Schweren Herzens ließ ich mich abermals auf die Knie fallen und bettelte meine Mutter erneut an, doch sie ignorierte knallhart mein Flehen und Schluchzen. Sie rollte mit den Augen, stieg genervt über mich, schleppte mühevoll die letzten Umzugskartons in den Wagen und schlichtete sie in den Kofferraum. Mit einem heftigen Ruck schlug sie ihn zu, klatschte in die Hände und rief mir vergnügt zu: „Rory zieh doch nicht so ein trauriges Gesicht, freu dich bitte auf den Neuanfang. Du wirst sehen, er wird uns gut tun und nach einer kurzen Zeit haben wir uns bestimmt eingelebt. Ich streite nicht ab, dass es eine Weile dauern wird, aber ich versichere dir schon jetzt, bald fühlen wir uns in Ravenhill zuhause.“ Ich verstand sowieso nicht warum Mum das Haus verkaufte und es mit dem Umzug nach der Scheidung von Dad so eilig hatte, doch ich musste mich meinen Schicksal fügen, da mir leider nichts anderes übrig blieb.
Dad lebte mit seiner neuen und deutlich jüngeren Frau in Miami und wollte mich nicht bei sich haben, dies versetzte mir einen großen Stich ins Herz, aber ich musste mich damit abfinden, dass er nicht an mir interessiert zu sein schien. Trotzig saß ich auf den Stufen der Veranda und rief schmollend zurück: „Ja wenn du meinst Mum, dann wird es wohl das Beste sein. Obwohl ich mit deiner Meinung gar nicht einverstanden bin, kann ich es leider kaum ändern. Komm lass uns losfahren, damit wir rechtzeitig ankommen.“ Ein letztes Mal blickte ich mit Tränen in den Augen auf mein altes Zuhause und stieg dann freiwillig ins Auto ein. Ich kämpfte damit nicht auf der Stelle loszuheulen, doch die Blamage wollte ich für mich behalten und das Letzte was ich wollte, war vor Mum zu weinen. Sie kannte mich nur als starke Tochter und dies wollte ich auch vor ihren Augen sein und ebenso bleiben. Selbst in Momenten wie diesen, in denen mir die Tränen kamen, hielt ich sie zurück und spielte die taffe und schlagfertige Rory. „Na Mäuschen bist du bereit? Kann ich losfahren?“, fragte sie unsicher und blickte mich traurig an.
Ich setzte ein cooles und lässiges Grinsen auf, lehnte mich in die Rücklehne und antwortete gut gelaunt: „Ja natürlich Mum, worauf wartest du noch? Fahr los.“ Sie nickte, ließ den Motor, der beim Anstarrten ein wenig brummte, stieg in die Pedale und brauste in Richtung Highway davon. Mum war wohl in diesem Augenblick die glücklichste Person und ich wohl mit Abstand der unglücklichste Teenager der Welt, denn ich saß traurig daneben und starrte aus dem Fenster. Zu allem Überdruss durfte ich mir aber auf keinen Fall meine tiefe Trauer anmerken lassen. Es fing an zu regnen, die grauen Wolken die immer dichter wurden, verdunkelten allmählich den Himmel und ließen keinen einzigen Sonnenstrahl durchblitzen. Die Regentropfen prasselten an die Fensterscheibe und rannen langsam hinunter. Mit den Fingerspitzen verfolgte ich ein paar auf ihren Weg nach unten, dies lenkte mich ein bisschen von meinem Kummer ab, der mir je näher wir unserem Ziel kamen, die Kehle zuschnürte.
Mum stubste mich von der Seite her an und erkundigte sich mitfühlend: „Rory du bist die ganze Zeit so still und sprichst seit zwei Stunden kein einziges Wort mit mir? Es tut mir wirklich leid, dass ich dir so kurz vor dem Schulende noch einen Umzug zumute. Bitte du musst mich aber auch verstehen, ich musste das Haus einfach verkaufen, da mir die gemeinsamen Erinnerungen die ich mit deinem Vater dort erlebte sehr wehtun. Es ist das Beste für uns Beide, glaube mir. Du wirst es irgendwann verstehen und bis dahin hoffe ich inständig, dass du mich nicht allzu sehr hasst.“ Ihre Nase fing an zu tropfen, ich bemerkte wie ihre Augen sich mit Tränen füllten und diese an ihrer Wange hinunter rannen. Unsicher rutschte ich auf dem Sitz herum, überlegte fieberhaft hin und her, was ich darauf antworte könnte. Auf gar keinen Fall wollte ich böse klingen oder ihr Vorwürfe machen, sie war und blieb schließlich meine Mum.
Ich nahm ihre Hand, streichelte sie und erwiderte mit einem leichten Lächeln: „Es ist alles in Ordnung Mum. Mache dir keine Sorgen und um dich zu beruhigen, ich nehme dir rein gar nichts übel. Wir schaffen das schon und ich habe dich sehr lieb.“ Mum schluckte, wischte sich die Tränen mit der Hand weg, nickte mir zu und konzentrierte sich danach wieder auf den Verkehr. Mir fiel es schwer ihr diese positiven Worte zu sagen, da ich in Wirklichkeit das Gegenteil meinte und ich am liebsten nie von daheim weggezogen wäre. Im Internet las ich vor der Abreise viel über Oregon, da dieser Bundestaat in ein paar Stunden unsere neue Heimat war. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen, da wir von der Sonne Kaliforniens in einen der niederschlagreichsten Staaten der Vereinigten Staaten mit viel Regen zogen. Ob ich mich an den gewaltigen Wetterunterschied gewöhne könnte, bezweifelte ich zutiefst, da ich die Hitze und Wärme liebte und seit meiner Kindheit gewohnt war. Warum sich Mum ausgerechnet diesen Ort für einen Umzug ausgesucht hatte, wusste ich bis jetzt noch nicht, da sie jedes Mal, wenn ich sie darauf ansprach, prompt das Thema wechselte.
Innerlich spürte ich, dass wohl ein Mann dahinter stecken musste und sie sich womöglich übers Internet still und heimlich kurz nach der Trennung von Dad neu verliebt hatte. Doch dies waren alles nur Vermutungen, denn eine Bestätigung bekam ich nicht, aber spätestens wenn wir ins neue Haus zogen, würde ich Gewissheit haben. Bis dahin musste ich mich wohl oder übel gedulden und abwarten was der Grund für den Umzug nach Ravenhill war. Es war eine typisch amerikanische Kleinstadt mit gerade einmal circa tausend Einwohnern.
Natürlich war ich mehr als gespannt was mich erwartete und wie schnell ich Freunde und Anschluss finden würde. Inständig hoffte ich es nicht schwer zu haben, doch wissen konnte ich es leider nicht und dies machte mir mächtig Angst. Laut Navigationsgerät erreichten wir in etwa zwei Stunden unser endgültiges Ziel, dabei mussten wir durch Oregons Hauptstadt Salem fahren und Ravenhill befand sich davon ungefähr fünfzehn Minuten entfernt. Mit dem Bus oder der Bahn war diese ebenfalls sehr gut zu erreichen, was dem Ort einen kleinen Pluspunkt bescherte. Mich beruhigte es ungemein nicht in der tristen Kleinstadt gefangen zu sein, da ich nun wusste, dass ich jederzeit ins hektische Treiben von Salem eintauchen konnte.
„Rory ich halte hier bei der Raststätte und wir schlagen uns so richtig den Bauch voll. Um ehrlich zu sein, sterbe ich mittlerweile fast vor Hunger. Hörst du denn nicht wie mein Magen die ganze Zeit knurrt?“, scherzte Mum belustigt um die angekratzte Stimmung ein bisschen aufzulockern. Sie gab sich jede Menge Mühe um mir ein Lächeln abzuringen, doch dies fiel mir unglaublich schwer, da ich jetzt schon großes Heimweh verspürte und das obwohl wir noch nicht mal angekommen waren. Ich drehte den Kopf zur Seite, schüttelte ihn, dabei fielen mir ein paar schwarze Haare ins Gesicht und ich musste blinzeln. „Klingt echt gut Mum, ja von mir aus können wir gerne etwas Essen gehen.“, erwiderte ich mit einem sarkastischen Unterton, der Mum zum Glück nicht auffiel.
Sie fuhr die nächste Abfahrt ab und steuerte den Rastplatz an, der scheinbar nicht gut besucht zu sein schien, soweit ich dies an den leeren Parkplätzen erkennen konnte. Es standen jede Menge Trucks in der Nähe, doch normale Autos, waren kaum zu sehen. Ein wenig mulmig war mir schon zumute und am liebsten hätte ich Mum gebeten einfach weiterzufahren, doch da wir Beide schon Hunger verspürten, hielt ich lieber den Mund. Sie parkte sich gleich in der ersten Reihe ein, fing an zu kichern und trällerte: „So wir wären am Ziel Süße und gleich fressen wir uns voll.“ Ich stieg aus, bekam aber sofort am ganzen Körper eine Gänsehaut und ich fing augenblicklich heftig an zu zittern. Das kurze Kleid, welches ich vor der Abfahrt in San Francisco angezogen hatte, war für das kalte Wetter hier, eindeutig die falsche Wahl und ich bereute es bereits, mich so sommerhaft gekleidet zu haben. Die ganze Bekleidung, insbesondere warme Jacken oder flauschige Westen befanden sich leider in den unzähligen Koffern gut verpackt im Kofferraum und waren schwer oder fast gar nicht zu erreichen.
Um meine Laune noch mehr zu vermiesen, fing es an leicht zu tröpfeln und der Regen prasselte mir auf die kalte Haut, woraufhin ich noch mehr anfing zu frösteln. Mum fand das alles wohl ziemlich witzig, sprang in eine Wasserlacke und schrie fröhlich: „Mensch Rory stell dich nicht so dumm an, das ist nur Wasser und außerdem bist du nicht aus Zucker. Du musst dich an das regnerische Wetter gewöhnen, da bleibt dir leider kaum was anderes übrig.“ Genvervt verdrehte ich die Augen und stapfte zornig ins trockene Lokal, wo ich sofort von einigen älteren in die Jahre gekommenen Truckern neugierig beobachtet wurde. Sofort fühlte ich mich extrem unwohl und hielt panisch Ausschau nach Mum, die zu meiner großen Erleichterung direkt hinter mit stand und die Typen sofort böse anfunkelte.
Wo zur Hölle waren wir hier nur gelandet, schoss es mir durch den Kopf. Die Typen fand ich extrem widerlich und unheimlich, doch Mum klopfte mir mutig auf die Schulter und setzte sich einfach auf einen der Barhocker direkt neben ein paar dieser schäbigen alten Säcke. Die Inhaberin oder Kellnerin des Ladens war geschätzte fünfzig Jahre alt, besaß eine etwas rundlichere Figur und machte einen mürrischen, miesgelaunten Ausdruck als sie uns Beide erblickte. Missbilligend beäugte sie uns einer nach der Anderen skeptisch, schoss uns die Speisekarte regelrecht entgegen und furzte nebenbei auch noch laut hinter der Theke was das Zeug hielt. Also Manieren besaß hier absolut niemand und scheinbar wusste ebenso kein einziger Mensch wie man sich angemessen benahm. Keiner der Männer konnte sein Lachen unterdrücken und so fingen sie alle nacheinander an zu prusten. Dabei spuckten ein paar von ihnen auf die Theke und grinsten mich mit einem lüsternen Augenzwinkern an. Ich begann mich in diesem Laden allmählich immer unwohler zu fühlen und die Blicke der Trucker jagten mir eisige Schauer über den Rücken. Mum schien davon rein gar nichts mitzukriegen, geschweige denn etwas zu bemerken, da sie seit einigen Minuten in die Speisekarte vertieft war, welche sie regelrecht zu studieren schien.
Mit dem Knie stieß ich sie vorsichtig an, ohne jedoch für Aufsehen zu sorgen und rollte um ihre volle Aufmerksamkeit zu bekommen mit den Augen. Allmählich dürfte sie von der Sache, die sich hier seit einiger Zeit abspielte Wind zu bekommen und legte die Karte zurück. Die Kellnerin starrte sie grantig an und fauchte: „Na was darf es sein? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit um auf deine Bestellung zu warten. Also beeile dich lieber ein bisschen oder soll ich dir bei einer schnellen Entscheidung helfen?“ Sie schürzte die Lippen, leckte sich genüsslich mit der Zunge darüber und ließ erneut einen Farn, der gewaltig zu stinken begann. Mum und ich hielten sofort die Luft an, nahmen unsere Sachen und stürmten eilig aus dem versifften Laden hinaus. Die Männer riefen uns noch sarkastische und nicht jugendreife Wörter nach, die wir aber einfach ignorierten. Mum drückte aufs Gas und brauste trotz strömenden Regens so schnell sie konnte davon, dabei schüttelte sie oft den Kopf und murmelte: „Was für grausige Männer. Nichts wie weg von dieser Gegend.“
Texte: Abigail Dilaurentis
Tag der Veröffentlichung: 04.07.2016
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