Innerlich zählte ich schon jede Sekunde und bei jedem Blick auf die Uhr schien die Zeit noch langsamer zu vergehen. Es kam mir vor, als würde sie sich genau am letzten Schultag nach all den harten Prüfungen gegen mich verschwören. Die vergangenen Wochen waren die schwersten und stressigsten in meinem Leben gewesen. Doch all die Mühe und Anstrengung hatte sich gelohnt und ich nun lag endlich alles hinter mir. Zwei lange Jahre musste ich für eine solide Ausbildung opfern, doch die lohnten sich auf jeden Fall. Mit dem Diplom in der Tasche standen mir jetzt alle Türen der Welt offen und nichts und niemand konnte mich mehr stoppen. Wie oft sprach ich mit meiner geliebten Oma, was wir Zwei nach dem Ende der Schulzeit in Angriff nehmen wollten. Seit ich ungefähr vierzehn Jahre alt war oder besser gesagt nach dem Tod meines Großvaters verfolgten Oma und ich nur ein Ziel. Diesen Traum wollten wir uns nun so schnell wie möglich erfüllen und zwar hier in Österreich alles aufgeben und in England einen kompletten Neuanfang wagen.
Zu ihren leiblichen Kindern hatte sie überhaupt gar keinen Kontakt in den vergangenen Jahren da sie immer nur angekrochen kamen, wenn sie in Not waren oder dringend Geld benötigten. Daraufhin drehte sie der gesamten Familie den Geldhahn zu und siehe da, von heute auf morgen meldete sich plötzlich keiner mehr. Weder zu Weihnachten noch zum Geburtstag kam eine Karte oder auch nur ein kurzer Anruf. Deshalb beschlossen meine Großeltern rechtzeitig ein Testament aufzusetzen, in dem verfügt wurde, dass ich die Alleinerbin ihres gesamten Besitzes sein sollte und die anderen Kindern nach deren Tod überhaupt keinen einzigen Cent bekommen sollten. Notarisch wurde alles Gott sei Dank noch zu Lebzeiten alles unter Dach und Fach gebracht. Zwar wunderte ich mich oft über deren strenge Entscheidung, doch ich wusste dass sich Beide nur das Beste für mich wünschten und ich später einmal gut versorgt sein sollte. Meine Mutter ließ mich bei meinen Großeltern zurück, als ich gerade einmal zwei Jahre alt war und so wuchs ich, anstatt wie üblich bei Mutter und Vater, bei Oma und Opa auf. Ich hatte die glücklichste Kindheit die ich mir je vorstellen konnte und sie zogen mich auf, als wäre ich ihr eigen Fleisch und Blut.
Mein Opa unternahm sehr viel mit mir und an den Wochenenden im Sommer verbrachten wir viel Zeit im Wald, sammelten Pilze oder gingen fischen. Ungern erinnere ich mich an dem Zeitpunkt zurück an dem Opa starb, da ich den Tag auch heute noch viele Jahre danach mit sehr viel Schmerz in Verbindung bringe. Es war der schwärzeste und dunkelste in meinem kurzen Leben. Die Zeit die danach kam, verging wie in Zeitlupe und ich wünschte mir oft, die Uhr zurückdrehen zu können. Keine Ahnung wie oft ich Gott anflehte mir meinen geliebten Opa wiederzugeben, doch all das Bitten und Flehen war vergebens. Häufig lag ich nächtelang wach und weinte mich in den Schlaf, bis ich vor Erschöpfung irgendwann einschlief. Das Kissen wurde zu meinem besten Freund und musste monatelang unendlich viele Tränen schlucken die ich vergoss. Oma versuchte mich in diesen schweren Momenten so gut zu trösten wie sie konnte und wich kaum von meiner Seite, doch irgendwann reichte auch ihre Kraft nicht mehr aus und wir fielen Beide in ein tiefes dunkles Loch.
Die Zeit für die Trauer ließen wir uns auch von keinen Menschen nehmen, denn für uns war das Leben nicht wie vorher und es würde niemals mehr das Gleiche werden. Zwar meinten es viele Leute gut und dachten sie würden uns mit ihren Worten Mut spenden, doch das Gegenteil war der Fall. Sprüche wie "Die Zeit heilt alle Wunden" konnten und wollten wir absolut nicht hören, da wir sowas hassten wie die Pest. Was dachten sich die Leute bloß so derart dumme Aussagen zu sagen? Jedes Mal wenn mir Jemand so einen Spruch entgegenbrachte, überkam mich plötzlich eine Wut, die ich mir selbst nicht erklären konnte, denn sie tauchte einfach auf. Aus meinem Mund kamen Schimpfwörter, die mir im nächsten Augenblick sofort Leid taten, doch es kam dann über mich und ich musste meinen Aggressionen freien Lauf lassen. Mein Opa hinterließ eine riesengroße Lücke und selbst mit jeder Woche die verging, blieb der Schmerz der Selbe. Man sagt zwar, dass es irgendwann leichter wird, doch ich denke, dass ist nur dummes Gerede. Man kann sich kaum vorstellen wie sehr ein geliebter Mensch fehlen kann und wie lange die Trauer einen verfolgt. Wann würde bloß die Sonne wieder scheinen und ein kleines bisschen Licht in unser graues Leben treten?
Selbst nach einem Jahr blieb der Schmerz der Gleiche und wir warteten vergeblich darauf dass es uns besser ging. Überall im Haus waren die schönen Erinnerungen und so wurden Oma und ich jedes Mal aufs Neue an unseren unglücklichen Verlust erinnert. Uns viel es sichtlich schwer und wirklich nicht leicht, doch wir mussten wohl oder übel diesen Schritt wagen und das Haus in dem wir als Familie so unendlich glücklich waren verkaufen. Wir mussten unbedingt in einer neuen Umgebung komplett neu anfangen und das alte Leben komplett hinter uns lassen. Zwar musste ich anfangs etwas Überzeugungsarbeit leisten, bevor sie der Idee letzten Endes doch zustimmte. Insgeheim wusste Oma, dass sie im Endeffekt die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich spürte wie sehr sie mit sich rang, als die Verkaufsanzeige geschalten wurde, doch nun gab es kein Zurück mehr, denn kaum war das Inserat veröffentlich konnten wir uns vor Angeboten kaum retten. Es war schließlich wirklich nur eine Frage der Zeti, bis das Haus verkauft wäre.
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2019
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