das besondere an dem Motiv?“

„Vereinigung. Ein großes Thema. Die Ausstellung stellt es in jedem Sinne dar. Ich denke ihre Botschaft lautet, dass Vereinigung der Anfang von allem ist.

Wo sich etwas vereinigt entsteht etwas neues, großes, mehr als die Summe seiner Teile. Entwicklung, Evolution, Fortpflanzung, Änderung, Verbesserung, Bewegung – das ist Vereinigung. Wir müssen uns darüber klarwerden, dass das aufeinander zu und miteinander und nicht das voneinander weg der Vereinzelung, der von der Natur vorgesehene Zustand ist. Die Abstoßung zweier identisch geladener Magnete, ist doch das Ergebnis der Berührung ihrer Felder. Wir müssen bloß den Raum dazwischen sehen. Alles strebt aufeinander zu auch wenn es manchmal nicht so scheint. Der Zorn zweier Streitender bringt ihre Gedanken auf denselben Punkt, unterbewusst in dem Bedürfnis sich wieder zu versöhnen. Alles berührt alle und alles, was jemand je von sich gegeben, was er getan hat, kehrt irgendwann zu ihm zurück.“, endet er sinnierend. Dann bemerkt er, dass er zu hoch gegriffen hat und grinst. „Für solche Fälle habt ihr doch bestimmt irgendwelche Korrekturlesenden, oder?“

Sie hat fasziniert gelauscht, jetzt lacht sie leise auf.

Vielleicht, ja, vielleicht hätten sie die.

Sonntagabend

Eine lichte Altbauwohnung. Gelegen im Vorderhaus. Kollwitzstraße. Berlin – Prenzlauer Berg.

 

 

Als Judith die Wohnungstür aufstößt, steigt ihr der Geruch von dünstendem Knoblauch in die Nase. Gefolgt wird er von einer langbeinigen Gestalt, deren schwarze Mähne ihr hinterher weht, als sie aus der Küche und ihr an den Hals springt, einer verdampften Umarmung und einem dahin gehauchten Kuss auf die Lippen. Die Gestalt lässt von Judith ab, tritt einen halben Schritt zurück und verkündet mit monumentaler Gestik und feierlichem Ton: „Judith Katharina Marie von Erlen, ich habe dich erwartet.“

Toni?

Toni ist zweifellos, dafür aber mit großem Abstand, die außergewöhnlichste Person, die Judith jemals gekannt hat, mit Sicherheit nicht ihr neuester Liebhaber.

Eine Abkürzung für was? Antonio?

Antonia Garibaldi steht, nur im T-Shirt – und nur im T-Shirt – vor ihr und grinst sie nun breit an. Sie ist neunundzwanzig Jahre, italienisch-stämmig, schlank und hochgewachsen, schmalnäsig und vollbusig, dunkeläugig und ihr schwarz-gelocktes Haar fällt ihr bis auf den Rücken. Sie ist braungebrannt, wie eigentlich immer, und so ziemlich die Einzige aus ihrem scheinbar unzählbar großen Familienclan, der sich in den 1960’er Jahren über Deutschland verteilt hat, die nirgendwo eine Eisdiele oder eine Pizzeria betreibt, stattdessen ist sie Medizinerin an der Berliner Charité. Der ausgeprägte Hang zum Nudismus ist nur eine ihrer unzähligen Eigenheiten.

„Komm mit.“, fordert sie Judith auf. „Bin dabei uns was zu essen zu machen.“

„Ja, ich riech‘ das schon. Was gibt’s denn?“

„Gamberoni. Mit grüner Sauce.“

„Lecker, nur, dass mir die Farbe der Sauce nicht sonderlich viel sagt.“

„Stell keine dummen Fragen, mein Herz, komm mit und hilf. Du kannst Eigelb schlagen, weil ich mich gern auf die inhaltvolleren Aufgaben konzentrieren würde.“

„Au, fein. Und ich schlage Eigelb.“

„Ganz recht und jetzt fang schon an.“

In der Küche gibt sie ihr ein Ei. Die Küche ist vollständig in Buche und Edelstahl gehalten, nicht gerade günstig, jedoch verdienen sie beide nicht schlecht. Und selbst verdient ist sie. Niemals würde Judith zu ihrem Vater gehen und um Geld bitten. Das ist mit ihren Prinzipien nicht zu vereinbaren, obwohl, oder gerade weil er so viel hat, dass er ihr ohne Probleme Millionen schenken könnte und auch würde.

Antonia nimmt zwei Siebe von der Spüle, eines mit Kapern, eines mit Oliven gefüllt, kippt beides in einen Edelstahlbecher und Pinienkerne dazu.

Was der alte Philister denn so von sich gebe, will sie wissen, während sie Sardellenfilets zerteilt.

„Oh, ganz überraschende Dinge, wenn du mich fragst.“

„Wen denn sonst, Dummerchen? Siehst du noch wen im Raum?“

Judith verdreht die Augen. „Dinge, die ich ihm gar nicht  zugetraut hätte.“

„Inwiefern?“

Sie erzählt ihr von dem Interview.

Antonia seufzt. „Überraschend? Beängstigend ist das!“

„Wieso?“

„Ich kann Leute nicht leiden, die ihre Überzeugungen nach Lust und Laune ändern.“

„Aber das tut er doch gar nicht.“ Sie muss ihren Vater in Schutz nehmen.

„Das tut er nicht? Ein knallharter Geschäftsmann, der auf seinem Weg niemals Rücksicht auf andere genommen hat, wird auf einmal zum Sinngläubigen und legt sibyllenhaft Vereinigungslehre aus. Wer von gesellschaftlicher Vereinigung spricht kann nicht ernsthaft so noble Autos fahren und erst recht nicht als Linienreeder Milliardenumsätze machen. Ich bitte dich.“

„Er hat sich immer schon für Kunst interessiert!“, protestiert Judith.

„Sicher. Aber du hast selbst gesagt, dass du das bei ihm nie als unter solch esoterischer Motivation verstanden hast. Er ist Sammler.“ Sie gibt die Filets in den Becher.

„Er hat  es noch nie in dieser Ausführlichkeit dargelegt, vielleicht…“

„Ich möchte mich nicht mit dir streiten! Ich weiß, dass du deinen Vater liebst und das ist gut so, ich wäre die letzte, die etwas dagegen hätte. Ich bestreite nicht, dass er ein guter Vater ist, das kannst nur du beurteilen, und ich hege keinerlei persönliche Abneigung gegen ihn, ich kenne ihn ja nur aus Erzählungen.  Du musst dich nicht angegriffen fühlen. Ich möchte nur, dass du einsiehst, dass gerade die Reeder, die in den vergangenen Jahren Rekordumsätze eingefahren haben, Bestandteil eines menschenverachtenden Systems sind. Die Ausbeutung der Dritten Welt, die Umweltverschmutzung und der Abbau einheimischer Arbeitsplätze gehen zu einem Teil auf das Konto billiger aber nachhaltig schädigender Transportmöglichkeiten.

Sie sind Unterstützer und Nutznießer der absurden Ausprägung der Globalisierung!“

„Das sehe ich ein und das weißt du auch. Das Thema hatten wir schon. Aber was hat das mit dem Interview zu tun?“

Toni gießt Zitronensaft in den Becher und fügt Petersilie hinzu. „Alles.“, sagt sie. „Ich empfinde es einfach als unglaubwürdig. Das ist meine Meinung.“

„Was ist dein Problem?! Es ist doch schön, wenn er sich auf andere Dinge besinnt, als ewig aufs Geschäft. Er merkt, dass es noch etwas anderes, Höheres gibt. Ich meine, selbst wenn er bis zum heutigen Tage an nichts als seine Renditen gedacht hätte, was er nicht getan hat. Ich kenne ihn schon lange. Selbst dann wäre es doch wunderbar. Es ist ganz natürlich. Du kannst ihn doch nicht dafür verurteilen, dass er erst spät ein Bewusstsein dafür entwickelt. Wieso hältst du es für besser es gar nicht zu tun?“ Judith ist enttäuscht. Sie hat eine andere Reaktion erwartet. Sie kann Tonis extrem ablehnende Haltung gegenüber der Meinung ihres Vaters nicht nachvollziehen, zumal es sich im Endeffekt um eine Nebensächlichkeit handelt. Sie haben schon viel zu viel darüber gesprochen.

Eine Weile lang ist nur das gleichmäßige Röhren des Pürier-Stabs zu vernehmen. Als er verstummt, sagt Toni: „Ich glaube du hast mir nicht zugehört. Ich sagte, dass ich es schlicht und einfach für unglaubwürdig halte. Ende.“

„Das habe ich verstanden. Okay, und was soll ich deiner Meinung nach nun damit tun?“

„Ich denke –“, erwidert sie ernst. „Ich denke, es wird das Beste sein, wenn du einfach die Garnelen in die Pfanne gibst.“

Sie lachen beide los. Es befreit.

„So. Kannst du mir bitte mal das Olivenöl und dein Eigelb angeben?“ Toni. „Und jetzt hören wir auf uns um solche Sachen zu kümmern.“

Sie mischt Öl und Ei und das Ei-Öl-Gemisch mit dem Sardellen-Kapern-Oliven-Zitronen-Petersilie-Gemisch zu einem Sardellen-Kapern-Oliven-Zitronen-Petersilie-Öl-Ei-Gemisch, salzt, pfeffert, schmeckt ab und befindet für gut.

Sie hat sich eingestanden, dass Judith Recht haben könnte. Vielleicht müsste man sich freuen. Es ist nie angenehm, wenn ein Feindbild an Schärfe verliert –

 

Wenige Minuten später bei Bachs Brandenburgischen Konzerten, Kerzenlicht und einem sehr trockenen Grauburgunder, den sie eigentlich beide nicht mögen, der aber irgendwie dazu gehört, sehen sie aus wie das Liebespaar, das sie sind, seit sie sich vor gut einem Jahr auf einer größeren Demonstration gegen eine weitere Reform des Gesundheitswesens mit einem sich daran anschließendem Diskussionsforum kennengelernt haben.  

Judith war erst kurze Zeit in Berlin, gerade erst mit dem Studium fertig und aus Überzeugung dabei, hatte aber wenig Ahnung worum es sich überhaupt handelte.

Toni, als praktizierende Ärztin, war der Materie kundig und verstand es gleich zu Anfang, sich der Gunst ihrer um drei Jahre jüngeren Schülerin zu versichern. Dass sie es am Ende auf etwas ganz anderes abgesehen haben könnte, als sie nur zu informieren und zu einer Gesinnungsgenossin zu machen, kam Judith zu diesem Zeitpunkt nicht in den Sinn. Warum auch?

Heute bezeichnet sie sich als bisexuell aber damals hatte, lässt man ein nicht ernst gemeintes Experiment unter Freundinnen im Alter von Sechzehn einmal außer Acht, noch keine lesbischen Erfahrungen gemacht und noch nie bewusst derartige Neigungen verspürt. Sie denkt, dass sie diese vielleicht unbewusst unterdrückt hat, gesellschaftlicher Zwänge wegen. Toni bestärkt sie in dieser Meinung.

Jedenfalls fanden sie schnell heraus, dass nicht nur ihre Ansichten des Lebens beinahe deckungsgleich waren. Sie hatten ähnliche Vorlieben in kulinarischen und kulturellen Bereichen und verstanden sich auf Anhieb glänzend. Judith war wie vor den Kopf geschlagen von der Kraft und der Energie, die von diesem ganz besonderen Individuum ausgingen. Sie war begeistert und folgte ihr bereitwillig zu dem besagten Forum, von dem sie allerdings nicht besonders viel mitbekam, weil sie dauernd an Toni denken musste. Diese schmiedete zu diesem Zeitpunkt schon konkrete Pläne. Da Judith nicht in diese Richtung dachte, war sie sehr peinlich berührt, als Toni, etwas später, nach dem scheinbar zufällig zusammen zurückgelegten Nachhauseweg und einiger Zeit in ihrer Wohnung leicht angetrunken, weil sie noch gemeinsam mit einigen Mitstreitern in einer Kneipe gewesen waren, verlauten ließ, sie sei horny. Ob Judith Lust auf Sex hätte.

Diese – selbst erheitert – fragte verunsichert, ob das nicht pervers sei.

Nichts könne so pervers sein, wie vierhundert Jahre Inzest, versicherte Toni ihr und da musste sie wohl oder übel zustimmen obwohl sie in ihrem Zustand bei bestem Willen nicht zu erkennen vermochte, dass die andere damit auf ihre aristokratische Herkunft anspielte. Hätte sie es erkannt, hätte sie sich vielleicht nicht kurz darauf auf den ersten wirklichen lesbischen Sex ihres Lebens eingelassen, der wie sie sich später eingestand wohl auch der beste ihres Lebens bis dorthin gewesen war.

Ihr schien es einfach ein guter Grund zu sein.

 

Abermann

2009 / Gegenwart

 

Samstag, 1. August, Metropolitan Hotel. Bangkok. Thailand.

 

 

Oliver Cale steht an einem der Fenster seiner Suite und sieht, ohne ihn recht zu registrieren, auf den Straßenverkehr hinab, der auf der South Sathorn Road zwanzig Meter unter ihm zäh dahinfließt. In der Rechten hält er ein Glas Macallan Single-Malt. Er ist nervös.

Er wirft einen Blick auf die Breitling Montbrillant an seinem Handgelenk.

21 Uhr 19.

Sechs Stunden Zeitverschiebung nach Mitteleuropa. Dort hat gerade erst der Nachmittag begonnen.

Der Nachmittag. Jener erste, an dem alles ins Rollen kommt.

Er dreht sich um, geht zur Minibar, füllt sich ein weiteres Glas.

Noch immer sind es einundvierzig Minuten und die Zeit kriecht mit der Geschwindigkeit eines narkotisierten Faultiers. Hinkendes Symbol.

Vierzig Minuten.

Er tänzelt aufgeregt hin und her, setzt sich hin, springt wieder auf. Er stellt sich vor den Spiegel, zwingt sich, sich in die graubraunen Augen zu sehen. Er gemahnt sich zur Ruhe.

Noch ein Glas. Ein halber Schluck Scotch rinnt auf sein La Martina Polo für £ 139. Accessoires. Unbedeutend, gegenüber dem, was jetzt beginnt.

Er sollte nicht so viel trinken.

Er ruft von Erlen an.

„Guten Abend, Oliver.“, meint der fröhlich. Cale bricht der kalte Schweiß aus. „Und, wie laufen die Verhandlungen?“

Er räuspert sich. „Ja. Gut, soweit. Ich  bin gerade erst ins Hotel gekommen.“

„Hörst dich nicht gut an, alter Junge.“, flappst von Erlen. „Alles in Ordnung?“

„War anstrengend.“, erwidert Cale und räuspert sich abermals. „Geht aber gut voran. Das Klima hier schafft einen ganz schön. Gibt es bei Ihnen irgendetwas Neues?“

„Nein, nein. Alles in bester Ordnung. Im Westen nichts Neues. Unser Marktwert steigt wieder, wie’s aussieht.

Dann will ich auch gar nicht weiter stören, Oliver, bis dann. Und sagen Sie mir Bescheid, wenn sich was tut. Dieses Mobilfunkgespräch terminieren wir lieber, bevor es dich auffrisst.“ Damit ist die Unterhaltung beendet.

Cale kehrt zu seinem Posten am Fenster zurück.

Soso, denkt er, alles in bester Ordnung. Nicht mehr lange, alter Junge, bald gibt es etwas Neues.

Vierunddreißig Minuten, sagt die Breitling.

 

Hamburg

15 Uhr 23

 

Der Mann geht an Land.

 

 

Er kann nicht verstehen, dass dieselben Leute, die ihr Anwesen zur Straße hin hinter hohen Mauern und Hecken verstecken, Stromzäune errichten und sich sogar voreinander abschotten, die Flussseite völlig ungeschützt lassen. So dass jeder, der des Schwimmens mächtig ist, sich dort ungehindert nähern kann. An Land gehen kann. Klauen, rauben, morden kann.

Der Mann tut nichts dergleichen. Er schleicht sich langsam und umsichtig zur vorderen Terrakotta-gefliesten Terrasse, die zwischen hohen Büschen liegt und so vom Haus her nicht einsehbar ist, und zieht ein neues Netbook hervor. Er wählt sich in das Drahtlosnetzwerk des Hauses ein, dass von hier störungsfrei zu erreichen ist und schickt eine Email an eine Adresse in Bolivien.

Dann schließt er zufrieden das kleine Gerät und läuft geduckt zum Wasser.

Minuten später geht er an einem unbebauten Grundstück an Land, trocknet sich ab und steigt wenige hundert Meter entfernt in einen geparkten VW Golf Kombi. Die Neopren-Kleidung wirft er achtlos hinter sich.

Er fährt die Elbe abwärts Richtung Süden.

 

15 Uhr 26

 

Einige Tage zuvor hat ihr Vater angerufen und sie darum gebeten, dass er sie zum Essen einladen dürfe.

„Das hat man nun davon, Töchterchen.“

Und Judith hörte, wie er lächelte. „Ich hatte noch nie eine so gute Werbefachfrau an meiner Seite, wie du eine bist. Du hast mir mit deinem phantastischen, scharfzüngigen Artikel und dem Interview eine so positive, so aufsehenerregende Publicity verschafft, wie ich sie mir nie hätte erträumen können.“

„Inwiefern?“, fragte sie verwirrt.

„Nun dauernd werde ich von fremden Menschen angesprochen, die mir zu meiner Leistung und vor allen Dingen zu meiner Tochter gratulieren.

Ich hatte keine Ahnung, dass so viele Leute linke Presse lesen. Beeindruckend.“, er lachte. „Jedenfalls ist die Ausstellung glänzend besucht und ich muss mich bei dir dafür bedanken.“ Ob sie Samstagabend Zeit hätte. Er wisse von einem wunderbaren Restaurant, das sie dringend kennen lernen müsse.

Sie einigten sich auf neunzehn Uhr, denn in Sachen Restaurants ist ihm wirklich zu trauen. So ist sie nun wieder hier, nur eine Woche nach der Eröffnung. Und sie ist viel zu früh. Erst kurz vor halb vier. Mehr als genug Zeit also um gemütlich durch die Stadt zu schlendern, sich vielleicht in ein Café zu setzen.

Sie ist glänzender Laune. Eine angenehm kühle Brise vom Meer her macht die Hitze angenehm, während der Himmel blau herunter strahlt und sie zurück. Sie streichelt einen vor einem Geschäft angebundenen Hund, der nach Zärtlichkeit winselnd nur so lechzt, lobt eine Mutter mit Kinderwagen überschwänglich für ihr wunderschönes Kind, was diese mit einem perlenden Lachen der Zustimmung quittiert. Wie einfach es ist Gutes zu tun! Sie zeigt einem, ihr hinterher pfeifenden, unverbesserlichen Chauvi-Proleten nicht den Mittelfinger und fühlt sich stark dabei.

Ihr Mobiltelefon vibriert. Verwundert stellt sie durch einen Blick auf das Display fest, dass die anrufende Nummer unbekannt ist. Sie nimmt an.

„Hallo?“

„Hallo. Gut, dass ich sie erwische.“ Wie einer, der den Zweck eines Mobiltelefons noch nicht recht durchschaut hat. Eine fistelnde männliche Stimme.

„Wer sind sie?“

„Oh, Verzeihung. Mein Name ist Hubert Liebermann. Ich weiß nicht, ob Sie vielleicht schon von mir gehört haben?“

Hat sie. „Sie sind Dozent an der Josef Beuys Kunsthochschule in Düsseldorf. Eine Koryphäe auf dem Gebiet der modernen Plastik.“

„Nana, Koryphäe. Aber stimmt schon, ich weiß…“

„Woher haben Sie meine Nummer?“

„Ach die. Verzeihen Sie vielmals. Die habe ich mir…“ Er lacht auf. „…mit Verlaub – ergaunert.“

„Und? Was wollen Sie von mir?“

„Nun. Ich weiß, Sie sind wohnhaft in Berlin, aber wenn sie es in nächster Zeit einrichten könnten nach Hamburg zu kommen und sich mit mir in der Ausstellung zu treffen, würde ich mich sehr freuen. – Sie wissen schon, die Ausstellung Ihres hochgeehrten Vaters. Es wird Ihnen, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, nicht zum Nachteil gereichen.“

„Ich weiß nicht.“ Sie zögert. „Zurzeit bin ich in Hamburg. Allerdings nur heute. Wenn Sie heute Nachmittag noch könnten…“

„Das ist ja phänomenal. Kein Problem. Sagen wir sofort? Um Vier?“

„In Ordnung, ich…“

„Gut, bis dahin.“

„Moment. Was ist denn überhaupt?“, fragt sie neugierig. „Was wollen sie mir denn überhaupt erzählen? Ich meine, das ist etwas unüblich…“

„Lassen Sie sich überraschen. Ich verspreche Ihnen, es ist etwas, das Sie interessieren wird.“

 

Das ist ja wie Weihnachten.

Einer der bedeutendsten deutschen Kunsttheoretiker und berühmter Künstler ergaunert sich ihre private Mobilnummer um ihr ganz exklusiv, etwas mitzuteilen, das Sie interessieren wird, wenn Sie es einrichten können, versteht sich. Er ruft nicht in der Redaktion an, sondern sie. Das kann nicht sein.

Es ist so.

Beschwingten Schrittes ändert sie die Richtung und hält auf die Speicherstadt zu.

 

16 Uhr 31

 

Mobile Einsatzleitzentrale der Polizei.

Straße vor dem Museum K2021.

Am Sandtorkai. Speicherstadt. Hamburg – Altstadt.

 

Kriminalrat Remmers Frau sagt beinahe täglich, dass er etwas abnehmen solle, er merke ja, dass er immer schwerfälliger und ungelenker werde. Ja, das merkt er. Und er sagt sich beinahe täglich, dass er doch endlich auf seine Frau hören solle.

Aber irgendwie ist der Wurm drin. Und daran ist sie bestimmt nicht ganz unschuldig, schließlich ist sie es, die kocht. Er isst ja bloß.

Gut drei Jahre ist es jetzt her, dass er nach der Beförderung zum Kriminalrat die Mordkommission verlassen hat, um sich leichterer Kost zu widmen. Dem Essen auf  Rädern, wie er es nennt, weil es meist in monumentalen Aktenstapeln, vorgekaut und vorverdaut, in seinem Büro einfährt. Er muss sich zunehmend weniger bewegen in seinem Job.

Ja, er hat zugenommen in den drei Jahren, er ist gealtert und langsamer geworden.

Aber er hat gearbeitet. Gearbeitet so viel, dass er sich diverse Literatur zu Themen wie Burnout-Syndrom und Nervenzusammenbruch angeschafft hat. Und jetzt dies.

Konsterniert ob den belastenden Auswirkungen seiner Untersetztheit schleppt er sich schwer atmend, wie nach einem strapaziösen Dauerlauf, die Stufen in den Bus hoch, dabei ist er nur die paar Meter von seinem Auto bis hierher gejoggt. Früher ist er Marathon gelaufen. Und gesegelt. Er ist Regatten gesegelt.

Seit wie vielen Jahren hat er seine einst liebste Freizeitbeschäftigung nicht mehr ausgeübt?

„Was liegt an?“, fragt er, als er sich in einen der rollbaren Bürostühle fallen lässt.

„Eine Geiselnahme.“,

antwortet Kriminaloberkommissar Sebastian Koob, ein fünfunddreißigjähriger Blonder, der ihm aus zahlreichen früheren Einsätzen gut bekannt ist und der in einem der anderen Stühle auf der anderen Seite des kleinen Raumes sitzt und auf den Bildschirm eines Laptops sieht. Bei ihm sitzt eine Technikerin. Ihr Name ist Bandt, wenn Remmer sich richtig erinnert.

„So viel weiß ich auch.“, meint er.

„Okay. Vor ziemlich genau einer halben Stunde hat in dem Museum da drüben…“

Er deutet auf das alte Kontor, in dem sich das K2021 befindet, „ein Besucher  mit baltischen Gesichtszügen eine tschechische CZ 85B gezogen und sie einer jungen Dame an den Kopf gehalten. Dann hat er wohl „Raus, alle raus! Raus!“ geschrien. Es scheint, als hätten alle Anwesenden inklusive Wach- und Informationspersonal dieser Anweisung umgehend Folge geleistet - Wer kann es ihnen verdenken? - und der Mann ist mit seiner Geisel allein im Gebäude verblieben.“

„Woher wissen Sie das alles? Ist das Gebäude videoüberwacht?“

„Nein, das ist es nicht. Aber es gab ja massenweise Zeugen.“

„Unter ihnen ein Waffenspezialist?“

„Nein, wieso? Also nicht, dass ich wüsste.“

„Woher wissen Sie dann das mit der CZ?“

„Gut aufgepasst. Einen Moment, bitte.“ Koob gibt etwas in das Laptop ein.

„Wer ist die Geisel?“, fragt Remmer weiter.

„Zuerst dachten wir, sie sei willkürlich ausgewählt. Vielleicht, aufgrund ihres Aussehens…“

„Und nun denken Sie das nicht mehr? Ihres Aussehens?“

„Nun sie sieht gut aus. Genau genommen sogar außergewöhnlich gut.“

„Und jetzt denken Sie das nicht mehr?“, wiederholt er.

„Nein.“

„Wieso? Was ist denn jetzt mit der Waffe? Wurden Forderungen gestellt? Mensch, nun lassen Sie sich doch nicht alles einzeln aus der Nase ziehen!“

„Dieser Computer braucht aber auch lange. Das hat man davon, wenn sie den Landeshaushalt sanieren wollen.     Ah, endlich!   Nun ich denke es wird das Beste sein, Sie schauen sich einfach mal das Video an.“

„Sicher, das wird das Beste sein.   Von welchem Video sprechen wir, ich dachte –“

„Kennen sie YouTube?“

„Jutjuhp?“

„Oder My Video?“

„Wessen Video?“

„Wie alt sind Sie?“, fragt Koob geradeheraus.

„Einundsechzig. Was hat das mit dem Thema zu tun?“

„Alles. In Ordnung. YouTube ist, genau wie My Video und viele andere eine Internetplattform in die jeder, der sich registriert Videoclips so ziemlich gleich welcher Art einspeisen kann. Diese sind dann öffentlich verfügbar – zum Ansehen oder Herunterladen. Reicht das?“

„Ich denke schon. Und so einen Clip hat auch unser Geiselnehmer dort hineingestellt?“

„Ja. Den beeindruckendsten, den ich dort je gesehen habe. Wir haben ihn vor zehn Minuten gefunden. Er wurde um 16 Uhr Acht hochgeladen. Gleich auf mehrere dieser Websites.“

„Und der zeigt den Geiselnehmer, seine Geisel, die Waffe, die Räumlichkeit? In ihm werden die Forderungen gestellt?“

„Jawohl.“

„Warum habe ich ihn dann noch nicht längst gesehen?“

Koob seufzt und berührt das Touchpad.

 

Das Video beginnt mit einem Standbild des Museums von der Straße aus gesehen. Eine sympathische, dunkle Männerstimme beginnt mit einem erklärenden Satz.

„Dies ist das Museum K2021 in der Hamburger Speicherstadt. Am heutigen ersten August bin ich an diesem Ort gekommen um eine Entschädigung, wenigstens für einen Teil dessen, was mir angetan worden ist, einzufordern .Ich, Ingo Abermann, habe diesen Ort um genau sechzehn Uhr betreten um einen kleinen Schritt Richtung Gerechtigkeit zu gehen. Die Besucher und das Personal haben das Gebäude nun verlassen, in meiner Gewalt befindet sich eine Geisel. Ihr Name ist Judith von Erlen, sie ist die einzige Tochter des Hamburger Reeders Wolfgang von Erlen.“

 

Während dieser Worte sieht man nun endlich bewegte Bilder. Eine junge Frau, Anfang bis Mitte zwanzig, sitzt auf einem Stuhl mit vier leicht nach außen gebogenen metallenen Beinen, Sitzfläche aus Leder oder Kunstleder, die Hände wohl hinter der Lehne, die schmalen Fesseln mit breitem silbernen Klebeband an die Beine des Stuhles gebunden. Über ihren Mund klebt ebenfalls ein Stück des Tapes, so dass sie nicht sprechen oder schreien kann. Augenscheinlich täte sie es andernfalls. Ihre mandelförmigen, weit auseinander stehenden grünen Augen blitzen – mehr wütend als verängstigt – und ihre rotblonde Mähne fliegt, als sie ihren Kopf wild herumwirft, als wolle sie unbedingten Lebenswillen signalisieren. Ihre kleine, leicht schiefe Nase im Kontrast zu ihrem schmalen, runden Kinn verleiht ihr etwas spitzbübisches, gewitztes, selbst in dieser Situation. Ihr schlanker Hals verschwindet in einem hochgeschlossenen aber geschlitzten, gelben Sommerkleid.

 

Sie ist tatsächlich außergewöhnlich attraktiv, findet Remmer.

 

Der Mann lässt seine Worte wirken.

„Ich bin großzügig.“, sagt er. „Ich werde Judith freilassen, sobald ihr Vater mir zwanzig Millionen Euro in bar aushändigt. Genau abgezählt, bitte. Ich verlange zwanzig Millionen in vierzigtausend Fünfhundertern - oder nehmen Sie zwanzigtausend Fünfhunderter und hunderttausend Hunderte, mir soll’s recht sein -, fein säuberlich gestapelt in zwei Sportaschen, Größe 80 mal 36 mal 36 Zentimeter. Ich gebe Ihnen knappe vierundzwanzig Stunden um das Geld zu beschaffen. Sollten Sie die Forderungen bis dahin nicht erfüllt haben, stirbt ihre Tochter.“

Die Kamera zoomt zwischen Judiths Beinen hindurch auf einen, offensichtlich mit weißem Tuch verhüllten, Gegenstand. An einer Stelle ist der Stoff zerschnitten und eine LCD-Anzeige blinkt unheilvoll.

 

23:56:01

 

23:56:00

 

23:55:59

 

„Zur Unterstreichung meiner Ansprüche, um das Ganze etwas zu beschleunigen, werde ich zu jeder vollen Stunde eines der besonders wertvollen Kunstwerke zerstören. Und vertrauen sie mir, ich habe mir den Ausstellungsflyer sehr sorgfältig durchgelesen.“

Verschiedene Werke. An allen sind, jeweils an zentral gelegenen Stellen, weiße Stoffbeutel befestigt.

„Ich rate Ihnen also sich zu beeilen, da der Schaden an ihrem Eigentum sonst bald die geforderte Summe übersteigen dürfte. Überlegen Sie es sich.“

Ansichten der Museumsräume. Dann eine Tür. Dünne Drähte laufen von Rahmen zu Rahmen und über die umliegenden Wände. Sie enden in kastenförmigen Befestigungen, aus denen rote Kabel hinaus und über den Boden verlaufen. Das Bild verfolgt den Weg. Sie verschwinden in Kabelknäulen, vereinigen sich mit anderen und führen, um Ecken und Kunst, bis zu dem verhüllten Kasten unter dem Stuhl der Geisel. Eine Ansicht zeigt Vogelperspektive, ein wahres Spinnennetz roter Kabel strebt in alle Richtungen.

„Dies ist eine Warnung an die Polizei! Es ist alles gesichert, verlassen Sie sich darauf. Sobald eine der Türen, ein Fenster, eine Luke ohne meine Erlaubnis geöffnet wird, ist das Mord an der Geisel. Das System ist sehr sensibel und absolut zuverlässig. Und - ein Ratschlag, wenn Sie erlauben – bitte versuchen Sie nicht die Wände zu durchbrechen. Ich zeige Ihnen ganz bewusst nicht alle Vorrichtungen, um Ihnen etwas Spielraum zum Ausprobieren zu gewähren. Nur zu, testen Sie es aus! Womöglich treffen Sie einen wunden Punkt des Systems, mit aller Wahrscheinlichkeit jedoch jagen Sie die Geisel in die Luft.“

Schnell wechselnde Bilder von Ein- und Ausgängen, Fenstern, Balkontüren. Drähten, Schnüren, Kabel und Lichtschranken.

Das ist unmöglich, denkt Remmer. Wie hat er das so schnell fertig gebracht?

„Es ist offensichtlich, dass Sie keine Chance haben und mit Ihnen meine ich Wolfgang von Erlen, ebenso wie die Polizei von Hamburg. Ich verlange – ich wiederhole mich nur ungern –  zwanzig Millionen Euro in bar bis fünfzehn Uhr neunundfünfzig am morgigen Sonntag. Sie werden das Geld in den Sporttaschen in einen vollgetankten Helikopter laden. Weitere Anweisungen folgen dann. Und bitte versuchen Sie nicht mich umzustimmen oder irgendwie unter Druck zu setzen. Es wäre verschwendete Zeit und könnte mich überdies schnell ärgerlich machen.“

Erstmals der Geiselnehmer selbst. Er tritt ins Bild, dass sonst wieder Judith zeigt, in der Hand die Waffe, maskiert.

Und nun, liebe Öffentlichkeit, verehrte Zuschauer, es tut mir aufrichtig leid, dass ich gezwungen bin so etwas Grausames zu tun und Ihnen allen das auch noch zuzumuten, aber ich habe eine Geschichte.

Eine Geschichte, die diese Tat erklärt, mein Motiv sozusagen, und eine Geschichte, die Ihnen hoffentlich etwas mehr glauben machen wird, dass ich der Gute bin. Liebe Judith von Erlen, ich wollte das alles nicht und ich hoffe sehr, dass Sie mir eines Tages verzeihen können. Es tut mir unendlich leid.“

„Nun, das wird ja interessant.“, flüstert Remmer.

Koob nickt. „Ja, in der Tat. Sehr interessant.“

Ein Bild von einem Paar. Mann und Frau, Arm in Arm, beide strahlend, glücklich. Beide wohl etwa dreißig.

„Das bin ich. Das ist meine Frau Cornelia. Das sind wir. Damals waren wir glücklich. Wir hatten alles, was wir brauchten und vor allen Dingen hatten wir uns. Wir waren im Urlaub auf der indonesischen Insel Bali, in der Nähe der Stadt Kuta. Dieses Foto wurde geschossen am zehnten Oktober 2002. Zwei Tage später, am zwölften Oktober, wollte Cornelia abends noch etwas trinken gehen. Wir besuchten den Sari Club, der bei Touristen besonders beliebt war. Es war schön, hat viel Spaß gemacht.“

Bilder des Clubs.

„Es hat genau bis zu dem Zeitpunkt Spaß gemacht, als vor dem Club eine, in einem Mitsubishi-Van versteckte, per Fernbedienung gezündete, fast eine Tonne schwere Bombe detonierte.

Die Folgen waren verheerend. Bei diesem und zwei anderen, beinahe zeitgleich stattfindenden, Anschlägen kamen zweihundertundzwei Menschen ums Leben, unter ihnen auch sechs Deutsche, unter ihnen Cornelia.“ Er sagt es ohne jegliche Emotion. „Drei Leichen blieben unidentifiziert. Vermutet wurde, dass meine sich dabei befand. Tat sie aber nicht. Ich hatte mich, wie durch ein Wunder unverletzt geblieben, zurück in unser Hotel geflüchtet. Dann verschwand ich im Untergrund. Ich schwor Rache.“

Eine längere Pause. Bilder des Clubs - nach den Anschlägen.

„Es dauerte nicht lange, da waren die meisten Schuldigen, Konstrukteure und Leger der Bomben, Organisator und Mittäter, gefasst und bestraft. Die meisten zum Tode verurteilt. Die Anschläge hat eine islamistische Organisation, die Jemaah Islamiya, geplant und durchgeführt, die Verbindungen zu al-Qaida hat. Soviel also war bekannt und klar. Spuren jedoch führten bald auch nach Deutschland. Der deutsche Staatsbürger Reda Seyam, ägyptischer Abstammung, wurde in Indonesien von der CIA verhört und verdächtigt Finanzier des Anschlags gewesen zu sein, bevor ihn das BKA nach Deutschland überführte. Seyam erlangte später durch das Buch seiner ersten Frau, die unter dem Pseudonym Doris Glück veröffentlichte, eine gewisse Prominenz, lebt aber noch heute unbescholten in Berlin.

Das aber ist nicht der springende Punkt. Ich recherchierte damals weiter, wollte mich nicht zufrieden geben und tatsächlich stieß ich auf etwas Unglaubliches.

Reda Seyam ist damals nur vorgeschoben worden. Als  für den wirklichen Initiator der Anschläge die Luft zu dünn wurde, hat er die Spur absichtlich auf Seyam gelenkt. Er war mächtig genug. Bei dem wahren Schuldigen handelt es sich um niemand anderen als den vielgerühmten Kunstmäzen und Reeder Wolfgang von Erlen.“

Eine Fotografie desselben auf der Eröffnung des Museums von letzter Woche.

„Ich selbst war ehrlich geschockt, die Beweise häuften sich…“

Von Erlen mit einem jungen, gutaussehenden Slawen. Sitzend, in einem Café. Gehend, vor einer grauen Mauer. Jeweils beide lachend, guter Laune.

„Dieser andere Mann ist  vielleicht ein Kontaktmann der Qaida. Fragen Sie von Erlen. Er wird es wissen. Fragen Sie ihn nach seinen Geschäftsreisen nach London und Sankt Petersburg.“

Wieder Judith und der Geiselnehmer.

„Ich weiß nicht warum er das tut. Fragen Sie ihn selbst. Ich will nur, dass Sie wissen, dass ich der Gute bin.“

 

„Das…“, bemerkt Remmer, „das ist die absolut außergewöhnlichste Drohbotschaft, die ich je gesehen habe.“

„Ja. Etwas ganz besonderes.“, pflichtet Koob ihm bei.

„Ich denke, wir sollten schleunigst diesen von Erlen informieren, wenn Sie das nicht schon getan haben, meine ich.“, sagt Remmer.

„Zwanzig Millionen Euro.“ Koob träumt vor sich hin. „Dafür würd ich die Kleine auch entführen.“

„Halten Sie ihren Mund.“,  fordert Remmer forsch. „Haben Sie mich gehört?“

Bandt, die Technikerin, antwortet an seiner statt. „Ich denke, das wird nicht nötig sein. Noch ist das Video gerade einmal einundzwanzigmal aufgerufen worden, was für sich genommen für eine knappe halbe Stunde schon recht viel ist, aber sie können davon ausgehen, dass es binnen weniger Minuten sehr populär ist. Es wird verlinkt, in Foren diskutiert und verschickt werden. Ich vermute es braucht keine Stunde mehr, bis sämtliche Medien, auch TV- und Printmedien, davon erfahren haben, auch wenn Sie es ihnen nicht sofort mitteilen. Herr von Erlen müsste eigentlich schon davon erfahren haben, sofern er nicht gerade unerreichbar ist. Ich kann Ihnen versprechen, wenn nicht heute noch eine Naturkatastrophe geschieht oder ein Krieg ausbricht, spricht in Deutschland in zwei Stunden niemand mehr von etwas anderem.“

„Sie neigt zu drastischen Prognosen.“, meint Koob. „Aber im Prinzip… Sehen Sie nur mal nach draußen!“

Remmer erblickt durch die verdunkelten Scheiben des Busses, der die Leitzentrale darstellt, draußen, die Straße, kreuz und quer, Polizeifahrzeuge stehen und ein Sondereinsatzkommando campiert.

Hinter den Absperrungen drängen sich Schaulustige und Journalisten. „Normal, oder?“, meint er. Dann reflektiert er abermals das gesehene und seufzt. „Der Unterschied ist, dass die da draußen alle ganz genau so viel wissen wie wir, hab ich Recht?“

Koob nickt. „Nach dem zu urteilen, was bisher schon an Versuchen gescheitert ist, Kontakt mit dem Geiselnehmer aufzubauen, sieht es so aus, als ob sich das auch nicht so bald ändern würde.“

„Was haben Sie denn schon unternommen?“

„Beinahe alles. Er ist einfach nicht interessiert.“

„Ganz und gar nicht normal.“ Remmer seufzt ein zweites Mal. „Eines habe ich allerdings nicht verstanden. Wieso, zum Teufel, zeigt er sich uns mit Maske, wenn er doch will, dass man ihn beim Namen nennt? Das macht seine Geschichte nicht gerade glaubwürdiger.“

16 Uhr 50

 

Bandt hat Recht behalten.

 

Die Absperrung wird für einen schwarzen Porsche PANAMERA geöffnet, dessen spiegelnde Scheiben die Sonnenstrahlen zurückwerfen, dass sie die Augen der Umstehenden schmerzen, als er behaglich schnurrend heran rollt. Unter massivem Polizeischutz entsteigt ein großer, schlanker Mann dem Fond des eleganten Fahrzeugs. Schnellen Schrittes und mit geradester Körperhaltung eilt er auf Remmer zu, der ihn vor dem Bus stehend erwartet. Er wirkt gefasst, als er ihm die Hand schüttelt aber Remmer hat zu viele von Angst getriebene Menschen gesehen, als dass ihm entgangen wäre,  wie aufgewühlt von Erlen unter dieser obersten Schicht der Contenance ist. Dennoch, denkt er, als er in die ausdrucksstarken grünen Augen sieht – nicht wütend, wie die seiner Tochter, eher müde wirkend - ein Mann von großer Würde. Er ist wohl etwas jünger als er, doch Remmer erkennt neidlos an, dass der Andere der größere von ihnen beiden ist, ohne ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Charisma, sagt er sich.

„Wolfgang von Erlen.“ Sie schütteln sich die Hände. „Ich habe gehört, Sie sind ein guter Polizist.“

Remmer fragt nicht von wem er das gehört hat. „Vielleicht nicht gut genug.“, sagt er.

Die Befürchtung hängt in der Luft.

„Wie geht es meiner Tochter?“

„Den Umständen entsprechend gut, soweit wir wissen. Das Traurige ist, dass wir es nicht wirklich wissen. Es ist uns noch nicht gelungen mit dem Geiselnehmer Kontakt aufzunehmen. Aber es wird alles getan, damit…“

„Schon gut. Ich weiß.“

 „Ich nehme an, Sie kennen die Forderungen?“

„Ja. Die kenne ich.“

„Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen…“

„Ja. Ich könnte es bezahlen.  Wenn ich es müsste.“

„In Ordnung. Wir tun unser Bestes.“

 

16 Uhr 57

 

„Nun werden wir sehen, ob er seine Drohung wahr macht.“, ruft Koob herüber.

Von Erlens Gesichtsausdruck ist angespannt.

„Wir haben einen neuen Clip.“, verkündet Bandt aufgeregt. „Gerade online.“

„Es kann doch nicht schon die Zerstörung sein?“

 

„Ich bitte alle Kameraleute und Fotographen ins Foyer. Ich schwöre, Ihnen wird nichts geschehen. Ich stehe mit meinem Leben dafür ein. Ich weiß, das gilt hier nicht viel! Keine Polizei! Nur Kameraleute und Fotografen. Wenn Sie nicht kommen, könnte der Geisel etwas geschehen. Befinden Sie sich im Foyer, treten Sie bitte an die Glastür zum ersten Ausstellungsraum und beobachten Sie die zuvorderst stehende Skulptur.“

 

So schlicht. Dabei ein Standbild der Geisel, das gut der vorigen Botschaft entnommen sein kann.

„Es ist zu gefährlich.“, ruft Koob.

„Wir müssen sie lassen.“ Remmer.

 

16 Uhr 59

 

Kamerabewehrte Pressevertreter drängen sich an der Scheibe zum Ausstellungsraum I, Objektive in Richtung der ersten Skulptur.

Zwei surrealistische Menschen. Mann und Frau. Kopulierend verrenkt in orgastischer Ekstase.

Der weiße Stoffbeutel, der am Unterbauch des Mannes, kurz über dem Punkt der Vereinigung, befestigt ist, ist unübersehbar.

 

„Zehn, Neun, Acht…“, flüstert irgendwer.

Sonst ist es ruhig.

„…Sieben, Sechs, Fünf…“

Statisch. In der Bewegung verharrt.

„…Vier, Drei…“

Totenstill. Die Halle liegt ausgestorben da.

„…Zwei…“

„Bumm.“, sagt ein ausgemacht Witziger.

…Eins!“

 

Die ersten beginnen wieder zu atmen.

 

Fragendes Lächeln breitet sich auf den Gesichtern aus.

Die Skulptur vergeht in einem Feuerball. Die Druckwelle lässt die Wände erzittern. Hinter der Glasscheibe spürt man nicht viel. Als sich der Staub gelegt hat, ist von der Statue nichts mehr übrig.

 

Von Erlen hat dem Schauspiel unbewegt zugesehen, nur seine Kaumuskeln haben sich verhärtet.

 

„Er meint es ernst.“, konstatiert Remmer. „Wie lange brauchen die Scharfschützen denn noch?! Das ist ja nicht mehr erträglich.“ Er ist ungehalten.

 „Bleibt noch eine andere Option als zu bezahlen?“ Von Erlen.

„Nur die Ruhe.“, sagt Remmer, obwohl er sich vage ausmalen kann, wie ruhig er wäre, wenn eines seiner Kinder nun dort drinnen wäre.

 

17 Uhr 08

 

Die Scharfschützen seien alle in Stellung, verkündet der Leiter des Sondereinsatzkommandos.

Was sie denn sähen dort oben.

Nichts, Kabel, Kunst. Nicht die Geisel, nicht den Geiselnehmer.

Und auf der Kanalseite?

Auch nichts.

Nirgendwo?

Nirgendwo.

„Er versteckt sich. In dem Film steht der Stuhl mit der Geisel vor einer weißen Wand. Da gibt es kein Fenster. Vermutlich hält sich der Geiselnehmer auch dort auf.  Jeder der Ausstellungsräume hat sowohl Fenster zum Kanal, als auch zur Straße, nicht wahr?“, fragt Remmer dann an von Erlen gewandt.

„Ja, das stimmt. Das Konzept lautete, alles so offen und licht wie möglich zu gestalten. Tragende Wände sind aber natürlich stehen geblieben, deswegen können Ihre Leute nur sehr begrenzt, nur von seltenen, bestimmten Punkten aus gesehen, Räume von Fenster zu Fenster überblicken.

Außerdem gibt es unzählige Säulen oder hoch aufragende Kunstwerke, die ihre Sicht einschränken.“

„Nun jedenfalls kann er nun nicht mehr fliehen. Weder zum Kanal, noch zur Straße.“, merkt Koob an.

Remmer glaubt nicht, dass er fliehen will, nicht zumindest bevor er das Geld hat. „Apropos, wie will er überhaupt dann hier wegkommen?“

„Hat er doch gesagt. Mit dem Helikopter.“

„Und wo soll der landen?“

„Sind Geldscheine denn nicht markiert, wenn ich mir die Frage erlauben darf? Ich beziehe mein Wissen darüber nur aus Romanen und Spielfilmen, aber kann dieser Kerl sie überhaupt nutzen? Werden sie nicht sofort aus dem Verkehr gezogen, wenn mit ihnen bezahlt wird?“, fragt von Erlen mit zusammengekniffenen Augenbrauen. „Vielleicht ist die Frage dumm, aber…“

Remmer lacht auf. „In Filmen, ja, da funktioniert so einiges, was die Wirklichkeit nicht hergibt. Theoretisch funktioniert das vielleicht auch mit den gebrandmarkten oder radioaktiven Geldscheinen, aber in der Realität ist Geld nun einmal Geld und stets gern genommen. Unser Freund hier würde wohl kaum so blöde sein, das Geld als Ganzes bei der nächsten Sparkasse einzuzahlen. Wenn er es nun einfach in bar behielte und es bei Gelegenheit stückweise tauscht und wäscht, damit bezahlt, wie Sie sagen, achtet niemand auf die Zahl in der Ecke achten, auch wenn sie noch so stinkt.“ Er hält inne. „Außerdem gibt es Mittel und Wege. Ein bisschen schmieren an der richtigen Stelle und das Rad läuft tadellos.“

Ein junger Kriminalbeamter betritt den Bus, das Mobiltelefon vorgereckt, wie eine Waffe.

Er habe herumtelefoniert, wie ihm aufgetragen worden war. „Eine Cornelia Abermann war tatsächlich unter den Toten von Bali, allerdings heißt es, dass auch ihr Mann bei dem Anschlag gestorben ist. Seine Leiche wurde jedoch nie identifiziert. Deswegen ist es nicht auszuschließen, dass er wirklich unser Geiselnehmer ist.“

„Abermann, also.“, konstatiert Remmer. „Und bisher habe ich ihn für ein Symbol gehalten.“

„Wo wir schon davon sprechen.“ Koob geht auf das Rätselhafteste an der Geiselnahme ein.

Eine Konfrontation damit ist bisher tunlichst vermieden worden,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Simon Kaiser
Bildmaterialien: 495170_original_R_K_by_Peter A_pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2014
ISBN: 978-3-7368-3258-9

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