____________
23.07.2018
Jena - Marielyst
____________
Der Tag begann viel zu früh. Zumindest wenn man bereits im Mai seine ganzen Abiprüfungen hinter sich gebracht und schon seit Mitte April keinen Unterricht mehr gehabt hatte. Da war man es nicht mehr gewohnt, aus den Federn zu kriechen, wenn nicht wenigstens eine Acht vor dem Doppelpunkt stand. Doch es war okay.
Heute war es okay.
Gähnend krabbelte ich aus dem Bett. Auf dem Weg zum Kleiderschrank fiel mein Blick auf einen Wäschekorb, der vor Klamotten überquoll, und einen halbfertig gepackten Rucksack. Wie so oft in den letzten Tagen beschlich mich das Gefühl, auf der einen Seite viel zu viel eingepackt, auf der anderen aber die Hälfte vergessen zu haben. Ich ignorierte es. Täte ich es nicht, würde ich vor jeder Reise grundlos Panik schieben, denn meist hatte ich zumindest nichts vergessen.
Mit frischen Klamotten bewaffnet, schlurfte ich ins Bad. Geduscht hatte ich gestern Abend bereits, sodass ich mich nun nur kurz umziehen musste, mir eine Ladung Wasser ins Gesicht klatschte und meine Haare versuchte, in eine halbwegs akzeptable Position zu bringen.
Auf dem anschließenden Weg nach unten ins Wohnzimmer begegnete ich weiteren Wäschekörben sowie vollgepackten Kisten. Wie wir das alles je in das eine Wohnmobil verladen sollten, war mir ein Rätsel.
"Morgen", grüßte ich meine Mum, die schon fleißig, wenn auch noch etwas verschlafen, in der Küche herumwuselte.
"Guten Morgen, mein Schatz."
Sie lächelte und zog mich in eine Umarmung.
"Wo ist Papa?"
"Der ist vor 10 Minuten los nach Gera. Würdest du den Tisch schon mal für drei Leute decken?"
Ich nickte und blickte auf die Anzeige über unserem Ofen. Acht Uhr. Also würde mein Vater vielleicht 8.45 in Gera sein, 9 Uhr das Wohnmobil abholen und 10 Uhr zurück sein. Dann würden wir eventuell eher loskommen, als geplant.
Ich holte drei Teller aus dem Schrank, fischte das nötige Besteck aus dem Geschirrspüler und trug alles zum Tisch. Dann machte ich mich daran, den Rest aus der Spülmaschine auszuräumen, während meine Mum die Küchenkisten packte und die Lebensmittel aus dem Kühlschrank herausnahm.
"Weckst deine Schwester?"
Ich nickte, schnappte mir auf dem Weg nach draußen die Plastikabfälle, die neben der Kaffeemaschine lagen und machte mich anschließend daran, meine 13-jährige, pubertierende, langschläfrige, süße kleine Schwester aus ihrem Schönheitsschlaf zu reißen.
*
Das Wundervolle an hypothetischen zeitlichen Vorausplanungen war, dass man sich eigentlich sicher sein konnte, dass sie nicht eintrafen. Mein Dad hatte kein Geld für die Kaution dabei gehabt und hatte in Gera erst noch einen Bankautomaten finden müssen. Dann hatte die ganze Wohnmobilübergabe an sich länger gedauert, als ich gedacht hatte und das Einräumen hatte auch nochmal einige Zeit in Anspruch genommen.
Ich war vollkommen fertig. Der Schweiß lief mir in Strömen über das Gesicht und es war einfach viel zu warm. Immerhin war das jetzt die letzte Kiste gewesen.
"Valerie, passt du aufs Auto auf?", rief ich meiner Schwester zu. "Ich geh nochmal fix duschen."
Eine viertel Stunde später waren wir soweit. Es war kurz vor Eins.
"Abfahrt", tönte die Stimme meines Vaters aus dem Inneren des Wohnmobils. Ich schloss unser Einfahrtstor, hüpfte hinten ins Auto, kramte meine Kopfhörer raus und ließ mich dann neben Valerie auf den Rücksitz gleiten. Keine Minute später rollten wir auf die Straße.
Das Wohnmobil war enger, als ich es in Erinnerung hatte. Hinter den Fahrersitzen befand sich ein kleiner Tisch. Auf dessen anderer Seite saßen Valerie und ich. In unserem Rücken war ein winziges Bad und dem gegenüber die kleine Küchenzeile. Unsere Eltern schliefen hinten im Wohnmobil über der Heckgarage und Valerie und ich teilten uns das Bett über den Fahrersitzen.
5.99 Meter lang, 3.20 Meter hoch und zwei Meter breit. Das war unser Zuhause für die nächsten 17 Tage.
Das Mitfahrgefühl war ungewohnt. Zum einen schaukelte es ziemlich, zum anderen war es laut. Und mit laut meinte ich laut. Normal miteinander reden war nur, wenn man direkt nebeneinander saß.
Wir fuhren auf die Autobahn.
Gut, man musste immer schreien, wenn man gehört werden wollte.
*
Kurz vor 18 Uhr bogen wir auf einen Rastplatz ab. Man merkte, dass wir uns im Norden befanden - die Laub- und Mischwälder waren Kiefernwäldern gewichen.
"Ich muss aufs Klo! Ich muss aufs Klohoo!"
Valerie hüpfte von einem Bein aufs andere. Meine Mum hielt sie an der Schulter zurück.
"Warte kurz, Mäuschen, wir müssen mal fix klären, wie es jetzt weitergeht."
Meine Schwester verdrehte ungeduldig die Augen, blieb aber brav bei uns. Ich betrachtete sie amüsiert.
"Lach nicht", schmollte sie mich an. Das führte allerdings nur dazu, dass sich meine Mundwinkel noch mehr hoben.
"Also, wir haben jetzt zwei Möglichkeiten", ergriff meine Mum wieder das Wort. "Entweder wir machen uns einen entspannten Abend und suchen uns in Rostock einen Campingplatz oder wir versuchen die 19-Uhr-Fähre noch zu bekommen."
"Wie weit ist es denn noch bis Rostock?", fragte ich.
"40 Kilometer", antwortete mein Vater.
Ich überlegte. "Das sollten wir doch schaffen. Und wenn nicht, können wir uns immer noch hier was suchen."
Fragend sah ich in die Runde. Meine Eltern nickten zustimmend.
"Ja, find ich gut", segnete es auch Valerie ab und verschwand in Richtung der Toiletten.
Schmunzelnd blickte ihr mein Vater hinterher. Dann rief er: "Gut, dann aufs Klo, wer aufs Klo muss, ich hol mir jetzt was zu essen."
"Ich komm mit", schloss ich mich ihm an, auch wenn ich eigentlich noch ziemlich satt war. Ein Eis würde aber vielleicht gehen. Meine Mum folgte derweil meiner Schwester zu den Sanitärräumen.
Nach einem Blick auf die Eispreise entschied ich mich spontan dazu, doch keinen Appetit auf was Kaltes zu haben. Generell war es ziemlich schwierig, etwas zu finden, was halbwegs dem Preis-Leistungs-Verhältnis gerecht wurde. Letztendlich holte ich mir einen Cookie, der mit knapp drei Euro immer noch total überteuert und auch nicht gerade das gesündeste Abendessen war, aber immerhin ein Cookie.
Valerie und meine Mum fanden, als sie zurückkamen, auch noch etwas, sodass wir essend die Raststätte wieder verließen und mit dem Rostocker Hafen als Ziel weiterfuhren.
*
Als wir die Treppe vom Autodeck zum Aufenthaltsbereich hinaufstiegen, fühlte ich mich plötzlich vier Jahre zurückversetzt. Ende der achten Klasse waren wir als Jahrgang mit dem Bus nach England gefahren und hatten damals von Calais nach Dover ebenfalls die Fähre benutzt. Ich hatte an diese Fahrt keine schlechten Erinnerungen, dennoch fühlte ich mich auf der Treppe unwohl. Aufatmen konnte ich erst, als wir die Menschenmassen im Inneren des Schiffes zurückließen und das Deck betraten.
Erfrischend kühler Wind schlug mir entgegen, doch durch die Wärme der untergehenden Sonne war er angenehm und nicht kalt. Auch hier tummelten sich einige Menschen, aber es war nicht überfüllt.
Wir entdeckten eine leere Bank und meine Mum und ich ließen uns darauf nieder, während mein Vater mit Valerie hinter an die Reling ging. Ich folgte ihnen mit meinem Blick und stellte fest, dass wir uns bereits bewegten. Nun denn, eine Stunde und 45 Minuten Fahrt lagen vor uns.
Meine Mum hatte sich zurückgelehnt und genoss mit geschlossenen Augen die Sonne. Ich zog ein Bein auf die Bank, lehnte mich an sie und tat es ihr gleich.
"Mama, Marlon, schaut mal!" Träge öffnete ich ein Auge. Valerie lehnte sich von hinten über unsere Köpfe und deutete schräg nach vorn. "Da kommt gleich ein großes Schiff."
"Seh‘ nix", sagte ich. "Da ist das Ding im Weg." Ich deutete auf das Unterdeck des Schiffes.
Valerie verdrehte die Augen. "Ja, glaaheich...!"
Ihr 'Gleich' zog sich noch fünf Minuten, dafür war der Ausdruck 'großes Schiff' Welten untertrieben. Auf der linken Seite des Decks tauchte ein riesiges Kreuzfahrtschiff auf. Man hörte zwar hin und wieder von diesen Dingern, aber sie dann auch mal zu sehen...
"Krass", hauchte ich und starrte es mit großen Augen an.
Meine Mum neben mir grinste. "Die sind schon ganz schön groß, was?"
Ich nickte. Dann verzog ich das Gesicht. "Mich würden da keine zehn Pferde draufbringen." Viel zu viele Menschen und viel zu wenig Raum, um ungestört zu sein.
"Macht dein Schulkamerade nicht bald so eine Reise?", fragte meine Mutter nach einer Weile. Das Kreuzfahrtschiff lag inzwischen hinter uns und wir bewegten uns auf die offene See zu.
Ich nickte und fügte hinzu: "Versteh ich zwar nicht, weil er eigentlich auch keine Menschenmassen mag, aber..."
Irritiert brach ich ab und sah einer Frau und deren Hund hinterher. Gesund konnte das nicht sein, wie sie ihn da am Hals mit sich zog.
"Aber er macht das nicht zum ersten Mal, oder? Also scheint es ja nicht so schlimm zu sein."
Meine Mum hatte sich wieder zurückgelehnt und wenn wir nicht gerade den Ansatz eines Gespräches führen würden, hätte ich wahrscheinlich nicht realisiert, dass sie mit mir sprach. Dafür waren wir beide zu sehr in unsere eigenen Gedanken vertieft.
Ich löste meinen Blick von dem misshandelten Hund und ließ ihn erst über Valerie und meinen Dad, die wieder an der Reling standen, schweifen, ehe er an der Sitzgruppe neben uns hängen blieb. Besser gesagt, an den weißblonden Haaren des Jungen, welcher dort mit seinen Eltern saß.
"Hm", sagte ich, als ich feststellte, dass die Antwort meiner Mum eine Frage beinhaltet hatte. "Ich versteh es trotzdem nicht", setzte ich dann noch nach, damit ich mir einreden konnte, dass das Absterben der Konversation nicht meine Schuld war.
Der Junge schien in meinem Alter zu sein. Er war schlank, schon fast dünn, und saß mit kurzen Hosen und T-Shirt bekleidet in der Sonne und hatte seinen Blick auf das Meer gerichtet. Seine Haare faszinierten mich. Der Wind hatte einige der glatten Strähnen in sein Gesicht geweht, die dort nun frech hin und her tanzten und sich nicht bändigen ließen, egal wie oft er mit der Hand hindurchfuhr. Aufgrund die Sonne schienen sie regelrecht zu leuchten. Sie sahen weich aus. Es juckte mich in den Fingern, sie zu berühren. Aber ich konnte ja schlecht aufstehen, zu ihm rübergehen und mal ganz zufällig durch seine Haare wuscheln.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, drehte er plötzlich seinen Kopf und sah mich an. Und ... grinste?!
Eilig wand ich meinen Blick ab. Okay, er hatte gegrinst, aber beim Starren war ich trotzdem erwischt worden. Moment. Ich sah wieder zu ihm. Sein Blick lag noch immer auf mir. Er hatte direkt hierher geschaut. Er musste also gewusst haben, dass ich hier saß. Der Gedanke gefiel mir. Außerordentlich gut sogar. Andererseits hatte er meine intensive Musterung vielleicht auch einfach gespürt. Sollte ja Menschen geben, die das konnten. Der Gedanke gefiel mir nicht so sehr.
Wir sahen uns immer noch an. Langsam wurde es gruselig. Er grinste schon wieder. Nein, er lächelte. Das war ... scheiße. Also wow, aber ... fuck!
Okay, ganz ruhig. Erster Schritt: Gehirn wieder einschalten. Zweiter Schritt: Es ihm gleich tun.
Unsicher verzog ich meine Lippen zu einem, wie ich hoffte, nicht zu missglückt aussehendem Lächeln. Geschafft. Und es wirkte - seins wurde breiter. Jetzt konnte es wieder als Grinsen durchgehen.
Wie lange sahen wir uns jetzt eigentlich schon an? Irgendwie musste das doch selten dämlich aussehen, wenn sich da zwei Typen auf einer Autofähre schräg gegenüber saßen und sich minutenlang musterten und angrinsten. Oder? Es fühlte sich nicht komisch an. Eher witzig, Tendenz positiv. Also...
Er unterbrach den Blickkontakt. Mist. Seine Lippen bewegten sich. Er sprach mit seiner Mutter. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich sogar ein gedämpftes Murmeln aus seiner Richtung vernehmen.
Okay, Konzentrationswechsel. Konzentrationsobjektwechsel? Egal. Valerie kam wieder.
"Ich hab Hunger", rief sie und tippte meiner Mum ungeduldig gegen die Nase. "Mama, wir brauchen Geld!"
"Schon gut, schon gut. Warte kurz." Seufzend richtete sie sich auf und griff nach ihrer Handtasche. Wir machten es ihr manchmal schon echt nicht leicht. So verfressen wie wir waren. "Hier.“ Sie drückte meinem Dad sein Portemonnaie in die Hand.
"Willst du auch was?", fragte er. "Einen heißen Tee vielleicht?" Sie verneinte. "Marlon, du?
"Ich komm mit." Schwerfällig erhob ich mich. Vielleicht gab es hier Fischbrötchen.
Mein Blick fiel erneut auf die Tischgruppe neben uns. Er saß da und tippte auf seinem Handy. Als wir uns ihm auf unserem Weg ins Schiffsinnere näherten, sah er auf. Unsere Blicke trafen sich. Er lächelte, ich lächelte. Ich brach den Blickkontakt. Andernfalls müsste ich rückwärts laufen und das würde dann wirklich komisch aussehen.
Wir stiegen die Treppen hinunter zum Aufenthaltsdeck. Hier gab es eine Menge Stühle, einen bestimmt saumäßig überteuerten Laden und ein kleines Fressbuffet. Ohne Fischbrötchen. Aber ebenfalls saumäßig teuer. Ich verzichtete darauf, mir etwas zu kaufen. Doch mein Dad holte sich eine Cola, da er ja nachher noch fahren musste und Valerie entschied sich für ein belegtes Brot. Ich fand es echt unfair, dass es keine Fischbrötchen gab.
Auf dem Rückweg nahmen wir den anderen Ausgang und kamen auf der sonnenabgewandten Seite des Decks heraus. Sofort breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Scheiße, war das kalt. Damit war die Aufenthaltsdauer hier ohne Worte, aber einstimmig, auf nicht länger als unbedingt nötig festgelegt worden und wir kehrten auf schnellstem Wege zum vierten Mitglied unserer Familie zurück.
Mein Vater öffnete die Cola, meine Mum genoss die letzten Strahlen der Sonne und Valerie verschlang ihr Brot. Ich sah zur Nachbarbank.
Sie war leer.
Als die Sonne schließlich untergegangen war und es zu windig und kalt wurde, um noch länger draußen sitzen zu bleiben, beschlossen wir, drinnen weiter darauf zu warten, zurück zu unserem Wohnmobil gehen zu dürfen. Während der Überfahrt waren die Autodecks für Passagiere nämlich nicht zugänglich, was meinem Vater in diesem Moment gar nicht gefiel - er hatte sich erinnert, dass wir noch geschnittene Melone im Auto aufbewahrten. Aber es waren ja nur noch 15 Minuten.
Den Jungen hatte ich nicht noch einmal gesehen. Ich spürte einem Hauch Enttäuschung in mir. Doch als wir endlich anlegten und wieder zu unserem Wohnmobil zurück durften, verdrängte ich diesen, da ich ihn nun sowieso nicht mehr wiedergesehen hätte. So war es eben.
Beim Entladen staute es sich. Wieso genau wusste niemand, aber es trug nicht gerade zur Besserung der Laune bei. Vor allem Valerie und mein Dad wollten endlich ankommen.
Wir nutzten die Zeit des Wartens und überlegten uns, wo wir die Nacht verbringen konnten. In der Nähe gab es für 110 Dänische Kronen die Möglichkeit, an Strand von 21 bis 9 Uhr einem sogenannten Quickstop einzulegen. Das klang gut, weswegen wir, nachdem wir endlich den Fährhafen hinter uns gelassen hatten, nach kurzer Zeit rechts Richtung Meer abbogen. Bevor wir allerdings unser Ziel erreichten, entdeckten wir ein Hinweisschild für einen anderen, näher gelegenen Campingplatz und steuerten kurzerhand den an.
An der Rezeption wurden wir herzlich begrüßt und mussten zwar 150 Kronen zahlen, bekamen jedoch eine Wegbeschreibung zum Strand dazu. Es war halb zehn. Trotz dessen beschlossen wir, die Chance zu nutzen und uns noch ein wenig die Beine zu vertreten.
*
Langsam setzte sich in mir die Vermutung fest, dass wir es nicht schaffen würden, uns jemals nicht zu verlaufen. Egal wo wir waren - auf irgendeiner Wanderung verfranzten wir uns immer. Aber - Dank Google Maps - wie auch immer man sich da verlaufen konnte - schafften wir es nach einigen genervten Bemerkungen heil an den Strand. Der Waldstreifen, welcher das Dorf vom Meer trennte, lichtete sich und ging in Dünen über.
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich seit 13 Uhr nur im Auto gesessen hatte oder ob es was anderes war, auf jeden Fall packte mich plötzlich eine Begeisterung und ich rannte die Düne hinauf, sog den Anblick des in der Dämmerung liegenden menschenleeren Strandes in mich auf, strampelte mir Schuhe und Socken von den Füßen und rannte barfuß auf der anderen Seite wieder hinab.
Das Wasser war kühl, doch nach wenigen Sekunden hatte ich mich an die Temperatur gewöhnt. Nun umfloss es angenehm meine Füße. Ich blickte den Strand entlang. Auf der einen Seite erhellten Überreste des Sonnenlichts Teile des Himmels, auf der anderen war der volle Mond zu sehen. Tief atmete ich durch. Ich fühlte mich wohl. Richtig wohl.
Meine Familie war mittlerweile ebenfalls die Düne heruntergekommen. Wegen mir konnten wir hier bleiben. Den Norwegenurlaub absagen und stattdessen die Nächte am dänischen Ostseestrand verbringen.
Ich lief eine Weile in Richtung der untergehenden Sonne am Strand entlang. Wellen umspielten immer wieder meine Füße und mit jedem Schritt wurde es dunkler. Es war wunderschön. Friedlich, ruhig und menschenleer.
Ich drehte mich um und ging zurück zu meiner Familie. Vor mir spiegelte sich das Licht des Mondes in den auslaufenden Wellen. Der Moment war einfach perfekt und ich sog ihn tief in mich auf. Es tat gut, den Familien- und Reisestress kurzzeitig loslassen zu können. In diesem Augenblick war dafür kein Platz.
"Es ist schon halb elf", bemerkte meine Mum, als wir alle vier wieder beisammen standen und riss mich damit zurück in die Realität. Ich seufzte betrübt, doch es war klar gewesen, dass wir nicht ewig hierbleiben konnten. Dennoch ... jetzt noch einen Strandspaziergang zu machen, am besten mit jemanden, den man liebte... Ich verscheuchte den Gedanken und fügte mich der Entscheidung meiner Eltern, heim zu gehen.
Es war 23.30 Uhr, als wir ins Bett fielen und die erste Nacht im Wohnmobil anbrach. Der Funken Hoffnung in meinem Inneren, irgendwann mit einem Partner diese Momente zu erleben, blieb allerdings und flammte, während sich die Nacht über uns senkte, für einen Augenblick erneut schmerzlich auf.
_____________________________________________
24.07.2018 - 29.07.2018
Marielyst - Majviken - Sørlia - Miland - Odda - Ringøy - Fusa
_____________________________________________
Den Dienstag nutzen wir dazu, kilometermäßig voranzukommen. Von Marielyst ging es nach Kopenhagen, von dort über die Öresundbrücke nach Malmö und damit auf schwedischen Boden und dann weiter an der Westküste des Landes Richtung Norden.
Die Landschaft neben der Autobahn sah ähnlich flach wie in Dänemark aus, doch - ohne, dass ich Dänemark besonders gut oder Schweden überhaupt kannte - würde ich behaupten, dass ich dennoch erkennen würde - hätte ich zwei Bilder vor der Nase -, um welches Land es sich handelte. Ich konnte nicht genau benennen, woran ich es festmachte, es war einfach ... anders. Waldiger vielleicht.
Am späten Nachmittag suchten wir uns einen, an einem Fjord gelegenen, Zeltplatz. Die Sonne schien, es war nach wie vor viel zu warm und die Wetterfrösche prophezeiten auch keine Änderung der Lage. Fürs Campen war das super, für die Waldbrände in Schweden weniger. Ebenso für den Grillfanatiker, der in meinem Dad steckte. Überall herrschte Verbot, was offenes Feuer anging.
Noch brauchten wir den kleinen türkisen Rost Himmel sei Dank nicht. Valerie versuchte zwar mit unserem Dad zusammen ihr Glück beim Angeln, doch es sah nicht sehr erfolgsversprechend aus.
Auch das Schwimmen, welches ich mir für heute Nachmittag vorgenommen hatte, gestaltete sich schwieriger als erwartet. Den langen, flachen und wasserpflanzenfreien Sandstrand von gestern vor Augen habend, begutachtete ich zusammen mit meiner Mum die Badestelle des Zeltplatzes und wurde bitter enttäuscht. Dass ich durch die Hitze nicht allein hier sein würde, war mir klar gewesen, auch wenn ich es als menschenmassenhassende Person gern anders gehabt hätte, doch neben den Touristenansammlungen gab es auch jede Menge Algen und perfekt zum Baden war was anderes. Hier würde ich nicht einmal meinen großen Zeh ins Wasser halten. Wir standen eben an einem Fjord, nicht am Ostseebadestrand. Sehnsüchtig starrte ich das Wasser an. Bei den Temperaturen wäre ich da jetzt echt gern reingegangen... Also nein, da nicht, aber ins Wasser.
Ja, ich war etwas pingelig, wenn es ums Baden ging. Normalerweise ging ich nämlich gar nicht und wenn doch, dann wusste ich gern, was unter mir alles so rumschwamm. Was nicht hieß, dass ich in einem klaren Becken mit Haien, Quallen und Algen baden gehen würde. Nein, eigentlich vermied ich die ganze Sache, so gut es ging. Duschen tat es schließlich auch.
*
In der Nacht stellte ich fest, dass die Schieflage des Wohnmobils auch eher suboptimal war. Unsere Parzelle befand sich an einem Hang und obwohl wir solche Blöcke zum Drauffahren unter die Räder geschoben hatten, lag es sich dezent schief. Während des Schlafens kuschelte ich ungewollterweise mehrfach mit Valerie, einfach weil ich in ihre Betthälfte rollte. Ebenso oft wurde ich wach und das krampfhafte Versuchen, nicht wegzurutschen, tat sein Übriges, sodass ich am nächsten Morgen ziemlich gerädert auf meinem Sitz saß.
Wir verließen Schweden und passierten die norwegische Grenze ohne Probleme. Die Landschaft wurde immer waldiger und wies nun auch zunehmend Felsen auf.
Südlich der norwegischen Hauptstadt unterquerten wir den Oslofjord und gelangten auf eine Landzunge. Immer auf der Suche nach einem Platz zum Übernachten schlängelten wir uns an deren Ostküste gen Süden. Durch das lange Fahren und der Tatsache, kein festes Ziel vor Augen zu haben, war die Stimmung angespannt und Gespräche schlugen schnell ins Gereizte um. Ich kannte meine Familie - ich wusste, dass Urlaube zum Teil auch immer Stress bedeuteten, gerade am Anreisetag. So gesehen war die Wahl eines Wohnmobils nicht die intelligenteste gewesen, denn irgendwie war nun jeder Tag ein Anreisetag.
Ich atmete erleichtert auf, als meine Eltern auf der Karte einen abgelegenen Parkplatz fanden und diesen ansteuerten. Dort angekommen, musste ich zwar meine Enttäuschung hinunterschlucken, doch wir waren immerhin am Ziel. Bisher hatte es Norwegen noch nicht geschafft, mich zu packen. Alle schwärmten von diesem Land, aber die Küstenstraße und nun der Parkplatz am Meer waren zwar irgendwo auch schön, aber meiner Meinung nach den weiten Weg in den Norden nicht wert.
Ich hoffte darauf, dass sich das ändern würde, wenn wir weiterfuhren.
*
Das tat es.
Bereits am nächsten Tag veränderte sich der Landschaftscharakter fundamental. Wir waren ins Landesinnere gefahren und kurvten nun weit ab jeglicher Zivilisation auf kleineren Straßen durch eine einzigartige Seenlandschaft, die mich sofort für sich einnahm. Ich war begeistert von der Schlichtheit der Natur, was gleichzeitig das Einzigartige und Schöne war und sog den Anblick der klaren blauen Seen, eingerahmt in satt grüne Birken- und Kiefernwälder, die wiederum im Kontrast zu den kargen grauen Felsen standen, gierig in mich auf. Es gab nur uns, die Straße und die Natur. Diese Abgeschiedenheit war es, was ich liebte.
Meine Mum hatte im Vorfeld Reiseführer aus der Bibliothek ausgeliehen und uns dann die Möglichkeit gegeben, rauszusuchen, wo wir hinwollten. Im Endeffekt war ich der einzige, der da was markiert hatte, aber ich wäre blöd, mich deshalb zu beschweren.
So starteten wir mitten im Nirgendwo eine kleine Wanderung, die uns an einem Flusslauf entlang bis zu dessen Mündung an einem See führte. Auf dem Weg fanden wir haufenweise Elchkötteln und Valerie machte - zum Glück aus noch sicherer Entfernung - Bekanntschaft mit einer Kreuzotter.
Am nächsten Tag entdeckten wir während unseres Ausflugs hingegen keinerlei Hinweise auf etwaige Fauna. Wir standen wieder in der Pampa und fanden - wie so oft - den Weg nicht. Zumindest den, der auf den kleinen Hügel rechts von uns führen sollte. Es war nicht unbedingt schlimm, die Wiese- und Heidelandschaft war auch hier unten echt schön, aber Valerie hatte es nicht so mit weitem Laufen und wollte mit meiner Mum eigentlich nur die kleine Runde über den Hügel gehen.
Wir lösten das Problem, indem die beiden einfach eher umdrehten als Papa und ich und im Wohnmobil das Essen vorbereiteten. Wir Männer gingen noch ein Stück, doch als wir auch dort keine Hinweise auf einen abzweigenden Weg erkennen konnten, drehten wir ebenfalls um und machten uns hungrig auf zum Mittagessen.
Nach diesem ging es wieder auf die Straße. In Odda kamen wir erst spät am Abend an und stellten uns dort, direkt am Sørfjorden, in eine Wohnmobilsiedlung.
Valerie und Papa verschwanden zum Angeln - ein Fjord gehörte ja zum Meer und in diesem durfte man in Norwegen ohne Genehmigung angeln - und Mama und ich setzten uns in deren Nähe auf einen Betonklotz und sahen ihnen zu.
„Jetzt haben wir tatsächlich auch mal Wasserfälle gesehen“, sagte ich nach einer Weile, als ich den Tag vor meinem inneren Auge nochmals ablaufen ließ. Bisher waren wir nämlich tatsächlich noch an keinem vorbeigekommen. Erst heute auf der Fahrt hierher waren ein paar zu sehen gewesen.
„Durch die Trockenheit sind wahrscheinlich viele ausgetrocknet“, antwortete meine Mum. „Als ich mit deinem Papa vor zwanzig ... naja, eher dreißig ... okay, nein, zwanzig Jahren in Norwegen war, musste er alle paar Meter anhalten, damit ich einen fotografieren konnte.“ Sie schmunzelte.
„Das hat er gemacht?“ Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen.
„Anfangs.“ Das Schmunzeln wandelte sich zu einem Lachen. „Nach den ersten zehn oder zwanzig Stück hat er sich dann geweigert.“
Das konnte ich mir schon eher vorstellen. Ich sah zu meinem Dad und beobachtete, wie er die Rute ins Wasser warf. Es sah gut aus. Bei weitem nicht so elegant wie bei Valerie, aber gut.
„Hattet ihr dann damals auch Schafe auf der Straße?“, griff ich den Gesprächsfaden wieder auf. Heute hätten wir nämlich fast ein Schaf überfahren, weil es plötzlich vor uns auf der Fahrbahn stand.
„Nicht, dass ich wüsste, aber ich erinnere mich auch nur noch daran, dass es hier solche kleinen fiesen Fliegen gegeben hat, die mir die ganzen Beine zerstochen haben und daran, dass wir immer auf den Tunnelumgehungsstraßen gezeltet haben. Das war echt schön.“
Sie sah mit einem leicht verträumten Gesichtsausdruck in die Ferne. In meinem Magen zog es. Damals waren die beiden wahrscheinlich wirklich glücklich gewesen. Ich wünschte, das wäre jetzt auch noch so, aber manchmal glaubte ich, es wäre besser, wenn sie jemand neuen finden würden. Nicht, dass ich das wollte. Ich liebte meine Eltern und sie sollten glücklich sein - zusammen, aber ... wenn es zusammen eben nicht ging, dann vielleicht mit jemand anderem. Jedes Mal, wenn die beiden sich an den Händen hielten oder gemeinsam lachten, dann schöpfte ich Hoffnung. Hoffnung darauf, dass sie vielleicht wieder zueinander finden würden. Doch diese Momente waren so selten, dass es eigentlich sinnlos war.
Ich blinzelte die aufkommenden Tränen weg. Vielleicht, wenn Valerie in fünf oder sechs Jahren aus dem Haus war, vielleicht würde es dann besser werden. Doch das waren noch sechs Jahre. Sechs Jahre, in denen sie eigentlich nur noch nebeneinanderher lebten.
Meine Mum gähnte. „Ich geh mich dann mal bettfertig machen. Es ist ja schon viertel elf.“
„Okay.“ Ich gähnte ebenfalls. „Ich komme dann, denke ich, auch gleich.“
Sie nickte und verschwand im Wohnmobil. Ich folgte ihr mit meinem Blick und als sie nicht mehr zu sehen war, richtete ich ihn auf meinen Dad. Sowas wie eine Eheberatung oder Trennung konnte ich nicht ansprechen. Er würde ausrasten. Und es war als Kind auch nicht meine Aufgabe, doch manchmal hasste ich es, die beiden zu sehen und zu wissen, dass sie glücklicher sein könnten.
Valerie riss mich aus meinen dunklen Gedanken, als sich ihre Angel erneut verhakte und sie kurz undamenhaft fluchte. Ich war ihr mehr als dankbar dafür.
„Bekommst du es ab?“, rief ich ihr zu und stellte mich dann neben sie.
„Ja, das geht schon. Ich brauch nur einen Moment.“ Sie lief auf und ab und zog die Angelschnur hinter sich her.
Ich wartete geduldig. Und wartete. Und wartete.
Irgendwann hatte sie es.
„Ihh, was ist das denn?“ Angeekelt ließ sie ein glibberiges gelbes Ding auf den Boden fallen.
„Da hast du einem Fisch wohl die Eingeweide rausgezogen.“ Mein Dad war herangekommen und begutachtete das Etwas aus sicherer Entfernung.
Ich schüttelte den Kopf. „Das sind nie und nimmer die Eingeweide eines Fisches.“ Dann ging ich in die Hocke und sah es mir von Nahem an. In dem Gallert war irgendetwas Dunkles drin. Aber was es war, keine Ahnung. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte.
Wir konnten es auch nicht aufklären, denn auch meine Mutter, die Valerie herbeigeholt hatte, konnte nichts mit Sicherheit sagen. Sie tippte auf Steinbeißer, aber auch das war nicht mehr als eine vage Äußerung.
Valerie beförderte ihren Fang schließlich zurück ins Meer und gab das Angeln dann für heute auf. Zusammen machten wir uns ebenfalls zum Schlafengehen fertig und um Mitternacht rum kam auch mein Vater dazu. Es war eine ruhige Nacht, theoretisch mit Mondfinsternis, doch aufgrund der Berge um uns herum blieb das Schauspiel für unsere Augen unsichtbar.
*
Im Internet hatte meine Mum die Beschreibung einer Wanderung gefunden, wo man in Kinsarvik parken und dann das Husedalen hoch wandern konnte. Dort gab es anscheinend vier Wasserfälle und je nachdem, wie weit man laufen wollte, konnte man nach jedem wieder umdrehen. Es lag nicht weit von Odda entfernt, sodass wir nur eine knappe Stunde Fahrt vor uns hatten.
Der Weg führte uns durch den Obstgarten Norwegens, die Umgebung des Sørfjords. Überall an der Straße standen Stände, an denen man per Selbstbedienung Kirschen und Pflaumen erwerben konnte. Einige Wasserfälle gab es auch wieder zu entdecken sowie jede Menge Tunnel.
Der Himmel war stellenweise bedeckt und nachdem wir den Wetterbericht gegoogelt hatten, wussten wir auch, warum. Ein Wetterumbruch kam auf uns zu. Regen wurde für den Nachmittag und die nächsten Tage angekündigt und die Temperaturen sollten abfallen.
„Das klingt jetzt nicht so toll“, meine mein Vater missmutig.
„Nein... Aber wir wurden die letzten Tage auch echt verwöhnt mit dem Wetter.“ Meine Mum klang ebenfalls nicht begeistert. Ich meine, war ja klar, in Deutschland war es heiß, sonnig und wolkenlos gewesen und auch hier in Norwegen hatten wir das warme Sommerwetter abbekommen.
„Bleibt uns nur, das Beste draus zu machen“, versuchte ich, die Stimmung aufzuheitern.
„Für die Pflanzen ist es auf jeden Fall gut und so schlimm wird es schon nicht werden“, zeigte sich auch meine Mum eher positiv.
Das Husedalen war ein wirklich schönes Tal. Ein Trampelpfad führte immer in der Nähe des Flusslaufes entlang, sodass man den Wasserfällen auch nahe kam. Nach oben hin wurde der Weg jedoch immer steiler und zeitlich zog es sich auch ganz schön. Wir schafften es am Tveitafossen vorbei bis zum Nyastølfossen, doch dann streikte meine Mum. Das war auch gut so, denn just in dem Moment, wo wir an dem Ort angekommen waren, an dem der Trampelpfad mit dem parallel dazu verlaufenden Fahrweg wieder zusammentraf, begann es zu regnen.
Noch während wir am Abstieg waren, beruhigte sich das Wetter zwar wieder, sodass wir dann in Ruhe die 15 Minuten nach Ringøy auf den Campingplatz fahren und Kaffee trinken konnten, doch als ich dann beschloss, duschen zu gehen und in dem Waschraum stand, begann es richtig zu schütten.
Tja, hier bleiben und vor Langerweile eingehen oder frisch geduscht durch den Starkregen rennen. Ich entschied mich für letzteres und schaffte es - dem Duschhandtuch sei Dank - auch halbwegs trocken zurück ins Wohnmobil.
„Da hättest du dir die Duschmarke auch sparen und dich einfach mit Shampoo im Haar nach draußen stellen können“, sagte mein Vater trocken, als ich die Tür hektisch hinter mir schloss. Ich sah ihn an, blinzelte ein paar Mal und räumte dann meine Sachen in unser kleines Bad. Hinter mir lachte es leise.
Den Abend verbrachten wir alle zusammensitzend am Tisch, wobei sich aber jeder selbst beschäftigte. Ein Hoch auf den Familienurlaub. Ich sah die meiste Zeit aus dem Fenster, hörte Musik und hoffte irrwitziger Weise darauf, den Jungen von der Fähre nochmal wiederzusehen. Die Hoffnung hatte ich bei jedem Campingplatz bisher gehabt und jedes Mal schwor ich mir, sie beim nächsten aufzugeben. Wie gesagt, es war irrwitzig und alles, was ich davon hatte, war Enttäuschung.
Irgendwann setzte uns meine Mum Abendessen vor und dann wurde Valerie das erste Mal dazu verdonnert, abzuwaschen. Das war eine Katastrophe... Also, sie machte es. Aber es dauerte. Dass wir hinterher noch Zeit hatten, Wizzard zu spielen, grenzte schon fast an ein Wunder.
In der Nacht brauste der Sturm nochmals ordentlich auf. Mehr als einmal weckte mich der Wind oder das laute Prasseln des Regens. Ich hatte teilweise echt Angst, dass uns die Fenster wegflogen.
Taten sie zum Glück nicht, sodass wir am nächsten Morgen ohne Autosorgen weiterfahren konnten. Nur das Wohin gestaltete sich etwas schwierig. In Norwegen konnte man nämlich nur zwanzig, dreißig Kilometer Luftlinie von einem Ort entfernt sein, aber wenn man da auch hinwollte, musste man mehrere Stunden fahren, weil ein Gebirge oder See oder Fjord im Weg war und erst umrundet werden musste.
So gurkten wir - immer direkt am Fjord - mehrere Kilometer durch das Land in Richtung des offenen Meeres. Wir Beifahrer genossen den Blick auf das Wasser, doch mein Dad bekam mehr als einmal die Krise, wenn mal wieder an der engsten Stelle der Straße Gegenverkehr kam und er das fette Wohnmobil so weit an den Rand lenken musste, dass es das entgegenkommende Fahrzeug zwar nicht blockierte, aber auf der anderen Seite auch nicht gegen den Fels schrammte oder in den Graben abrutschte. Ich würde ihm da gerne helfen, doch selbst wenn ich meinen Führerschein schon hätte, dürfte ich das Ding noch nicht fahren, weil man mindestens 21 Jahre alt sein musste. Meine Mum könnte, doch sie traute es sich nicht zu. Verstand ich auch, aber für meinen Vater war es so echt anstrengend.
Auf einem kleinen, aber schönen Parkplatz direkt am Wasser machten wir Halt und während die beiden Angelfanatiker wieder ihre Ruten auswarfen, sonnten Mama und ich uns erst und bereiteten dann das Mittag vor.
Da es immer noch ausreichend warm war, versuchte mein Vater uns anschließend zum Baden zu überreden.
„Ich geh, wenn du gehst, Marlon“, sagte meine Schwester. Ich verdrehte die Augen. Grrr. Ich wollte da nicht rein! Aber ich wollte meinen Vater auch nicht enttäuschen, da er sonst allein gehen müsste und es ihm anzusehen war, dass ihn das betrübte.
So ließ ich mich schließlich breitschlagen und schlüpfte in meine Badehose. Doch als wir allesamt umgezogen waren und unten an der Badestelle standen, zog eine Wolke vor die Sonne.
„Na toll“, murrte mein Vater halb belustigt, halb frustriert.
Ich blickte nach oben. Da war noch Blau am Himmel, jedoch zog dieses von der Sonne weg. Es sah nicht gut aus.
„Also alle Mann wieder umziehen!“, seufzte mein Dad und scheuchte uns nach oben zum Wohnmobil.
„Das war ja jetzt richtig sinnvoll“, maulte Valerie.
Ich wuschelte ihr durch die Haare. „Wirst schon nicht sterben.“
„Was wenn doch?“ Auffordernd sah sie mich an.
Nun war ich es, der seufzte. „Dann ... ist das wohl so.“
Ihre Augenbrauen zogen sich grimmig zusammen. „Dafür darf ich jetzt vorne sitzen!“
„Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun“, sagte ich konsterniert. Ich wollte meinen Platz auf dem Beifahrersitz, den ich seit unserem zweiten Tag in Norwegen hütete, nicht aufgeben. Da sah man wenigstens was von der Landschaft.
„Doch.“ Sie streckte mir die Zunge raus.
„Du bist doof.“ Ich wusste, dass ich verloren hatte, aber vielleicht konnte ich mir den Sitz morgen zurückergattern.
„Nööö.“ Ihre Lippen verzogen sich bei dem Wort zu einer Schnute. Jetzt sah sie aus wie Dorie aus ‚Findet Nemo‘, wenn sie walisch sprach.
„Habt ihr beide es dann mal?“, fragte mein Vater ungeduldig.
Valerie nickte und pikste mir im Vorbeigehen in den Bauch. Dann verschwand sie im Bad und zog die Tür hinter sich zu. Madame brauchte nämlich Privatsphäre.
„Also sitzt du jetzt bei mir?“, schlussfolgerte meine Mum, die bereits auf der Rückbank saß.
„Jap, wenn das okay ist.“
„Natürlich ist das okay, mein Schatz.“ Sie lächelte. „Aber umziehen musst du dich vorher noch, sonst erkältest du dich.“
„Okidoki“, sagte ich und huschte, als Valerie fertig war, ebenfalls ins Bad. Monsieur brauchte nämlich auch Privatsphäre.
16 Uhr kamen wir schließlich in Fusa an und stellten uns abseits der anderen an den hintersten Winkel des Campingplatzes. Es war ein schöner Ort und über einen kleinen Pfad gelangten wir an die Steilküste. Papa und Valerie nutzten die Chance natürlich gleich wieder zum Angeln, doch außer Wasserpflanzen beförderten sie nichts zutage.
Am Abend machten wir es uns alle abermals am Tisch gemütlich und spielten Kanaster und Rommé. Zu Valeries Verdruss gewann ich alle vier Runden - wie war das, Glück im Spiel, Pech in der Liebe - doch ich war mir sehr sicher, dass das eine einmalige Sache gewesen war. Sie würde ihre Revenge bekommen.
Nachdem ich dann erneut einen halben Marathon über den Campingplatz gelaufen war, da sich die Duschen und Toiletten am anderen Ende befanden - das Ding war echt riesig, so viel wie hier war ich über alle anderen zusammen nicht gelatscht -, fiel ich erschöpft ins Bett. Natürlich ohne einen weißblonden Schopf gesehen zu haben. Ich wurde nur einmal fast von einem kleinen hellhaarigen Kind auf dem Fahrrad überfahren. Also: Morgen nix mehr mit blonden Haaren. Ich kannte den Typen sowieso nicht. Ich würde ihn auch nicht wiedersehen, das hatte die letzte Woche bewiesen. Grab schaufeln, Hoffnung reinstecken, Grab wieder zu schaufeln. Und wenn ich morgen erwachte, konnte ich wieder normal denken und würde mich nicht mehr wie ein pubertierendes kleines Mädchen - nix gegen Valerie - aufführen.
Ich drehte mich auf die Seite und schloss die Augen. Der Anblick des Meeres, den wir von unseren Standort aus hatten, tauchte in meinen Gedanken auf. Na also, ging doch.
__________
29.07.2018
Fusa - Møvik
__________
Ich erwachte mit dem Klang des leisen Plätscherns der Wellen, wenn sie gegen die Steine schlugen, im Ohr. Durch das leicht angekippte Fenster am Kopfende drang Wind ins Innere des Wohnmobils. Leise ächzend drehte ich mich auf den Bauch und hielt meine Nase an das Fliegengitter. Durch den Regen in der vergangenen Nacht gesäuberte und duftende Luft floss in meine Lungen. Sie war warm und ich drückte meine Nase dieser angenehmen Frische noch ein Stück mehr entgegen.
So stellte ich mir den Start in den Tag vor: Entspannt munter werden, während man gute Meeresluft schnuppern konnte.
Diese Ruhe war, spätestens als wir begannen, den Tag zu planen, vorüber. Meine Mum hatte an einem Infostand ein Prospekt über Bergen gefunden und Valerie, die wegen irgendetwas schon wieder schlecht gelaunt war - ich glaube, die Butter war ihr beim Abräumen in den Dreck gefallen und obwohl Papa diesmal gar nicht sauer geworden war, war sie schreiend und schubsend abgehauen -, wollte entweder in den Kletterpark oder ins Schwimmbad. Ins Bad ging allerdings das Oberhaupt unserer Familie nicht, doch der Kletterpark war meiner Mum angesichts des stürmischen und regnerischen Wetters zu gefährlich.
So machten wir uns gegen 11 Uhr über den Landweg auf nach Bergen, wo wir zu dritt schwimmen gehen würden, während sich mein Vater eine anderweitige Beschäftigung suchen würde. Valerie hatte sich wieder beruhigt und hielt nun in jedem Tunnel, den wir durchfuhren, die Luft an. Keine Ahnung, wann sie sich das ausgedacht hatte, aber solange es sich positiv auf ihre Laune auswirkte, war es mir relativ egal. Hauptsache, es fühlte sich hier niemand von jemand anderem in irgendeiner Weise angegriffen oder genervt. Ich hasste diese Disharmonie.
In Bergen angekommen, suchten wir uns zuerst etwas zum Mittagessen, ehe wir uns trennten. Ich konnte nicht sagen, wann ich das letzte Mal in einem Hallenbad oder schwimmen gewesen war, doch es musste eine ganze Weile her sein. Nun, da ich im Wasser stand und mir die schreienden Kinder ansah, wurde mir wieder bewusst, wieso das so war: Ich mochte Schwimmbäder nicht, egal ob Hallen- oder Freibad. Aber Valerie tat es und deswegen war ich hier. Manchmal würde ich ihr am liebsten den Hals umdrehen, doch ich liebte meine kleine Schwester. Also, Augen zu und durch.
Zwei Stunden später suchten wir zurück im Wohnmobil verzweifelt nach einer Möglichkeit, die Nacht zu verbringen. Die Stimmung war schon wieder recht angespannt und die Tatsache, dass Bergen quasi am Arsch der Welt lag, wenn es darum ging, schnell von dort auf einen Campingplatz zu kommen, machte es nicht besser.
19 Uhr fuhren wir schließlich - einige Nerven leichter - auf einen Platz ein, der nun tatsächlich am Arsch der Welt lag. Naja, zumindest am Arsch von Norwegen. Møvik. Es gab genau eine Straße in der Umgebung. Doch der Platz war schön, besaß gute Sanitäranlagen und war viel größer als auf den ersten Blick erkennbar.
"Wollt ihr die Umgebung vielleicht mal ein bisschen erkunden?", fragte mein Vater und ich nahm die Chance, etwas Abstand zu gewinnen, dankend an.
Der Platz lag an einem Hang. Wir standen ganz oben, in der Nähe der Duschen. Ich folgte der asphaltierten Straße den Berg hinunter, vorbei an dem angepriesenen roten Gemeinschaftshaus und sehr vielen Autos mit niederländischen Kennzeichen. Gab es hier in der Nähe ein Nest?
Nach kurzer Zeit erreichte ich eine Weggabelung. Links ging es zum Bootshaus und rechts zum "fishing & swimming". Ich entschied mich zuerst für den rechten. Es ging echt verdammt weit runter. Und überall standen Zelte.
Nach der nächsten Kurve konnte ich dann endlich das Meer sehen. Der Weg wurde hier noch einmal verdammt steil und ich verlangsamte meine Schritte, um auf dem Schotter, welcher den Asphalt mittlerweile abgelöst hatte, nicht wegzurutschen.
Der Weg mündete in einer Kurve auf einem schönen Holzsteg. Am Horizont erstreckten sich kleinere und größere Inseln und dahinter - wenn aus dieser Position auch nicht sichtbar - der Atlantik. Über dem Steg lagen Steine, die zusammen mit dem Weg und dem Hang ein Stückchen Wiese einschlossen. Auf diesem stand ein einzelnes Zelt. Daneben gab es einen massiven Holztisch mit Stühlen, die von den Zeltbewohnern belagert wurden. Wäre auch zu schön gewesen, hier niemanden anzutreffen.
Ich wollte meinen Blick gerade wieder von der Familie nehmen, um ihnen ihre Privatsphäre zu lassen, als er sich in weißblondem Haar verhakte.
War das möglich? Konnte das sein? Die Erinnerungen an die Fährfahrt nach Gedser tauchten vor meinem inneren Auge auf. Seine Haare. Sein Grinsen. Sein Lächeln. Das konnte nicht sein. Es gab - gerade im Norden - haufenweise Menschen mit hellen Haaren und wie groß war bitte die Wahrscheinlichkeit, sich im letzten Winkel Norwegens wiederzutreffen, wenn man dieselbe Fähre von Deutschland nach Dänemark genommen hatte?
Ich versuchte den Hoffnungsschimmer in meinem Inneren zu unterdrücken. Den konnte ich jetzt nicht gebrauchen, gerade wo ich die Hoffnung, ihn wiederzusehen, begraben hatte. Er war es nicht. Es war nur ein Junge, der ebenfalls mit seinen Eltern unterwegs war und blonde Haare besaß. Selbst wenn er es wäre - was dann? Sahen wir uns eben noch einmal. Und? Grinsten erneut dümmlich und dann trennten sich unsere Wege wieder. Endgültig diesmal. Denn dreimal ... nee.
"Marlon!"
Ich blieb stehen und drehte mich um. Valerie kam auf mich zugelaufen und hakte sich bei mir unter. Ich grinste sie an und knuffte ihr in die Seite.
"Ey", beschwerte sie sich gespielt empört. "Anfassen verboten!"
"Du hast mich aber gerade von dir aus berührt", wies ich sie hin und setzte mit ihr im Schlepptau den Weg in Richtung des Stegs fort.
"Das ist was anderes", behauptete sie und pikste mit ihren dünnen Fingern in meine Seite. Störte mich nur zu ihrem Leidwesen überhaupt nicht.
"Ih, da sind ja auch Algen drin." Valerie verzog angeekelt das Gesicht. Ich stimmte ihr im Stummen zu. Wasserpflanzen waren sowohl zum Angeln als auch zum Schwimmen ungünstig.
Wir standen zusammen auf dem Steg und inspizieren die Umgebung. Während sich Valerie eher für das Wasser interessierte, fand ich die Felsen auf der anderen Seite spannender. Es handelte sich um große Brocken, auf die man sich gut setzen konnte. Irgendwer hatte sogar einen kleinen Tisch mit zwei Sitzen aus Steinplatten gebastelt. Gefiel mir.
Die gesamte Zeit über vermied ich es, aufzusehen, obwohl ein Teil von mir nichts anderes wollte. Ich wollte wissen, ob er es war und wenn er es nicht war, wenigstens wie er aussah. Aber wenn er es nicht war, konnte ich mir nicht mehr einreden, dass er da saß. Das wäre enttäuschend. Zudem würde ich erneut in die Privatsphäre der Familie eindringen, wenn ich sie schon wieder beobachtete. Wirre Gedanken. Vor allem sinnlose Gedanken, denn ich sah sie sowieso nicht wieder, also konnte es mir egal sein, was sie von mir dachten.
Ich seufzte und drehte mich zu meiner Schwester um. "Gehen wir wieder hoch?"
Sie nickte. Dann hing sie plötzlich an meiner Hand. "Schiebst du mich?" Das 'mich' zog sie fragend in die Länge und schaute mich dabei aus klimpernden Augen an.
"Natürlich, du fauler Sack."
Ich legte meine Hände von hinten an ihre Hüfte und schob das Fliegengewicht ächzend den Berg hoch. Sie kicherte und machte sich extra schwer. Diese kleine Möhre.
Als wir den Scheitelpunkt der untersten Kurve erreichten, riskierte ich es doch. Zu groß war die Neugierde. Ich sah hinüber zu der Sitzgruppe und wäre beinahe gestolpert, als mein Blick erwidert wurde. Seine Augenbrauen waren nachdenklich zusammengezogen, er schien zu überlegen. Dann glättete sich seine Mimik schlagartig und das war der Moment, wo es auch bei mir mit Sicherheit Klick machte.
Er war es.
Die weißblonden Strähnen, die der Wind in sein Gesicht wehte, die gleiche beinahe schmächtige Statur.
Uns trennten vielleicht fünf Meter und mit jedem Schritt, den ich Valerie weiter berghoch schob und ihm damit näher kam, wurden seine Augen ein Stück größer. Ich konnte die Farbe noch nicht erkennen, aber ich meinte, Verwirrung und Überraschung in seinem Gesicht lesen zu können.
Seine Miene veränderte sich erneut. Er lächelte. In meinem Bauch begann es augenblicklich zu kribbeln. Er hatte mich nicht nur wiedererkannt, er schien auch erfreut, mich zu sehen. Ich grinste schief zurück. Sein Lächeln vertiefte sich noch ein wenig, dann war der Moment vorbei. Er kehrte mir seinen Rücken zu. Allerdings bildete ich mir ein, seine Blicke abermals auf mir zu spüren, sobald ich mit Valerie an ihm vorbeigegangen war und er den Kopf wieder in meine Richtung wenden konnte, ohne sich zu verrenken.
Den Rest der Erkundungstour nahm ich wie durch einen Schleier wahr. Einen - wie ich mir eingestehen musste - rosaroten Schleier. Ich versuchte zwar, alle blöden Schmetterlinge aus meinem Magen hinauszukatapultieren, doch es war zwecklos, egal wie oft ich ihnen sagte, dass das das - ich liebte die deutsche Sprache - zweite und letzte Mal gewesen war, wo ich ihn sah. Aber er hatte mich erkannt. Und gelächelt! Obwohl wir uns damals vielleicht für 15 Minuten gesehen hatten und das 'damals' 7 Tage her war.
Gehirn. Aus. Ja, ich war seit einem dreiviertel Jahr wieder Single und ja, manchmal wäre es schon schön, noch einmal jemanden an seiner Seite zu haben, aber doch keinen Typen, den man mitten auf dem weiten Ozean namens Ostsee gesehen und am Arsch von Norwegen wiedergesehen hatte. Ich kannte ja noch nicht mal seinen Namen, seine Nationalität, Sexualität oder Augenfarbe! Also aus, nichts mit 'Ich will genau den da'-Gedanken und Ich-verknall-mich-Hals-über-Kopf-in-einen-vergebenen-norwegischen-heterosexuellen-Typen-Anwandlungen. Das würde nur anstrengend werden. Zufall, Schicksal, dass wir uns hier wiedergesehen hatten, hin oder her.
*
"Können wir heute Abend Knaster spielen? Damit ich Maloni fertig machen kann - mit Piu, Pau und Peng! Dann ist er nämlich gepiut, gepaut und gepengt!"
War meine kleine Schwester nicht niedlich? Mit kämpferischem Gesichtsausdruck saß sie am Abendbrotstisch und meinte eigentlich Kanaster, was sie gestern, um unsere Mama zu ärgern, mal eben in Knaster umbenannt hatte. Sie liebte dieses Spiel, da sie meist gewann. Das Kartenhorten lag ihr. Aber mir war es recht, dann war sie hinterher nämlich gut gelaunt - vorausgesetzt sie schaffte es heute, mich fertig zu machen. Nur dieser Spitzname... Ich sah sie mit meinem typischen Kleine-Schwester-du-bist-nervig-Blick an, doch sie streckte mit bloß die Zunge raus.
"Ja, können wir gern machen", gab sich meine Mum auf ihr Betteln hin geschlagen. Sie spielte lieber Rommé, aber Valerie versprach ihr, dass das dann beim nächsten Mal wieder dran wäre.
"Aber erst muss der Tisch abgeräumt werden", ermahnte mein Vater.
"Ich nicht", versuchte sich Valerie gleich wieder aus dem Verkehr zu ziehen und ich musste mich zusammenreißen, dazu diesmal nichts zu sagen. Die Stimmung war nämlich schon die ganze Zeit am Kippen gewesen und wenn ich sie jetzt deswegen anschnauzen würde, wäre es vorbei.
"Gibt es hier eine Waschküche?", fragte meine Mum.
"Jap", antwortete ich.
"Wieso?", wollte mein Dad wissen und ich bereitete mich innerlich schon auf die nächste Diskussion vor. Weißblonde Haare, ein Lächeln...
"Zum Abwaschen", erklärte meine Mum schlicht.
"Da brauchst du doch keine Waschküche, wir haben hier eine Spüle!"
"Aber das Abwasser ist voll", hielt meine Mum dagegen und sah schon wieder so erschöpft aus.
"Das ist noch nicht voll." Die Stimme meines Vaters war lauter geworden, mahnend irgendwie.
Der Wassertank war ein heikles Thema. Mein Dad wollte ihn nie voll machen, was ich verstand, da ein Liter Wasser ein Kilo Masse bedeutete und damit mehr Benzinverbrauch. Doch wir hatten einmal den Fall schon gehabt, wo die Pumpe Luft gezogen hatte und seitdem beharrte meine Mutter darauf, immer genügend Wasser an Board zu haben. Und je mehr Wasser wir transportierten, desto mehr Abwasser fiel an und wenn dann mal keine Abwasserentsorgungsstation zu finden war... Sein Grinsen, sein Lächeln.
"Wir können den Abwasch doch aber da drüben machen, wenn es nur 20 Meter weg ist. Ich mach das auch."
Meine Mum versuchte es mit Argumenten, doch mein Vater sah bereits nur noch Schwarz und Weiß. Ich als Mann sollte da wahrscheinlich ruhig sein.
"Wozu haben wir das Ding dann überhaupt?", brauste er auf und verließ das Wohnmobil. "Dann können wir das nächste Mal auch zelten!"
Die Tür fiel krachend ins Schloss. Meine Mum zuckte zusammen und Valerie und ich saßen schweigend da und warteten ab. Wie meistens. Sich bei den eigenen Eltern zu positionieren, war schwierig. Mal stimmte man dem einen, mal dem anderen mehr zu, doch jedes Mal, wenn man einen unterstützen würde, würde man dem anderen vor den Kopf stoßen. Ich hasste es.
Nach dem Abendessen scheuchte ich meine Familie hinaus, um in Ruhe, mit Musik in den Ohren, abwaschen und abschalten zu können. Zumindest die beiden Angelteufel taten mir den Gefallen, wobei Valerie freiwillig auf ihre angeforderte Kanasterrunde verzichtete, doch meine Mum bestand darauf, mir zu helfen. Es war in Ordnung. Gemeinsam mit ihr zu arbeiten, war in der Regel nicht stressig.
*
"Ich guck dann wohl auch mal mit runter. Kommst du mit oder bleibst du hier? Wegen Abschließen." Fragend sah meine Mum zu mir, nachdem wir das Geschirr zurück in die Schränke geräumt hatten.
"Ich bleib hier."
"Okay, dann bis nachher."
Sie lächelte zum Abschied und verschwand Richtung Angelsteg. Den Autoschlüssel ließ sie auf dem Tisch liegen. Ich betrachtete ihn nachdenklich. Sollte ich? Seitdem ich mit Valerie am Meer gewesen war, hatte ich ihn nicht noch einmal gesehen. Wie auch? Aber trotz des Zufalls, dass wir uns wiedergetroffen hatten, einfach zu ihm zu gehen... Nee, das konnte ich nicht bringen. Jetzt hätte ich allerdings einen Vorwand - meine angelnde Familie. Also ... sollte ich?
Ja.
Ich erhob mich, schnappte mir Sweatjacke, Handy, Kopfhörer und die Schlüssel, sperrte den Wohnwagen ab und folgte meiner Mum nach unten. Die Musik in meinen Ohren tat gut. Zum einen half sie mir, die Unausgeglichenheiten wieder einzurenken und zum anderen reduzierte sie ein wenig die Nervosität, die sich mit jedem Schritt stärker in mir aufbaute. Scheiße, schlug mein Herz schnell. Da hatte mein Körper vorhin die Ansage "Wir verknallen uns nicht in einen unbekannten Typen" wohl nicht mitbekommen.
Die Aufregung wandelte sich schlagartig in pure Enttäuschung um, als ich das letzte Stückchen des Weges erreichte. Die Bänke waren zwar nicht verwaist, aber ohne Spur von ihm. Was hatte ich auch erwartet? Dass er auf mich wartete? Wahrscheinlich hat er es einfach nur witzig gefunden, dass wir uns wiedergesehen hatten, und deshalb gelächelt. Und mehr war es für ihn nicht. Nur ein zufälliges erneutes Aufeinandertreffen mit einem unbekannten uninteressanten Typen.
Geknickt ließ ich mich auf einen der Felsbrocken nieder und beobachtete meine Schwester beim Angeln. Die Sonne näherte sich dem Horizont und meine Mum knipste fleißig Bilder. Ich steckte meine Kopfhörer in die Tasche und machte ebenfalls ein paar Aufnahmen. Die Silhouette Valeries in der untergehenden Sonne sah gut aus. Sie war halt schon immer fotogen gewesen.
"Mama, Marlon, ihr müsst auch mal angeln!" Auffordernd blickte sie über ihre Schulter zu uns hinüber. Ich schüttelte den Kopf.
"Keine Lust“, brummte ich.
Bevor sie sich beschweren konnte, sprang meine Mum ein und ich seufzte erleichtert auf. Dabei hatte ich meine Rechnung allerdings ohne Valeries Hartnäckigkeit gemacht, denn sobald Mama erfolgreich ausgeworfen hatte, waren ihre Augen wieder auf mich gerichtet.
"Komm schon, Maloni! Einmal!"
Wir lieferten uns ein kurzes Blickduell, dann seufzte ich abermals. Meine Demotivation zur Seite schiebend, packte ich mein Handy weg und erhob mich.
"Einmal."
Valerie grinste triumphierend. Ich stellte mich neben sie und bekam die Angel in die Hand gedrückt.
"Also, du nimmst sie in die linke Hand und ziehst hier die Angelschnur zu dir ran."
"So?", fragte ich und sie nickte.
"Dann schiebst du hier mit rechts den Hebel zu Seite. Und dann wirfst du aus."
Ich versuchte es. Und scheiterte kläglich.
"Du musst die Sehne schon loslassen, wenn du wirfst", lachte sie. Ich grummelte und versuchte es erneut. Wieder landete der Köder nicht da, wo er sollte.
"Vielleicht nimmst du die Angel lieber in die rechte Hand", überlegte sie.
"Fühlt sich zumindest besser an."
So als Rechtshänder ... mit rechts auszuwerfen... Kurz schloss ich die Augen, dann holte ich Schwung und warf. Es funktionierte. Wenn auch dezent schief.
"Wie Mama", grinste Valerie. "Ihr habt beide einen Rechtsdrall."
"So." Ich drückte ihr die Angel wieder in die Hand. Ohne zu murren nahm sie sie auch entgegen und angelte ihrerseits weiter. Ich setzte mich währenddessen zurück auf den Stein. Der Sonnenuntergang war wunderschön. Ich versank in dem Orangeblau des Himmels und dem Anblick des glitzernden Wassers. Abgesehen von der Menge an Anglern und der Tatsache, dass der Typ nicht da war, war es echt friedlich. Wobei, wahrscheinlich war es sogar besser, dass er nicht da war, sonst würde ich mich auf seine Anwesenheit hinter mir und nicht auf das Meer konzentrieren.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Jemand hatte sich neben mich gesetzt. Irritiert sah ich zur Seite und direkt in ein meerblaues Augenpaar.
_____________________
30.07.2018 - 31.07.2018
Møvik - Haugesund
_____________________
Von einer Sekunde auf die andere war das Herzrasen wieder da.
Seine Augen leuchteten in einem satten warmen Blau und waren gesprenkelt mit kleinen grünen Tupfern. Wie das Meer, wenn sich das Licht der Sonne darin brach. Schüchtern blickten sie mir aus einem Kranz dichter Wimpern entgegen.
Ich schlucke, leckte mir über die trockenen Lippen und schluckte erneut. Der Kloß in meinem Hals blieb. Ebenso die Ratlosigkeit, wie ich reagieren sollte. Die plötzliche Nähe und der Anblick der kleinen süßen Stupsnase, der weichen Haare und großen Augen unmittelbar vor mir war zu viel. Zu unerwartet. Ich war schlichtweg überfordert.
"Hey", sagte er leise. Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit.
"Hey", krächzte ich zurück, als ich meine Sprache endlich wiedergefunden hatte. Waren das Sommersprossen auf seiner Nase?
"Sah sehr professionell aus ... wie du da geangelt hast." Er grinste schief.
Ich blinzelte und brauchte zwei Sekunden, um mich von dem Anblick seiner Lippen loszureißen.
"Du ... sprichst deutsch."
Eine Feststellung. Keine, für die man besonders viel Kombinationsgabe benötigte, aber sie zeigte, dass sich mein Gehirn noch nicht vollständig verabschiedet hatte.
Sein Grinsen wurde breiter und ein Teil der Unsicherheit verschwand.
"Ja. Ich komm aus Deutschland. Bin in einem Kaff auf Rügen aufgewachsen. Wreechen. Ich bezweifle, dass dir das was sagt."
Ich schüttelte den Kopf und entspannte mich ebenfalls ein wenig.
"Es hört sich allerdings sehr winzig an. Rügen liegt ja generell schon ... ab vom Schuss."
"Oh ja, definitiv. Wo kommst du her?"
"Jena."
"Das sagt mir sogar was." Er strich sich eine Strähne seines Haares aus dem Gesicht. Fasziniert folgte ich der Bewegung seiner Hand. "Da studiert eine Cousine von mir."
Ich nickte. In meinem Kopf wirbelten hundert Fragen umher und gleichzeitig fühlte er sich an wie leergefegt.
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und sahen aufs Meer. Meine Mum hatte sich bereits mit einem Lächeln in unsere Richtung verabschiedet und am tiefen Stand der Sonne würde ich festmachen, dass die beiden Angler auch nicht mehr lange blieben. Noch hielten sie sich allerdings tapfer. Versonnen betrachtete ich Valerie, wie sie die Rute unermüdlich auswarf und wieder einholte.
"Ich hab noch nie geangelt", sagte ich in die Stille hinein und klopfte mir gedanklich auf die Schulter, weil ich zum Anfang unseres Gespräches zurückgekoppelt hatte.
"Hab ich mir fast gedacht."
Ich drehte meinen Kopf zu ihm. Seine Augen funkelten, wenn er grinste.
"Sah es so schlimm aus?", fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits erahnte.
"Naja..." Er hielt inne und betrachtete meine Schwester. "Wie gesagt, sehr professionell." Seine Augen richteten sich wieder auf mich. Ich mochte sie. Sie waren ... einnehmend. Aber nicht im schlechten Sinne. "Professionell unprofessionell." Wieder glitzerte der Schalk in ihnen.
Ich lachte. "Dann war es mir eine Freude, deiner Belustigung zu dienen."
"Wie überaus reizend von dir." Er erwiderte das Lachen. Gab es eigentlich etwas an ihm, was mich nicht hart an die Grenze des debil Werdens brachte?
Seine Miene wurde ernst. Intensiv bohrte sich sein Blick in meinen.
"Es steht dir, wenn du lachst. Ich bin froh, dass du es tust. Du sahst vorhin ... bedrückt aus."
Ich versuchte, gegen das Kribbeln in meinem Magen anzukommen. Zählte das, was er gerade tat, jetzt eigentlich schon als flirten? Nee, oder?
Sein Blick lag noch immer musternd, fast schon forschend auf mir. Alles andere an ihm strahlte hingegen Gelassenheit und Ruhe aus. Und vielleicht immer noch ein kleines bisschen Nervosität.
Ich besann mich auf seine letzte Feststellung. Mit einer Mischung aus Schulterzucken und Kopfschütteln winkte ich ab.
"War nichts Besonderes. Nur geschafft von der Fahrt hierher und das übliche Familiendrama."
"Wo kamt ihr denn her?" Er sah ehrlich interessiert aus.
"Letzte Nacht haben wir in Fusa verbracht, das ist südöstlich von Bergen. Valerie - meine Schwester", ich deutete auf sie, "wollte baden gehen, also sind wir nach Bergen gefahren. Warst du schon mal da?"
Er schüttelte den Kopf. "Wir wollen da morgen hin", fügte er hinzu.
"Na dann viel Spaß... Die Straßenführung ist eine Katastrophe. Ich hoffe für euch, ihr seid da intelligenter als ich."
"Verfahren?"
"Nicht nur einmal. Ich hab meinen Dad gelotst, hatte die Navigation von GoogleMaps laufen und dann eben die Straßenschilder... Das ging gar nicht. Die haben da so zwei oder drei ... ich nenn es mal Kreisel, wo eben viele Straßen zusammenkommen und da blickst du echt nicht durch, wo genau du jetzt abbiegen musst. Ich zumindest nicht. Auf der Fahrt aus Bergen raus war es wieder so. Wir haben riesen Umwege deshalb gemacht und scheiße viel unnötige Maut bezahlt, weil du dann plötzlich in einem Tunnel steckst, der ewig weit geht und dann musst du den zurück und bezahlst das Ganze nochmal. Wenn dann die Stimmung sowieso schon angeknackst ist..."
Ich spürte eine Berührung an meinem Bein. Sie dauerte nur kurz, so als wäre er sich nicht sicher, ob er mich anfassen durfte - was wahrscheinlich auch der Fall war - doch es reichte aus, um die Intention dahinter zu verstehen. Er war da und verstand.
"Valerie und du scheint euch aber gut zu verstehen und wie ihr insgesamt hier als Familie miteinander umgegangen seid, sah auch friedlich aus." Seine Stimme war ruhig und besaß eine wohltuende Tiefe und ich entspannte mich automatisch.
"Wir verstehen uns prinzipiell ja auch, also ... wir alle. Aber es kommt eben regelmäßig zu Diskussionen und Streits, gerade wenn Valerie und mein Vater aneinandergeraten. Es gehört dazu, aber ist manchmal etwas belastend..."
"Das kenn ich." Er sah über die Schulter zu seinen Eltern, die auf den Bänken saßen und sich leise unterhielten. "Ich hab zwar keine Geschwister, aber so bin ich es eben immer, der mit meinen Eltern im Clinch liegt."
"Auch doof."
"Jap. Wäre aber komisch, wenn immer alles glatt gehen würde. Egal ob zwischenmenschlich oder nicht. Man muss dann eben positiv denken."
Das Bild eines Käseregals tauchte vor meinen Augen auf. Ich schmunzelte.
"Was ist?", wollte er wissen.
"Als wir uns verfahren haben, sind wir an einem Supermarkt vorbeigekommen. Dort stand ich dann vor dem Käseregal, weil wir Käse gebraucht haben - ich bin hier in Norwegen wegen des Angebots sowieso überfordert, weil es so komplett anders ist, als das bei uns - und dann stand und stand ich da und irgendwann kommt ein Verkäufer an und fragt, ob er mir helfen könne. Ich sag halt, dass ich Käse suche, woraufhin er mir sagt: 'That's the right place.'. Dann fragt er welche Sorte ich will, ich sag: 'was mit Geschmack' und dann zeigt er auf die vier Sorten, die ich davor schon fünf Minuten angestarrt hab."
Sein Lachen vibrierte angenehm in meinen Ohren. "Da fühlt man sich doch richtig gut beraten." Er stand auf. "Ich würde mir mal eine Jacke holen gehen. Jetzt wo die Sonne untergegangen ist, wird es langsam kalt. Bist du dann noch da?" Hoffnungsvoll sah er mich an. Wie könnte ich bei den großen Augen Nein sagen, selbst wenn ich es gewollt hätte?
"Ich rühr mich nicht vom Fleck."
Sein Lächeln war ansteckend. "Sehr gut. Bin gleich wieder da."
Und schon war er verschwunden. Mir fiel auf, dass ich noch immer keinen Schimmer hatte, wie er hieß.
"Marlon, kommst du mit hoch?" Mein Vater kam mit gepackten Angelsachen auf mich zu.
Ich schüttelte den Kopf. "Nee, ich bleib noch ein bisschen hier. Ist das okay?"
"Sicher, verkühl dich nur nicht, das wird jetzt kalt."
"Okay, mach ich", grinste ich und winkte den beiden zum Abschied. Dann sah ich auf mein Handy. 22.07 Uhr. Na gut, eine Stunde hatte ich mindestens noch, ehe meine Eltern schlafen gehen würden.
"So, da bin ich wieder."
Eingemummelt in einen kuschlig aussehenden dunkelblauen Hoodie ließ er sich neben mir nieder. Näher diesmal. Mein Herz machte einen Hüpfer, als unsere Beine sich berührten und er seins nicht wegnahm, sobald er sich mit einem Blick vergewissert hatte, dass es für mich okay war.
"Wie heißt du eigentlich?"
Er begann zu lachen und ich stimmte ein. Wir hatten die Frage gleichzeitig gestellt.
"Marlon", sagte ich.
"Ich bin Lars."
Ich runzelte die Stirn. "Sicher, dass du aus Wreechen kommst?"
"Du hast es dir gemerkt", stellte er überrascht fest.
Ich nickte unsicher. "Schlimm?"
Er lächelte schon wieder so hinreißend. Konnte er das mal lassen? Wie sollte man sich da konzentrieren?
"Nein, ganz im Gegenteil. Aber wieso sollte ich nicht aus Wreechen kommen?"
"Naja, dein Name, deine Haare..."
"Ach so." Er wuschelte mit der Hand einmal durch eben jene. Ich wollte auch... "Mein Dad kommt aus Dänemark und hat finnische Vorfahren. Wir sind eine ziemlich bunt gemischte Familie was das angeht."
"Ist doch aber cool." Mich irritierte der Unterton, der bei dem Gesagten mitschwang.
"Ja, außer dass du immer wie ein Einhorn angeguckt wirst, wenn du in Deutschland unterwegs bist. In Großstädten geht's und in meinem Kuhkaff wissen inzwischen auch alle, dass unsere Familie wie jede andere ist, aber sobald du dann zwei Dörfer weiter einkaufen fährst, wirst du wieder mit Vorsicht behandelt. Wobei es immer noch geht, hätte ich südliche Gene geerbt, wäre es schlimmer."
"Krass."
Das erstaunte mich echt. Klar, er sah nordisch aus, aber dass sich das auf die Art und Weise, wie die Menschen mit ihm umgingen, auswirkte...
Eine Windböe ließ mich frösteln. Mein Vater hatte recht gehabt. Jetzt wo die Sonne keine Wärme mehr spendete, wurde es rasch kalt. Ich schnupperte. In der Meeresluft schwang etwas mit. Ein zwar auch salzig frischer Duft, jedoch roch dieser nicht nach Algen, sondern duftete eher süßlich. Gab es Schokolade mit Meeresgeschmack?
Wärme breitete sich von meinem rechten Knie im ganzen Körper aus und als ich darauf blickte, wurde mir auch klar, was so gut roch. Lars. Der Duft ging von ihm aus, ebenso die Wärme. Ich drückte mein Bein leicht gegen seins. Er erwiderte die Geste und sah mich an. Diese Augen... Ich verlor mich einen Moment in dem Wirbel aus Grün und Blau.
Sein Blick rutschte auf meine Lippen, zurück auf unsere Knie und richtete sich dann aufs Meer. Ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
Ich versuchte vergeblich, die Schmetterlinge in meinem Magen zu beruhigen. Ja, er sprach Deutsch und ja, er schien nicht gänzlich abgeneigt zu sein, doch jetzt auf der Stelle über ihn herzufallen, war keine ... okay, doch, es war eine Option. Aber diese ebenfalls verdammt weich aussehenden Lippen wollte ich nicht kosten, wenn seine Eltern hinter uns saßen und uns wahrscheinlich die ganze Zeit genauestens beobachteten. Außerdem konnte er immer noch sonst was für Macken haben und mir saßen hier generell noch entschieden zu viele Menschen rum. Es leerte sich zwar langsam, aber es würde wohl besser sein, wenn wir uns genauso langsam erstmal kennenlernten. Und wenn es soweit dann passte, konnte man Schritt für Schritt weiter machen.
"Also fahrt ihr morgen nach Bergen?", nahm ich das Gespräch wieder auf. Langsam löste er seinen Blick vom Horizont und sah nickend zu mir. "Und dann?"
Er kniff die Augen zusammen und rieb sich die Nasenwurzel. "Auf See. Meine Eltern haben 'ne Fähre von Bergen nach Hirtshals gebucht."
Ich musste aufgrund seiner leidenden Miene lächeln. "Magst du keine Schifffahrten?"
"Du etwa?"
"Kommt immer ein bisschen auf die Dauer und den Seegang an." Die Antwort schien ihn zu beruhigen. "Wie lange fahrt ihr denn?"
"18 Stunden..."
Oh scheiße. Das klang wie der blanke Horror. Genauso sagte er es auch.
"Aber ihr seid über Nacht unterwegs, oder?"
"Ja, schon. Aber es fährt, soweit ich weiß, irgendwie nur eine Fähre am Tag und zwar 13.30 Uhr. Das heißt, ich hab sieben, acht, neun Stunden, die ich wach auf diesem Schiff verbringen muss." Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und raufte sich die blonden Haare. Dann lugte er durch zwei Finger hindurch zu mir. "Gibst du mir deine Nummer?", nuschelte er undeutlich.
Himmel, war das niedlich! Durfte ich ihn knuddeln? Ja? Nein? Okay, ich begnügte mich mit einem Lächeln. Vorerst.
"Klar, so lange ich nicht Schuld bin, wenn du dort trotzdem versauerst..."
"Doch doch." Er richtete sich wieder auf. Unsere Arme streiften sich. "Du musst mich dann schon bei Laune halten."
Ich seufzte theatralisch. "Na gut, hast du dein Handy hier?"
Statt einer Antwort zog er es aus der Bauchtasche seines Hoodies.
"Da bitte." Er hielt es mir entsperrt vor die Nase und ich tippte mit zittrigen Fingern meine Nummer ein. So sehr ich es auf die Aufregung schieben wollte, es lag nicht nur daran.
"Du zitterst", stelle Lars nun auch fest. Ich sah auf die Zeitanzeige seines Handys. 22.53 Uhr.
"Ja..." Ich wollte nicht gehen. Aber es wurde langsam arschkalt.
"Ich hab ja jetzt deine Nummer", sagte er aufmunternd, als er meinem Blick gefolgt war. Sah man mir die Enttäuschung so sehr an? Peinlich peinlich. Wobei, er sah auch nicht besonders willig aus, jetzt zu gehen.
"Jap, dann..."
"Ja..." Er grinste.
Ich schaffte es, ungelenk aufzustehen. Er tat es mir gleich. Unschlüssig standen wir uns gegenüber.
"Schlaf gut", rettete er die Situation, ehe sie zu peinlich wurde.
"Du auch." Ich lächelte und hob eine Hand.
Er schien noch irgendetwas abzuwägen, doch letztendlich nickte er bloß lächelnd und wandte sich um. Ich sah ihm hinterher, wie er die Steine hinauf zu seinen Eltern ging, winkte denen kurz zu, als sie mir freundlich zulächelten und machte mich dann an den unendlich weit erscheinenden Weg nach oben.
Sobald das Zelt in meinem Rücken stand, verzogen sich meine Lippen zu einem breiten Grinsen, was, bis ich im Bett lag und wegdämmerte, auch nicht mehr weichen wollte.
*
Am nächsten Morgen lagen vier Stunden Fahrt gen Süden vor uns. Wie gesagt: Arsch von Norwegen. Doch weder die Tatsache, dass wir uns erneut verfuhren, noch die kurze Fährfahrt Richtung Stavanger oder sonst irgendwas konnte meine Laune wirklich trüben. Lars hatte mir heute Morgen ein Foto des Sonnenaufgangs geschickt, damit ich ihn auch erreichen konnte und sich dann auf Sightseeingtour nach Bergen verabschiedet. Wirklich begeistert hatte er nicht geklungen. Konnte ich nachvollziehen.
16.30 Uhr kamen wir in Haugesund an. Der Campingplatz war gefühltermaßen gehobener als alle davor, zumindest hingen überall Schilder herum, die einen dazu aufforderten, Desinfektionsmittel nach dem Toilettengang zu benutzen. Einziger Mangel soweit: Wir bekamen genau eine Toilettencard und man konnte nur mit dieser Karte aufs Klo oder duschen.
Wir arrangierten uns. Valerie entschwebte sowieso erst einmal zum Angeln, meine Mum ging einkaufen und mein Vater folgte Valerie kurze Zeit später. Ich blieb zum Wohnmobilhüten zurück.
Aufatmend machte ich es mir auf der Rückbank bequem, steckte mein Handy an den Strom und schrieb einem Kumpel schnell eine Antwort auf seine Frage, wie es in Norwegen wäre. Anschließend öffnete ich den Chat mit Lars.
--- Hat Bergens Aura dich schon eingenommen? ---
Danach wechselte ich in meine Fotogalerie. Über den Urlaub hatte ich schon wieder viel zu viele Fotos gemacht. Ich sah sie durch, löschte einige verschwommene oder doppelte Aufnahmen und blieb an einem Foto der Riesenpizza hängen, die Valerie vor ein paar Tagen bestellt hatte. Eigentlich hatte sie eine kleine gewollt, doch weder unsere Englischkenntnisse noch die der Bedienung hatten anscheinend ausgereicht, um ohne Missverständnisse eine Bestellung aufzugeben und aufzunehmen.
Ein Popup-Fenster öffnete sich im oberen Bereich meines Displays und informierte mich über den Eingang einer neuen Nachricht.
--- Vergewaltigt wohl eher. Ich hasse Museen -.- ---
Grinsend antwortete ich:
--- Sightseeing nur mit Museen? ---
--- Najaaa... nee, aber der Rest ist auch nicht so umwerfend. Ich wäre jetzt lieber in der Natur... ---
Ich tippte bereits an einer Erwiderung, als er nachschob:
--- Wo treibst du dich jetzt eigentlich rum? ---
Ich überlegte, wie das Kaff hieß. Und überlegte.
--- Warte, ich muss kurz googeln ---
Ein lachender Smiley tauchte auf seiner Seite des Chats auf.
--- Haugesund xD ---
--- Äh... muss ich das kennen? ---
--- Nee, ist eine kleine Siedlung direkt am Atlantik auf dem Weg von Bergen nach Stavanger ---
--- Dann bin ich beruhigt. Du hattest übrigens recht mit der Verkehrsführung. Wir sind auch mal falsch abgebogen :P ---
Ich grinste. Wenigstens war ich nicht der einzige, der nicht durchblickte. Wahrscheinlich trieben die so den Großteil ihres Geldes ein.
Ich fragte Lars, wie lange sie noch auf ihrer Sightseeingtour bleiben würden, doch es kam keine Antwort. Als ich auf seinen Namen sah, bemerkte ich, dass er nicht mehr online war.
Mein Blick wanderte aus dem Fenster. Dort neben uns waren schon seit einiger Zeit Stimmen laut geworden. Nun wusste ich den Grund dafür: Eine ebenfalls deutsche Familie versuchte, ihr Wohnmobil einzuparken. Dabei saß der Mann am Steuer und die Frau sprang um das Auto herum und gab ihm wirre Anweisungen. Die waren ja noch schlimmer als wir. Wir plärrten immerhin nicht den ganzen Campingplatz zusammen.
--- Sorry, meine Eltern haben mir gerade ein ganz tolles und besonderes Bild zeigen müssen. ---
Der Sarkasmus war sogar geschrieben greifbar. Ich wollte gerade echt nicht in seiner Haut stecken...
--- Ich hab‘s aber gleich geschafft. Sie haben noch einen Gang vor sich, dann kann ich hier raus und dann geht's ins Hotel ---
--- Hotel? ---
--- Ja, haben sich meine Eltern diese Nacht gegönnt. Denen tut vom Zelten wahrscheinlich der Rücken weh xD ---
--- Das war der Grund, der bei uns gegens Zelten gesprochen hat ^^ ---
--- Also seid ihr mit dem Wohnmobil unterwegs? ---
--- Jap ---
--- Cool. Sowas hab ich noch nie gemacht. Wie ist das? ---
Die genervte Stimme der Frau drang zu mir herein. Irgendwie stand deren Wohnmobil ihrer Ansicht nach immer schief. Es war anstrengend und amüsierend zugleich, ihnen zuzuhören.
--- Eng :P ---
--- Nein, wirklich? o.o ---
Ich hatte sein belustigtes Augenverdrehen bildlich vor mir.
--- Ja xD Und es wird echt schnell unordentlich. Ich kann dir ja mal ein paar Bilder schicken ---
--- Das wäre toll :) ---
Die Frau war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass ihr Wohnmobil einfach zu lang wäre. Ich schüttelte grinsend den Kopf. Sie probierten gerade Parkplatz Nummer Zwei aus.
--- Was machst du eigentlich gerade? ---
--- Rumsitzen, Wohnmobil bewachen und mich über die Familie amüsieren, die vergeblich versucht, ordentlich einzuparken ---
--- Klingt nach einer ausgezeichneten Beschäftigung xD Und dann? Also wie geht es bei euch weiter? ---
--- Sonntag müssen wir in Kristiansand an der Fähre sein und bis dahin wird im Süden rumgedümpelt. Danach geht‘s über Dänemark zurück nach Hause. Mittwoch müssen wir wieder da sein, weil meine Mum noch für die Schuleinführung meiner Cousine backen muss. Fahrt ihr dann auch gleich nach Hause? ---
--- Ach wie süß, so kleine Cousinen hab ich gar nicht mehr. Eigentlich schade :( Fängt für dich die Schule dann auch wieder an? Wir machen an der Deutsch-Dänischen-Grenze nochmal ein paar Tage Halt, da wohnen die Eltern meines Vaters ---
--- Magst du Kinder? ---
--- Wenn sie süß sind :P ---
Ich schmunzelte und beantwortete dann seine Frage.
--- Ich hab dieses Jahr Abi gemacht, also nein. Ich verdien mir dann erstmal ein bisschen Geld, mach Fahrschule und überleg, wie es weitergehen soll. Du? ---
--- Same. Also Fahrschule hab ich schon hinter mir, ich komm ja vom Dorf ^^ Aber sonst bin ich auch noch nicht sicher, ob ich dieses Jahr dann gleich mit Studium anfange ---
Wir waren also wirklich gleich alt. Langsam wurde mir das Zaunspfahlgewinke unheimlich.
--- Dann können wir ja beide ein Jahr Auszeit nehmen und uns ein Auto und ein Zelt schnappen und die Welt erkunden ^^ ---
Mein Finger schwebte über der Senden-Taste. Die Idee war mir spontan gekommen, aber konnte ich das abschicken oder war das zu viel? Immerhin kannten wir uns kaum. Ich las die Worte erneut. Eigentlich harmlos. Er kannte ja meine Intention dahinter nicht und konnte es als nicht ernstgemeinte Aussage abstempeln. Egal, alles oder Nichts, ich schickte es los. Mit klopfendem Herzen wartete ich auf eine Antwort. Er tippte. Tief durchatmen. Ich sah nochmals nach draußen und stellte erstaunt fest, dass die Familie nun tatsächlich zu stehen schien. Hatte ja lange genug gedauert.
Mein Blick fiel wieder auf das Handy.
--- Ich bin erlöst! Hotel, ich komme :D ---
Meine Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln.
--- Dein Vorschlag klingt gut. Pass auf was du da sagst, sonst nehm' ich dich noch beim Wort ^^ ---
Er ging drauf ein. Ich beschloss, aufs Ganze zu gehen.
--- Was, wenn ich genau das wollen würde? ---
Er tippte. Hörte auf, tippte wieder und hörte wieder auf.
--- Okay, doofe Frage, bzw. doofer Zeitpunkt, aber damit jetzt oder dann in Zukunft keine Missverständnisse aufkommen... ---
Mein Herz sank mir in die Hose.
--- Bist du schwul? ---
Fuck. Hatte ich das echt alles falsch gedeutet? Sein Lächeln, die Berührung unserer Knie, die funkelnden Blicke? Meine Finger zitterten, als ich antwortete.
--- Ja ---
Minuten vergingen. So kam es mir zumindest vor. Innerlich starb ich vor Nervosität tausend Tode.
--- Dann würde ich dich da gerne begleiten und hoffen, dass alle Zwei-Mann-Zelte ausverkauft sind :) ---
Das... Ich... Was? Ich las die Nachricht erneut. Und nochmal. Und auch noch ein viertes und fünftes Mal. War das jetzt ein 'Ich bin tolerant, möchte aber bitte ein großes Zelt, damit wir uns nicht zu nahe kommen' oder flirtete er gerade? Diesmal wirklich. So, wie er nach den Missverständnissen gefragt hatte, eher letzteres, dennoch ging ich auf Nummer sicher.
--- Du musst dir keine Sorgen machen, ich würde schon nicht über dich herfallen ^^ ---
--- Was, wenn ich genau das will...? ---
Er imitierte meine Frage von vorhin und schickte damit eine Horde Raupen durch meinen Körper. Das war ... eindeutig. Vor allem: Kein Konjunktiv. Ohne es zu bemerken, hatte ich zu grinsen begonnen und egal was ich versuchte, ich schaffte es nicht, damit wieder aufzuhören. Scheiß Hormone. Er hatte Interesse. Sowohl an einer Welterkundungstour als auch an mir. Das war... Das war einfach unbeschreiblich.
--- Jetzt musst du aufpassen, was du sagst, sonst nehm' ich dich beim Wort ---
--- Tu das. Ist vielleicht ein bisschen früh, aber ... ich mag dich. Und ich würde dich gern kennenlernen ---
Aus den Raupen wurden Schmetterlinge. Ich schluckte.
--- Same here... Wie lange bist du bei deinen Großeltern? ---
--- Eine Woche. Ihr kommt die Autobahn runtergefahren? ---
Er verstand, worauf ich hinauswollte.
--- Ja ---
--- Gut, ich schick dir die Adresse eines Campingplatzes, der gehört Bekannten von uns, das ist nicht weit von meinen Großeltern entfernt. Ich muss jetzt nur erstmal Schluss machen, wir fahren gleich zum Hotel. Bis heute Abend? ---
--- Jap, bis heute Abend :) ---
Er wartete noch, bis ich ihm geantwortet hatte und ging dann offline. Lächelnd lehnte ich mich zurück. Ich würde ihn wiedersehen. Und dann... Eins nach dem anderen. Bis dahin waren es noch ein paar Tage und die konnten wir nutzen, das Kennenlernen zu beginnen.
Mein Blick fiel auf das Wohnmobil der deutschsprachigen Familie. Sie hatten es doch noch einmal umgestellt.
_________________
01.08.2018
Haugesund - Brusand
_________________
„Du bekommst heute neues Internet, oder?“ Über den Frühstückstisch hinweg sah ich zu meinem Vater.
Er nickte. In meinem Kopf ratterte es. Das hieß, heute war der erste August, was wiederum bedeutete, dass Leon heute Geburtstag hatte.
„Wir bekooommen Taaaaschengeeeld“, flötete Valerie begeistert.
„Ich muss Leon gratulieren“, sagte ich deutlich nüchterner. Der Schlafmangel der letzten Nacht machte sich bemerkbar. Ich war gestern Abend noch auf die Felsen in der Nähe des Campingplatzes geklettert und hatte mir von dort den Sonnenuntergang angesehen. Nebenbei hatte ich mit Lars geschrieben und das etwas länger als für meinen Schlafhaushalt gut gewesen war.
Dafür wusste ich jetzt, dass er und seine Eltern ebenfalls in Südnorwegen unterwegs gewesen waren. Im Gegensatz zu uns waren sie aber nicht durch das Land in Richtung Bergen gefahren, sondern an der Küste entlang. Da sie am Wochenende jedoch einer großen Familienfeier bei seinen Großeltern beizuwohnen hatten, konnten sie nicht länger bleiben und fuhren deshalb schon wieder zurück.
Was ich echt cool fand - so als Noch-Nicht-Autofahrer -: Lars war große Strecken der Reise selbst gefahren und würde auch zurück nach Deutschland am Steuer sitzen. Er war 18, somit stellte das kein Problem dar. Führerschein mit 17 galt ja nicht überall.
Für seinen Schulweg hatte er sich aber meist geweigert, das Auto zu benutzten, da es nach seiner Aussage 'nur' 45 Minuten mit dem Rad bis nach Bergen auf Rügen waren, der Stadt, wo das einzige Gymnasium im Umkreis stand. Seinem 'nur' begegnete ich immer noch skeptisch, aber er hatte das ziemlich locker geschrieben. War wahrscheinlich Gewöhnungssache und von irgendwoher musste er ja seine dünne Gestalt haben. Was ich jetzt nämlich auch wusste, war, dass er Minzschokolade über alles liebte und gerne auch mal eine ganze AfterEight-Packung am Stück verdrücken konnte. Und diese Kalorien musste er ja irgendwie wieder abarbeiten.
Meine Mum schob sich ihr letztes Stück Brot in den Mund. Damit hatten alle aufgegessen und das Frühstück war beendet. Mein Vater verabschiedete sich mit der Toilettencard zum Duschen, Valerie verschanzte sich hinter ihrem Smartphone und meine Mum machte sich an den Abwasch. Ich holte fix mein Handy und gratulierte meinem ehemaligen Klassenkameraden und Kumpel zum Neunzehnten und schnappte mir dann das Geschirrtuch, um meiner Mum zu helfen.
Sie stand an der Spüle, ich zwischen ihr und dem kleinen Tisch und trocknete das, was sie aus dem Abwaschwasser nahm, ab und stapelte es auf der Tischplatte. Die Brotkrümel von den Tellern kratzte sie in eine inzwischen schon recht volle Brötchentüte, die wir zum Müllbehälter umfunktioniert hatten.
„Valerie, könntest du den Müll rausbringen?“, fragte ich meine Schwester, die auf der Rückbank lümmelte. Ihr Todesblick traf mich und ich ließ es vorsichtshalber auf sich beruhen. Würde eh nichts bringen, wenn ich jetzt darauf beharren würde.
Stattdessen griff ich nach dem nächsten Becher und wischte ihn trocken. Ihm folgten Messer und Löffel. Als meine Mum mir die kleine Kaffeekanne meines Dads reichte, legte ich das Geschirrtuch beiseite und holte mir an dessen Stelle ein Stück Küchenpapier vom Schrank. Wegen des Kaffeegeruchs.
„Was hattest du dir jetzt noch rausgesucht?“, fragte meine Mutter, während sie nach unserer leeren Wurstdose griff.
„In dem einen Reiseführer gab es im Süden und Osten von Stavanger noch was“, meinte ich und widmete mich dem Runterdrückding der Kaffeekanne.
„Aber das hattest du dir nicht rausgesucht, das steht da nur drin?“, hakte sie nach.
„Ja, das sind halt Wanderungen, die man machen kann.“ Ich zuckte mit den Schultern und stellte mein abgetrocknetes - oder eher trockengetupftes - Werk zu den übrigen.
Meine Vorschläge hatten wir alle entweder schon abgearbeitet oder nicht umsetzen können, weil wir nicht in deren Nähe gekommen waren.
Das Küchenpapier stopfte ich in die Mülltüte. Sie quoll langsam über.
„Valerie, du solltest langsam gehen, sonst kannst du es nicht mehr transportieren“, warnte Mama meine Schwester, die nach wie vor so tat, als würde die Mülltüte nicht existieren.
Ich griff wieder zum Geschirrtuch und angelte mir dann die Wurstdose. Anschließend wischte ich die große Waschschüssel trocken, in der wir immer das benutzte oder saubere Geschirr bunkerten, damit es nicht so viel Platz beim Abwasch einnahm.
Die Tür öffnete sich und mein Dad schaute ins Wohnmobil.
„So“, fragte er. „Wer war denn alles duschen?“
„Valerie, Mama, ich“, zählte ich auf, während ich meiner Mum das Geschirr zum Wiedereinräumen reichte. Mir schwante böses. „Ging es nicht?“
„Nein, ist nichts mehr drauf gewesen, ich hab's gerade checken lassen.“
Die Karten musste man mit Guthaben aufladen, um duschen zu können. Theoretisch hatten wir Geld für viermal duschen aufgeladen, doch da man die Karte durch so einen Schlitz ziehen musste, waren wir uns alle etwas unsicher, wann was abgebucht wurde und wann nicht.
„Valerie, hast du es nur einmal durchgezogen?“, fragte ich meine Schwester. Sie nickte. Komisch.
„Gebt mir mal bitte mein Portemonnaie“, bat mein Vater und verschwand, sobald er es in der Hand hielt, wieder.
Wir hatten in der Zwischenzeit alles in den Schränken verstaut.
„Wollen wir dann mal gucken, was wir machen können?“, fragte meine Mum. Ich nickte und holte die Straßenkarte. Gemeinsam setzten wir uns an den Tisch.
„Wir wollten ja nicht schon wieder Fähre fahren“, sagte ich und deutete auf eine Verbindungsstraße von Haugesund nach Stavanger, die über Land führte. „Also müssen wir hier den Bogen fahren.“ Ich beugte mich über die Karte und studierte den Weg genauer. „Mist“, entfuhr es mir. „Da ist auch eine Fährfahrt dabei.“ Ich zeigte meiner Mum die Stelle. Sie war winzig. Aber entscheiden, denn -
„Da ist es einfacher, gleich die Straße einfach weiter zu fahren und hier die Fähre nochmal mitzunehmen.“ Sie zeigte auf die Hauptverbindungsstraße von Bergen nach Stavanger. Ich nickte.
„Wir können uns ja mal ansehen, was es in Stavanger alles gibt. Hier müsste es irgendwo eine Stadtkarte geben.“ Suchend wendete sie die Karte. Irritiert folgte ich ihren Bewegungen, doch tatsächlich, es gab eine kleine Citymap der Innenstadt.
„Was wollen wir damit jetzt?“, fragte ich. Auf noch einen Stadtbesuch war ich nicht scharf.
„Gucken ob es was Schönes gibt“, grinste sie. Ich stöhnte gequält auf. „Der Stadtverkehr ist doch deine Spezialität.“
Ich sah sie leidend an. Nicht nochmal!
Zu meinem Glück fand ich auf der Karte nichts, was einen Besuch wert gewesen wäre. „Ich glaub, da ist das Tourizeug nicht eingezeichnet.“
„Na schauen wir mal“, meinte sie allerdings nur unbeeindruckt und schaltete ihr Handy an.
Ich hätte heulen können. Doch noch war es ja nicht beschlossen. So half ich ihr brav beim Suchen - zumindest sporadisch, hauptsächlich nutzte ich die Zeit, um mit Lars zu simsen, der sich seelisch und moralisch auf seine 18-Stunden-Fahrt vorzubereiten versuchte - und stellte erleichtert fest, dass es wirklich nichts Lohnenswertes zu geben schien.
Mein Dad kam wieder und ich beschloss, meine sich schon seit einiger Zeit bemerkbar machende Blase nicht länger zu ignorieren.
„Valerie ist Müll rausbringen?“, fragte ich in die Runde, als ich meine Schwester nirgends entdecken konnte.
„Ja“, antwortete mein Dad.
„Wo ist die Karte?“, wollte ich weiter wissen.
„Hoffentlich nicht im Müll“, sagte er trocken und reichte sie mir dann grinsend. Schmunzelnd nahm ich sie entgegen und verschwand aufs Klo.
Als ich zurückkam, saß meine Mum immer noch über der Karte gebeugt da und mein Dad hatte sich zu ihr gesellt. Ich erkundigte ich mich nach dem aktuellen Stand der Dinge.
„Angeln im Rognerland“, seufzte sie. Also waren die Prioritäten mal wieder auf die beiden Fischer gelegt. „In Hå wäre was oder in Ogna.“
„Ogna ist gut, da gibt's 'ne Wanderung", sagte ich und holte den Reiseführer aus dem Schrank. „Guck, hier.“ Ich zeigte ihr die Seite. Sie überflog sie.
„Null Meter hoch und runter, das klingt gut“, stellte sie erfreut fest. Dann fiel ihr Blick auf die Weglänge. „Acht Kilometer...?“
„Wir müssen ja nicht alles laufen“, beruhigte ich sie schmunzelnd.
Mein Dad mischte sich ein. „Das ist ja Sandstrand!“
Ich grinste und gab das Nest bei Google ein. Irgendetwas zum Angeln würde man da schon finden. Tatsächlich.
„Ogna ist der optimale Ort um zu fischen, ob Salz- oder Süßwasserfische. Außerdem befinden sich drei Flüsse in der Nähe, in denen das Angeln nach Lachs fast immer zu Erfolg führt*“, las ich vor.
„Das klingt gut“, sagte mein Dad begeistert. „Da bleiben wir drei Tage.“
Vielversprechend klang es wirklich, doch da die beiden bisher keinen einzigen Fisch angeln konnten, blieb ich skeptisch. Ich wollte ihm seine Motivation allerdings nicht nehmen, deswegen sagte ich nichts.
Während meine Eltern noch etwas über der Karte sinnierten und Valerie draußen ihre Angel umbaute, erhob ich mich, schloss alle Fenster und Dachluken, verriegelte die Schränke und klemmte das Spülmittel zwischen Wand und Wasserhahn ein. Jetzt mussten die Türen draußen vom Gas und der Heckgarage noch zugeschlossen werden, dann waren wir abfahrtbereit.
*
Der Weg nach Ogna führte uns über vier kleinere Inseln, die per Brücken verbunden waren. Auf der letzten fuhr die Fähre ab. Wir erreichten den Hafen, gerade als eine Fähre entladen wurde und mussten so quasi gar nicht warten. Perfektes Timing nannte ich das. Von der Art her war es die gleiche Fähre, wie wir sie auch gestern benutzt hatten, nur lag heute nur ein Drittel der Strecke vor uns.
Dort angekommen, führte die Straße durch mehrere Tunnel unter den Fjorden hindurch. Einmal waren wir 130 und das zweite Mal sogar 223 Meter unter Normalnull. Die Landschaft und damit verbundene Straßenführung in Norwegen war schon faszinierend. Da konnten sich die Deutschen mal eine Scheibe abschneiden, wir hatten hier nämlich auch noch nie im Stau gestanden.
*
Weniger faszinierend war allerdings die Landschaft, welche uns in der Ognabucht erwartete. Flachland, wo man hinsah. Valerie und mein Dad waren enttäuscht, weil es sich an einem flachen Sandstrand nicht angeln ließ und ich war enttäuscht, weil es landschaftsmäßig aussah wie in Deutschland. Und wir hatten noch drei Tage hier im Süden...
So standen wir etwas planlos in der Gegend und wussten weder wohin, noch was tun. Letztendlich fuhren wir zurück nach Brusand, dem Kaff neben Ogna, da dort der Campingplatz nicht so voll und gemütlicher aussah.
Das 'nicht so voll' revidierte ich, als wir ankamen, doch er machte einen guten Eindruck. Zudem gab es einen sehr schönen Sandstrand mit Dünen und Steinen, den ich erst mit meiner Mum und dann mit meinem Dad erkundete.
Anschließend gab es Abendessen, nach welchem mein Vater Mama und mich hinausscheuchte, damit er mit Valerie den Abwasch machen konnte - sehr zu Valeries Vergnügen.
„Dann kann ich jetzt meine Fotos machen“, freute sich meine Mutter und ging, ihr Handy in der einen Hand und mich im anderen Arm haltend, über den Zeltplatz in Richtung der Dünen. Dort angekommen, nutzte sie das Licht der untergehenden Sonne, um den Strand digital festzuhalten, während ich neben ihr stand und ihr dabei zusah.
Die Melodie eines Rocksongs zerriss die idyllische Stille. Ich brauchte einen Moment, um sie meinem Klingelton zuzuordnen. Irritiert zog ich mein Handy aus der Hosentasche, doch als ich den Namen auf dem Display las, begann es in meinem Magen schon wieder zu kribbeln.
„Darf ich?“, fragte ich meine Mum. Mein Finger schwebte schon über dem grünen Knopf.
„Klar. Ich würde dann auch wieder zurückgehen, mir wird es hier zu kalt.“
„Okay.“ Ich nickte und winkte ihr kurz zu. Dann nahm ich den Anruf an. „Hey“, meldete ich mich.
„Hi“, kam es schüchtern von der anderen Seite. „Stör ich gerade?“
„Nö, gar nicht. Was verschafft mir die Ehre?“
Lächelnd folgte ich einem Pfad durch die Dünen an den Strand.
„Na, du hast dich doch dazu bereit erklärt, aufzupassen, dass ich hier nicht versauere.“ Leichte Belustigung schwang in seiner Stimme mit, aber sie klang irgendwie matt.
„Stimmt, das hab ich.“ Vielleicht täuschte ich mich auch.
„Und ...“ Unsicher druckste er herum. „Ich hab mich gerade mit meinen Eltern ein bisschen gezofft und dann...“ Er wurde immer leiser. Ich hatte Mühe, ihn bei dem Wind hier zu verstehen. „Also... Ich wollte ... deine Stimme hören...“
Der Mann, der mir gerade entgegenkam, warf mir einen irritierten Blick zu. War mir schnuppe. Ich würde bestimmt nicht aufhören, hier dümmlich in der Gegend rumzugrinsen, nur weil ihm das suspekt war.
„Ist meine Stimme so toll?“, fragte ich neckend in das Telefon. Schmetterlinge schön und gut, aber ich war mir nun sicher, dass Lars niedergeschlagen war und etwas Aufmunterung tat vielleicht gut.
„Total“, ging er drauf ein. Ich meinte, die Spur eines Grinsens aus seiner Stimme heraushören zu können. Sehr gut. „Ich verzehre mich gerade zu danach. Aber sag mal, kann es sein, dass es bei dir ziemlich windig ist?“
„Jap, laufe gerade am Strand lang.“ Mein Blick richtete sich auf das Meer. Das Blau war echt dunkel. „Ähm ... willst du über deine Eltern reden?“
„Und da war die Ablenkung Geschichte“, sagte er mit einer Mischung aus Sarkasmus und Belustigung in der Stimme.
„Sorry“, antwortete ich zerknirscht. „Ich arbeite noch an meinem Feingefühl.“
„Ach was, kein Ding.“ Er seufzte. „Nicht wirklich, aber... Mein Dad würde gern sehen, dass ich dieses Jahr schon anfange zu studieren und zwar am besten Jura, aber das ist eine Richtung, die ich überhaupt nicht einschlagen will. Frag mich nicht wie, auf jeden Fall kam das Thema beim Essen auf und irgendwann war es mir zu blöd und ich bin aufgestanden und gegangen. Fand er nicht so toll. Und als ich dann noch 'ne kleine Krise wegen des Boardaufenthalts bekommen hab... Naja.“
„Denkst du, er würde ein anderes Studium akzeptieren?“
„Sicher. Aber das, was mir gerade vorschwebt, ist nicht so in seinem Interesse und dann will er eben unbedingt, dass ich dieses Jahr schon beginne.“
„Was willst du denn machen?“
„Irgendwas mit Design. Ich zeichne unglaublich gern und würde das auch beruflich machen. Ich versteh ja seine Bedenken, dass es ziemlich schwer ist, sich da über Wasser zu halten, und auch, dass mich ein Jahr Pause aus dem Lernalltag rausbringt, aber ich hätte eben gern, dass er mich dennoch unterstützt. Oder zumindest erstmal mit Jura aufhört.“
„Wie kommt er da überhaupt drauf?“ Ich hatte einen größeren Felsbrocken erspäht und schlenderte auf diesen zu.
„Meine eine Cousine studiert das, die in Jena. Und mein Vater ist immer hellauf begeistert, wenn sie davon erzählt, aber diese ganzen Gesetze und Artikel und so, das ist so gar nicht meins.“ Er seufzte erneut. „Aber deswegen hab ich dich nicht angerufen. Also doch, aber nicht, um darüber zu reden. Also, erzähl mir was. Heitere mich auf!“
„Dafür sorgen, dass du auf dem Schiff nicht eingehst und aufheitern sind aber zwei Paar Schuhe.“ Mein Empathievermögen war ... nennen wir es ausbaufähig.
„Ist richtig.“ Da war es wieder, das Grinsen in seiner Stimme. „Aber ich habe vollstes Vertrauen in dich, dass du das hinbekommst.“
Ich brummte. Da war ich noch nicht überzeugt von. Aber na gut, einen Versuch war’s wert und wenn er wirklich so sehr meine Stimme hören wollte, wie er gesagt hatte - der Gedanke war immer noch ... eigenartig und beflügelnd zugleich - sollte es ja ziemlich egal sein, was ich sagte.
„Eine Frage hätte ich zu deinen Eltern noch“, begann ich und ließ mich auf dem Stein nieder. Als keine Einwände kamen, sprach ich weiter. „Wieso tun sie dir sowas wie diese Schiffsfahrt oder den Museumsgang an? Sie müssen doch sehen, dass du das nicht magst.“
„Wir haben zu Beginn des Urlaubs ausgemacht, dass jeder einen Tag bekommt, an dem er machen kann, was er will und der Rest mitkommen muss, egal ob’s denen gefällt oder nicht. Da hat sich mein Vater das Museum und meine Mum die Fährfahrt rausgesucht.“
„Und du?“
„Hab’s mir offen gehalten. Ich wollte spontan gucken, ob ich was Fieses finde, so als Ausgleich zu ihren beiden Tagen.“
„Du kleiner Teufel.“ Ich grinste. Die Vorstellung von Lars mit Teufelshörnern und Dreizack hatte durchaus ihre Reize. Es würde sich fürchterlich mit der Farbe seiner Augen beißen, aber... „Na gut“, sagte ich und blendete alle eventuell nicht jugendfrei werdende Gedanken aus. „Dann erzähl ich mal was.“
„Genau, dann erzählst du mal was.“ Er klang schon besser. Nicht mehr so bedrückt.
„Muss ich mir Sorgen machen, dass du von der Reling springst, sollte ich was Falsches sagen?“
„Nein, ich sitz hier irgendwo in den Untiefen des Schiffs und habe nicht vor, mit dem kalten Wasser Bekanntschaft zu machen.“
„Gut, das beruhigt mich.“
Ich überlegte. Was konnte ich ihm erzählen? Ich dachte an die letzten Tage zurück, ließ jeden noch einmal Revue passieren und blieb schließlich an einer Erinnerung in Odda hängen.
„Als wir in Odda waren“, begann ich und hatte - aus welchen Gründen auch immer - ein Bild von Lars mit Hundeohren vor Augen, die er bei den Worten spitzte, „hat meine Schwester beim Auspacken der Angelsachen eine Postkarte gefunden. Mit der kam sie ins Wohnmobil und fragt meine Mum und mich“, ich musste kurz grinsen, „wer denn diese Alemania sei und wieso sie Papa mit 'lieber Benni' anschreiben würde.“
Ein leises Lachen kam von der anderen Seite der Telefonverbindung. Es ging mir durch und durch. Ich schloss für einen Moment die Augen, unfähig irgendetwas anderes zu tun und wünschte mir plötzlich sehnlichst, ihn in meine Arme schließen zu können. Konnte man sich in einer so kurzen Zeit schon verlieben? Wenn nicht, verknallt war ich doppelt und dreifach.
„Valerie ist süß.“
„Valerie ist ein Besen. Ein pubertierender Besen, ich sag dir, das sind die schlimmsten.“
„Ach wo“, nahm er meine Schwester in Schutz, „ich bin mir sicher, sie ist ganz lieb und in Wahrheit bist du der Besen.“
Empört blies ich meine Backen auf. Vielleicht war er doch ein Teufel. Oder nein, Valerie hatte ihn verhext, ihn in ihren 'Wir-sind-gegen-Marlon'-Bann gezogen.
„Ein Besen also“, sagte ich gespielt ernüchtert. „Darf ich dich dann daran erinnern, dass du gerade mit einem Besen telefonierst, weil du dessen Stimme hören wolltest?“
„Lieber nicht, sonst komm ich noch auf die Idee, ich sei verrückt.“
Wieder lachte er. Das zweite Mal in diesem Gespräch. War doch ein ganz guter Schnitt, oder?
Ich erhob mich wieder. Der Fels war unbequem. Außerdem war die Sonne mittlerweile hinter dem Horizont verschwunden und der Wind war echt eisig. Langsam ging ich zurück in Richtung des Campingplatzes.
„Bitte sag mir, dass du eine Flat hast“, sagte ich ins Telefon.
„Angst, dass ich dich am Ende die Rechnung bezahlen lasse?“
„Das vielleicht nicht, aber dass du wegen mir arm wirst.“
Ich lief nun parallel zu den Dünen am Strand und suchte den Aufgang, den ich benutzt hatte.
„Keine Sorge, ich hab ja schließlich dich angerufen. Die Kosten waren mir vollkommen bewusst, doch ich hab 'ne Flat, sie sind also egal.“
„Das glaub ich dir jetzt mal.“ Nach einem Blick auf die Uhr stellte ich nämlich fest, dass da schon einige Minuten zusammengekommen waren. Ich lief an einem weiteren kleinen Weg, der in die Dünen führte, vorbei. „Fuck...“
„Alles okay?“, kam es besorgt von der anderen Seite.
„Ja, ich suche nur gerade den Dünenaufgang, den ich herzu benutzt habe. Die sehen aber alle gleich doof aus von dieser Seite.“
„Du gehst schon zurück?“ Seine Stimme klang enttäuscht.
„Es ist dreiviertel neun durch, die Sonne ist weg.“
„Oh.“
Ich schmunzelte. Stimmt, er saß ja irgendwo im Inneren des Schiffs und hatte wahrscheinlich kein Zeitgefühl mehr.
„Kein Ding.“ Mein Handy piepte. „Warte mal kurz, ich glaub, ich hab eine Nachricht bekommen.“
Ich nahm das Smartphone vom Ohr und sah auf das Display. Meine Mum.
„Okay, bin wieder da.“
„War’s was wichtiges?“, fragte Lars.
„Naja... eher nicht. Meine Mutter hat gefragt, ob ich mit Wizzard spielen will.“
„Und? Willst du?“
„Ich hab gestern in jeder Runde kategorisch 10 Punkte verloren. Das muss ich nicht unbedingt weiter verfolgen.“
Sein leises Lachen drang an mein Ohr. Er tat das heute definitiv zu wenig.
„Setz das mal fort“, sagte er. „Verbring den Abend mit deiner Familie, sowas ist wichtig. Ich werde jetzt auch zurück zu meinen Eltern gehen. Danke, dass du dir Zeit genommen hast.“
„Kein Problem.“ Etwas überrumpelt kamen die Worte aus meinem Mund.
„Nein wirklich“, beteuerte er. „Das bedeutet mir 'ne Menge und es hat geholfen. Mir geht’s besser.“
„Ich hab nichts gemacht“, protestierte ich etwas hilflos. Ich wollte nicht, dass er das Gespräch beendete.
„Doch.“ Seine Stimme wurde sanft. „Du warst da. Und ich hab das ernst gemeint, deine Stimme ist wirklich so toll.“
Ich räusperte mich. „Ähm... danke? Und gern geschehen, jeder Zeit wieder.“
„Ich werde es mir merken. Und jetzt husch, geh zu deiner Familie und ... bleib ruhig im Minus.“
Der letzte Satz klang wieder mehr nach dem Lars, den ich vor zwei Tagen kennengelernt hatte.
„Wie darf ich das jetzt verstehen?“, schmunzelte ich.
„Naja, du weißt doch sicherlich... Pech im Spiel...“
Er ließ den Rest offen. Stattdessen drang ein gleichmäßiges Tuten an mein Ohr.
Mistkerl. Er hatte aufgelegt. Das würde ich ihm heimzahlen. Denn dass ich heute Nacht vor lauter Geflatter in meinem Magen nicht schlafen würde können, war sicher.
*https://www.ognacamping.no/de/om-oss/
____________________________________
02.08.2018 - 05.08.2018
Brusand - Sirdal - Lyngdal - Lindesnes - Løkken
_____________________________________
„Moppi Moppi, wenn Pitti friedlich flötet, kannst du doch nicht pauken wie eine Dampframme“, zitierte ich mit verstellter Stimme Pittiplatsch.
Valerie kicherte. Dann stimmte sie das Lied von Biene Maja an. Meine Mum setzte mit ein und auch ich quälte mir die paar Zeilen, welche ich mehr oder weniger kannte, heraus.
Nebenbei trat ich neben meine kleine Schwester und klemmte ihren Kopf unter meinem Arm ein. Sie quietschte überrascht auf und malträtierte mit ihrem Finger meine Seite. Bei ihrer dünnen Statur dachte man es zwar nicht, aber sie hatte das echt drauf. Wahrscheinlich konnte sie ihre Finger extra spitz machen, so als eine Bruder-Abwehr-Funktion. Naja, einen Versuch davon zumindest, denn locker ließ ich deswegen trotzdem nicht, auch wenn es teilweise fast wehtat. Aber eben nur fast.
„Und ich kenn' eine Biene und die nennt sich Biene Majaaaa“, sang Valerie währenddessen lauthals weiter.
Kurzentschlossen hob ich sie hoch und trug sie zurück zum Campingplatz. Andernfalls hätte ich morgen lauter blaue Flecke an meiner Hüfte. Meine Mum folgte uns kopfschüttelnd, doch sie lächelte.
Auf dem Rückweg vom Strand zum Wohnwagen dankte ich wem auch immer, dass wir die einzigen hier im Umkreis waren und uns somit niemand sah - und vor allem niemand hörte. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich mit Valerie und Mama mal morgens durch norwegische Dünen laufen und dabei Lieder aus meiner Kindheit singen würde. Doch genau das tat ich gerade, wieso auch immer. Es hatte sich einfach ergeben und es war schön. Punkt. Nicht weiter darüber nachdenken.
Bis wir den Campingplatz erreichten, krakelten Valerie und ich zusammen ziemlich schief Benjamin Blümchen in die Gegend, aber wie gesagt, es hörte uns ja niemand. Sobald wir den Zaun erreichten, stellten wir unsere Darbietung jedoch freundlicherweise ein. Hätten die Leute gesehen, wie ich ein strampelndes Etwas auf meinen Armen trug und nebenbei Kinderlieder sang, wäre das wahrscheinlich nicht sehr positiv für mich ausgegangen. So von wegen Kinderschänder und Dachschadenalarm.
Am Wohnmobil angekommen, stellte ich Valerie kopfüber auf der Wiese ab. Sie ließ sich nach hinten in eine Brücke fallen und stand dann wieder richtigrum. Beneidenswert.
„Jetzt du“, grinste sie, als sie meinen Blick bemerkte.
Ich schnaubte und zeigte ihr einen Vogel. „Vergiss es.“ Ich würde mir dabei wahrscheinlich sämtliche Rückenknochen brechen.
Aus dem Inneren des Wagens drang Musik. Ich lauschte. Von irgendwoher kannte ich die Melodie.
„Papa, wie heißt das Lied?“, fragte ich meinen Dad, der gerade fleißig dabei, den Abwasch zu machen.
„One Night In Bangkok“, sagte er.
„Danke“, erwiderte ich erstaunt - meist kannte er nämlich nur die Band, aber nicht den Titel - und tippte den Namen in ein Memo auf meinem Handy. Zuhause konnte ich es mir dann auf YouTube nochmal anhören und gegebenenfalls runterladen.
*
Wir fuhren ins Blaue.
Wie schon gestern hatte niemand wirklich Ideen oder gar einen Plan, was wir machen konnten, sodass wir uns schließlich für diesen Weg entschlossen.
Es war eine gute Entscheidung. Zumindest was die Landschaft anging, die wir durchfuhren. Die Straße führte uns durch ein langes Flusstal, welches rechts und links von Bergen umsäumt war. Der Fluss an sich war mal breiter, mal schmaler und mal tiefer und mal flacher. Bäume standen am Ufer und bedeckten den unteren Teil der Berghänge. Der Himmel war von Wolken verhangen, doch es regnete nicht und wir hatten die Straße fast immer nur für uns. Es war echt schön und vor allem hatte es wieder Norwegen-Feeling.
Gegen vier erreichten wir einen netten Campingplatz in Sirdal. Besser gesagt, den Campingplatz in Sirdal, denn mehr war hier nicht. Die Rezeption befand sich auf der anderen Straßenseite und beinhaltete einen Souvenirladen. Wenn ich so drüber nachdachte, war das der erste, den ich in Norwegen sah. Irgendetwas machten wir falsch.
Die Dame an der Anmeldung war freundlich und ich erwarb ein Warnschild für Trolle. Also, ein Warnschild, auf dem ein Troll abgebildet war. Keins, das Trolle vor was auch immer warnte.
Ich machte ein Foto davon und schickte es Lars. Dieser hatte sich nur heute Morgen kurz gemeldet, als sie in Dänemark angekommen waren, doch da hatte ich noch geschlafen. Meine Frage, wie es mit seinen Eltern lief, war noch ungelesen.
„Ignoriert er dich?“
Erschrocken sah ich auf. Ich hatte meine Mum gar nicht bemerkt, wie sie an mir vorbeigelaufen war.
„Nein“, antwortete ich ihr und schluckte den Hinweis, dass sie mir beim Schreiben nicht über die Schulter sehen sollte, hinunter, „aber er fährt ja, da kann er nicht schreiben und dann hat er, wenn er bei seinen Großeltern angekommen ist, wahrscheinlich auch erstmal besseres zu tun.“
„Sie haben Verwandte hier? In Norwegen?“
„Nein, in Dänemark.“ Das wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt, um sie zu fragen. Ich zögerte. „Mama?“
„Ja, mein Schatz?“ Sie lächelte verschmitzt und ich wollte gar nicht wissen, woran sie gerade dachte.
„Wir wollten doch sowieso in Dänemark dann nochmal eine Pause machen, richtig?“
„Jaa...“ Sie hob eine Augenbraue. Ich fühlte mich durchleuchtet.
„Lars kennt da einen Campingplatz, der nicht so teuer sein soll... Er hat mir die Adresse geschickt... Aabenraa, das wäre kurz vor der deutschen Grenze...“
„Und du möchtest dort gern hin?“
Ich nickte.
„Dann musst du mal mit Papa sprechen, aber ich denke, das können wir einrichten. Er zeltet dort mit seiner Familie?“
„Nein, sie übernachten bei seinen Großeltern, aber das ist eben nicht weit weg von da...“
Wieso fühlte ich mich gerade so unsicher? Alles, was sie wusste, war, dass ich mit Lars schrieb. Ich stellte ihn meinen Eltern ja nicht als zukünftigen Schwiegersohn vor, also wieso war ich so nervös?
Weil ich ihn wiedersehen wollte und meine Eltern mir da ganz leicht einen Strich durch die Rechnung machen konnten. Und das noch nicht einmal absichtlich. Es reichte aus, wenn sie sich spontan dazu entschieden, doch weiterzufahren, weil es zeitlich besser passte oder wir es wegen eines Staus nur sehr spät ankommen würden und deshalb eher Rast machten. Dann konnte ich nichts sagen.
„Rede mit deinem Vater. Von meiner Seite aus ist es okay, solange wir uns nicht mit seiner Familie unterhalten müssen oder er dann die ganze Zeit bei uns ist.“
Ich nickte. „Okay, danke.“
So war meine Mum eben. Kontaktscheu, wenn es um andere Leute ging und darauf bedacht, genug Privatsphäre zu haben. Manchmal fühlte ich mich durch diese Art vor den Kopf gestoßen, aber da Lars und ich wahrscheinlich dann sowieso irgendwo anders hingehen würden, störte es mich diesmal nicht so sehr.
*
Erledigt fiel ich am Abend ins Bett. Valerie hatte es heute geschafft, im Waschraum der Männer zu duschen, weil sie nicht wusste, dass der Frauenwaschraum einmal um das Haus rum war. Zum Glück hatte sie niemand gesehen, aber es war schon irgendwie verpeilt. Und niedlich.
Ich sah zu ihr hinüber. Sie lag bäuchlings im Bett und starrte konzentriert auf ihr Handy. Irgendein Jump-and-Run-Spiel. Als ich sah, dass sie gestorben war, streckte ich meinen Arm aus und wuschelte ihr durch die Haare. Nicht, dass ich am Ende Schuld war, wenn sie verlor. Aus zusammengekniffenen Augen sah sie mich an, doch es war kein Ich-bin-dir-böse-Blick, sondern nur ein geschwisterlicher Ich-muss-dich-jetzt-leider-so-anschauen-Blick.
Die LED meines Handys begann zu leuchten. Ich stupste Valerie noch einmal an die Nase und widmete mich dann der eingegangenen Nachricht. Sie war von Lars. Automatisch begann ich zu lächeln.
--- Für mich? ---
stand da bezogen auf das Trollschild mit einem Herzchen in den Augen habenden Smiley.
--- Nö, alles meins. Kannst es aber jederzeit besuchen kommen :) ---
--- Verlass dich drauf und wenn es dann plötzlich mal nicht mehr da sein sollte - ich war’s nicht ^-^ ---
Hatte ich schon einmal erwähnt, dass ich ihn mochte?
Eine weitere Nachricht tauchte auf.
--- Sorry übrigens, dass ich den ganzen Tag nicht geschrieben hab. Erst die Fahrt hierher und dann das große Wiedersehen... Ich würde dir ja gern versprechen, dass es ab morgen besser wird, aber ich befürchte, meine Oma hat uns alle voll eingeplant, um ihr bei den Vorbereitungen zu helfen... ---
Ich sah sein zerknirschtes Gesicht bildlich vor mir. Wieder einmal überkam mich der Drang, ihn in meine Arme zu schließen und durchzuknuddeln.
--- Macht nix, hilf deiner Oma mal schön. Ihr seht euch wahrscheinlich nicht so oft, da wird sie froh sein, mal etwas Zeit mit ihrem Enkel zu verbringen ---
--- Wie, 'macht nix'? Natürlich macht das was! Sie hat mich jetzt über eine ganze Woche, dich hab ich einen Abend lang gehabt ---
Ich biss mir auf die Unterlippe und ballte meine Hände zu Fäusten. Ich wollte ihn anfassen. Jetzt.
--- Du hast mich am Montag... ---
--- Wie? ---
--- Naja, Montag. Ich hab meine Eltern gefragt, wir kommen auf den Campingplatz ---
--- Wirklich? ---
--- Ja ---
Eine Zeit lang passierte nichts, dann tippte er, hörte wieder auf und ich dachte zurück an den Tag, wo wir diese Situation schon einmal gehabt hatten.
--- :) ---
Ich grinste. Und dafür hatte er jetzt so lange gebraucht?
--- Sorry, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich freu mich. Ich freu mich wahnsinnig. Das ist echt cool, dass ihr kommt ---
--- Schon okay, ich weiß, dass die Aussicht, mich wiederzusehen, die Menschen manchmal umhaut xD ---
--- So überzeugt von dir? Na, vielleicht überleg ich mir das doch nochmal anders ^^ ---
--- Wehe ^^ ---
Es war Spaß, sowohl von ihm als auch von mir, aber allein der Gedanke, er könnte sich anders entscheiden, verursachte ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen.
--- Nein, keine Sorge. Ich glaube, dazu bin ich dir schon zu sehr verfallen... ---
Das Ziehen wandelte sich in ein angenehmes Kribbeln. Okay, Zeit für einen Themenwechsel.
--- Du hast mir noch nicht gesagt, wie es mittlerweile mit deinen Eltern läuft ---
--- Ich weiß, sorry. Ich fand das Schild so toll und dann hat es nirgendwo mehr reingepasst... Besser auf jeden Fall. Ich hab mich entschuldigt für mein Verhalten an dem Abend und mein Vater hat sich ebenfalls entschuldigt. Er meinte, wir sollten da nochmal drüber reden. Wenn du hier bist, kann ich dir dann vielleicht mehr sagen ---
--- Das klingt, als könntet ihr das aus der Welt schaffen ---
--- Ich hoffe es. Du bekommst Bericht, versprochen. Das bin ich dir schuldig, nachdem ich dir ein Ohr abgekaut hab ^^ ---
--- Ach was, wie gesagt, jeder Zeit wieder ---
Wegen mir konnte er auch jetzt sofort anrufen. Ich würde gerade einiges tun, um seine Stimme wieder zu hören, dabei hatten wir erst gestern telefoniert. Wo sollte das bloß hinführen?
--- Ich glaube, ich sollte langsam Schluss machen... Es ist schon spät... ---
Wie auf Kommando musste ich gähnen. Mein Blick fiel auf die Uhr.
--- Jap... ---
--- Mach’s mir nicht so schwer o.o ---
--- Ich mach doch gar nichts ^^ ---
--- Eben. Immer muss ich Schluss machen ---
Ein schniefender Smiley stand hinter seiner Nachricht und brachte mich zum Lächeln. Ich gab mich geschlagen, auch wenn es mir missfiel.
--- Okay okay, überredet. Schlaf gut :) ---
--- Du auch. Und träum was Süßes :P ---
Ich wollte noch etwas wie 'Yeah, Gummibärchen' oder 'Schokolade <3' oder irgendwie sowas schreiben, um es abzumildern, doch in dem Moment beugte sich Valerie über meine Schulter und las interessiert die letzten Nachrichten.
„Ahaaa...“, grinste sie.
Ich machte mein Handy aus.
„Valerie!“, zischte ich leise.
Sie sah mich unschuldig an. „Wer ist Lars?“
„Jemand, den ich kennengelernt habe.“
„Magst du ihn?“
„Ja.“
„Wie sehr?“
Gute Frage. Ich zuckte mit den Schultern.
„Wird er dein neuer Freund?“, fragte sie weiter.
„Weiß ich nicht.“
„Also willst du es. Bist du verknallt?“
Nun war ich es, der sie aus zusammengekniffenen Augen ansah. Dünnes Eis, Fräulein, ganz dünnes Eis.
„Geht dich nichts an.“
Ich hätte 'Nein' sagen sollen. Das fast schon diabolische Grinsen auf ihrem Gesicht gefiel mir ganz und gar nicht.
„Du liebst ihn.“
„Nein, ich liebe ihn nicht.“
„Aber du magst ihn.“
„Das hatten wir doch schon.“
„Und du bist verknallt, also liebst du ihn.“
„Nein, ich liebe ihn nicht. Dafür kenn ich ihn zu wenig.“
„Aber für Verknalltsein kennst du ihn genug?“
Wieso genau führten wir dieses Gespräch?
„Valerie...“, seufzte ich. „Es ist spät. Mama und Papa schlafen schon.“
„Diese eine Frage noch.“
Ich verdrehte die Augen. Es würde mein Untergang sein. „Ja, wahrscheinlich bin ich verknallt. Wäre aber echt cool, wenn du das für dich behalten würdest.“
Ich schob sie auf ihre Seite und sah sie eindringlich an.
Sie grinste scheinheilig. „Okay.“
„Und jetzt schlafen!“
„Gute Naaahacht!“, flötete sie ekelhaft süß. „Und träum' was Süüüßes!“
Grrr... Durfte ich sie erwürgen?
*
Es ging weiter in Richtung Süden. Papa hatte im Internet ein Wandergebiet gefunden, welches wir nun ansteuerten und damit zumindest einen ungefähren Plan hatten, wo wir hinwollten. Der Weg führte uns über eine ... nennen wir es einfach wohnmobiluntaugliche Straße mitten im Nirgendwo und endete auf einem kleinen Parkplatz, wo tatsächlich noch weitere Autos standen.
Wir entschieden uns für die mittlere der drei möglichen Wanderrunden und marschierten los.
Kritisch musterte ich meine kleine Schwester. Bisher hatte sie nichts gesagt und auch sonst nichts getan, was auf das Gespräch letzte Nacht hindeutete. Aber ich kannte sie und wagte es nicht zu hoffen, dass sie tatsächlich die Klappe hielt.
Ich vermied es nun auf jeden Fall, in ihrer Anwesenheit am Handy zu sein und mit irgendwem zu schreiben. War auch kein großes Kunststück. Mit den Leuten, die ich mehr oder weniger als meine Freunde bezeichnen würde, hatte ich noch nie wirklich viel geschrieben, sondern mich immer in der Schule unterhalten und Lars hatte ja schon angekündigt, dass er keine Zeit haben würde. Was genau er jetzt vorbereitete, sprich wer da aus seiner Familie Geburtstag feierte, wusste ich immer noch nicht. Ich dachte, es wäre der Opa gewesen, aber irgendwie war es doch nicht der Opa gewesen. Wenn wir uns das nächste Mal sahen, musste ich ihn das unbedingt fragen, sonst würde ich noch in 20 Jahren über diese Frage nachdenken.
„Uh, die haben Trampoline!“, rief Valerie da aus und riss mich aus meinen Gedanken. Begeistert zeigte sie auf eine einsame Häusergruppe am Wegesrand.
„Nichts da“, sagte ich streng, „du hattest deine Chance auf dem letzten Zelting-“ Ich brach ab. Irgendwie passte das nicht. „Campingplatz.“ Das klang besser.
Meine Mum drehte sich um und grinste mich an. Jaja, schon klar, ich litt unter Sprachstörungen, war mir bewusst.
„Das war aber doof“, maulte Valerie.
„Warst du überhaupt mal drauf?“, fragte mein Dad.
„Ja. Aber es hat gequietscht.“ Trotzig verschränkte sie ihre Arme.
Gequietscht. Na gut. Ich verkniff mir jeglichen Kommentar und konzentrierte mich stattdessen auf die Landschaft. Hätte ich gewusst, was mich auf dem nächsten Campingplatz erwartete, wäre ich wahrscheinlich getürmt und hätte hier unser nicht vorhandenes Zelt aufgeschlagen.
*
--- Hier sind so viele Kinder *heul* ---
Auch, wenn er es nicht in nächster Zeit lesen würde, ich musste meinen Unmut einfach jemanden mitteilen. Umso überraschter war ich, als ich innerhalb von zwei Minuten eine Antwort erhielt.
--- Wirst es schon überleben, die beißen ja schließlich nicht ;) ---
--- Du verstehst nicht. Es sind VIELE Kinder. Wirklich. Viele. ---
Und ich konnte jedes einzelne davon nicht leiden.
--- Mach einen Bogen um sie ^^ ---
Wie konnte man da so unbeeindruckt bleiben? Hier wimmelte es nur so von kleinen Menschen!
--- Geht nicht. Die sind überall und ich muss jedes Mal über den ganzen und auch den nächsten Campingplatz, wenn ich aufs Klo will ---
--- Komm schon, Kinder sind süß, also Kopf hoch und positiv bleiben ---
--- Der Typ an der Rezeption war süß ---
--- Naa... nicht so positiv ---
--- Der war aber echt schnuckelig. Mein Alter, blond, blauäugig, hat fast fließend Deutsch geredet... ---
--- Okay okay, du bist ja echt geplagt! Du Armer, wie sollst du das nur aushalten? Du musst mir stündlich Bescheid geben, dass du diese Tortur noch überstehst, ja? Das klingt ja echt grauenhaft... o.o ---
Na also, ging doch.
--- War das jetzt so schwer? ^^ ---
--- Sei froh, dass du gerade nicht in meiner Nähe bist ---
--- Keine leeren Drohungen hier ---
--- Keine Sorge, die war nicht leer... ---
War es normal, dass ich darauf gehofft hatte?
--- Argh, meine Tante stresst schon wieder, ich muss los -.- Aber ich warne dich, Finger weg vom Rezeptionisten! ---
Und schon war er offline und ließ mich mit einem zufriedenen Grinsen zurück. Er war also eifersüchtig, interessant. Sehr interessant, doch vollkommen unbegründet, denn der Typ an der Anmeldung hatte mich nicht eines nicht-standardfreundlichen Blickes gewürdigt und war wahrscheinlich stockhetero. Aber sollte der nur, ich wollte ihn eh nicht. Ich hatte nämlich einen blonden blauäugigen Typen, der auf mich wartete und nicht nur fast fließend Deutsch sprach. Gedanklich streckte ich ihm die Zunge raus und schüttelte gleich darauf über mein Verhalten den Kopf. Ich sagte es ja, zu viele Kinder um mich herum.
*
An den nächsten beiden Tagen schien zum ersten Mal wieder die Sonne. Die plötzliche Wärme war fast schon ungewohnt nach der Woche Regen.
Samstag fuhren wir zur Südspitze Norwegens uns kletterten dort auf den umliegenden Felsen herum, da uns die acht Euro Eintritt pro Person für das Museum direkt am südlichsten Punkt zu teuer waren. Deswegen kamen wir auch schon 14 Uhr am Campingplatz an, doch damit hatte vermutlich keiner ein Problem.
Auch den Sonntag starteten wir entspannt. Da wir erst 15.30 Uhr an der Fähre sein mussten und nur eine Stunde Fahrt vor uns hatten, brauchten wir uns keinen Stress zu machen. So fuhren wir irgendwann los, aßen in Kristiansand Mittag und hatten nach dem Einchecken noch eine Stunde Zeit, die wir wartend auf dem Fährgelände verbringen durften.
Als wir dann schließlich im Inneren der Fähre waren, gingen Valerie und Papa die Decks erkunden, während meine Mum und ich inmitten des Essareals zurückblieben und einen Tisch besetzten. Das Schiff war dezent größer als die Fähren bisher. Ich mochte es nicht. Und der Seegang war teilweise echt krass, doch - gnädigerweise - wurde ich nicht seekrank. Es war ja auch nur die Nordsee, die wir überquerten.
Zwei Tische weiter saß ein Junge mit seinen Großeltern. Normalerweise hätte ich ihn mir genauer angeschaut, vor allem nachdem er mir immer wieder Blicke zugeworfen hatte, doch es juckte mich überhaupt nicht. Stattdessen amüsierte ich mich über die drei übereinander hängenden TVs, die allesamt dasselbe zeigten, und hielt mich somit davon ab, die Minuten zu zählen, die wir noch nach Aaabenraa brauchten.
Das musste echt aufhören, denn wenn das so weiterging, würde ich am Ende noch in Ohnmacht fallen, wenn wir uns wiedersahen und das konnte ich ja nun echt nicht bringen. Dafür war ich erstens zu männlich und zweitens zu alt.
____________________
06.07.2018
Løkken - Aabenraa
____________________
Stressiger Tag. Unschöner Tag. Da dachte ich gestern noch, dass es, wenn, nur Kleinigkeiten und insgesamt eigentlich voll entspannt gewesen war und dann das. Redeten wir nicht drüber. Einfach vergessen. Wir waren da. Auf Lars‘ ominösen Campingplatz.
Aabenraa lag direkt am Meer. Der 'Campingplatz' beinhaltete nur Stellplätze für Wohnmobile, war nicht sehr groß und kostete pro Nacht gut zwanzig Euro. Das war nichts. Da waren selbst die in Norwegen teurer gewesen und es war definitiv gar kein Vergleich zu den 62 Euro vom letzten Platz. Nicht dran denken. Es war bezahlt und wir konnten es nicht ändern.
Zu dem Gelände gehörte ein Segelschiffhafen und auf der anderen Seite erstreckte sich ein Badestrand. Diesen ließen wir jedoch vorerst links liegen und gingen in der Hitze erst einmal einkaufen. Wer auf diese hirnrissige Idee gekommen war, wusste ich nicht mehr, aber es gab Eis auf dem Rückweg, das entschädigte den Saunagang.
Zurück am Wohnmobil drängte meine Mum uns dann alle dazu, uns umzuziehen und mit ihr baden zu kommen. Ich ergab mich meinem Schicksal und schwamm sogar ein ganzes Stück. Es war jetzt nicht mega weit, aber dafür, dass ich währenddessen zehn Herzinfarkte und zwanzig Panikattacken bekam, weil ich absolut nicht wusste, was unter mir war und mich einfach nur uncomfortable fühlte, war es eine ganze Menge. Die einzige Person, die am Ende allerdings nicht ins Wasser ging, war meine Mutter, doch ich verzichtete darauf, sie deswegen mit Blicken zu erdolchen. Ich hatte es ja überlebt. Gerade so.
Nach der anschließenden Dusche verzog ich mich zu meinen Dad an den Grill. Da die Landschaft noch immer sehr trocken war, musste er sich ein Stück entfernt auf eine extra Grillfläche stellen, doch er durfte und das war die Hauptsache. Ich pflanzte mich dort auf eine der Bänke und legte mein Handy neben mich auf den zugehörigen Tisch. Der Versuchung, alle drei Sekunden draufzuschauen, ob eine neue Nachricht eingegangen war, erlag ich hoffnungslos.
„Wann kommt denn dein Kumpel?“, fragte mein Dad belustigt, als ich wieder einmal abwesend das Smartphone in der Hand drehte und auf seine Gesprächsversuche nur einsilbig einging.
Ich blinzelte einen Moment und fokussierte meinen Blick dann auf ihn. Das Handy legte ich behutsam zurück auf den Tisch.
„Weiß nicht“, antwortete ich. „Sie wollten heute Vormittag noch irgendeinen Ausflug machen.“
„Hat er denn eine ungefähre Zeit gesagt? Isst er mit?“
Ich schüttelte den Kopf. „Er wollte sich melden, bevor er losmacht und meinte, Essen bräuchte er nicht.“
„Das ist gut, sonst hätten wir rationieren müssen“, lachte mein Vater, als er auf die - leider gekauften - Lachsstreifen auf dem Rost hinuntersah.
„Keine Sorge, er bleibt genug für dich übrig“, grinste ich.
„Nicht, wenn deine Schwester wieder loslegt...“
Das stimmte. Wenn Valerie eine ihrer Fressattacken bekam, musste der Rest sehen, wo er blieb. Aber es würde schon reichen. Ob ich vor Nervosität nämlich überhaupt was runterbekam, war fraglich.
*
Nach dem Essen wurden Valerie und ich zum Abwaschen verdonnert. Da es im Wohnwagen echt eng war, verzogen wir uns dazu in die „Küche“ des Campingplatzes. Eigentlich war es nur eine Spüle bei den Toiletten, neben der auch zwei Waschmaschinen standen, aber fürs Abwaschen reichte der Platz locker und das war ja die Hauptsache.
Ich hatte es auch tatsächlich geschafft, ein paar Bissen hinunterzubekommen. Doch wenn ich nervös war, kaute ich immer dermaßen langsam, dass sowohl Valerie als auch mein Dad genügend übrig gehabt hatten. Ich hasste es. Dieses Gefühl im Magen war einfach eklig. Nicht mal vor den Abiprüfungen war das so schlimm gewesen - okay, vielleicht hatte ich es auch einfach schon wieder verdrängt -, aber wieso jetzt?
Mit zittrigen Fingern reichte ich Valerie den nächsten Teller zum Abtrocknen. Sie war von der Aktion hier alles andere als begeistert, aber das bisschen Arbeit würde sie schon überleben. Es klang vielleicht herzlos, wenn ich das als großer Bruder so sagte, aber es war nun mal so. Und es waren ja auch nur noch ein Teller und die Töpfe, dann hatte sie es geschafft.
Im Hintergrund nahm ich erneut das nervige Piepen wahr, das immer dann erklang, wenn jemand den Code draußen eingab, um das Häuschen betreten zu können. Das war immer so ein Piep piep piep piep piiieeep. Grässlich. Aber wir standen mit unserem Wohnmobil weit genug weg, wenn es in der Nacht also zu einer Pilgerwanderung aufs Klo kommen würde, würden wir davon nichts mitbekommen.
Ich drehte mich halb zu meiner Schwester, um ihr den ersten Topf in die Hand zu drücken und hätte ihn dabei vor Schreck beinah fallen gelassen.
„Scheiße, Lars!“
Da stand er - lässig an die Wand gelehnt und beobachtete uns mit schiefgelegtem Kopf. Er trug einfache dunkle Shorts und ein weißes T-Shirt und schaffte es dennoch, damit gleichzeitig heiß und süß auszusehen. In seiner Hand hielt er den blauen Hoodie. Er hatte sich nicht verändert. Ja, es lagen nur ein paar Tage zwischen jetzt und unserem letzten Treffen, aber gerade, wenn man jemanden noch nicht oft gesehen hatte, neigte man ja dazu, dessen Äußeres „zurechtzurücken“, so wie man es gern hätte. War hier nicht der Fall. Ich glaub, mich hatte es echt erwischt...
Der winzige Teil meines Gehirns, welcher nicht mit dieser Analyse beschäftigt war, brachte das Piepen der Tür mit seinem Auftauchen in Verbindung und gab meinen Muskeln den Befehl, ja so zu bleiben, wie sie vor seinem Erscheinen gewesen waren. Nichts mit weichen Knien und offenem Mund. Dass ich ihn entgeistert anstarrte, war schon schlimm genug.
Woher hatte er eigentlich den Code? Und vor allem, wie konnte er es wagen, einfach so ohne Vorankündigung aufzutauchen und mich dermaßen zu erschrecken?
Seine Mundwinkel hoben sich amüsiert. „Ich hatte zwar auf eine etwas positivere Reaktion gehofft, aber man nimmt, was man kriegen kann.“
Valerie kicherte und sah mich bedeutungsvoll an. Sie sollte ja die Klappe halten. Natürlich tat sie es nicht.
„Hi Lars!“, zwitscherte sie. „Keine Sorge, Maloni freut sich ganz dolle, dich zu sehen!“
Wahr. Aber dieses kleine Biest! Ich spielte mit dem Gedanken, den Schwamm über ihrem Kopf auszuringen, doch das wäre dann vielleicht doch etwas fies. Wobei...
„Na, das beruhigt mich“, ging Lars dann auch noch höflich auf das Geschwätz meiner Schwester ein. „Soll ich das Abtrocknen vielleicht für dich übernehmen?“
„Au ja!“ Ihre Augen begannen zu leuchten und schon hielt Lars an ihrer Stelle das Geschirrtuch in den Händen. Sie war schon fast um die Ecke, da drehte sie sich noch einmal um und schenkte mir ihr perfektioniertes Augenbrauenwackeln und verabschiedete sich mit einem breiten Grinsen von Lars. Keine drei Sekunden später fiel die Tür ins Schloss.
Nun standen wir da. Allein. Ich muss gestehen, als ich mir unser Wiedersehen ausgemalt hatte, hatte dieses nicht in einer Waschküche stattgefunden. Und ich hatte immer einen Plan gehabt, was ich sagen oder tun sollte. So von wegen Begrüßung und was man halt so machte, wenn man sich wieder sah.
Aber was tat man denn da bitte? Meinen Kumpel hätte ich umarmt. Meine Familie auch. Dem Rest hätte ich zugenickt. Das passte hier aber alles nicht. Ersteres war zu viel und letzteres zu wenig.
Ich mein, klar, beim Schreiben hatten wir hin und wieder geflirtet, ich wusste, dass auch von seiner Seite Interesse da war und teilweise waren wir echt krass eindeutig gewesen, aber wenn man sich dann gegenüber stand, war das irgendwie nochmal was anderes.
Zudem schien es ja nicht nur mir so zu gehen. Er stand immerhin auch nur rum und sah mich irgendwie planlos an.
Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wären wir wirklich allein und nicht an einem öffentlichen Ort. Hier fiel nämlich die Option - haha, ich hatte noch eine Alternative zu Nicken und Umarmen gefunden - über ihn herzufallen raus. Nicht der beste Einfall, den ich je hatte, aber es wäre nicht so kalt wie nicken und nicht so intim wie umarmen und ich hatte ja schon festgestellt, dass ich ihn anfassen wollte. Also... Ja, okay, wenn meine einzig nähere Idee war, über ihn herzufallen, konnte das ja nichts werden. Aber was zur Hölle sollte ich denn dann machen? Hirn, setz dich wieder zusammen...
Er räusperte sich. „Sie nennt dich Maloni?“
Oh ja, einfach reden konnten wir natürlich auch. Mir fiel auf, dass ich noch keinen Ton gesagt hatte. Aber wirklich jetzt?
„Musstest du dir gerade das merken?“, klagte ich. „Und wieso hast du sie weggeschickt, sie kann ruhig auch mal arbeiten.“
„Sorry. Für beides.“ Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf und kam näher. Ich sah ihm dabei zu, wie er den Topf, der mir vorhin fast runtergefallen wäre, in die Hand nahm und begann, ihn abzutrocknen. „Maloni klingt halt niedlich und ich wollte das bisschen Zeit, was wir haben, mit dir verbringen und nicht mit dir und deiner Schwester.“
Sein Blick löste sich von dem Topf und richtete sich auf mich. Dieses Blau... Ich spürte, wie meine Kehle trocken wurde - irgendwie wurde sie das immer, wenn ich ihn ansah - und schluckte. Half nichts. Hatten seine Augen das letzte Mal auch schon so geleuchtet? Und diese Haare. Diese Sommersprossen. Das Schmunzeln auf seinen Lippen und generell, diese Lippen!
Ich verwarf die Bedenken über die Öffentlichkeit, ließ den Schwamm in die Spüle fallen und trat auf ihn zu. Meine eine Hand legte ich in seinen Nacken und die andere an seine Wange. Dass ich ihn dabei mit Schaum und Abwasser beträufelte, war mir gerade völlig egal.
Sein Schmunzeln verwandelte sich in ein Grinsen und in seinen Augen blitzte es amüsiert auf. Aber da war noch was anderes, was Tiefergehendes. Mir blieb jedoch keine Zeit, das weiter zu erforschen - nicht, dass ich es in dem Moment gewollt hätte, die Gewissheit, dass er nichts dagegen hatte, reichte vorerst -, denn er kam mir nun seinerseits näher, legte seine Hände an meine Seiten und schloss seine Augen.
Ich spürte seinen Atem an meinen Lippen, öffnete sie erwartungsvoll einen Spalt und hätte im nächsten Moment der Person an der Tür gern den Hals umgedreht.
Piep piep piep piep piiieeep.
Ich seufzte, lehnte meine Stirn kurz an Lars’ und brachte anschließend wieder etwas Abstand zwischen uns. Seine Hände rutschten von meiner Hüfte und ich vermisste das leichte Gewicht augenblicklich.
Verschnupft blickte ich ihm vorbei zu dem Ehepaar, welches nun vor den Waschmaschinen stand, diese kurz begutachteten und dann wieder verschwand. Nicht eines Blickes hatten sie uns gewürdigt. Vermutlich besser, sonst hätten sie am Ende noch mitbekommen, dass ich sie gedanklich gerade kreuzigte und vierteilte. Wie konnte man so ein beschissenes Timing haben?
Nun gut, ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Lars. An seiner Wange klebte Schaum und ich war mir sicher, in seinem Nacken würde es nicht anders aussehen. Der Anblick hatte was.
„Schau mich nicht so an, als wäre ich niedlich“, beschwerte er sich schmollend.
Meine schlechte Laune verflog. „Du bist aber niedlich.“
„Bin ich nicht.“
„Oh doch.“ Ich streckte einen Arm aus und wuschelte ihm durch die Haare. Diese Haare. Abrupt wand ich mich wieder dem Abwasch zu. Tief durchatmen, Marlon. Keine Krise deswegen bekommen.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er sich neben mich stellte und den Topf fertig abtrocknete. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, welches mein Herz höher schlagen ließ. Es war eine Mischung aus versonnen und verschmitzt. Vielleicht hatte Valerie ihn damals doch nicht in ihren Bann gezogen, sondern er war wirklich ein Teufel. Ein Teufel, der genau wusste, was er mit mir anstellte.
Schweigend beendeten wir unsere Arbeit. Aber es war nicht unangenehm. Zwischendurch berührten sich unsere Hände immer wieder, wenn wir Geschirr überreichten und auch so standen wir näher aneinander, als man es unter Freunden tun würde.
Das Eis war gebrochen. Außer den gelegentlichen kleinen Berührungen hielten wir zwar körperlich wieder Abstand, doch der Moment vorhin war wie das Zeichen gewesen, das uns sagte, dass wir uns beim Schreiben keinen Tagträumen hingegeben hatten, sondern dass dieses gegenseitige Interesse in der Realität genauso existierte.
*
Nachdem wir die Schüsseln mit dem sauberen Geschirr zurück ins Wohnmobil gebracht hatten - Valerie durfte das jetzt einräumen -, verabschiedete ich mich von meinen Eltern und verließ mit Lars zusammen den Campingplatz. Gemeinsam schlenderten wir am Hafen entlang und folgten, als wir diesen hinter uns gelassen hatten, dem Gehweg am Meer.
„Euer Wohnmobil ist übrigens wirklich so eng, wie es auf den Bildern, die du geschickt hast, aussah“, meinte Lars irgendwann und brach damit das Schweigen.
„Wann warst du in unserem Wohnmobil?“, gab ich verwirrt zurück. Als wir das Geschirr abgegeben hatten, hatte er draußen gewartet.
„Wie, denkst du, bin ich an den Code für die Tür gekommen?“
Ich mochte das Blitzen seiner Augen. Und ich mochte es, wenn er eine Augenbraue hochzog. Generell hatte ich noch nichts gefunden, was ich an ihm nicht mochte. Wiederholte ich mich? Ja? Gut. Konnte man nämlich nicht oft genug erwähnen. Der Typ war einfach...
„Hast Recht“, nickte ich und konzentrierte mich wieder auf unser Gespräch. „Auch wenn es gruslig ist, dass du mit meinen Eltern gesprochen hast.“
„Also eigentlich müsste, wenn überhaupt, ich es gruslig finden.“
„Ach Quatsch“, winkte ich ab und lachte.
Eine Weile gingen wir schweigend weiter. Dabei liefen wir so nah beieinander, dass sich unsere Arme und Hände immer mal wieder berührten. Außenstehende würden sagen, es waren Zufälle, doch ich wusste, dass dem nicht so war. Es fühlte sich verdammt gut an.
„Lust auf Eis?“, fragte ich Lars, als ich auf der anderen Seite eine Eisdiele entdeckte.
„Prinzipiell ist da nichts gegen einzuwenden, aber ich hab kein Geld dabei...“
Er wurde tatsächlich leicht rot um die Nase. Ich vergaß einen Moment, was ich sagen wollte.
„Ähm“, räusperte ich mich. „Kein Problem. Ich lad dich ein.“
„Das ist nicht -“
„Lars, das sind vielleicht 5 Euro und das auch nur, wenn du riesen Appetit hast. Das verkraftet meine Geldbörse gerade noch so.“
„Na gut“, gab er sich geschlagen und ich zog ihn triumphierend auf die andere Straßenseite.
„Willst du dich reinsetzen?“, erkundigte er sich, als wir uns das Sortiment besahen, und deutete in das Innere des Ladens.
„Mir egal, wenn wir uns reinsetzen, haben wir auch die Eisbecher zur Auswahl.“
Von denen würde ich vielleicht sogar einen nehmen, hatte ja schließlich nicht so viel zum Abendessen gehabt. Lars schien meinen Blick auf die Karte richtig zu interpretieren und schob mich grinsend zu einem kleinen Tisch im hinteren Bereich des Cafés.
„Ich hätte gern einen After-Eight-Eisbecher“, sagte Lars in bestem Schulenglisch, als eine Kellnerin an unseren Tisch kam. Sie strahlte ihn an und notierte eifrig seine Bestellung.
Als sie fertig mit aufschreiben war, versuchte ich vergeblich, Blickkontakt mit ihr aufzunehmen. Irgendwann gab ich es auf. „Für mich bitte den Joghurt-Eisbecher.“ Sie sah immer noch Lars an, doch immerhin - mit ganz viel Einbildungsvermögen - nickte sie vage in meine Richtung. Na mal sehen, was ich am Ende bekam, wenn ich überhaupt was bekam. Konnte sie mal aufhören, ihn anzuschmachten?
„Das wäre es dann“, meinte Lars irgendwann, als die Kellnerin weiterhin keine Anstalten machte, zu verschwinden. Doch die Worte schienen sie aufzurütteln. Sie zog ab. Endlich.
Okay, ich durfte mich nicht beschweren. Erstens waren Lars und ich nicht zusammen und zweitens erlag ich seinem Anblick ja genauso. Himmel, ich wollte mir gar nicht vorstellen, dass ich ebenfalls so dümmlich weggetreten aussah, wenn ich ihn anschaute.
„After Eight?“, grinste ich, als die Kellnerin außer Sicht- und Hörweite war. Wir hatten uns zum Glück so gesetzt, dass man uns von der Theke nicht sehen konnte.
„Was sonst“, grinste er zurück. „Ist nun mal das beste Eis.“
„Hab ich noch nie gegessen...“
Sein geschockter Blick brachte mich zum Lachen.
Während wir warteten, unterhielten wir uns über alles Mögliche. Wir stellten fest, dass wir beide mit den Standardeissorten nichts anfangen konnten, ich quetschte Lars über seinen Vormittagsausflug aus - sie waren als ganze Familie in den 60 Minuten entfernten Freizeitpark „Universe“ gefahren - und er mich über meine letzten Tage, vor allem das Kindertrauma.
Irgendwann kam die Kellnerin wieder und stellte tatsächlich auch mir einen Eisbecher vor die Nase und es sah überraschenderweise sogar nach Joghurteis aus. Ich war echt stolz auf sie. Naja, zumindest bis sie wieder begann, Lars anzuhimmeln, doch diesmal verschwand sie ohne Aufforderung wieder.
Amüsiert beobachtete ich, wie Lars das Stückchen AfterEight-Schokolade aus seinem Eis zog und es sich genüsslich in den Mund steckte. Als er meinen Blick bemerkte, grinste er verlegen.
„Es ist nun mal echt lecker...“, nuschelte er und wurde tatsächlich rot.
„Das glaube ich dir.“ Tat ich wirklich. Bei den Blicken, die er dem Eis zuwarf, würde die Kellnerin nämlich mit Sicherheit eifersüchtig werden.
„Mund auf!“
Ein Löffel schwebte plötzlich vor meiner Nase und auch, wenn ich der giftgrünen Farbe nicht ganz traute, öffnete ich meine Lippen. An das Gefühl, gefüttert zu werden, würde ich mich erst gewöhnen müssen, aber an den Geschmack...
„Das schmeckt wirklich gut.“
„Sag ich ja.“ Siegessicher sah er mich an.
„Ich hab’s auch nie bezweifelt.“
Wir grinsten einander über den Tisch an und widmeten uns dann jeder seinem Eisbecher.
„So, jetzt erzähl mal, was genau lief da in der letzten Woche bei euch?“, fragte ich, als ich die ersten beiden Kugeln verdrückt hatte. „Ich blick nämlich nicht durch, wer hatte Geburtstag?“
Lars lachte. „Ich hab drei Tanten und die beiden Schwestern meines Vaters sind Zwillinge und hatten gestern Geburtstag. Ihren Vierzigsten. Mein Opa ist dieses Jahr 70 geworden und weil das erst zwei Wochen her ist, hat sich meine schlaue Familie gedacht, sie machen mal ein ganz großes Spektakel daraus und laden zum 150. Geburtstag ein.“
Also hatte der Opa doch Geburtstag gehabt, nur nicht am Sonntag.
„Jedenfalls haben wir dann seit Donnerstag bei den Vorbereitungen mitgeholfen und am Samstagabend wurde mit viel Musik und Essen reingefeiert.“
„Klingt echt gut“, schmunzelte ich. „Und anstrengend.“
Er nickte. „Deswegen hat sich ein Teil der Familie spontan entschlossen, heute doch nicht nach Hause zu fahren, sondern ein paar Tage Urlaub dranzuhängen. Das Ergebnis heute war der Freizeitpark und was morgen kommt, mal sehn.“
Er schob sich einen Löffel Eis in den Mund. Die Sahne, die ursprünglich mal obendrauf gewesen war, fiel kläglich auf seiner Untertasse zusammen. Belustigt beobachtete ich das Trauerspiel.
„Ich glaube, ich bin froh, dass meine Familie nicht so riesig ist, auch wenn ich den Besuch eines Freizeitparks dem 50. Besuch in derselben Gaststätte vorziehen würde.“
„Tja, man kann nicht alles haben.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich find es aber gar nicht so schlimm, dass meine Familie - zumindest väterlicherseits - so groß ist. Sie wohnen weit genug weg.“
Spitzbübisch grinsend verschlang er den nächsten Happen. Dann hob er einen Finger, schluckte und ein ernsterer Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Du wolltest doch wissen, was bei dem Gespräch mit meinem Dad rausgekommen ist.“
Ich nickte.
„Also wir haben geredet, lange geredet, und ich hab ihm erklärt, wie wichtig das Zeichnen für mich ist und das ich irgendwas Kreatives brauche und in einer Anwaltskanzlei oder so einfach nicht glücklich werden würde. Er hat mir seine Bedenken zwecks Einkommen geschildert und auch wegen des Jahres, was ich aussetzen will und dann haben wir aber zusammen nach Möglichkeiten gesucht. Heißt, ich hab ihm gesagt, was ich mir vorstelle, in diesem Jahr zu tun - Praktika, Arbeiten und so nen Zeugs - und er hat sich angesehen, was man mit Design alles machen kann und mir dann die Sachen vorgeschlagen, die nicht ganz so brotlos sind. Da gibt es ja schon einiges. Also ich darf das Jahr jetzt aussetzen - vorausgesetzt ich verbringe es dann auch sinnvoll - und was Künstlerisches hat er auch abgesegnet, solange ich nicht Kunstgeschichte, sondern Kommunikations- oder Produktdesign oder sowas mache.“
„Das freut mich.“
Das Gespräch war mit Sicherheit nicht so unkompliziert abgelaufen, wie Lars es gerade beschrieb, aber er sah happy aus und wenn sich die beiden nun mit der Situation arrangiert und einen gemeinsamen Nenner gefunden hatten, würde ich da nicht nachharken.
„Wie läuft es eigentlich bei euch?“, fragte Lars nach einer kleinen Pause, in der er den Rest seines Eises vertilgte.
Ich seufzte. „Heute Vormittag war unschön, weil Valerie unbedingt schon nach Hause wollte - sprich weiterfahren - und mein Dad aber sagt, er hat Urlaub bis Mittwoch und keinen Bock, den in Jena zu verbringen.“
„Manchmal bin ich echt froh, Einzelkind zu sein.“
Der Blick, mit dem Lars mich bedachte, war mitfühlend und sagte mir gleichzeitig, dass er wusste - so wie ich vorhin bei ihm - dass das nur eine abgeschwächte Kurzversion des Ganzen war.
„Naja“, brach ich den Blickkontakt und aß mein Eis ebenfalls auf, „wollen wir zahlen?“
Er nickte und ich winkte die Kellnerin heran.
Als diese uns - also eigentlich eher Lars, mir schenkte sie ja keine Aufmerksamkeit - die Rechnung vorlegte, steckte sie ihm gleichzeitig noch einen Zettel zu. Ich brauchte kein Abitur, um zu wissen, was da drauf stand. Zum Glück zog sie aber - sobald sie realisiert hatte, dass ich zahlte und mir das Geld abgenommen hatte - wieder von dannen.
Lars erhob sich, griff nach seinem Pullover und faltete das Papier auseinander. Ich sah, wie er den Inhalt überflog und wie er anschließend den Zettel wieder sorgfältig einmal in der Mitte knickte.
„Fertig?“, fragte er und strahlte mich an.
Lag das jetzt an dem Zettel? Hatte er doch Interesse an ihr? Aber irgendwie ... wäre das komisch.
Ich nickte einfach und folgte ihm in Richtung Ausgang. Als er kurz vor diesem jedoch zur Theke und damit der Kellnerin abbog, blieb ich irritiert stehen. Also doch...?
Meine Kinnlade klappte nach unten. Nope, definitiv nicht. Ich glaub, die Kellnerin guckte genauso doof aus der Wäsche wie ich in diesem Moment. Sie, weil Lars ihr eiskalt den Zettel zurückgegeben und zu ihr irgendwas auf Dänisch gesagt hatte, woraufhin sie peinlich berührt rot angelaufen war, und mir, weil ich es einfach nicht fassen konnte. Als Lars dann auch noch breit grinsend auf mich zukam, demonstrativ unsere Finger verschränkte und mich nach draußen zog, konnte ich nicht mehr. Sobald wir außer Sichtweite waren, fing ich prustend an, zu lachen.
____________________
06.08.2018 - 07.08.2018
Aabenraa
____________________
„Hast du...“, ich rang nach Luft, „ihr Gesicht gesehen?“
„Ja“, gluckste Lars und stolperte hinter mir her zurück zum Meer. „Das hätte man“, er schnappte ebenfalls nach Sauerstoff, „eigentlich aufnehmen müssen.“
Ein weiterer Lachanfall schüttelte uns durch. Wir standen wieder auf der Uferpromenade, die mittlerweile spärlich von Laternen beleuchtet wurde. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass es schon so dunkel geworden war, doch ich hatte ja - zu meiner Verteidigung - die letzten Stunden auch in einem Café verbracht und besser zu tun gehabt.
Als ich mich halbwegs wieder beruhigt hatte, hielt ich mir stöhnend den Bauch. „Scheiße, ich kann nicht mehr.“
Lars kicherte. Seine Haare standen in alle Richtungen ab und seine Wangen leuchteten in einem gesunden Rot. „Ich auch nicht“, meinte er und wischte sich ein paar Lachtränen aus den Augen.
Erschöpft beugte ich mich nach vorn und stützte mich mit den Händen auf meinen Oberschenkeln ab. Nicht nur mein Bauch, sondern auch mein Rücken tat vom vielen Lachen weh. „Ich glaube, ich werd' alt“, ächzte ich.
Ein empörtes Schnaufen ertönte neben mir. Augenbrauenhebend sah ich auf und begegnete einem skeptischen Blick.
„Was soll ich denn dann sagen?“, fragte Lars und verschränkte seine Arme. „Wenn ich mich nämlich recht entsinne, bin ich drei Monate älter als du.“
„Hast dich eben gut gehalten.“ Ich zwinkerte ihm zu und richtete mich wieder auf.
„Idiot“, murmelte er und boxte mir spielerisch gegen die Schulter. Ich hätte schwören können, dass seine Wangen noch einen Ticken dunkler geworden waren.
Er entfernte sich ein paar Schritte von mir, taxierte mich nochmals mit einem beleidigten Blick und zog sich seinen Pullover über.
Ich schüttelte grinsend den Kopf aufgrund seines Versuches, einen Sicherheitsabstand zwischen uns aufzubauen, ungeachtet der Tatsache, dass er mich geboxt hatte, nutzte die Gelegenheit dann aber, um ihn in aller Ruhe zu mustern.
Er war etwas kleiner als ich, das wusste ich mittlerweile, und auch ein wenig schlanker. Das und sein schüchternes Lächeln waren vermutlich dafür verantwortlich gewesen, dass er meinen Beschützerinstinkt ansprach, auch wenn er diesen eigentlich überhaupt nicht brauchte. Der Kerl war selbstbewusst und ein kleiner Sonnenschein, ich denke, er wusste sich schon zu helfen, wenn es nötig war.
Doch genau das war es, was mich an ihm so faszinierte. Auf der einen Seite war er witzig, gut gelaunt und schlagfertig, aber auf der anderen plötzlich auch so verlegen und niedlich, dass ich ihn einfach nur in meine Arme ziehen und vor der ganzen bösen Welt beschützen wollte.
Der Hoodie war ihm ein bisschen weit. Ich schmunzelte, während ich beobachtete, wie er seine Hände in den zu langen Ärmeln vergrub und sie dann in seine Bauchtausche packte. Seine Haare lagen mittlerweile wieder halbwegs an seinem Kopf an, was wohl dem Pullover zu Schulden kam. Ich mochte es, wenn sie verstrubbelt waren.
Er bemerkte meinen Blick.
„Was?“, fragte er verwirrt. „Hab ich was im Gesicht?“ Er zog eine der gut eingepackten Hände wieder aus dem Wirrwarr an Stoff heraus und fuhr sich über Stirn und Wangen. „Weg?“
Ich grinste.
„Marlon“, beschwerte er sich und rieb stärker über seine Haut. Langsam sah er verzweifelt aus. „Jetzt besser?“, fragte er unsicher.
Ich biss mir auf die Lippe.
Er seufzte und kam auf mich zu. Ein Hauch von Minze umwehte mich. An den Duft könnte ich mich echt gewöhnen. Direkt vor mir blieb er stehen.
„Machst du weg?“, fragte er mit großen Augen und deutete auf sein Gesicht.
Ich schluckte. Okay, irgendwie war das so nicht geplant gewesen, aber er bot es ja geradezu an und ich wäre bescheuert, die Chance nicht zu nutzen.
Langsam hob ich eine Hand und strich ihm vorsichtig eine Strähne aus der Stirn. Dann fuhr ich mit den Fingerspitzen über seine Wange zu seinem Kinn und legte die Hand schließlich in seinen Nacken.
Seine Augen weiteten sich überrascht, aber er wich meinen Berührungen nicht aus - im Gegenteil. Ich spürte seine Hände, wie sie sich zögerlich auf meine Brust legten und dann auch über meinen Rücken streichelten. Eine Gänsehaut zog sich über meinen Körper.
Bereitwillig kam er mir entgegen, als ich mit der Hand auf seinen Nacken leichten Druck ausübte. Ein Grinsen huschte über meine Lippen. Als er daraufhin fragend eine Augenbraue hob, schüttelte ich unmerklich den Kopf und kraulte beruhigend durch seine Haare. Wehe, er würde jetzt einen Rückzieher machen. Zweimal an einem Tag ertrug ich es nicht, ihm erst so nahe zu sein und dann unterbrochen zu werden.
Ich spürte seinen Atem an meinen Lippen und meine Augenlider fielen automatisch zu. Keine Sekunde später fühlte ich erst seine Nase auf meiner Haut und dann seine Lippen.
Behutsam schmusten sie über meine, fast schon andächtig, als könnte er nicht ganz glauben, dass das gerade passierte. Ich konnte es verstehen, aber es war wieder so dermaßen süß von ihm, dass sich mein Hirn kurzerhand ausschaltete.
Ich vergrub meine zweite Hand ebenfalls in seinen Haaren - es fühlte sich so verdammt viel besser an, wenn meine Hände trocken waren -, ergänzte das Gefühl seiner Haut und seiner Lippen auf meiner Dinge-an-ihm-die-mich-verrückt-machten-Liste und intensivierte den Kuss. Mein Herz schlug hart und schnell in meiner Brust und mein ganzer Körper kribbelte.
Scheiße, wie konnte man so küssen? Hatte ich vorhin gesagt, er wäre ein wenig schüchtern? Pfft, der Kerl wusste, wie man küsste und kriegte auch sehr schnell raus, wie er mich um den Verstand brachte.
Ein leises Seufzten entfloh mir, als er begann, an meiner Unterlippe zu knabbern und ich spürte, dass er grinste. Er war definitiv ein kleiner Teufel. Seine Hände an meinen Hüften zogen mich dichter an ihn heran und brachten damit mein bisschen Selbstbeherrschung, was ich noch hatte, gehörig ins Wanken.
Es war egal. Ohne zu zögern, ließ ich es zu, dass seine Zunge in meinen Mund schlüpfte und gab das Denken auf. Mein Hirn war Matsch. Betäubt von einer Wolke aus AfterEight.
*
Mein Zeitgefühl war flöten gegangen und langsam wurde es auch echt schwer, meine Finger da zu behalten, wo sie in der Öffentlichkeit sein durften.
„Lars, wir sollten...“, murmelte ich an seinen Lippen und versuchte, etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
„Hm“, brummte er, zog meinen Kopf wieder zu sich und verwickelte mich in den nächsten Kuss.
Ich ließ es für einen Moment zu, verkrallte mich noch einmal in seinen Haaren, aber dann drückte ich ihn bestimmt von mir weg.
„Lars, wenn wir jetzt nicht aufhören, werde ich meine Hände nicht über deinem T-Shirt behalten können.“ Oder generell oberhalb von verbotenen Stellen.
Der Blick, mit dem er mich auf diese Worte hin bedachte, stellte meine Selbstbeherrschung nochmals hart auf die Probe. Dann nickte er aber unmerklich, atmete tief durch und trat einen Schritt zurück.
„Okay, hast Recht. Falscher Ort.“
Seine Stimme klang anders. Brüchiger, belegt. Es juckte mich in den Fingern, ihn wieder zu mir ran zu ziehen, vor allem, da ihm anzusehen war, wie sehr er diesen falschen Ort gerade verfluchte. Aber es war nun mal der falsche Ort dafür, also aufhören, solange es noch ging.
Zittrig atmete ich ein. Ich konnte ihn noch immer schmecken und meine Finger sehnten sich bereits danach, ihn wieder zu berühren. Ich war erledigt, aber sowas von...
„Gehen wir zurück und suchen uns einen Platz zum Sitzen?“, fragte ich und deutete mit dem Kopf in Richtung Campingplatz. Er nickte etwas abgehackt und wir machten uns schweigend auf den Weg.
„Ich hatte nichts im Gesicht, oder?“, erkundigte er sich, als wir ein Stück gegangen waren.
„Nein“, antwortete ich ehrlich.
Ich sah ihn von der Seite her an. Er hatte seinen Kopf zu mir gedreht und kniff nun überlegend seine Augen zusammen.
„Du hast mich also eiskalt ausgetrickst.“ Es klang nicht anklagend.
„Naja...“ Ich setzte meine beste Unschuldsmine auf. „Eigentlich nicht, denn ich habe schließlich nie behauptet, du hättest was im Gesicht.“
„Du hast es aber auch nie dementiert.“ Nun funkelten seine Augen herausfordernd.
Ich grinste. „Das kann ich nicht abstreiten.“
„Na warte“, knurrte er und stürzte sich auf mich.
Raufend und lachend brachten wir den restlichen Weg hinter uns und mit jedem Meter wurde ich mir sicherer, dass ich nicht nur verknallt war.
*
„Lass uns ein Spiel spielen.“
„Was?“ Irritiert blickte ich zu Lars hinunter, der es sich mit dem Kopf auf meinem Schoß bequem gemacht hatte und mich erwartungsvoll ansah.
Wir hatten in der Nähe des Campingplatzes eine Bank gefunden, die etwas abseits und somit geschützt vor Wind und unerwünschten Blicken stand. Meinen Eltern hatte ich Bescheid gegeben, dass ich sie sich keine Sorgen zu machen brauchten und auch nicht mit dem Schlafengehen auf mich warten mussten. Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Haare zerzaust, meine Wangen rot und meine Lippen geschwollen waren, aber wenn sie es gesehen hatten, hatten sie es sich zum Glück nicht anmerken lassen.
Jedenfalls saß ich nun auf dieser Bank, während Lars halb auf mir lag und es zuließ, dass ich seine Haare wieder durcheinander brachte. Äußerst freundlich von ihm, sie hatten es mir nämlich wirklich angetan.
„Na, ein Spiel eben“, präzisierte er sehr genau seine Aussage.
Innerlich verdrehte ich die Augen. „Okay und welches Spiel?“, harkte ich nach.
Er streckte einen Arm nach oben und tippte mir an die Nase. „Jeder muss einen Fakt aus dem Urlaub nennen. Immer abwechselnd. Wenn es kein Fakt war oder nicht im Urlaub passiert ist, hat man verloren.“
„Äh... Und dann?“
Er stupste mir erneut gegen die Nase. Bei Valerie hätte mich das wahrscheinlich schon genervt, doch bei Lars war es okay. Ich genoss jede Minute, die ich mit ihm verbringen konnte und wenn das bedeutete, ständig an der Nase gepikst zu werden, ertrug ich das hoheitsvoll.
„Dann hast du verloren. Spiel vorbei.“ Er sah mich an, als würde er nicht wissen, worauf ich hinauswollte. Wusste ich gerade selbst auch nicht mehr so genau.
„Okay“, winkte ich ab, „fang einfach -“
„Du beginnst“, sagte er schneller, als ich meinen Satz beenden konnte und grinste verschmitzt.
Ich seufzte. „Das zahle ich dir irgendwann mal heim...“
„Ich hoffe, das war ein Versprechen?“
Sein Blick nahmen mich einen Moment gefangen. Ich schluckte, fing mich aber wieder und grinste - wenn auch etwas wacklig. „Na klar.“ Anschließend atmete ich tief durch. „Okay, einen Fakt über den Urlaub... Ähm...“ Was zur Hölle sollte man da sagen? Sowas wie 'Heute schien die Sonne'? Wohl eher nicht, aber... Eine Erinnerung tauchte plötzlich in meinem Kopf auf. Triumphierend sah ich zu Lars hinunter. „In Møvik, also da, wo wir uns kennengelernt haben, gab es sehr viele Niederländer.“
Lars grinste. „Siehst du - gar nicht so schwer. Auch wenn es klingt, als hättest du ein Trauma von bekommen.“
„Das hättest du wohl gern, aber lenk nicht ab - du bist dran.“ Pfft, Trauma.
„Norwegen hat quasi keine Ampeln und deshalb gibt‘s auch keine Staus.“
„In Norwegen hast du nicht überall Internet und wenn, auch nicht überall gutes.“
Lars legte den Kopf schief. „Hat das wer behauptet?“
„Meine Tante und mein Onkel. Kann aber auch sein, dass ich sie falsch verstanden habe.“
Ich zuckte mit den Achseln. Sie hatten sich, glaube, damals auf die Region des Nordkaps bezogen, aber es klang auch so, als würde das generell gelten. Oder wir waren eben wirklich immer an den falschen Orten gewesen.
„Hm... Ich mag es nicht, Meeresfotos zu machen, weil da der Horizont immer schief wird.“
Ich grinste und strich ihm ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „Gerade gucken ist schon schwer...“
Ein Schlag traf meine Brust. Naja, Schlägchen. „Und ist auch doof, wenn man nicht so wirklich ausholen kann, ne?“, zog ich ihn weiter auf.
„Ach, sei still.“ Beleidigt verschränkte er die Arme vor seiner Brust.
Ich lachte. „Schwedische Pfandflaschen kann man in Norwegen zwar abgeben, aber man bekommt kein Geld dafür. Dabei hat meine Mum in Schweden extra geguckt, dass es Pfand drauf gibt...“
Nicht mehr ganz so beleidigt blickte Lars zu mir hoch. „Wirklich?“
„Ja“, grinste ich.
Er lachte. „Nice. Hätte ich sein können.“
Konnte ich mir bildlich vorstellen. Lächelnd fuhr ich seine Gesichtskonturen nach.
„Aber wenn wir einmal bei Schweden sind...“, begann er und lehnte sich meinen Fingern entgegen. Nebenbei schnappte er sich meine andere Hand und verflocht unsere Finger. „Die haben in ihren Supermärkten verdammt coole Fischbrote.“ Überrascht sah ich ihn an. Ein Rotschimmer legte sich auf seine Wangen. „Naja, ich weiß nicht, ob man das Fischbrote nennen kann... Es sind eben Teigunterlagen belegt mit Fisch, Salat, Ei und Gemüse...“ Er wurde immer leiser.
Ich strich beruhigend durch seine Haare. „Alles gut, ich weiß, was du meinst. Wir haben die Dinger auch gegessen. Ich fand die super.“
„Echt jetzt?“ Wären seine Augen braun, hätte ich sie jetzt mit denen von Bambi verglichen. Groß und unschuldig.
„Ja, echt jetzt“, grinste ich. „Ich fand die mega genial und war wirklich enttäuscht, als ich festgestellt hab, dass ich für eine sehr lange Zeit erstmal nicht mehr nach Schweden kommen werde.“
„Naja, dann hast du ja jetzt einen Anreiz, wieder hinzureisen...“ Sein Blick klärte sich. „So, du bist dran.“
Ich verstand den Sinn des Spieles immer noch nicht. Über diese Dinge ein Gespräch zu führen - das wäre einleuchtend, aber wieso ein Spiel draus basteln? Aber es war in Ordnung, alles, was mich störte, war, dass ich den Sinn nicht verstand, und selbst das war ... voll okay. Den brauchte ich eigentlich gar nicht. Solange Lars mich so herrlich bambimäßig erwartungsvoll und irgendwie auch treudoof von unten herauf anblickte, würde ich alles machen - Sinn hin oder her.
„Du bist niedlich.“
Er blinzelte. Der treudoofe Ausdruck wich einem schmollenden.
„Gar nicht“, maulte er. „Du bist doof, das Spiel ist beendet.“
„Was, wieso?“ Jetzt war ich wirklich überfordert.
„Weil es kein Fakt war.“
„Ähm, doch. Du bist niedlich.“ Und wie er niedlich war, vor allem, wenn er schmollte.
Er rappelte sich auf. Ich wollte ihm schon sagen, dass ich es zurücknahm, wenn er sich dafür wieder hinlegte, aber gerade als ich meinen Mund öffnete, sah er mich erst grimmig, dann resigniert und schließlich kapitulierend an und lehnte sich von der Seite an mich.
„Welche Musik hörst du?“, fragte er unvermittelt. Seine Haare streiften meine Haut und hinterließen ein angenehmes Gefühl.
Überrumpelt von dem plötzlichen Themenwechsel brauchte ich ein paar Sekunden, ehe ich antwortete. „Ziemlich viel. Meistens Rock.“
„Aktuelles oder eher 80er und 90er?“
„80er und 90er sind oft ziemlich nice, aber das heutige Zeugs ist auch gut.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Kommt eben immer etwas auf die Band an.“
Wir schwiegen eine Weile. Meine Gedanken drifteten ab - zu unserem Urlaub, meiner Familie, wie ich Lars kennengelernt hatte. Irgendwie fühlte es sich nicht an, als würden wir uns erst seit knapp einer Woche kennen.
„How long how long will I slide
Separate my side I don't
I don't believe it's bad
Slit my throat it's all I ever”
Leise, aber klar drangen die Worte an mein Ohr. Mit offenem Mund starrte ich Lars an. War das Ernst? War das sein fucking Ernst?
“I heard your voice through a photograph
I thought it -“
Er bemerkte meinen Blick und hörte mit geröteten Wangen auf. Verlegen räusperte er sich.
„So langsam sollte ich mich echt dran gewöhnt haben, dass du mich mit allem, was du tust, umhaust“, sagte ich, immer noch völlig baff. Scheiße, ich hatte eine verdammte Gänsehaut bekommen und das nur, weil er gesungen hatte! Okay, seine Stimme war Hammer, aber irgendwas schien bei meinen Hormonen schief zu laufen...
Unsere Blicke verhakten sich.
„Weißt du“, begann er. Seine Augen funkelten aufgrund irgendwelcher Lichter, sie sich in ihnen spiegelten. Da lag wieder dieser Ausdruck in ihnen. Dieses Tiefergehende, was ich in der Waschküche schon gesehen hatte, aber nicht benennen konnte. „Ich versuch mir die ganze Zeit einzureden, dass es gut ist, dass wir hier nichts überstürzen können, aber es ist verdammt schwer.“ Zärtlich strich er mit seiner Nase über meine Wange.
Ich schloss einen Moment meine Augen und genoss das Kribbeln, welches durch diese Berührung hervorgerufen wurde. Dann lehnte ich mich ein Stück nach vorn, geisterte mit meinen Lippen über sein Gesicht, ohne ihn wirklich zu küssen und vergrub meine Hände in dem weichen Stoff seines Pullovers.
Wahrscheinlich war es wirklich gut, dass wir hier quasi zur Untätigkeit gezwungen wurden, aber verdammt, ich wollte ihn.
Unsere Blicke trafen sich, als er ein Stück nach hinten rückte und plötzlich wusste ich den Ausdruck in seinen Augen zu deuten. Hatte ich gesagt, ich wäre ihm verfallen? Er war mir mindestens genauso hoffnungslos verfallen. Fuck, in diesem Blick lag so viel Wärme und auch Zuneigung, dass es mich eigentlich total überfordernd müsste.
Doch er ließ mir keine Zeit dazu. Ehe ich ebenfalls nach hinten rutschen konnte, überbrückte er den Abstand zwischen uns wieder und legte seine Lippen auf meine. Nicht so scheu wie vorhin, aber dennoch sanft. Leidenschaftlich. Halt suchend.
Es kam mir vor, als würd er in diesen Kuss all seine Gefühle für mich hineinlegen. Er wollte mich, hielt sich aber zurück. Er wollte mich nicht gehen lassen, wusste aber, dass er es musste. Und er wollte die Zeit, die wir hatten, auskosten.
Ich ließ mich zur Seite kippen, sodass ich nun auf der Bank lag, zog Lars mit mir und über mich und dachte nicht daran, ihn vor morgen früh wieder loszulassen. Er war da nämlich nicht allein mit seinen Gefühlen. Ganz und gar nicht.
*
Irgendetwas blendete. Ich war jedoch nicht gewillt, von der Wärmequelle neben mir abzurücken und dem Licht zu entfliehen. Dafür war sie zu kuschlig und roch zu gut. Meer und Schokolade. Wie auch immer das ging.
Als mein Hirn durch das Licht immer wacher wurde, gab ich schließlich nach. Blinzelnd öffnete ich erst das eine und dann auch das zweite Auge und sah blau. Dunkelblau. Schönes dunkelblau.
Mein Blick wanderte höher und verfing sich in Blond. Und dann rutschte er ein Stück zur Seite und traf auf Blaugrün. Leuchtendes Blau mit klaren grünen Sprenkeln. Als wären in einen Achat Adern aus Jade eingearbeitet worden.
„Morgen“, nuschelte ich, lehnte mich vor und drückte ihm einen keuschen Kuss auf die geschlossenen Lippen.
„Morgen“, lächelte er zurück.
„Weißt du, wie“, ich gähnte, „spät es ist?“
„Halb fünf.“
„Wie lange bist du schon wach?“
„Nicht lange.“
Ich nickte. Halb fünf. Da hatten wir noch etwas Zeit, ehe uns hier jemand stören würde. Müde schloss ich meine Augen und kuschelte mich - wenn das noch möglich war - näher an ihn heran.
„Wie kamst du gestern eigentlich auf die Red Hot Chili Peppers?“, fragte ich verschlafen.
Ich spürte, wie er mit den Schultern zuckte. „War das erste, was mir eingefallen ist. Naja, also eigentlich hatte ich zu dem Zeitpunkt gerade einen Ohrwurm von dem Avengers-Song, aber den konnte ich ja schlecht singen. Und Otherside war nach dem das Erste in meinem Kopf.“
Ich horchte auf. „Du bist Marvel-Fan?“
„Ja.“
„Cool.“ Ich gähnte erneut. Die Stadtjugend hatte gestern eindeutig zu lange und laut gefeiert und eine Bank war definitiv zu unbequem, um zu zweit darauf erholsam zu schlafen. Egal, ich würde es nicht anders machen, hätte ich die Chance zu. „Ich wollte unbedingt Jotunheimen sehen...“
„Wart ihr da?“
„Nein... Schon am ersten Tag in Norwegen war klar, dass wir es nicht schaffen würden. Naja, zumindest nicht so, dass die anderen damit besonders glücklich wären, deswegen hab ich gesagt, ich geh Loki ein andermal besuchen.“
Lars‘ Pullover war echt verdammt kuschlig. Ich wollte auch so einen. Okay, nein. Ich wollte den da. Am besten mit Inhalt.
Eine Nase vergrub sich in meinen Haaren.
„Aber dann hast du ja quasi das aufgegeben, was dir am wichtigsten hier war.“
Ich brummte unbestimmt. „Du hast deinen Tag doch auch nicht genutzt.“
„Doch.“
„Wann?“ Ich war schon fast wieder eingepennt.
Im Halbschlaf nahm ich gerade noch wahr, wie Lars etwas murmelte, was wie 'Diese Nacht. ' klang und einen Arm um mich schlang. Kurz darauf dämmerte ich mit dem Gefühl seiner Finger auf meinem Rücken und seinem Duft in der Nase endgültig weg.
*
Knapp 600 Kilometer lagen vor uns. Außerhalb des Wohnmobils war es viel zu heiß, innerhalb wurde sich hin und wieder gezofft, doch all das war mir im Moment egal. Mit Musik in den Ohren sah ich nach draußen und folgte mit den Augen verträumt dem Straßenverlauf, während meine Gedanken um die letzte Nacht kreisten. Das Gefühl seines Körpers an, auf und neben meinem eigenen. Sein Atem auf meiner Haut. Sein Duft in meiner Nase. Sein Geschmack auf meinen Lippen.
Ein angenehmes Ziehen und Kribbeln setzte sich in meiner Magengegend fest.
Wir hatten uns nichts versprochen und nichts ausgemacht. Er würde am Ende der Woche nach Hause fahren und wir schauten heute noch bei meinem Onkel vorbei und kamen schon morgen in Jena an. Für uns beide würde spätestens nächste Woche der Alltag wieder beginnen.
Ich wusste nicht, ob das zwischen uns jetzt nur eine Sommer- oder Urlaubsromanze gewesen war. Ich wusste auch nicht, ob wir uns wiedersehen würden. Ich wusste nicht, was es vielleicht werden würde, wenn wir den Kontakt hielten. Aber was ich wusste, war, dass ich bereit war, es herauszufinden.
Wahrscheinlich lag es an der insgeheimen Gewissheit, ihn wenigstens einmal noch wiederzutreffen, dass ich so ruhig und entspannt mit der Tatsache umgehen konnte, ihn nun für ungewisse Zeit nicht mehr zu sehen. Oder auch einfach an dem blauen Hoodie, der neben mir auf der Rückbank lag.
Doch wie schon gesagt - ich würde herausfinden, was die Zukunft mit sich brachte.
Ich schloss meine Augen und lehnte mich mit einem Lächeln auf den Lippen zurück.
Texte: Meins
Bildmaterialien: Meins
Cover: Meins - aber Schriftzug von piZap
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2018
Alle Rechte vorbehalten