1. November; Freitag
Leicht wippte ich mit dem Fuß im Takt der Musik, schloss die Augen und ließ mich mit ihr treiben. Als ich mir sicher war, dass ich den richtigen Rhythmus gefunden hatte, legte ich meine Hände auf die Tasten, begann leise die ersten Töne mitzuspielen. Flink flogen meine Finger über das Klavier, ließen die leichten Klänge lauter und kraftvoller werden.
„For one so small
You seem so strong
My arms will hold you
Keep you safe and warm”
Ein sanftes Lächeln umspielte meine Lippen, als ich die mir nur zu vertraute Stimme wahrnahm. Ich würde sie unter tausenden wiedererkennen.
„This bond between us
Can't be broken
I will be here
Don't you cry”
Ohne das Spiel zu unterbrechen, öffnete ich meine Augen und begegnete dem Blick meines besten Freundes. Entspannt stand er neben dem Flügel und sah ruhig auf meine Hände hinab. Es störte mich nicht. Nicht bei ihm. Bei jedem anderen hätte es das, doch nicht bei Alex.
„Cause you'll be in my heart
Yes, you'll be in my heart
From this day on
Now and forever more”
Der Refrain setzte ein und ich schloss erneut meine Augen, konzentrierte mich nur noch auf die Musik und Alex‘ warme Stimme. Ich verlor mich in dem Gefühl der Geborgenheit, welches dieser Moment ausstrahlte.
„You'll be in my heart
No matter what they say
You'll be here in my heart
Always”
Es war nicht das erste Mal, dass Alex und ich so zusammen waren. Dass ich am Klavier saß und er dazu sang. Und doch war es jedes Mal wieder etwas Besonderes. Es berührte mich. Ich wusste nicht genau warum, doch ich lebte für diese Augenblicke. Sie waren so friedlich, so … intim. Das Verstehen, welches zwischen uns herrschte, die stillen Absprachen. All das wollte, konnte ich nicht mehr missen. Es glich schon fast einer Sucht, nur dass diese nicht schädlich war. Ganz im Gegenteil.
Ich schrak aus meinen Gedanken, als sich eine Hand auf meine Schulter legte und Alex‘ warmer Atem mein Ohr streifte.
„Kommst du mit raus? Das Feuer brennt.“
Seine Hand strich über meinen Rücken nach unten, ehe sie verschwand. Ein angenehmes Kribbeln blieb zurück.
„Ich habe zwar keine Ahnung, wie Tim und Julian das geschafft haben, aber wir können Timmy ja gleich mal fragen. Also? Bist du dabei oder willst du noch spielen?“
Auffordernd hielt er mir eine Hand hin, die ich grinsend ergriff. Seine Finger verschränkten sich mit meinen und ich wurde sanft auf die Beine gezogen. Doch anstatt loszugehen, blieb Alex stehen und drehte sich zu mir.
„I'll be there. Always.“
Leise, schon fast flüsternd, sang er die letzten Zeilen des Liedes und sah mir dabei tief in die Augen. Ich wusste, dass er es ernst meinte. Egal was passierte, er würde für mich da sein. So wie er bis jetzt immer für mich da gewesen war.
„Na komm“, wisperte mein bester Freund und zog mich mit sich aus dem Internatsgebäude hinaus auf die große Wiese.
Wir kannten uns schon seit der fünften Klasse. Ich war damals auf diese Schule gegangen, weil man sich hier auch auf Naturwissenschaften spezialisieren konnte. Dafür hatte ich meine Eltern verlassen müssen, denn die vier Stunden Fahrt jeden Morgen wären nicht machbar gewesen. Diese Tatsache führte dazu, dass ich einer der ältesten im Internat war. Alt im Sinne von am längsten da.
Vor allem die Anfangszeit war nicht einfach für mich gewesen. Als Zehnjähriger in eine fremde Stadt zu ziehen, fremde Leute kennenzulernen und mit ihnen in einer fremden Schule unterrichtet zu werden war schon ziemlich hart. Ich hatte oft nächtelang wach gelegen und meine Eltern und Schwestern vermisst, hatte mich regelmäßig in den Schlaf weinen müssen.
Doch nach höchstens zwei Monaten wurde es besser. Denn ich hatte einen Freund. Alex hatte mich damals mitten auf dem Gang angesprochen und mich gefragt, ob ich mit Fußball spielen wollte. Ich hatte keine Ahnung von Fußball gehabt, doch ich willigte trotzdem ein. Seinen freudigen Blick würde ich nie vergessen.
Nach zehn Minuten hatte ich es jedoch geschafft, meine ganze Mannschaft gegen mich aufzubringen, weil ich eben keinen Plan gehabt hatte, was zu tun war. Ich bin in Sport eine Niete gewesen und das hatte sich bis heute nicht geändert. Bis auf die Tatsache, dass ich jetzt theoretisch wusste, wie Fußball funktionierte. Praktisch versagte ich beim Spielen immer noch.
Als meine Mannschaftskameraden anfingen, mich auszulachen, war Alex zur Stelle und hatte mich verteidigt. Er hat sich einfach vor mich gestellt, die Arme in die Seiten gestützt und auf die anderen Jungs eingeredet. Ich wusste nicht mehr, was er gesagt hat, doch es hatte Wirkung gezeigt. Bis heute machte mich niemand wegen meines nicht vorhandenen Talents blöd an.
Ich sah zu meinem Freund, der meinen Blick lächelnd erwiderte. So, als ob er genau wusste, worüber ich gerade nachdachte.
Seit dem Fußballspiel sind wir beste Freunde gewesen. Nun ja, er war mein Retter und ich bin ihm hinterhergelaufen. Doch er hat es nie ausgenutzt und spätestens seit ich ihm Nachhilfe gab, waren wir gleichberechtigt. So wie es in einer Freundschaft auch sein sollte. Wahrscheinlich waren wir bis dahin nur Freunde gewesen und noch keine besten. Doch das war egal. Heute zählte nur noch, dass er mich an jenem Tag gerettet hatte und damit der Grundstein für unsere Freundschaft gelegt worden war.
Wir haben jede Menge Unsinn zusammen fabriziert. Alex war damals schon selbstbewusst gewesen und sagte, wenn ihm etwas nicht gefiel. Das hatte dazu geführt, dass viele Lehrer auf Kriegsfuß mit ihm standen - auch heute noch. Doch dafür verstand er sich mit der Internatsleitung umso besser.
Alex wohnte eigentlich Zuhause bei seinen Eltern, doch als er herausgefunden hatte, dass es mir besonders nachts schlecht ging, hat er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um bei mir im Internat schlafen zu können. Eine Zeit lang ging das gut, dann hatte man ihn entdeckt. Seine Eltern wurden angerufen, die von ihm darüber jedoch bereits informiert gewesen waren und rein gar nichts dagegen hatten. Die Lehrer waren informiert worden, die Alex danach noch weniger leiden konnten und die Internatsleitung raufte sich die Haare, da er trotzdem weiterhin bei mir übernachtete.
Nach einem Jahr hatten sie es schließlich aufgegeben und nahmen es als Fakt hin, dass Alex praktisch auch im Internat - oder Nat, wie es von uns Natlern genannt wurde - wohnte. Alex‘ Eltern hatten angeboten, die Kosten zu zahlen, doch die Internatsleitung hatte abgewunken. Ich war mir aber sehr sicher, dass der Großteil der jährlichen Spenden von Alex‘ Eltern stammte.
Ich war sowohl seinen Eltern als auch der Leitung dankbar, dass sie Alex ließen und ich war meinem besten Freund dankbar, dass er das Risiko, erwischt zu werden, immer wieder auf sich genommen hatte. Denn ohne ihn wäre ich aufgeschmissen gewesen. Vor allem als ich in der zehnten Klasse herausgefunden hatte, dass ich bi war und es meinen Eltern erzählt hatte.
Sie sind immer nett und höflich gewesen, haben sich gut um mich gekümmert, doch als ich mich geoutet hatte, war es ein Schock für sie. Ich konnte mich noch genau an die Reaktion meiner Mutter erinnern. Sie hat mit einer Teetasse auf der Couch gesessen. Als ich ihr gesagt hatte, was los war, hat sie mit zitternden Händen die Tasse auf den kleinen Tisch gestellt und einen unsichtbaren Punkt auf dem Boden fixiert. Sie ist vollkommen ruhig gewesen. Kein Wort ist mehr über ihre Lippen gekommen, kein einziges verdammtes Wort in der all der Zeit.
Dafür hat mein Vater geredet. Er hatte gemeint, dass sie ein wenig Zeit brauchen würden, um das zu verdauen und dass sie sich melden würden. Ich hatte ihn mit offene Mund angestarrt, hatte nicht gewusst, wie ich das jetzt einordnen sollte. Er schmiss mich raus, ist mir irgendwann klar geworden. Als diese Information mein Hirn erreicht hatte, war ich aufgestanden, hatte meine Sachen gepackt und war zurück ins Internat gefahren. Beziehungsweise zu Alex.
Er hat versucht, mich zu beruhigen, hat mir Mut gemacht, dass meine Eltern nur nicht damit gerechnet hatten und jetzt erstmal alles sortieren mussten. Dass sie sich bald melden würden.
Doch so war es nicht.
Ich wartete einen Tag, ich wartete zwei, ich wartete drei. Ich habe eine Woche gewartet, aus der ein Monat wurde.
Nach fünf Wochen hatte mich meine große Schwester angerufen, die ein halbes Jahr in Amerika gewesen war und es erst jetzt erfahren hatte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, es auch ihr zu sagen, doch nach der Reaktion meiner Eltern hatte mich der Mut verlassen. Sie verstand es und war ausgeflippt, als sie erfahren hatte, was unsere Eltern getan hatten. Sie hat auf sie eingeredet, sie dazu gedrängt, mich anzurufen, doch immer kamen nur die gleichen Worte: „Lass uns Zeit.“
Nach einem halben Jahr, in dem ich nichts von meinen Erzeugern gehört hatte, rief ich sie schließlich an. Alex hatte stundenlang mit mir geredet, hatte mir Mut gemacht und mich letztendlich davon überzeugt, dass sie mich so akzeptieren mussten, wie ich war. Das, oder ich konnte auf sie verzichten.
Als ich ihnen das gesagt hatte, war meine Mutter nach anfänglicher Überraschung in Tränen ausgebrochen und hatte versucht, mich umzustimmen. Doch nach einem halben Jahr Funkstille hatte es mir gereicht. Sie hatten ihre Chance gehabt und sich entschieden.
Ich brauchte sie nicht mehr. Alex und seine Eltern unterstützten mich, was dazu führte, dass Alex noch häufiger im Internat anzutreffen war, als die Jahre davor und ich auch des Öfteren bei ihm übernachtete. Er war zu meiner Familie geworden.
Er und Mia, meine große Schwester. Wir telefonierten regelmäßig und durch sie wusste ich, dass meine Eltern versuchten, damit klar zu kommen. Vor allem meiner Mutter bereitete es Probleme, doch sie lenkte sich mit meiner kleineren Schwester ab. Verwöhnte sie nach Strich und Faden, was sie noch ungezogener und frecher werden ließ. Doch meinen Eltern schien das nicht aufzufallen und sie ignorierten auch Mia, die immer wieder versuchte, sie darauf aufmerksam zu machen.
Das alles war jetzt über ein Jahr her. Mittlerweile war Mia wieder in Amerika und studierte dort, sodass wir seltener telefonieren konnten, doch wenn, dann taten wir es richtig. Alex schüttelte immer den Kopf über uns beide, doch ich wusste, dass er meiner Schwester mochte. So wie sie ihn. Es war mir wichtig, dass die beiden wichtigsten Personen in meinem Leben sich verstanden und einmal schien ich Glück zu haben.
„Ich bring sie um. Ich bringe sie um!“ Ein wütender Tim erschien in meinem Blickfeld.
„Was ist denn los?“, erkundigte sich Alex besorgt.
Prüfend musterte ich meinen Zimmerpartner, der anklagend seine Hände nach oben hielt.
„Blasen, Muskelkater und erfrorene Finger. Höchstwahrscheinlich bekomme ich auch noch ‘ne Erkältung, weil Frau Schmidt es ja nicht für nötig gehalten hat, uns Mützen oder sowas wie ‘ne Jacke mitzugeben.“ Aufgebracht verschränkte Tim seine Arme vor der Brust und stöhnte sofort schmerzerfüllt auf. Das war dann wohl der Muskelkater.
Ja, die Strafarbeit, die Frau Schmidt, unsere Internatsleitung, ihm und Julian aufgetragen hatten, war nicht gerade die schönste gewesen. Sie hatten Holz für das große Novemberfeuer, das traditionell am ersten November stattfand, sammeln müssen. Seit heute Morgen hatte ich die beiden nicht mehr gesehen. Es war aber schon mal ein gutes Zeichen, dass Tim noch lebte, denn die beiden konnten sich absolut nicht ausstehen.
„Lukas, möchtest du vielleicht auch noch etwas sagen?“ Auffordernd sah Tim mich an und hielt seine Hände erneut in die Höhe. Ich sah zu Alex. „Nö, eigentlich nicht. Es wird sowieso Zeit, dass du dich endlich mit Julian verträgst.“
„Jetzt fang du nicht auch noch mit dem Scheiß an!“, regte Tim sich auf, doch ich sah, wie sich sein Blick bei Julians Namen verdunkelte und er sich wegdrehte. „Ich geh mich dann mal um die Blasen kümmern…“
Verwirrt ließ ich meinen Blick schweifen, bis ich den Grund von Tims Gemütsverstimmung gefunden hatte. Julian lief allein durch die Gruppen von Schülern und sein Blick folgte Tim, der gerade im Internat verschwand. Er biss sich auf die Lippe und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, würde ich sagen, dass sein Blick etwas sehnsüchtiges beinhaltete. Doch da er sich gleich darauf wieder seinem Fanclub an Mädchen zuwandte, beschloss ich, dem keine weitere Beachtung zu schenken. Wenn Tim etwas bedrückte, würde er schon zu mir kommen.
Plötzlich schlangen sich zwei Arme von hinten um mich und ein Kinn bette sich auf meine Schulter.
„Der wird schon wieder. Kennst ihn doch, wenn er auf Julian trifft, mutiert er zum Feuerwerkskörper. Fast so wie Harry und Draco.“
Schmunzelnd drehte ich mich zu Alex um. „Seit wann kennst du Harry Potter?“ „Seit du alle Teile davon gelesen hast und ich wissend wollte, was dich mehr fesseln kann als ich.“ Er grinste immer noch, doch ich sah in seinen Augen, dass es ihn wirklich gewurmt hatte.
Ich vergrub meine Nase an seinem Hals. „‘tschuldige.“ Alex drückt mich noch etwas fester an sich und ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Inneren aus. „Naja, ich hab’s überlebt.“ Er löste sich von mir und wuschelte mir durch die Haare. „Jetzt wird gefeiert!“
Grinsend sah ich ihm nach, wie er auf das große Feuer zulief und sich zu unserer Clique gesellte. Aber seine Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich hasste es, wenn Alex schlecht drauf war und ich den Grund dafür darstellte. Irgendwie musste ich das doch wieder hinbiegen können und ich hatte da auch schon eine Idee…
*
„Na, Süßer?“, wurde ich grinsend von Alex empfangen, als ich meine Stirn entnervt an seinen Rücken lehnte.
„Ich hasse Partys“, murmelte ich missmutig und sah meinen besten Freund erschöpft an, als dieser unserer Clique den Rücken zuwandte und sich zu mir drehte. Tam Tam warf mir einen mitleidigen Blick zu. Es war in unserer Runde allgemein bekannt, dass ich Partys nicht besonders mochte und auch keinen Alkohol trank, doch was tat man nicht alles für seinen besten Freund? Wenn Alex auf eine Feier ging, begleitete ich ihn natürlich. Und so schlimm war es ja dann auch nicht… Solange er da war. Ohne ihn würde ich das nicht überleben.
„Hast du Tim gesehen?“ Ich schüttelte den Kopf. Seit er im Internat verschwunden war, hatte er sich nicht mehr blicken lassen. Vielleicht sollte ich mal nach ihm sehen…
Alex schien meine Gedanken erraten zu haben, denn er legte besitzergreifend einen Arm um mich und zog mich in die Runde hinein. „Nichts da, du kannst später nach ihm schauen. Jetzt bleibst du erstmal hier.“
„Genau, Lukas! Du kannst dich nicht um die ganze Party drücken!“ Zack, Tam Tams Freund, hob seinen Becher und prostete mir zu. Ich tat es ihm grinsend gleich, nur ohne Trinkgefäß.
„Wir wollten gerade abstimmen, ob wir Flaschendrehen oder Ich-hab-noch-nie spielen. Für was bist du?“ Maja, die letzte aus unserer Clique, sah mich fragend an. Doch dann verdüsterte sich ihr Blick, als sie etwas hinter mir fokussierte.
Alarmiert drehte ich mich um, aber ich hörte schon, wer da hinter mir stand, bevor ich ihn sah. Mike. Julians bester Freund und Zimmergenosse.
„Na, sieh mal einer an, wen haben wir denn da?“, tönte er. „Eine Horde Kindergartenkinder beim Flachendrehen spielen. Wie süß.“
„Halt die Klappe, Mike!“, fauchte Alex und stand auf. Herausfordernd verschränkte er seine Arme vor der Brust.
„Sorry Mann, du machst mir keine Angst. Dreijährige sind unter meinem Niveau.“ Der Spott triefte aus seiner Stimme und sie Leute hinter ihm grölten. Alle bis auf Julian. Was war da nur los?
„Komm schon, Mike, wenn wir alle so unter deinem Niveau sind, warum bist du dann hier und nicht bei der Horde Mädchen da drüben?“ Alex‘ Augen funkelten gefährlich, als er einen Schritt näher an Mike herantrat. „Oder sind dir vielleicht die Aufgaben ausgegangen?“
Grinsend beobachtete ich, wie sich Mikes Gesicht rot verfärbte und er abfällig schnaubte. „Fick dich, Alex!“
„Oh, der Herr kennt meinen Namen.“ Er drehte sich zu uns um. „Leute, ein Wunder ist geschehen!“
„Ich werde dir gleich zeigen, was passiert, wenn Wunder geschehen, du mieser klei-“
„Lass gut sein, Mike. Sie sind es nicht wert.“ Julian legte seinem besten Freund eine Hand auf die Schulter und zog ihn weg. Er wehrte sich, doch Julian war stärker.
Mit offenem Mund starrte Tam Tam ihnen hinterher. „Das glaube ich jetzt nicht…“
„Da bist du nicht die einzige“, stimmte Zack ihr zu und nahm sich ungläubig noch ein Bier.
„Der ist doch sonst immer einer der ersten, wenn es darum geht, uns zu beleidigen.“ Maja runzelte irritiert die Stirn und wusste offenbar auch nicht, woher Julians Sinneswandel kam.
„Irgendwas sagt mir, dass Tim nicht ganz unschuldig an der Sache ist.“ Alex hatte sich wieder hingesetzt und beugte sich jetzt zu mir. Ich nickte nur zustimmend. Irgendetwas stimmte da nicht.
„Naja, erstmal soll es mir recht sein. Dann haben wir wenigstens diesen einen Abend Ruhe.“ Er schnappte sich die Tüte mit den Chips und hielt mir einen auffordernd vor die Nase. „Mund auf!“ Entgeistert sah ich meinen besten Freund an, der den Blick jedoch nur frech grinsend erwiderte. Der Chip kam meinem Mund noch ein kleines Stückchen näher. Seufzend ließ ich mich schließlich breitschlagen und kam Alex‘ Aufforderung nach. Es hatte ja sowieso keinen Sinn.
„Oh, wie niedlich!“, quietschte plötzlich Tam Tam und beobachtete uns mit einem dicken fetten Grinsen im Gesicht. Ihr Freund verdrehte stöhnend die Augen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Jetzt fängt das wieder an…“
Alex wand sich schulterzuckend um. Der Chip schwebte weiterhin vor meinem Mund, den ich mittlerweile wieder geschlossen hatte. „Sorry Mann, aber wenn deine Freundin drauf steht…“ Ruckartig sah Zack wieder auf. „Ihr zieht das doch jetzt nicht wirklich durch, oder? Nicht schon wieder!“
„Ach, komm schon, Zack. So schlimm ist es doch auch wieder nicht!“, war Maja ein.
„Du bist ja auch ein Mädchen.“
„Was soll das denn jetzt heißen?“
„Dass ich nicht so drauf stehe, wenn zwei meiner Freunde mal wieder Pärchen spielen. Ich meine, ich hab nichts gegen Homosexualität, oder eben Bisexualität“ Er sah mich kurz an. „Aber die beiden kuscheln doch sowieso schon die ganze Zeit, da müssen sich nicht auch noch gegenseitig abschlabbern!“
„Du bist doch nur neidisch, weil Tam Tam und Maja das bei uns süß finden und bei dir niemand nach mehr kreischt, wenn du Tam Tam küsst.“ Breit grinsend blickte Alex ihn an. Ich konnte mir ein Lächeln ebenfalls nicht verkneifen. Solche Situation waren doch einfach zu schön…
„Pah, ich und neidisch. Niemals!“ Beleidigt verschränkte er seine Arme vor der Brust und wandte sich an Tam Tam. „Sag ihnen, dass das nicht stimmt!“
„Aber wenn es das tut?“, fragte sie unschuldig, was Zack empört nach Luft schnappen ließ.
„Hey, du bist meine Freundin, du solltest mich eigentlich unterstützen!“
„Ach, Zack, jetzt sei uns nicht böse. Du hast selbst mal gesagt, dass Alex und Lukas zusammen echt süß sind.“ Triumphierend sah Maja ihn an.
„Was? Niemals! Also nichts gegen die beiden, aber nein! Da muss ich stockbesoffen gewesen sein!“
„Oh nein, mein Lieber, du hattest nicht einen Tropfen intus.“
Schweigend betrachteten Alex und ich den Schlagabtausch der drei. Mein bester Freund hatte sich auf der kleinen Bank hinter mir niedergelassen, sodass ich nun zwischen seinen Beinen saß. Sanft strichen seine Hände über meinen Hals und meine Wangen, bis sie irgendwann begannen, meinen Nacken zu kraulen. Entspannt lehnte ich mich gegen ihn und seufzte zufrieden.
Sein warmer Körper an meinem, seine Hände, die ein angenehmes Kribben auf meiner Haut zurückließen und sein Geruch, der mittlerweile so vertraut war, als wäre es mein eigener.
Lächelnd schloss ich meine Augen. Die Musik verschwamm mit dem Stimmengewirr um mich herum zu einem immer dichter werdenden Nebel. Dafür wurde Alex‘ Körper umso präsenter in meinem Kopf. Es fühlte sich gut an, nahezu perfekt. So als ob ich nur für diesem Moment überhaupt auf der Welt sein würde. So als ob Alex der zentrale Punkt in meinem Leben wäre, um den ich mich die gesamte Zeit drehte. Und irgendwie war es auch so. Alex und ich waren zwei Individuen, die umeinander kreisten und so ein eigenes, neues Individuum bildeten. Nur er und ich.
Etwas Weiches kitzelte mich an der Nase, wanderte weiter über meine Wangen und wieder zurück. Blinzelnd öffnete ich meine Augen und blickte direkt in ein Paar goldbraune funkelnde Schokoladenseen. Keine Ahnung, ob das überhaupt möglich war, aber Alex‘ Augen sahen gerade genauso aus.
Seine Nase berührte meine Stirn und sein warmer Atem bescherte mir eine Gänsehaut. Unwillkürlich hielt ich die Luft an, als sich Alex noch ein Stückchen weiter zu mir herunterbeugte. Was hatte er vor? Plötzlich küsste er mich federleicht auf die Stirn und rieb seine Nase sanft an meiner entlang. Mein Herzschlag beschleunigte sich und auch wenn ich immer noch nicht wusste, was das bedeuten sollte, hielt ich still, ließ ihn machen. Ich vertraute ihm und da sich die Sache alles andere als schlecht anfühlte, legte ich meine Hände schließlich in seinen Nacken und zog ihn noch ein Stück zu mir, sodass ich ihm ebenfalls einen Kuss auf die Stirn hauchen konnte.
Überrascht hielt er einen Moment inne und sah mir in die Augen. Ich grinste jedoch nur. „Was du kannst, kann ich schon lange.“ Meine Stimme war nur ein Wispern, doch er verstand mich. „Ich weiß. Und dafür liebe ich dich.“
Sein Blick war weiterhin fest mit meinem verhakt und obwohl er diese Worte schon des Öfteren freundschaftlich gesagt hatte, fühlte es sich diesmal anders an. Ein warmes Gefühl ergriff von meinen Körper Besitz und mein Herz machte einen Hopser, der sich nicht gesund anfühlte.
Ich musste schlucken, wusste nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Sie war vertraut und doch so fremd. Meine Hand lag noch immer in Alex‘ Nacken und meine Finger strichen sanft durch seine Haare. Ich öffnete meinen Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne etwas zu sagen. Alex‘ Augen blitzten belustigt auf und vielleicht war es dieses Glitzern, welches dafür sorgte, das ich meine Stimme wiederfand.
„Was ist das hier?“
Er blieb mir jedoch eine Antwort schuldig, denn genau in dem Moment, als er zu einer Antwort ansetzte, zerriss ein begeistertes Aww die Stille um uns herum. Perplex blinzelnd hob Alex seinen Kopf und auch ich brauchte einen Augenblick, um wieder in die Realität zurück zu finden.
Tam Tam und Maja blickten gerührt zu uns hinüber, während sich Zack geschlagen an seiner Bierfasche festklammerte. Ihre Diskussion schien vorüber zu sein.
Statt jedoch einfach entspannt wieder in das Gespräch einzutauchen, verfluchte ich die beiden Mädchen gerade. Sie hatten uns gestört, auch wenn ich immer noch nicht wusste, bei was. Und das gefiel mir ganz und gar nicht.
Während Alex erneut mit den anderen zu scherzen begann, lehnte ich mich entmutigt an ihn und ignorierte das Gespräch. Objektiv betrachtet war alles wie vorher, nur Alex‘ Finger, die beruhigend meine Ohren umkreisten, deutenden daraufhin, dass es wirklich passiert war. Dass etwas passiert war. Und ich hatte das ganz schlechte Gefühl, dass sich gerade etwas Grundlegendes geändert hatte.
5. November; Dienstag
Ich hasste Dienstage. Wirklich, es gab nichts Schlimmeres. Außer den Musikunterricht am Freitag. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich auf die absurde und selbstmörderische Idee gekommen war, Kunst abzuwählen und dafür Musik weiterzumachen. Ich konnte nicht singen! Habe ich noch nie gekonnt und laut unserer Musiklehrerin würde ich es auch nie können. Ich fand es übrigens immer noch äußerst nett von ihr, mich vor der gesamten Klasse auf diese Tatsache hinzuweisen.
Immerhin waren wir schon zu zweit bei der Annahme, dass bei den Belegungsbögen irgendetwas gehörig schief gelaufen sein musste. Nur leider konnte ich mich noch genau daran erinnern, wie ich in dieses verdammte Kästchen mu statt ku eingetragen hatte. Leugnen und Nicht-Wissen hatte bisher jedoch ganz gut geklappt und wenn ich mir weiterhin einredete, dass meine Ks manchmal wie Ms aussahen und das Ganze ein Fehler war, dann musste ich zwar immer noch eineinhalb Jahre Musik machen, doch die Schuld war erfolgreich von mir geschoben worden.
Leider wusste mein Unterbewusstsein nur zu gut, dass dieses M wirklich ein M gewesen war und zwar aus einem ganz simplen Grund. Nun ja, eigentlich war er alles andere als simpel, aber manchmal, zum Beispiel in dem Moment, als ich den Bogen ausgefüllt hatte, da war er simpel gewesen. Und mein teuflisches Unterbewusstsein hatte eine diebische Freude daran entwickelt, mein Bewusstsein andauernd auf diesen Grund hinzuweisen. Der Grund, der mich an jenem Tag so süß angelächelt und sich so kindlich gefreut hatte, dass es eben ganz einfach gewesen war, ein M statt einem K zu schreiben.
Und eben dieser Grund saß, beziehungsweise lag, gerade neben mir und verschlief friedlich den Geschichtsunterricht. Ich hätte es ihm gerne gleich getan, doch meine Streber-Gene versagten mir das. Und außerdem - mein Unterbewusstsein ließ grüßen - könnte ich dann nicht verträumt sein Gesicht betrachten. Die langen Wimpern, die leicht geöffneten Lippen und die irgendwie immer verwuschelten Haare.
Ich unterdrückte gerade noch rechtzeitig ein entzücktes Seufzen und gab meiner Hand schnell den Befehl, nach einem Stift zu greifen, ehe sie ihr ursprüngliches Ziel - Alex Haarsträhne - erreichte. Ich bezweifelte, dass unser Geschichtslehrer es toll fand, wenn ich begann, mitten im Unterricht mit meinem schlafenden besten Freund zu kuscheln.
Apropos Geschichtslehrer, Herr Engels kam geradewegs auf uns zu, seine Stirn in tiefe Falten gelegt. Fast hätte ich aufgelacht, als ich mich an die Geschichtsstunde zurückerinnerte, in der Alex festgestellt hatte, dass Herr Engels mit seinen ergrauenden Haaren und dem Vollbart erstaunliche Ähnlichkeiten mit Friedrich Engels hatte. Das Alter unsers Lehrers ließ sich zwar nur schwer bestimmen, doch an manchen Tagen kam er der 196 schon ziemlich nahe. Ja, ich wusste, wann Friedrich Engels geboren war und das nur seinetwegen.
Und seinetwegen hätte ich auch fast gelacht. Aber eben nur fast. Ich verkniff es mir jedoch und trat meinen besten Freund stattdessen lieber unauffällig gegen das Schienbein, denn Alex besaß schon mehr als einen Tadel wegen Unaufmerksamkeit im Unterricht.
Erschrocken fuhr mein bester Freund in die Höhe und rieb sich verschlafen über das Gesicht. Unwillkürlich schlug mein Herz bei diesem Anblick ein wenig schneller.
Das Novemberfest war jetzt vier Tage her und ich wusste mittlerweile sicher, dass etwas nicht mehr stimmte. Dass das, was ich in Alex‘ Nähe empfand, nicht mehr dasselbe war, wie vor dem Fest. Doch es machte mir keine Angst. Im Gegenteil, es störte mich überhaupt nicht. Na gut, vielleicht nicht überhaupt nicht, aber es war nicht so schlimm, dass ich mich in meinem Zimmer verkriechen wollte und mir wünschte, es wäre anders.
Ich gab zu, direkt nach dem Fest, war ich schon verwirrt und froh, dass es Tim offensichtlich auch war, denn so musste ich nicht darüber reden und konnte das alles erstmal selbst sortieren. Und das hatte ich. Ich hatte Theorien aufgestellt, sie für lächerlich und unrealistisch befunden und wieder verworfen, bis ich mich schließlich mit meinem Unterbewusstsein darauf einigen konnte, dass ich jeden Moment mit Alex einfach noch ein bisschen mehr genoss als vorher und zwar einfach weil. Ohne Begründung, auch wenn der kleine Teufel in meinem Kopf da natürlich auch wieder eine Theorie für mich hatte, die ich aber nicht hören wollte. Deal war Deal und in unserer Abmachung gab es diese Theorie nicht. Da hätte sich mein Unterbewusstsein etwas mehr beeilen müssen. Jetzt war mein Hirn für alles verschlossen, was nicht Alex hieß, kompliziert war oder es werden würde. Und diese Theorie würde, wenn sie denn stimmte, definitiv kompliziert werden.
Herr Engels war mittlerweile an unserem Tisch angekommen. „Alexander, ich nehme an, Du kannst uns sagen, worüber wir gerade reden?“
Verpeilt blinzelte Alex unseren Lehrer an.
„Äh…“ Sein Blick wanderte hilfesuchend zur Tafel. „Über irgendwelche toten Leute?“
Herr Engels seufzte.
„Alex, das ist jetzt schon die dritte Ermahnung und wir haben gerade einmal November. Es ist mir ein Rätsel, wie Du durch den Rest des Schuljahres kommen willst.“
„Naja, die letzten sechs Jahre habe ich auch geschafft, da werde ich das hier auch noch überleben.“
Alex grinste schief und noch immer etwas verpennt und griff dann tatsächlich nach einem Stift, um das Tafelbild zu übernehmen. Zumindest hatte er es vor.
„Lukas, hast du meinen Kuli gesehen?“ Suchend hob er seinen Hefter hoch. Ich wollte gerade den Kopf schütteln, als ich den Kugelschreiber in meiner Hand bemerkte. Den musste ich mir wohl vorhin statt Alex‘ Haarsträhne gegriffen haben.
Mit einem entschuldigenden Lächeln legte ich ihm den Kugelschreiber auf sein Blatt. Er drehte seinen Kopf und musterte mich grinsend. „Überredet, zum Geburtstag bekommst du auch so einen.“ Er zwinkerte mir zu und wandte sich dann wieder seinem eigentlichen Ziel, dem Tafelbild, zu.
Ich seufzte unterdessen lautlos auf und vergrub mein Gesicht in den Händen. Die Kuli-Geschichte. Ein schwarzer Tag in meinem Leben, doch immerhin schien sie jetzt vorbei zu sein. Auch wenn ich mir sicher war, dass Alex das bis zu meinem Geburtstag wieder vergessen hatte und die ganze Sache von vorne losgehen würde.
Zack tippte mich von hinten an. „Du bekommst den Kuli?“, fragte er leise. Ich nickte. „Geil, Maja schuldet mir 10 Euro.“ Grinsend drehte ich mich wieder um und nahm nur am Rande mit, wie Zack Maja über den Klassenraum hinweg darüber informierte, dass sie verloren hatte. Viel zu sehr war ich mit meinem inneren Teufel beschäftigt, der mir einreden wollte, dass Alex der einzige war, der beim konzentrierten Faktenabschreiben niedlich aussah. Denn das war nicht wahr. Ein Haufen anderer Leute taten das auch, zum Beispiel… Suchend sah ich mich im Raum um und als ich da nicht fündig wurde, durchforstete ich meine Erinnerungen und war mir sicher, dass mein Unterbewusstsein ganz bewusst genau die Momente versteckte, die es überführen würden. Es war und blieb eben ein kleiner Teufel.
*
„Ich freu mich schon auf die Zeit, wo du mich dann fahren kannst“, stöhnte Alex und ließ seinen Rucksack auf den Boden fallen.
„Wie kommst du darauf, dass ich dich dann fahre?“ Grinsend betrachtete ich meinen besten Freund, dem bei meinen Worten alle Gesichtszüge entglitten.
„Tust du nicht?“
„Nope, tut er nicht“, bestätigte Tim und legte mir einen Arm um die Schultern. „Schließlich haben wir schon ausgemacht, dass er mich dann immer zum Volleyball bringt.“
„Was?“
Entgeistert starrte Alex uns beide an.
„Aber… Lukas! Ich bin dein bester Freund!“
„Und deshalb werde ich dich nicht fahren, sonst steht dein Fahrrad nämlich verlassen im Schuppen und du wirst fett.“
Empört schnappte Alex nach Luft und begann nach einigen Schrecksekunden, seine Jacke auszuziehen. „Na wartet…“
„Alex, wir haben November, also was zur Hölle machst du da? Die Umkleiden sind da hinten!“ Tim deutete auf die Schwimmhalle, in der Alex‘ Training in ein paar Minuten beginnen würde.
„Und?“ Er hatte seine Jacke auf seinen Rucksack gelegt und zog sich jetzt demonstrativ sein T-Shirt nach oben. Zum Vorschein kam ein nicht ganz so kleines Fleckchen Haut, unter der sich Alex‘ gut definierte Bauch- und Brustmuskeln abzeichneten. Aus Erfahrung wusste ich, dass seine Arme und Beine ebenso aussahen. Das Schwimmtraining zeichnete sich eben aus, genauso wie das Fahrradfahren. Und aus diesem Grund würde ich ihn definitiv nicht fahren, sobald ich meine Fahrschulprüfung bestanden hatte. Ich konnte schließlich nicht zulasse, dass mein bester Freund zu einem unproportionierten Troll mutierte.
„Seht ihr? Ich bin nicht fett!“ Triumphierend sah Alex uns an.
„Sicher?“, hakte Tim grinsend nach. „Und was ist dann das da?“ Er streckte seine Hand aus und zeiget auf Alex‘ Bauch.
Alarmiert sah mein bester Freund an sich herunter und funkelte gleich darauf Tim böse an.
„Das ist kein Fett, sondern Haut! Ich bin nicht dick, okay?“
„Schon gut, schon gut. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so eitel bist.“ Beschwichtigend hob Tim seine Hände.
Grinsend betrachtete ich die Szene. Alex knurrte nur als Antwort und wandte sich dann an mich.
„Wann hast du deine nächste Stunde?“
„Mittwoch.“
„Also morgen?“
Ich überlegte einen Moment und nickte dann. Stimmte, das war schon morgen! Nervosität machte sich in mir breit, denn obwohl ich schon zehn Stunden hinter mir hatte, überkam mich jedes Mal wieder das Gefühl, dass ich sobald ich im Auto saß, alles wieder vergessen würde.
„Hey, du schaffst das!“
Beruhigend trat Alex auf mich zu und zog mich in eine Umarmung. Er stand immer noch im T-Shirt vor uns, doch trotz der Kälte draußen strahlte sein Körper eine angenehme Wärme aus. Ich legte meine Hände auf seinen Rücken und strich einmal seine Wirbelsäule hinab. Alex rückte daraufhin noch ein Stück näher an mich heran.
„Keine Sorge, ich gebe das Fahrradfahren schon nicht auf, dafür mache ich das viel zu gerne. Aber es gibt da so Momente, in denen … naja, egal.“ Er löste sich von mir. „Ich muss dann los.“
Ich hielt ihm am Handgelenk zurück, als er verschwinden wollte.
„Was für Momente?“
Alex seufzte.
„Lange Geschichte. Erzähl ich euch wann anders, aber es gibt da so eine Frau, die mich jedes Mal, wenn ich ihr begegne, zur Weißglut bringt.“
„Okay…“ Tim klang skeptisch. „Ich bin gespannt.“
„Sei das“, grinste Alex und winkte uns dann zum Abschied, ehe er sich seinen Rucksack mit der Jacke schnappte und in die Halle ging.
„Warum genau hab ich das Bild von Alex und der Frau lebhaft vor Augen?“ Tim sah meinem besten Freund nachdenklich hinterher. Ich zuckte mit den Achseln. Alex war eben Alex und das beinhaltete eine sehr explosive Mischung. Doch diese war genau der Grund, warum ich ihn so gerne hatte.
Unwillkürlich wanderten meine Gedanken wieder zu Alex‘ Aussage auf dem Novemberfest über Harry und Draco. Es war nicht das gleiche, aber irgendwie schon entfernt vergleichbar.
„Ist mit dir eigentlich alles in Ordnung?“, fragte ich an Tim gewandt, als wir uns auf den Rückweg zum Internat machten. Irritiert sah er mich an.
„Ja, warum sollte es das nicht?“
„Naja, seit dem Feuer bist du anders. Schweigsamer.“
„Musst du gerade sagen, Mister Ich-spreche-nur-das-nötigste.“
Das Grinsen in seiner Stimme entschärfte die harten Worte. Es stimmte, ich redete wirklich nicht so viel, sondern drückte meine Gedanken oft mit Gesten aus, doch so war ich eben. Und bis jetzt hatte sich noch niemand darüber beschwert. Außer Alex das ein oder andere Mal, aber er hatte mich immer hinterher aufgefordert, dass ich ja so bleiben sollte, wie ich war.
„Keine Ahnung, du wirkst eben manchmal ein wenig abwesend und Julian hat sich auch verändert. Ist im Wald irgendetwas passiert?“
„Nein“, antwortete Tim ein wenig zu schnell. Ich warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu, sagte aber nichts weiter.
„Wie machen wir das jetzt eigentlich mit Alex‘ Geburtstagsfeier?“, wechselte Tim das Thema. „Bleibt das bei diesem Samstag?“
Ich nickte.
„Seine Eltern kommen gegen Abend kurz im Nat vorbei und hauen dann wieder ab, sodass wir dann ungestört feiern können.“
„Alkohol hatte uns Frau Schmidt genehmigt. Tam Tam und ich gehen am Freitag ein bisschen was besorgen.“
Warum genau hatte ich die Befürchtung, dass es sich bei diesem bisschen um ein großes bisschen handeln würde?
„Brauchen wir außer den Pizzen, den Getränken, dem Knabber- und dem Grillzeug sonst noch was?“ Fragend sah Tim mich an, als wir die Stufen zum Internat hinaufstiegen.
„Keine Pizzen, die wollten wir bestellen.“
„Ach ja, stimmt. Okay, dann keine Tiefkühlpizza. Wenn dir noch was einfällt, sag einfach nochmal Bescheid, ja?“
„Mach ich.“
Tim verschwand in unserem Zimmer, doch ich hatte da noch etwas zu erledigen. Alex‘ Geburtstagsgeschenk machte sich schließlich nicht von allein… Grinsend holte ich mein Handy aus der Hosentasche und wählte.
„Hallo?“, meldete sich eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
„Hallo, hier ist Luka-“
„Lukas! Schön, dass Du anrufst, ich wollte Dir eben Bescheid sagen, dass Du morgen vorbeikommen kannst, dann können wir nochmal zusammen alles durchgehen.“
„Morgen kann ich nicht, da habe ich Fahrschule. Reicht es, wenn ich am Donnerstag komme oder ist das zu spät?“ Nervös nagte ich an meiner Unterlippe.
„Ach was, das macht nichts! Dann treffen wir uns am Donnerstag. Ich bin ab zwei da, komm einfach vorbei, sobald Du Zeit hast. Ich wünsche Dir viel Erfolg für morgen!“
„Danke! Einen schönen Abend noch.“
„Dir auch. Bis Donnerstag!“
„Bis dann.“
Erleichtert steckte ich mein Handy wieder weg. Wenn das jetzt schief gegangen wäre, dann hätte ich ein gewaltiges Problem gehabt. Seit Monaten plante ich diese Sache und ich war nicht bereit, die vielen Stunden, die ich bereits da rein investiert hatte, jetzt kurz davor aufzugeben. Aber es verlief alles so wie es sollte. Ich würde am Donnerstag dahin gehen und es mir ansehen. Dann kam der letzte Feinschliff et voilà, Alex würde mich lieben.
Lächelnd folgte ich Tim zu unserem Zimmer, wohl wissend, dass der Feinschliff noch einmal sehr sehr anstrengend werden würde.
7. November; Donnerstag
„Because I'm happy
Clap along if you feel like a room without a roof
Because I'm happy
Clap along if you feel like happiness is the truth
Because I'm happy
Clap along if you know what happiness is to you
Because I'm happy
Clap along if you feel like that's what you wanna do”
Grinsend stellte ich mein Zahnputzzeug auf das Waschbecken und hängte mein Handtuch an den dafür vorgesehenen Haken. Außer meinem hing nur ein weiteres da und ich war mir nicht sicher, ob ich mich für die Privatvorstellung bedanken sollte.
Alex sang gut, keine Frage, aber in letzter Zeit machte mein Körper in seiner Nähe Dinge, die er nicht tun sollte und wenn wir dann auch noch allein zusammen duschten… Naja, es war ja nicht das erste Mal und ich würde mir vor meinem Unterbewusstsein garantiert keine Blöße geben, also was soll’s? Ich zog mir meinen Hoodie über den Kopf, entledigte mich meiner Hose und ging zu Alex in die Gemeinschaftsdusche.
Als ich mich neben ihn stellte, hörte er auf zu singen und wand sich stattdessen mir zu.
„Wo warst du? Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“
Ich vermied es, ihn direkt anzusehen und stellte das Wasser vorsichtshalber schon mal ein wenig kälter. Dann zuckte ich mit den Schultern.
„Tja…“
„Hey! Ich hab mir wirklich Sorgen gemacht!“
„So klang es aber nicht. Wenn ich mich um jemanden sorge, singe ich nicht Happy.“
„Bist du jetzt beleidigt, weil ich nicht I miss you gesungen habe?“
„Vielleicht.“
Nein, eigentlich war ich überhaupt nicht beleidigt, aber man konnte ja mal so tun. Alex nahm immer alles so schrecklich ernst.
„Oh Gott, ich will gar nicht wissen, was du gerade denkst. Lukas, dein Grinsen ist gruslig, hör auf damit!“
Ich drehte meinen Kopf in Alex‘ Richtung und grinste provokativ noch ein wenig mehr. Dabei ging ich langsam auf ihn zu und mein bester Freund brachte es tatsächlich fertig, unsicher zurückzuweichen. Doch ich würde ihm bestimmt nicht näher kommen, als nötig. Es reichte, wenn er andauernd ankam, um zu kuscheln. Da musste ich meine Nerven nicht auch noch zusätzlich strapazieren. Ich holte mir lediglich das Duschbad - mein Duschbad - wieder, welches Alex gerne mal klaute, weil er seine Sachen immer bei sich zu Hause vergaß.
Als ich mich zurück auf meinen Platz gestellt hatte, trat auch Alex wieder unter seinen Duschkopf. Ich spürte, wie er mich musterte und wurde augenblicklich rot. Verdammt!
„Du bist irgendwie anders als sonst“, stellte mein bester Freund nach einer Weile fest. Ich schluckte nervös. Hatte er gemerkt, dass sich meine Gefühle ihm gegenüber verändert hatten? Aber eigentlich verhielt ich mich doch nicht anders. Schließlich hatte ich einen Deal mit mir geschlossen, der besagte, dass alles normal war, nur mit dem Unterschied, seine Nähe noch etwas mehr zu genießen. Aber Alex war nicht dumm, also was, wenn-
„Ich meine, ich weiß, dass ich in zwei Tagen Geburtstag habe, aber die letzten Jahre warst du deswegen auch nicht so geheimnisvoll…“
Erleichtert atmete ich aus. Also darauf wollte er hinaus. Und ich dachte hier sonst was. Aber Alex hatte ja Recht, dieses Jahr war es anders. Ich war heute bei dieser Frau gewesen, mit der ich am Dienstag telefoniert hatte und Alex Geschenk war fertig. Es war nicht nur fertig, es war auch perfekt. Ich konnte es kaum erwarten, dass Alex es sah.
„Du grinst schon wieder so blöd. Hast du heute irgendetwas genommen?“ Maulend stellte mein bester Freund das Wasser ab und schlang sich sein Handtuch um die Hüften. Schade… Oder eher endlich?
„Sorry, aber wie du schon sagtest, in zwei Tagen weißt du’s.“
„Ja, in zwei Tagen!“ Zwei Finger wurden mir vor die Nase gehalten und ich prustete los.
„Zwei Tage sind nicht zwei Jahre, du wirst es überleben!“
Ich stellte das Wasser ebenfalls aus und nahm mir mein Handtuch.
„Nein, werde ich nicht, und du bist daran schuld!“
Alex zog eine Schnute und ging ans Waschbecken. Dort griff er nach seiner Zahnbürste, die er, welch Wunder, dabei hatte, und dann nach meiner Zahncreme. Es hätte mich ehrlich gesagt überrascht, wenn es anders gewesen wäre…
Weiterhin grinsend stellte ich mich neben ihn.
„Komm schon, einen Tag musst du noch durchhalten.“
„Hm…“
Aufmunternd legte ich ihm eine Hand auf die nackte Schulter und unsere Augen trafen sich im Spiegel. Ich wusste, wie ungeduldig er war, aber da musste er jetzt durch. Ich hatte nicht wochenlang alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit er nichts merkte, um jetzt, zwei Tage vorher weich zu werden.
„Und es besteht nicht die kleinste Chance, dass du mir schon jetzt verrätst, was es wird?“ Flehend sah er mich an und ich verfluchte ihn für seinen Hundeblick.
„Nope.“ Ich schüttelte den Kopf. „Einen Tag musst du noch warten und der wird für dich auch relativ schnell umgehen.“
„Wieso sollte er?“
„Wir haben Musik.“
Alex lachte laut auf.
„Ach ja, richtig. Da war ja noch was.“
Jaja, sollte er nur lachen, er wusste genau, was er mir damals damit angetan hatte. Mein einziger Vorteil - und auch der Grund, warum unsere Musiklehrerin mich nicht als totalen Nichtskönner abstempelte - war, dass ich ganz passabel Klavier spielen konnte. Das war’s dann aber schon. Nur weil man ein Instrument beherrschte, musste man noch lange nicht singen und Musikgeschichte können!
„Ach, komm schon, so schlimm ist Musik nun auch wieder nicht.“
Versöhnlich legte Alex mir nun seinerseits eine Hand auf die Schulter und als meine Grabesmiene nicht besser wurde, zog er mich an seine Brust. Automatisch erwiderte ich die Umarmung.
„Du kannst ja auch singen“, nuschelte ich an seinen Hals und atmete gleichzeitig tief ein. Warum auch immer, aber Alex roch mit meinem Duschbad besser als ich. Das war unfair!
„Und du Klavierspielen…“
Er klang schläfrig. Wie gut, dass er hier übernachtete.
Seine Finger begannen, meinen Nacken zu kraulen und ich strich mit meinen Händen im Gegenzug versonnen über seinen Rücken. Wie vor der Schwimmhalle, nur hatte er jetzt nichts an - von dem Handtuch mal abgesehen, aber das zählte nicht. Genauso wenig wie ich, aber die Tatsache schien ihn nicht zu stören. Nichts deutete darauf hin, dass er die Umarmung beenden wollte, also würde ich einen Teufel tun, das hier zu zerstören. Wir kuschelten zwar oft, aber wann bekam man schon mal die Gelegenheit, halb nackt seinen besten Freund im Arm zu halten? Eben, und deshalb drängte ich mich noch ein Stückchen näher an ihn und vergrub meine Nase noch ein wenig mehr an seinem Hals.
„Lukas? Alex? Seid ihr hier?“
Tims Stimme ließ uns auseinanderfahren. Leicht schwankend sah ich mich nach meinem Zimmerpartner um.
„Ihr seid ja immer noch nicht fertig. Was macht ihr denn? Es ist seit zehn Minuten Nachtruhe.“
„Wir sind gleich da“, antwortete Alex mit leicht kratziger Stimme und zog sich schnell Boxershorts und ein T-Shirt über. Ich blinzelte ein paar Mal, um auch den letzten Rest Schwindel zu vertreiben und tat es ihm dann nach.
Zu dritt verließen wir den Waschraum und machten uns auf den Weg in unser Zimmer. Noch ein Tag und dann war Wochenende, noch einmal Musik und mir konnte zwei Tage lang niemand mehr etwas anhaben. Keine Schule, keine Hausaufgaben und nicht früh aufstehen.
Lächelnd krabbelte ich in mein Bett und hielt auffordernd die Bettdecke hoch. Das Beste an der ganzen Sache war nämlich, dass Alex heute und am Samstag hier schlafen würde. Und die Aussicht war eigentlich noch sehr viel besser, als alles andere zusammen.
9. November; Samstag
„Und jeetzt“, aufgeregt tippelte Maja in ihren Absätzen auf Alex zu, „bekommst du unser Geschenk.“ Sie drückte ihm ein Päckchen in die Hand und zeigte einmal in die Runde. Tim, Zack, Tam Tam und ich winkten alle einmal grinsend und beobachteten dann belustigt, wie Alex vorsichtig sein Geschenk befühlte.
Wir feierten seinen 18. Geburtstag zusammen mit seiner Familie in einem der Aufenthaltsräume des Internats. Ich fand es total nett von Frau Schmidt, dass sie das hier genehmigt hatte, denn eigentlich war sowas nur für Internatsmitglieder erlaubt. Aber da Alex ja sowieso 50 Prozent seiner Freizeit hier verbrachte…
„Es wird schon nicht vergiftet sein“, schmunzelte Alex‘ Oma, als mein bester Freund sich nach fünf Minuten immer noch nicht getraut hatte, das Geschenkpapier zu lösen.
„Ich weiß ja nicht…“ Misstrauisch beäugte Alex einmal jeden von uns, ehe er sich schließlich seufzend ergab. „Wenn es explodiert, ist es nicht meine Schuld!“
Als ob wir so böse wären…
Grinsend stupste Zack Maja an. „Fünf Euro, das ihm alle Gesichtszüge entgleiten, wenn er es ausgepackt hat.“
„Fünf Euro, das er ausflippt, wenn er es wirklich ausgepackt hat.“
„Abgemacht.“
Sie schlugen ein und wandten sich unschuldig grinsend wieder dem Geburtstagskind zu.
„Also jetzt habe ich wirklich Angst.“ Zweifelnd sah Alex zu den beiden hinüber.
„Musst du nicht“, mischte sich jetzt sein Vater ein, der wie der Rest der Familie etwas abseits an ein paar Tischen saß. Seine Eltern wussten, was wir Alex schenkten, nicht zuletzt deswegen, weil sie einen Teil dazu beigesteuert hatten.
„Kann es sein, dass jeder weiß, was in diesem Päckchen drin ist?“
„Kann nicht nur so sein, ist auch wirklich so.“ Zack grinste. „Und jetzt mach endlich auf!“
Alex warf mir einen fragenden Blick zu und ich nickte lächelnd. Er hatte nichts zu befürchten, auch wenn ich wahrscheinlich auch misstrauisch geworden wäre, wenn mir meine Freunde ein weiches eingepacktes Etwas überreicht hätten.
„Das ist nicht euer Ernst! Ist das ein Schlafsack?“ Perplex sah Alex auf den schwarzen Beutel in seinen Händen.
„Fünf Euro an mich.“ Auffordernd hielt Zack Maja eine Hand hin. Sie verdrehte kurz ihre Augen, drückte ihm dann aber den blauen Schein in die Hand
„Gefällt er dir?“, fragte Tam Tam scheinheilig an Alex gerichtet.
„Äh… Er ist schwarz, also…“
Ja, er war schwarz und viel mehr an Farbe würde da auch nicht mehr kommen. Immerhin kannte ich das Schwarzweiß-Faible meines besten Freundes.
„Mach ihn auf“, forderte Maja und warf Zack dabei einen siegessicheren Blick zu.
Verwirrt blinzelte Alex, kam dann der Anweisung jedoch nach. Es tat fast ein wenig weh, dass er den Sack so schnell aus dem Beutel befreite. Tam Tam und ich hatten Stunden gebraucht, um das Ding da wieder halbwegs ordentlich drin zu verstauen. Und zwar so, dass Alex zuerst das Fußende ausrollen würde, egal, wie er sich beim Auspacken anstellte. Also ich fand, dafür hatten wir auf jeden Fall einen Preis verdient, denn es klappte. Je weiter Alex den Schafsack ausrollte, desto mehr begannen seine Augen zu leuchten.
Lächelnd betrachtete ich meinen besten Freund, wie er sprachlos auf den Schlafsack starrte.
„Euer fucking ernst?“, hauchte er. „Euer fucking fucking ernst?“
„Alex, denk an deine Ausdrucksweise!“, mahnte seiner Mutter, jedoch lächelte sie.
„Das ist genial! Das ist so genial!“ Strahlend blickte Alex auf.
Ich wusste, dass Eigenlob stank, aber dieser Schlafsack sah wirklich verdammt gut aus. Die Unter- und Innenseite war komplett schwarz, ebenso wie der Kopfteil. Obendrauf jedoch war er weiß und auf dem weißen Untergrund war in schwarz ein Bild aufgedruckt.
„Sind das wir?“, fragte Alex immer noch begeistert.
„Jep.“ Zack grinste. „Ich finde, ich sehe am besten aus.“
„Pff“, machte Maja, grinste aber ebenfalls.
„Also ich würde ja sagen, dass Zack da etwas breit aussieht.“ Neckend streckte Tim Zack seine Zunge raus.
„Musst du gerade sagen. Du hast hier Segelohren!“
„Gar nicht wahr!“
„Leute, ihr streitet euch wie Kindergartenkinder!“ Tam Tam verdrehte entnervt die Augen. „Außerdem habt ihr das Bild alle abgenickt.“
„Ja, aber in Farbe sah das irgendwie anders aus, als in schwarz.“
„Mann Zack, du wusstest aber, dass es schwarz wird. Kann ja niemand etwas dafür, wenn du mal wieder nicht aufgepasst hast.“ Maja rutschte zu ihm und wuschelte einmal durch seine Haare.
„Ah, lass das! Ich hab Stunden gebracht, damit die so aussehen!“
„Keine Sorge, Hase, du sieht immer noch gut aus“, beruhigte Tam Tam ihn.
Kopfschüttelnd drehte ich mich zu Alex, der mich gedankenverloren musterte. Fragend hob ich eine Augenbraue, woraufhin er abwinkte. Dann deutete er auf den Schlafsack und formte mit seine Lippen ein stummes „Danke“. Ich grinste ihn an und zeigte auf den oberen Teil des Sackes. Alex folgte meinem Finger und seine Augen weiteten sich erstaunt.
„Leute, Ruhe jetzt!“ Maja zupfte Zacks Hände aus ihren Haaren und Tim schob sich grinsend eine Hand voll Chips in den Mund. So wie der Boden um die vier aussah, war das die erste, die da landete, wo sie hingehörte.
Alex warf den anderen einen schnellen Blick zu und löste dann das Klebeband von dem Brief, der am Kopfteil des Schlafsackes befestigt war. Und der sah sogar noch ganz passabel aus! Ich grinste Tam Tam an und sie erwiderte es. Ja, den Preis hatten wir uns definitiv verdient.
Ein überraschtes Nach-Luft-Schnappen ließ uns alle wieder zu meinem besten Freund sehen. Der saß auf dem Boden, der Schlafsack lag vor ihm und in seinen Händen hielt er eine etwas zerknitterte Karte. Als er aufblickte, schimmerte es in seinen Augen verdächtig und ich hatte das Gefühl, dass er sich nicht so recht entscheiden konnte, ob er weinen oder jubeln sollte. Letztendlich entschied er sich dann für eine Mischung aus beidem und brachte uns damit zum Lachen, während seine Oma kräftig ins Taschentuch schnäuzte.
„Ich hätte meine fünf Euro gerne wieder“, säuselte Maja, als sie sich zu Zack lehnte. Grummelnd holte er das Geld wieder aus seiner Tasche.
„Dankeschön“, flötete sie und schnappte sich den Schein.
„Gefällt’s dir?“ Abwartend sah Tam Tam zu Alex.
„Gefallen? Das ist das beste Geschenk, was ich je hatte!“ Freudestrahlend hielt Alex die Karte für das Hurricane-Festival in die Höhe. „Ihr habt davon gewusst, oder?“
Sein Vater schmunzelte. „Natürlich. Aber ich glaube, das ist noch nicht alles.“ Verschwörerisch zwinkerte er seinem Sohn zu.
„Noch was?“ Alex sah aus, als ob er gleich in Ohnmacht fallen würde. Ja, er wollte schon immer auf dieses Festival und ja, ich war mir bewusst, dass ich der beste beste Freund war, den man sich wünschen konnte. Okay, die Idee mit dem Festival war von Tam Tam, ich habe das Hurricane-Festival vorgeschlagen und Tim hatte den Einwurf, dass eine einzelne Karte zu langweilig sei und daraufhin war eine Diskussion entbrannt, wie man auf kreativste Weise eine Festivalkarte verpacken konnte. Und als bester Freund wusste ich natürlich, dass Alex einen neuen Schlafsack benötigte und daraufhin hatte Maja gemeint, dass man den auch noch irgendwie cool gestalten musste. Und taddaa, unser Geschenk war fertig. Oder eben die Idee, das Geschenk hatte noch einige Telefonate meinerseits benötigt. Und jetzt genug des Eigenlobs, Alex übernachtete heute hier, da konnte ich nicht wie ein alter Käse stinken.
„Ja, noch was“, stimmte Tam Tam Alex‘ Vater zu und räusperte sich. „Also, Alex. Da wir wissen, dass du ein riesiger Festival-Freund bist und besonders auf dieses Festival schon immer mal wolltest, teilen wir dir mit dieser Karte mit, dass du vom 24. bis zum 26. Juni über 60 Livebands in unterschiedlichen Stilrichtungen auf diversen Open-Air-Bühnen anschauen kannst und da du jetzt einen supercoolen neuen Schlafsack hast, musst du natürlich im Zelt schlafen und weil du das alleine garantiert nicht aufgebaut bekommst, bieten wir dir hiermit unser aller Unterstützung an. Und kein Aber, Alex. Wir kommen mit! Die Karten waren nämlich nicht gerade billig.“
Streng sah sie meinem besten Freund ins Gesicht, der allerdings nur noch mit offenem Mund dasaß.
„Mund zu, es zieht.“ Zack grinste und schnippte vor seinen Augen herum, bis Alex langsam wieder aus seiner Starre erwachte.
„Das“, begann er. „Das ist … einfach unglaublich, ich… Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll…“
„Dann halt einfach die Klappe und komm her!“ Auffordernd breitete Tam Tam ihre Arme aus.
Grinsend sah ich zu, wie Alex sich aufrappelte und Tam Tam in seine Arme schloss. Ganz kurz durchfuhr mich ein kleiner Stich der Eifersucht, der jedoch sofort wieder verschwand, als Alex auf mich zu kam, mich fest an sich drückte und ein leises „Danke! Du bist der Beste.“ an mein Ohr hauchte.
Mit einem warmen Gefühl im Magen verfolgte ich, wie Alex auch den Rest zum Dank umarmte und freute mich auf nachher, wenn seine Familie weg war, denn dann würde er noch einmal Geschenke bekommen. Nichts großes, nur eine Kleinigkeit. Eben von jedem noch einmal etwas Individuelles.
„So Alex, aber jetzt erzähl mal, was hat es mit dieser Frau und dem Fahrrad auf sich?“ Tim ließ sich mit einem Kuchenteller wieder neben mir - ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er schon wieder aufgestanden war - nieder und blickte meinen besten Freund neugierig an.
„Alte Frau? Fahrrad? Hab ich was verpasst?“ Verwirrt sah Zack zwischen Tim und Alex hin und her.
„Nö, wir wissen auch nicht mehr. Also?“
„Jaja, schon gut“, lenkte Alex ein. „Das ist eigentlich gar nicht so spannend, aber -“ Er wurde doch die Hand seines Vaters auf seiner Schulter unterbrochen.
„Wir machen jetzt los, feiert noch schön, ja? Und trink nicht zu viel Alkohol!“
„Ich doch nicht!“ Scheinheilig blinzelte Alex seine Eltern an, die daraufhin nur wissend lachten.
„Naja, Lukas wird schon auf dich aufpassen. Wir verlassen uns auf dich!“ Mahnend hob Alex‘ Mutter ihren Zeigefinger und ich nickte brav. Klar würde ich aufpassen.
„Macht’s gut.“
„Morgen kommst du dann aber nochmal vorbei, oder?“, fragte seine Oma. „Wir alten Leute sind ja nicht so oft bei euch.“
„Und gefeiert haben wir auch noch nicht wirklich“, warf jetzt auch Alex‘ Opa ein und drückte seinen Enkel zum Abschied.
„Ich bin morgen Vormittag wieder Zuhause, versprochen!“ Lächelnd verabschiedete sich Alex von allen und ließ sich dann, als alle weg waren, seufzend neben mich auf den Boden nieder. „Ihr seid echt verrückt.“
„Und dafür magst du uns.“
Erschöpft sah er mir in die Augen. „Ihr seid trotzdem verrückt.“
„Was ist das jetzt mit dieser Frau?“, schmatzte Zack mit vollem Mund, was ihm einen tadelnden Blick von seiner Freundin einbrachte.
„Naja“, begann Alex. „Ihr wisst ja, dass ich immer mit dem Fahrrad zur Schule fahre und -“
„Immer ist gut, du übernachtest ja quasi jede zweite Nacht hier“, murmelte Tim.
„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“ Skeptisch musterte Zack meinen Zimmerpartner.
„Nee, aber mir wurde gesagt, ich habe ein Zwei-Mann-Zimmer und kein Zwei-Einhalb-Mann. Deswegen…“ Er sah auf. „Ach, ist egal, jetzt erzähl schon!“
Alex und ich warfen uns kurz einen schuldbewussten Blick zu, ehe mein bester Freund mit seiner Erzählung fortfuhr.
„Und ihr wisst bestimmt auch, dass die Fahrradwege hier eine Katastrophe sind. Wenn man die ganze Zeit auf einem Fahrradweg fahren will, müsste man alle 100 bis 200 Meter die Straßenseite wechseln und das ist echt anstrengend. Vor allem, da die Fahrradwege meist nur kurz unterbrochen sind. Und auf der Straße kann man auch nicht überall fahren, weil man dann den gesamten Verkehr aufhält.“
„Ich weiß schon, warum ich kein Fahrrad fahre…“ Zack griff sich noch ein Stück Schokokuchen.
Alex lachte. „Ja, aber meine Eltern können mich nicht bringen, laufen ist zu weit und die Straßenbahn ist einfach nur eklig. Naja, auf jeden Fall gibt es da den einen Abschnitt von vielleicht 200 Metern, der als Fußweg ausgeschildert ist. Irgendwann fängt der Fahrradweg dann wieder an, aber fragt mich nicht, wie man auf den kommen soll, wenn man nicht vorher den Fußweg benutzt hat.“
Meine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Alex‘ Tonfall ließ keine Zweifel, dass er sich schon des Öfteren über diese Umstände aufgeregt hatte.
„Und genau auf diesem Stück führt irgendeine alte Frau immer ihren kleinen dämlichen Köter aus. Ich meine, ich kann es ja verstehen, wenn sie nicht will, dass dieses Vieh überfahren wird, aber jedes Mal, wenn ich ihr begegnet bin, stand ich! Also wenn dieser Hund dann immer noch gegen mein Rad rennt, ist er selbst dran schuld!“
Zack, Tam Tam und Tim grinsten, nur Maja sah aus, als habe sie Mitleid mit der Frau. Klar gab es viele rücksichtslose Fahrradfahrer, aber ich kannte Alex und er gehört da definitiv nicht dazu. Wenn er sagte er stand, dann stand er auch und er liebte Hunde, also würde er zumindest langsam fahren und aufpassen, dass dem Tier nichts geschah. Aber es gab leider Leute, die sich über alles und jeden aufregen mussten und damit nicht nur sich selbst das Leben schwer machten.
„Sie weist mich dann jedes Mal wieder darauf hin, dass das ein Fußweg ist und dass ich da drüben fahren soll. Sie hat mir auch schon angedroht, mich anzuzeigen. Aber wie bitte soll sie das denn machen? Und so viele Fahrradfahrer, wie da täglich langfahren… Viel Spaß! Wenn ich irgendwann wirklich mal vor Gericht stehen sollte, dann werde ich dem Richter sagen, dass ich, genau wie jeder andere, weiterhin da lang fahren werde und dass er sich bitte um ordentliche Fahrradwege kümmern soll. Um durchgehende ordentliche Fahrradwege!“
Schnaubend lehnte sich Alex nach hinten und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab. Er saß so dicht neben mir, dass sich unsere Arme berührten.
„Denkst du, wir können diese Frau mal zusammen besuchen?“ Zacks Augen hatten zu leuchten begonnen.
„Untersteh dich!“, drohte Maja, doch Zack setzte nur einen Dackelblick auf.
„Du kennst mich doch, ich würde nie was Böses machen!“
Maja sah alles andere als überzeugt aus, sagte aber nichts weiter.
„Leute, was haltet ihr davon, wenn wir jetzt noch den Rest der Geschenke auspacken?“ Fröhlich blickte Tam Tam in die Runde und ich nickte sofort, froh über den Themenwechsel.
„Es gibt noch mehr?“ Alex war weiß im Gesicht geworden.
„Klar gibt es noch mehr. Was wäre ein 18. Geburtstag ohne Kondome?“, grinste Zack und warf Alex ein kleines Päckchen zu.
„Warum müsst ihr Jungs eigentlich immer Kondome schenken?“ Maja hatte ihr Geschenk geholt und setzte ich jetzt gegenüber von mir auf den Boden.
„Weil die überlebenswichtig sind!“, echauffierte sich Zack.
„Ja, so überlebenswichtig, dass es sogar eine Gebrauchsanweisung gibt.“ Augenverdrehend rutschte Tam Tam zwischen Zacks Beine und lehnte sich an die Brust ihres Freundes. Ich schielte zu Alex hinüber, der die beiden mit einem leicht versonnenen Ausdruck in den Augen betrachtete. „Ich meine, wer liest denn bitte die Gebrauchsanweisung von Kondomen?“
„Na, du anscheinend nicht. Da müssen wir uns ja nicht wundern, wenn du uns bald erzählst, dass du schwanger bist.“ Alex zwinkerte Tam Tam kurz zu und entfernte dann die Verpackung von Zacks Geschenk.
„Kondome! Was für eine Überraschung!“ Maja lehnte sich vor und nahm Alex die Packung aus den Händen. „Verschiedene Geschmacksrichtungen“, las sie vor. „Auf welchen stehst du denn am meisten, Tam Tam?“
„Sagt mal, könntet ihr aufhören, über unser Sexleben zu reden? Nur weil ihr keins habt, heißt das nicht, dass ihr unsers auseinander nehmen müsst!“ Empört funkelte Zack Maja an und zog Tam Tam noch ein wenig näher an sich.
„Wieso?“, wollte Maja grinsend wissen. „Habt ihr etwa was zu verbergen?“
„Nein, aber es geht euch nichts an!“
„Pff, so wie du immer angibst, willst du doch geradezu, dass jeder weiß, was bei dir läuft. Und nur zu deiner Info, du bist nicht der Beste im Bett, Tam Tam hatte schon jemand besseres.“ Unschuldig klimperte Maja mit den Wimpern uns sah selenruhig zu, wie Zack rot anlief.
Alex stieß mich von links leicht an und nickte zu den beiden Streithähnen hinüber. „Meinst du, die überleben das heute?“
„Weiß nicht, wenn Maja weiterhin so stichelt, dann wahrscheinlich nicht. Am Ende geht Tam Tam noch drauf…“
„Alex, das hier ist von mir!“ Tim hatte seine Stimme erhoben, um Zack und Maja zu übertönen und warf eine Flasche in Alex‘ Schoß. „Sorry, war zu faul, es einzupacken.“ Entschuldigend zuckte er mit den Schultern. „Außerdem habe ich keinerlei Talent.“
„Du kannst beim nächsten Mal mich fragen“, bot Tam Tam an und hielt Zack auf, der Maja gerade mit einem Stück Kuchen bewerfen wollte.
„Danke, Tim! Meins ist gerade alle geworden.“ Lächelnd stellte Alex das Deo neben sich und nahm dann Majas und Tam Tams Geschenk entgegen. Eine CD seiner Lieblingsband kam zum Vorschein und mein bester Freund fiel den anderen zum zweiten Mal an diesem Tag um den Hals.
Ich glaube, so hatte er sich seinen 18. Geburtstag nicht ausgemalt. Der eigentliche Plan war gewesen, in die nächste Großstadt in irgendeinen Club zu fahren, aber da Alex der Älteste von uns war, wollten wir das Risiko mit den Ausweisen nicht eingehen und außerdem hätten uns Alex‘ Eltern fahren müssen, da ich meinen Führerschein noch nicht hatte und Alex hatte sich dagegen entschieden, seine Eltern mitten in der Nacht als Abholservice zu degradieren. Deshalb hatten wir die ganze Aktion auf nächstes Jahr verschoben, standen dann allerdings vor dem Problem, wie man trotzdem einen coolen Geburtstag feierte. Ohne unser Geschenk wäre die Feier bestimmt auch nicht so schön geworden, andererseits saßen wir als Clique gerne einfach mal nur zusammen und alberten ein wenig herum. Und tanzen und Alkohol trinken konnten wir hier ja auch.
Als Alex seine Umarmungsrunde beendet hatte, zog ich ihn zu mir herunter, sodass nun auch er zwischen meinen Beinen saß und drückte ihm einen schlichten Briefumschlag in die Hand.
Dann sah ich auf und begegnete Majas skeptischen Blick. „Tim und ich müssen uns jetzt aber nicht auch noch so hinsetzen, oder?“
„Freie Platzwahl“, beruhigte Alex sie und öffnete das Couvert. Ich war mir sicher, dass er meinen schnellen Herzschlag an seinem Rücken spüren konnte. Ich hatte ewig überlegt, was ich ihm noch schenken konnte und als er dann die Harry Potter-Sache angesprochen hatte, war mir diese Idee gekommen.
„Als Wiedergutmachung“, flüsterte ich Alex ins Ohr und legte mein Kinn auf seine Schulter.
„Aber … aber…“, stammelte Alex. „Ich … du … Wirklich?“
„Wirklich“, bestätigte ich. „Nur du, ich und ein Zelt, drei Tage lang.“
Ich würde mit Alex per Fahrrad zum Festival fahren. Dann hatte er nämlich nur mich ohne irgendwelche Störfriede mit denen er mich teilen musste. Und andersrum war es genauso. Ich würde lügen, wenn ich dieses Geschenk als vollkommen uneigennützig bezeichnen würde.
„Auf dem Rückweg holt uns alle dann meine Mom ab.“ Tam Tam strahlte über das ganze Gesicht. Sie war in der Geschenksuch- und Vorbereitungszeit wahnsinnig aufgeblüht und ich hatte das Gefühl, dass wir uns jetzt noch besser verstanden, als vorher schon. Sehr zum Leidwesen von Zack, aber er hätte ja auch mitmachen können. Jetzt jedenfalls schien alle Spannung von ihr abzufallen.
„Das ist so mega cool! Von allen von euch. Danke!“ Alex strahlte ebenfalls und umarmte mich wie die anderen zuvor auch, so gut es eben in dieser Position ging. Seine Stirn berührte meine Schläfe und mir wurde automatisch warm. Ich schloss meine Augen und lehnte mich ihm entgegen.
„So, ihr beiden Turteltäubchen, ihr seid ja schlimmer als Zack und Tam Tam und die sind zusammen! Kuscheln könnt ihr später, jetzt wird gefeiert!“ Auffordernd hielt Tim eine Packung Klopfer nach oben.
„Ich nehm‘ die Orangendinger!“ Tam Tam sprang auf.
„Nichts, da. Die muss man sich verdienen. Und ernsthaft jetzt, Orange?“
„Ja, die sind voll lecker!“
„Na, wenn du meinst…“ Tim sah nicht überzeugt aus, stellte die Packung dann aber in die Mitte des Kreises. Oder eher des gedachten Kreises, denn mit vier Punkten konnte man schlecht einen bilden.
Anscheinend fiel ihm das auch auf, denn er sah sowohl Alex und mich als auch Tam Tam und Zack streng an und forderte uns dann auf, uns ordentlich hinzusetzen. „Sonst macht das nämlich alles keinen Sinn.“ Dann holte er noch eine leere Bierflasche sowie eine Karte und legte das Zeug neben die Klopfer in die Mitte.
„Ich wäre ja dafür, dass wir mit Saugen, Blasen, Trinken anfangen.“
*
Etwas Hartes bohrte sich schmerzhaft in meinen Rücken. Grummelnd rutschte ich ein Stück zur Seite, doch der Störfried nutzte den freien Platz nur, um mich weiter zu belästigen, sodass ich schließlich genervt die Augen aufschlug.
„Alex, was ist denn los?“
„Ich hab Kopfschmerzen.“
„Jetzt schon? Es ist mitten in der Nacht.“
„Hm…“
Oh Mann, den Kater vor dem Morgen zu kriegen, bekam auch nur Alex hin. Genauso wie meinen Ärger innerhalb von Millisekunden verpuffen zu lassen. Mistkerl. Ich musste bei ihm immer Schwerstarbeit leisten, damit er mir verzieh. Nicht, dass es da oft etwas zu verzeihen gab.
„Denkst du, du kannst wieder einschlafen?“
Ich spürte sein Kopfschütteln mehr, als dass ich es sah, was nicht zuletzt der Tatsache geschuldet war, dass er direkt hinter mir lag. Wow - er lag hinter mir. Direkt hinter mir. Ja, ich hatte gesagt, ich würde jeden Moment mit ihm genießen, alle eventuellen Berührungen eingeschlossen, aber das war dann doch etwas zu viel des Guten. Ich wollte heute noch schlafen können, da brauchte ich nicht noch mehr Fantasien als ich sowieso schon hatte. Und ja, diese Fantasien waren nicht immer jugendfrei, ich gab es zu. Schuldig im Sinne der Anklage.
Seufzend schlug ich die Decke zurück und krabbelte aus dem Bett.
„Nich‘ weggehen“, maulte es hinter mir und eine Hand wurde nach meinem Arm ausgestreckt.
„Ich komme gleich wieder. Will dir nur ‘ne Aspirin besorgen.“
„Hm… okay. Aber beeil dich - is‘ so kalt hier ohne dich.“
Sagte er und war wieder eingeschlafen. So viel zum Thema, er hatte mörderische Kopfschmerzen. Aber da ich ja nun sowieso einmal stand, konnte ich auch die Tablette holen. Denn dann könnte ich beim nächsten Mal einfach auf seinen, meinen, Nachttisch zeigen und ungerührt weiterschlafen.
Und deinen leidenden besten Freund allein mit seinen Schmerzen lassen.
Überrascht über das plötzliche Wiederauftauchen meines inneren kleinen Teufels schloss ich die Zimmertür wahrscheinlich etwas zu hart hinter mir und bedankte mich bei wem auch immer, dass Tim einen tiefen Schlaf hatte. Glückspilz.
Ach komm, du genießt es doch, Alex zu verwöhnen.
Mit einer Aspirin!? Na, wenn das nicht nach Luxus und Entspannung klang… Aber was redete die Stimme da überhaupt schon wieder? Die sollte schön dahin zurückkriechen, wo ich sie am Dienstag gelassen hatte. Oder war das jetzt die Erinnerung an unseren Deal, dass ich alles was Alex anging, genießen sollte? Tat ich doch.
Jaja, und deshalb bist du auch bei der ersten Gelegenheit aus dem Bett gehüpft. Weil er sich an dich gekuschelt hat.
Ach, halt den Mund, ich würde da ja gleich wieder hin zurückkehren.
Wenig euphorisch schlich ich zu Zacks Zimmer, lauschte kurz an seiner Tür und schlüpfte dann lautlos hinein. Weder Tim noch ich tranken viel Alkohol, deswegen benötigten wir Tabletten wie Aspirin normalerweise nicht. Anders Zack, deshalb hatten wir die Vereinbarung getroffen, dass wir, wenn wir doch mal eine brauchten, einfach zu ihm gehen und uns eine holen konnten.
Zielstrebig huschte ich zu dem Regal, in dem meine Beute lag, und versuchte dabei, über keinen Bücherstapel zu stolpern. Was Ordnung anging, war Zack noch schlimmer als Alex. Und das mochte etwas heißen.
Gerade als ich das Gesuchte gefunden hatte, raschelte es rechts von mir, gefolgt von einem verschlafenen „Wer ist da?“. Mein Hirn brauchte einen Moment - was nicht zuletzt der unmenschlichen Uhrzeit geschuldet war - um zu bemerken, dass es sich nicht um Zacks Stimme handelte und dann noch einen, um zu erkennen, dass es Tam Tams war. Und dann vergingen noch einmal ein paar Sekunden, ehe ich mich an ihre Frage erinnert und eine passende Antwort gefunden hatte. Definitiv zu früh für mich.
„Okay, dann schlaft mal gut.“
„Du auch“, flüsterte ich und verließ das Zimmer grinsend wieder. Wenn das Frau Schmidt wüsste…
Zurück in meinem Zimmer legte ich die Tablette neben mein Bett und weil ich ein guter Freund war, stellte ich auch noch ein Wasserglas daneben. Gefüllt, versteht sich.
So, und nun mach, dass du wieder ins Bett kommst.
Wenn da nicht der Nachsatz Zu Alex. greifbar mitgeschwungen hätte, wäre ich der Stimme fast verbunden gewesen, denn genau da wollte ich doch hin. Gut, zu Alex wollte ich auch, aber bedurfte das jetzt wirklich einer Erinnerung?
Ja.
Ach, leck mich. Entnervt schlüpfte ich unter die vorgewärmte Bettdecke und kuschelte mich an meinen besten Freund. Zufrieden? Als keine Antwort kam, schnaubte ich leise. Wartete ich jetzt wirklich schon auf eine Antwort von mir selbst? Schien so. Aber ganz ehrlich, dass die Stimme gerade jetzt schweigen musste, war schon unfair. Andererseits tauchte sie immer nur dann auf, wenn ich etwas tat, was nicht nach ihrem Willen war, also vielleicht hatte ich gerade ausnahmsweise einmal etwas richtig gemacht.
Und ja, Alex im Arm zu halten, zu spüren, wie er sich an mich schmiegte und leise im Schlaf etwas vor sich hin murmelte, was sich verdächtig nach Ich hab dich lieb anhörte, fühlte sich schon verdammt richtig an.
14. November; Donnerstag
Geschafft. Ich hatte es wirklich geschafft! Lächelnd trat ich ein wenig stärker in die Pedale und bog um die nächste Ecke. Jetzt nur noch dieser Hügel und dann konnte ich endlich von meinem Fahrrad runter. Nachdem ich die Fahrprüfung erfolgreich bestanden hatte, war ich zwar froh gewesen, ein Verkehrsmittel zu benutzen, bei welchem ich schon ein paar Jahre mehr Fahrerfahrung hatte, aber nach 200 Metern hatte sich herausgestellt, dass ich, so aufgekratzt wie ich gerade war, keinen wirklich vertrauensvollen Verkehrsteilnehmer darstellte.
Außerdem sahen mich die Leute alle schon schief an, weil ich wie ein Honigkuchenpferd grinsend auf meinem Fahrrad saß. Eigentlich traurig, dass ein glücklicher Mensch ein komischer Anblick war. Na gut, vielleicht übertrieb ich es mit meiner Glückseligkeit auch etwas.
Als ich den höchsten Punkt des Hügels erreicht hatte und wieder bergab zum Internat fuhr, sah ich auf einem Seitenweg eine ältere Dame mit einem kleinen Hund, die mich feindselig anstarrte. Nur war ich mir sicher, dass es diesmal nicht an meinem Lächeln sondern an der Tatsache lag, dass ich auf einem Fahrrad saß. Wenn das dann mal nicht die Frau war, über die sich Alex andauernd aufregte.
Allein der Gedanke an meinen besten Freund beruhigte mich, doch auch die Erinnerung an Alex‘ schützende Umarmung half nichts gegen meine zitternden Hände. Dass ich noch keinen Unfall gebaut hatte, glich einem Wunder. Andererseits war ich schon den ganzen Tag so nervös, vielleicht gewöhnte sich der Körper auch daran.
Meine Prüfung hat aus Zeitmangel des Prüfers in der Schulzeit gelegen, sodass ich während meiner Mittagspause schon los musste. Normalerweise hätte ich zusammen mit den anderen in der Cafeteria gesessen und Hausaufgaben gemacht, doch da ich keine drei Sekunden still sitzen konnte, war ich gemeinsam mit Tim in unser Zimmer gegangen und hatte dort einen Pfad in unseren Teppich gelaufen. Sehr zur Freude von Tim natürlich und es tat mir auch wahnsinnig leid, weil er sowieso schon nicht gut drauf gewesen war, aber ich hatte es einfach nicht ändern können. So langsam machte ich mir jedoch wirklich Sorgen um ihn. Seit dem Novemberfeuer war er nicht mehr der gleiche. Irgendetwas muss vorgefallen sein, nur hatte ich nicht den blassesten Schimmer, was es sein konnte.
Die Bedenken um meinen Zimmerpartner verflogen allerdings schlagartig, als ich die Einfahrt zum Internat hochfuhr und Alex bei den Fahrradständern warten sah. Sofort war das Grinsen in meinem Gesicht wieder da, ebenso wie das Kribbeln im Magen. Eilig stieg ich ab und kaum hatte ich mein Rad angeschlossen, wurde ich von meinem besten Freund auch schon um die nächste Hausecke gezogen und in seine Arme geschlossen. Augenblicklich verschwand jegliche Nervosität. Realität war eben um Weiten besser, als die bloße Vorstellung.
„Warum bist du nicht bei den anderen drinnen?“, fragte ich Alex, als er mir ein wenig Raum zum Atmen gab.
„Ich wollte der erste sein, der dir gratuliert.“ Seine Antwort bestand quasi nur aus genuschelten Buchstabenaneinanderreihungen, doch da sich sein Mund direkt neben meinem Ohr befand, verstand ich ihn trotzdem. Oder es lag daran, dass ich ihn schon seit Jahren kannte. Wer wusste es schon.
„Ich bin so stolz auf dich“, flüsterte er und seine Lippen streiften meine Ohrmuschel. „Ich wusste, dass du es schaffst.“ Ein wohliger Schauder rann meinen Rücken hinab und genießend schloss ich die Augen. Nur am Rande nahm ich wahr, dass Alex in der Position verharrte und er mir einen federleichten Kuss auf die Stelle unterhalb meines Ohrläppchens hauchte.
Ein leiser Seufzer entwich meinem Mund, bevor ich ihn zurückhalten konnte, doch Alex schien es nicht zu stören, im Gegenteil. Er senkte seinen Kopf und vergrub seine Nase an meinen Hals, ließ dabei jedoch nur bedingt mit seinen Lippen von meiner Haut ab. Ich war mir sehr sicher, dass es eine eher unbewusste Handlung war, doch das änderte nichts daran, dass mein Herz wie wild gegen meinen Brustkorb hämmerte und ich mir wünschte, dass wir noch stundenlang hier draußen stehen würden.
Ein Räuspern riss uns schließlich auseinander. Alex taxierte den Störfried mit bösen Blicken und ich hatte schon die Befürchtung, dass Julian oder Mike hinter uns standen, doch als ich mich umdrehte, erblickte ich nur Tam Tam, die uns lächelnd und mit einem furchtbar wissenden Blick ansah.
„Was ist denn?“, wollte Alex leicht verärgert wissend und ich schaute überrascht zu meinem besten Freund. Was war denn los? Das klang ja fast so, als wäre es ihm alles andere als recht, dass wir gerade bei was auch immer unterbrochen worden waren. Die Vorstellung, dass er doch bewusster gehandelt hatte, als ich angenommen habe, ließ ein glückliches Grinsen auf meinen Lippen entstehen, auch wenn ich wahrscheinlich aufhören sollte, mir allzu viele Hoffnungen zu machen. Doch wie hieß es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Den Leuten, die solche Weisheiten erfanden, sollte man mal ein Privatleben verpassen. War ja schon fast unnormal, wieviel Freizeit die hatten, um sich so etwas auszudenken.
Gedankenverloren musterte ich meinen besten Freund und bemerkte dadurch erst nach einer Weile, dass er mich ebenfalls ansah, genauso wie Tam Tam, nur dass ihr Blick nicht so liebevoll wie der von Alex war.
„Kommt ihr jetzt, Jungs? Es ist euch vielleicht bei eurem Rumgeturtel nicht aufgefallen, aber es ist scheiße kalt hier draußen.“ Auffordernd fuchtele sie mit ihrer Hand Richtung Eingangstür und seufzte dann erleichtert auf, als Alex sich in Bewegung setzte, unsere Finger verschränkte und mich mit sich zog.
Auf dem Weg in die Cafeteria kam die Nervosität von vorhin zurück, zwar bei weitem nicht so schlimm, doch sie war da. Alex schien es zu bemerken, denn er drückte meine Hand ein wenig fester und warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu. Tam Tam, die neben mir lief, hob daraufhin eine Augenbraue und lehnte sich während des Laufens zu mir.
„Und du bist sicher, dass ihr nur Freunde seid?“
Perplex drehte ich meinen Kopf zu ihr. „Was sollten wir sonst sein?“
„Keine Ahnung, aber die Umarmung sah nicht gerade freundschaftlich aus und leugne es nicht, Lukas“, setzte sie hinzu, als ich meinen Mund öffnete, „du hast selbst gesehen, wie Alex dich und wie er mich angesehen hat. Also, was ist das zwischen euch?“
Zum Glück erreichten wir genau in diesem Moment die Cafeteria, sodass ich Tam Tam eine Antwort schuldig blieb. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Ich wusste es ja selber nicht, geschweige denn hatte ich eine Ahnung, was in Alex vorging.
Am Tisch unserer Clique angekommen, wurde ich von allen Seiten erwartungsvoll angesehen.
„Und? Wie ist es gelaufen?“ Aufgeregt setzte Maja sich aufrecht hin.
„Naja“, begann ich bedrückt und lehnte mich leicht an Alex, der neben mir stehengeblieben war. „Hätte besser laufen können.“
„Oh“ Sie sah ehrlich bestürzt aus. „Aber du hast doch bestanden?“
Betreten blickte ich in die Runde. Tim sah mich verständnislos an, Zacks Mundwinkel zuckten, als er zu Maja hinübersah, die zerknirscht ihr Portemonnaie aus ihrer Tasche zog und Tam Tam… Tam Tam grinste von einem Ohr zum anderen, was mich schließlich ebenfalls dazu brachte, ebenfalls über das ganze Gesicht zu strahlen.
Tim sah kurz irritiert zwischen uns hin und her, ehe er aufstand und auf mich zutrat. Sein Lächeln ließ mich noch ein wenig glücklicher werden. Ich hasste es, wenn einer meiner Freunde schlecht drauf war.
„Du bist echt gemein, Lukas. Ich dachte schon sonst was! Herzlichen Glückwunsch!“
„Danke“, grinste ich. „Und sorry wegen vorhin. Es tut mir echt leid.“
„Ach was“, winkte Tim an. „Ich räche mich dann, wenn ich Prüfung habe.“
Lächelnd hielt er mir eine Hand hin und erleichtert schlug ich ein.
„Warte“, stutzte Zack plötzlich. „Du hast bestanden?“
„Habe ich und ich werde dich ewig dafür hassen, dass du nicht an mich geglaubt hast.“
Zacks Mimik schwankte zwischen ehrlicher Reue und Verzweiflung, weil Maja ihn nun ihrerseits auffordernd angrinste.
„Lukas, ich…“
„Schon gut. Ein Freund weniger fällt nicht auf. Ich habe ja noch Maja.“
Wir brachen alle in schallendes Gelächter aus, als Zack sämtliche Gesichtszüge entglitten.
„Du … du ziehst Maja mir vor?“
Ich zuckte mit den Achseln, ließ Alex‘ Hand los und legte ihm stattdessen meinen Arm um die Hüften.
„Also eigentlich ziehe ich Alex euch allen vor.“
„Das will ich doch schwer hoffen“, antwortete mein bester Freund, schnappte sich wieder meiner Hand und zog mich dann zu den beiden noch freien Stühlen. Plötzlich sprang Maja auf und warf sich mir regerecht an den Hals. Lachend hielt ich sie fest, ehe wir beide nach hinten umkippten, auch wenn ich dafür Alex‘ Hand loslassen musste, was mir ganz und gar nicht passte. Seine Miene allerdings, die darauf schließen ließ, dass er ebenso dachte, entschädigte mich dafür und mit einem Lächeln ließ ich die Glückwünsche der anderen über mich ergehen.
*
„Wie ist eigentlich Mathe gelaufen?“
Wir waren, nachdem wir Hausaufgaben gemacht und Abendbrot gegessen hatten, alle in die Sofaecke umgezogen. Maja, Alex und ich hatten die Couch in Beschlag genommen. Irgendwann war Freddy aus der 12 aufgetaucht und hatte sich einfach zwischen uns gequetscht, sodass ich jetzt mehr auf als neben Alex saß. Tim hockte auf einem Sessel und ich fragte mich schon seit Jahren, wie er es schaffte, mit den Fersen das Polster zu berühren. Im gegenüber saß Tam Tam auf Zacks Schoß, der gerade gespannt in die Runde blickte.
„Frag lieber nicht“, stöhnte Maja.
„So schlimm?“, grinste Freddy. „Was war denn das Thema?“
„Komplexe Zahlen.“
„Ach komm, so kompliziert sind die doch nicht.“
„Hast du ‘ne Ahnung“, grummelte Maja.
„Kompliziert nicht, aber komplex, ne?“ Zack zwinkerte Maja kurz zu, die in daraufhin nur den Mittelfinger zeigte.
„Mathe ist eben nicht so meins. Und bei Logarithmen hatte ich schon ohne, dass da ein i drin steht keine Ahnung.“
„Rechnest du bei Logarithmen nicht auch noch mit e?“, fragte Zack stirnrunzelnd.
„Ja, kann sein. Ich glaube, da ist auch noch irgendein Winkel drin, aber ich weiß es doch nicht!“ Maja warf erschöpft ihre Arme in die Höhe. „Ich hab die Arbeit versaut, das steht fest. Können wir jetzt über andere Themen reden? Bitte?“
Mit großen Augen sah sie uns an. Ich fühlte mit ihr, Alex hatte mir nämlich schon erzählt, dass die Arbeit nicht so schön gewesen sein soll. Zack, Tam Tam und ich waren in einem anderen Mathe-Kurs, weil an unserer Schule ein Spitzenkurs für all jene, die sehr gut in Mathematik waren, angeboten wurde und wir wohl auserkoren worden sind, zu diesen Leuten zu gehören. Ich beschwerte mich da nicht, doch ich wusste, dass es Alex lieber gewesen wäre, wenn ich ihm den Stoff gleich im Unterricht hätte erklären können und nicht in unserer spärlichen Freizeit. Nun ja, konnte man nichts mehr ändern und so schlecht, wie er immer behauptete, war mein bester Freund in Mathe nicht.
Ich drehte mich zu Alex und grinste ihn an. Er erwiderte es, doch seine Augenbrauen zogen sich gleichzeitig fragend nach oben.
„Was’n los?“
„Gib einfach zu, dass du ein kleiner Mathe-Streber bist und nur immer so unwissend tust, um mich in den Wahnsinn zu treiben.“
Alex Grinsen nahm daraufhin raubtierhafte Züge an und er raunte mir ins Ohr: „Du hast keine Ahnung, was ich alles tun würde, um dich wahnsinnig zu machen.“
Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem Nacken aus und aus Reflex rutschte ich ein Stück zur Seite. Was zur Hölle? Ich meine, es war ganz klar eine Anspielung gewesen und zwar keine jugendfreie, aber … das war Alex! Mein bester Freund. Seufzend schloss ich die Augen. Ja, dieser Kerl wusste genau, wie er mich wahnsinnig machen konnte, denn gerade eben hatte er es wieder geschafft. Idiot.
„Wusstet ihr eigentlich, dass Frau Roth heiraten wird?“, durchbrach Tam Tam das Chaos in meinem Kopf.
„Was?“, fuhren gleich drei Köpfe entsetzt zu ihr herum. Frau Roth war vor einiger Zeit neu an unsere Schule gekommen und da sie erst Mitte Zwanzig war, sehr beliebt bei der männlichen Schülerschaft. Ich verfluchte den Stich in meiner Brust, als sich Alex darüber echauffierte, dass sie was Besseres als ihren Verlobten verdient hatte und Maja sarkastisch ihn vorschlug. Er war mein bester Freund und stand nun mal auf Frauen. Das wusste ich doch. Nur wurde es irgendwie immer schwerer, diese Tatsache zu akzeptieren.
Ich spürte einen Blick auf mir und drehte meinen Kopf. Freddy saß auf der anderen Seite von Maja und sah mich über ihren Kopf hinweg an. Grinsend deutete er auf die anderen, bei denen eine Diskussion über die Vor- und Nachteile einer Hochzeit ausgebrochen war und schüttelte verständnislos den Kopf. Automatisch verdrehte ich ebenfalls grinsend die Augen, doch mein Hirn lief auf Hochtouren.
Warum beteiligte Freddy sich nicht an dem Gespräch? Jeder Schüler fand Frau Roth nett und es war kein Geheimnis, dass sie vor allem von den Natlern gerne mal als Wichsvorlage genutzt wurde. Außer bei denen, die vergeben oder schwul waren, und meines Wissens nach war Freddy werde das eine noch das andere. Okay, ich war ja auch nur bi und konnte mit der Frau außerhalb des Unterrichts nichts anfangen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie Ethik unterrichtete, mein drittverhasstestes Fach nach Musik und Sport. Wozu brauchte man so einen Käse auch? An einer normalen Schule, ja, aber hier? Es hieß doch nicht umsonst naturwissenschaftliches Spezialgymnasium.
Noch eineinhalb Jahre, dann hast es ja geschafft, du Jammerlappen.
Eineinhalb Jahre, das war noch eine Ewigkeit! Das waren eineinhalb Jahre lang sechs Wochenstunden, in denen ich Selbstmord beging.
Und eineinhalb Jahre, in denen du Alex jeden Tag sehen kannst. Also heule nicht rum sondern dreh dich lieber mal nach links, da sitzt nämlich dein bester Freund und will was von dir.
Grummelnd, weil ich mich selbst offensichtlich als Heulsuse sah, kam ich der Aufforderung des kleinen Teufels nach und fand mich wirklich einem sehr amüsierten Alex gegenüber.
„Darf ich erfahren, was wichtiger ist als meine Wenigkeit?“, fragte er mit blitzenden Augen.
Kurz überlegte ich, legte den Kopf schief und schüttelte ihn dann. Nein, ich glaube, es war besser, wenn Alex nichts von diesen Gedanken erfuhr. Stattdessen erinnerte ich mich an den kleinen Teufel und fragte: „Was wolltest du denn?“
„Deine Aufmerksamkeit.“
Ich nickte. „Die hast du jetzt.“
„Ich weiß“, grinste er und legte seinen rechten Arm auf die Sofalehne. „Und damit das so bleibt…“ Seine Stimme war leiser geworden und mir schwante böses, als ich plötzlich etwas Warmes an meine, Nacken fühlte. Erschrocken quietschte ich auf und sicherte mir damit auch sofort die Aufmerksamkeit der anderen, die mich teils verwirrt, teils belustigt musterten.
Ich spürte, wie meine Wangen rot wurden und suchte fieberhaft nach einer Ausrede, nur leider kannten mich meine Freunde gut genug, um zu wissen, dass keine Spinne schuldig gesprochen werden konnte.
Tam Tam zog misstrauisch eine Augenbraue nach oben, was mir nicht gerade half, schnell irgendetwas zu finden, dass mich nicht wie ein Mädchen aussehen ließ. Ja, böses Vorurteil, ich weiß.
Und trotzdem hat der liebe Gott dich lieb, denn schau mal, wer da kommt…
Irritiert wandte ich meinen Blick von Tam Tam ab und seufzte erleichtert auf. Das war das erste Mal, dass ich froh war, Julian zu sehen. Und es würde definitiv das letzte bleiben.
Ich wollte gerade gänzlich die Aufmerksamkeit von mir schieben, als mir Mike auch schon zuvorkam.
„Na, ihr Schwuchteln?“, begrüßte er uns. „Alles fit im Schritt?“
„Sorry, bei deinem Anblick ist da gerade alles abgestorben.“ Herausfordernd sah Freddy Julians besten Freund an, der daraufhin puterrot anlief. Ich grinste in mich hinein und lehnte mich nach hinten. Offensichtlich waren wir nicht die einzigen, die Mike nicht leiden konnten.
Der hatte sich jedoch wieder gefangen und schenkte seine Aufmerksamkeit nun Tim, der stur auf den Boden sah.
„Ach Timmy, du bist doch nicht immer noch wegen der Sache vorhin sauer?“
Sache? Welche Sache? Irritiert sah ich mich zu Alex um, der zuckte jedoch auch nur ahnungslos mit den Schultern.
„Die kleine Jungfrau ist bestimmt nur neidisch“, ergriff jetzt ein anderer Typ aus der Clique das Wort. Paul, glaube ich.
„Lass gut sein, Ollie, die sind es nicht wert.“
Okay, dann doch nicht Paul. Aber hatte Julian nicht genau diese Worte auch benutzt, als die Jungs uns beim Novemberfeuer blöd angemacht hatten? Wieso nutzte er Ollies Aussage nicht als Vorlage für die nächste Beleidigung? Wieso blieb er so ruhig und sah eigentlich nur müde, erschöpft und ein kleines bisschen genervt aus? Was machte das für einen Sinn?
Plötzlich war das Warme in meinem Nacken wieder da, nur diesmal schreckte ich nicht weg, sondern kuschelte mich an Alex‘ Schulter. Berührungen genießen, hieß mein Motto, nicht vor ihnen weglaufen. Und was gab es besseres, als sich von weichen Fingern den Nacken kraulen zu lassen? Vor allem, wenn an diesen Fingern eine ganz bestimmte Person hing?
„Mann, Julian! Wenn du keinen Bock hast, dann hau halt ab, aber lass uns in Ruhe unser Ding machen!“
Mikes Tonfall ließ mich aufhorchen. Das klang nicht gut.
„Ärger im Paradies?“, stichelte Tam Tam und grinste provozierend.
„Halt den Mund, du Schlampe. Das geht dich `nen feuchten Scheißdre-“
Weiter kam er nicht, denn Zack war aufgesprungen und verpasste ihm eine.
„Niemand nennt meine Freundin eine Schlampe, klar?“, knurrte er.
Mike wich ein Stück zurück und blickte, als er weit genug von Zack entfernt war, wieder zu Tim, der schnell seinen Blick von Julian anwandte.
„Wir sprechen uns noch und glaube mir, dieses Gespräch wird sehr befriedigend verlaufen. Für mich zumindest.“ Dann grinste er noch einmal höhnisch, warf Zack einen bösen Blick zu und verschwand zusammen mit den anderen aus dem Raum.
„Julian? Wenn du es bei deinen nicht vorhandenen Hirnaktivitäten nicht bekommen haben solltest, deine Idioten von Freunden sind gerade gegangen. Also hopp hopp, verzieh dich!“
Tam Tam zeigte auffordernd Richtung Tür. Julian musterte sie einige Sekunden lang, als ob er wirklich nicht wusste, was sie gerade von ihm wollte, dann ging ein Ruck durch ihn und er verkrümelte sich ebenfalls. Den Blick, den er Tim an der Tür noch einmal zuwarf, entging mir jedoch nicht.
„Was, denkst du, ist da los?“, fragte Alex leise, als sich alle wieder halbwegs beruhigt hatten.
„Ich habe absolut keine Ahnung. Am besten, ich rede mal mit Tim.“
„Hm…“ Sein Kopf rutschte auf meine Schulter und bescherte mir damit eine Ladung Schmetterlinge im Bauch und eine hochgezogene Augenbraue von Tam Tam. So langsam wurde es echt gruselig.
„Was ist denn los?“, fragte ich an sie gewandt.
„Nichts, nichts. Ich erfreue mich nur immer wieder an euren innigen freundschaftlichen Aktivitäten.“
„So langsam solltest du dich da eigentlich dran gewöhnt haben“, kam es von meiner Schulter und ließ mich grinsen.
„Vielleicht, aber irgendwie hat das in letzter Zeit zugenommen.“
„Boah, Tam Tam, du weißt, dass ich dich liebe, aber könntest du mal aufhören, andauernd von den beiden da zu reden? Es reicht, wenn ich mir im Unterricht tagtäglich ansehen muss, wie sie Händchenhalten.“
Ich verzog das Gesicht. Das hatte die Situation jetzt nicht besser gemacht… Nun sah auch schon Tim fragend zu Alex und mir.
„Leute, lasst die zwei doch machen. Ihr Mädchen kuschelt auch andauernd.“
Erleichtert blickte ich zu Freddy, der mir kurz zuzwinkerte und dann das Gespräch auf die Weihnachtsfeier lenkte.
„Wann genau ist die nochmal?“, wollte Zack wissen und schlang seine Arme um Tam Tams Bauch.
„Am 14.“, antwortete Maja.
„Heute?!“
„Klar“, grinste Alex. „Wir haben doch schon immer am 14. November unserer Weihnachtsfeier veranstaltet. Hast du das etwa vergessen?“
Anklagend sah er Zack an, der panisch zwischen Alex, Maja und mir hin und her blickte.
„Wirklich, Zack“, mischte sich jetzt auch Freddy ein. „Hast wohl immer zu viel getrunken?“
„Leute, ohne Scheiß jetzt! Die ist wirklich heute?“
„An einem Donnerstag, eineinhalb Monate vor Weihnachten, beginnend um Neun, damit wir morgen alle schön fit für die Physik-Kursarbeit sind. Ja Zack, die Weihnachtsfeier hat vor fünf Minuten angefangen, deswegen wimmelt es hier auch von Leuten und Dekorationen.“
Es war fast schon gruslig, wie monoton Tims Stimme klang und wie gelangweilt er in Zacks Richtung schaute. Da war mir das Schweigen fast lieber.
„Ihr seid doch alle doof.“ Maulend verschränkte Zack seine Arme vor der Brust.
„Ähm, wir wussten, dass die Feier erst im Dezember stattfindet.“ Grinsend erhob sich Freddy und prostete und zu. „Ich bin dann mal kurz weg. Vielleicht sieht man sich heute noch. Wenn nicht, dann viel Erfolg morgen.“
„Danke, war schön, dass du dabei warst.“
„Jep, müssen wir öfter mal machen.“
Die beiden Mädchen winkten Freddy zum Abschied, der Rest von uns begnügte sich mit einem Handheben. Sollte ja nicht in Arbeit ausarten.
„Die Feier ist am Samstag vor der Ferien, oder?“, fragte Maja und legte ihre Beine auf das Sofapolster.
Jetzt, da Freddy weg war, hatten wir wieder Platz auf der Couch, doch ich war nicht gewillt, meine Position aufzugeben und Alex schien auf meiner Schulter einen perfekten Schafplatz gefunden zu haben, deshalb überließ ich Maja die eine Sofaseite.
„Ja, wir haben danach noch eine Woche Schule. Keine Ahnung, warum die Feier nicht auf den Freitag direkt vor den Ferien gelegt worden ist.“ Tam Tam schüttelte verständnislos den Kopf. Perfektes Planungstalent der Schulleitung würde ich behaupten.
Lächelnd blickte auf den braunen Haarschopf links von mir und legte nun meinerseits einen Arm um seine Schultern. Alex quittierte die Geste mit einem kleinen Seufzer und rutschte noch ein Stückchen näher an mich heran. Das Leben konnte so schön sein…
Es könnte noch sehr viel schöner sein, wenn du endlich mal den ersten Schritt machen würdest.
Nichts da, das war nicht Teil des Deals.
Abmachungen kann man ändern, Schätzchen. Vor allem, wenn sich die Sachlage ändert!
Die Sachlage hat sich aber nicht geändert!
Nicht? Dann muss ich mir die Herzchen in deinen Augen, die immer dann auftauchen, wenn du Alex sieht, wohl eingebildet haben. Sorry, mein Fehler.
Jaja, Sarkasmus ließ grüßen. Und nein, ich würde mich hüten, den ersten Schritt zu gehen, immerhin wollte ich Alex nicht verlieren.
Und die Herzchen in seinen Augen waren dann wohl auch eine Halluzination…
Genau so war es. Alles andere wäre zu schön. Aber für den Fall, das. Würde ich auf Alex zugehen? Konnte ich das?
Grübelnd legte ich meinen Kopf auf seinen und streichelte sanft über seinen Arm. Reichte es nicht, wie es war? Ein bisschen Kuscheln hier, ein innige Umarmung da? Okay, tat es nicht. Aber da Alex nichts von mir wollte, was über eine enge Freundschaft hinausging, musste ich mir die Frage eigentlich gar nicht stellen.
Na, wenn du meinst…
15. November; Freitag
- Tam Tams Sicht -
Kunsthefter - check. Deutschreferat - eingepackt. Physik… Bloß nicht dran denken! Trotzdem mitnehmen. Also ab mit dem grauen Hefter in die Tasche. Fertig. Zufrieden schulterte ich meinen Rucksack und versuchte dabei neben der anstehenden Physikkursarbeit Zacks Unordentlichkeit ebenfalls zu verdrängen. Es würde mich nicht wundern, wenn ihm mitten in der Stunde auffällt, dass er etwas vergessen hat. Vorzugsweise das Referat. Gemacht hat er es und es klang auch richtig gut, was er geschrieben hatte, nur brachte ihm sein schriftstellerisches Talent rein gar nichts, wenn er seine Arbeiten andauernd vergaß. Zum Glück wohnten wir im Internat. Ich wollte mir nicht ausmalen, was passieren würde, wenn sein Nachhauseweg länger als 300 Meter war.
„Du gehst schon?“
Nadine sah von ihrem Buch auf. Sie, Maja und ich teilten uns ein Zimmer und es war eigentlich richtig cool. Wir verstanden uns alle und hatten auch einigermaßen die gleichen Schlafgewohnheiten. Und wenn es mal nicht funktionieren sollte, konnte ich ja immer noch zu Zack.
„Ja, ich wollte mir von Lukas noch was erklären lassen.“
„Physik?“ Ein mitleidigerer Blick streifte mich.
„Jep.“
Keine Ahnung, wie ich auf die Idee gekommen war, sechs Stunden Physik die Woche zu machen, doch da konnte ich jetzt auch nichts mehr ändern. Und so schlimm war es ja auch nicht. Ich glaube, Lukas bereute seine Musikeinwahl mehr und das waren immerhin nur zwei Wochenstunden.
„Viel Glück“, wünschte mir Nadine, als ich das Zimmer verließ.
„Danke.“
Der Kurs war ja auch recht lustig. Lukas, Alex, Tim und ich waren ein eingespieltes Team. Auf Julian und Paul hätte ich zwar verzichten können, doch so lange sie ihre Klappe hielten, war alles im grünen Bereich. Mike machte Gott sei Dank Info als Leistungskurs, was Zack zwar regelmäßig zum Ausflippen brachte, doch für uns ganz gut war. Maja kämpfte sich durch ihren Chemiekurs durch und blieb von allen Juliandeppen verschont, denn Ollie hatte sich bei Bio eingepflanzt, warum auch immer. So naturinteressiert sah er nicht aus.
Und viel mehr Elfer waren wir nicht im Internat. Nadine hatte sich ebenfalls für Chemie eingetragen, genauso wie ihre Freundin Sophia. Deren Zimmerpartnerin Caro saß währenddessen neben Ollie in Bio und wenn die beiden nicht zusammen gewesen wären, hätte ich sie vielleicht sogar fast sympathisch gefunden. Fast. Wahrscheinlich war sie der Grund, warum Ollie sechs Stunden die Woche Mitose, Evolutionstheorien und Wirbeltierklassen über sich ergehen ließ.
Eigentlich konnte es mir egal sein. Es gab wichtigeres, wie zum Beispiel die anstehende Kursarbeit. Ich ging den Gang, in dem die Mädchen wohnten, hinunter, an der Treppe vorbei, hin zu unseren Jungs. Die aus der Zwölften waren auf unserer Seite untergebracht, allerdings führte der Gang vorher um eine Ecke. Wir waren also praktisch von Jungs umzingelt, doch das schien Frau Schmidt nicht zu stören und die Nachtwachen waren anscheinend zu faul, die Treppen zu uns hochzukommen, denn es interessierte hier niemanden, wer bei wem übernachtete.
Als ich Zimmer 4 passierte, öffnete sich die Tür und Paul stürmte rüber zu Julian in Zimmer 5. Sein Gesichtsausdruck ließ mich grinsen. Da schien einer keinen guten Tag erwischt zu haben… Zimmer 3 gehörte meinem wunderbaren Freund und ich sah es als eine Fügung des Schicksals, dass er ein Einzelzimmer besaß. Mit zwei anderen Personen im Raum war es verdammt schwer, ein Liebesleben zu führen. Aber genug der schmutzigen Gedanken, mein Ziel war genau vor mir. Lukas und Tim stand auf dem Schild neben der Tür, direkt unter der 2. Zimmer 1 war momentan unbewohnt. Da es ein wenig abgelegen lag und eine Zeit lang einen ziemlich schrägen Zwölfer beherbergte, wurde es von uns Natlern auch gerne als Gummizelle bezeichnet. Mal sehen, wer als nächstes die Ehre hatte, darin zu wohnen.
Ich hob meine Hand und klopfte. Kurz darauf öffnete Tim mir erwartungsvoll die Tür, seine Mimik schlug jedoch in Enttäuschung um, als er mich erkannte.
„Soll ich das jetzt persönlich nehmen?“, fragte ich gespielt beleidigt.
„Was? Nein, ich hatte gehofft, du wärst Lukas. Ich hab da noch eine Frage wegen Physik.“
„Willkommen im Club, deshalb bin ich hier. Heißt das, er ist mal wieder verschwunden?“
„Sieht ganz so aus. Hatten die beiden gestern gesagt, wo sie hin wollen?“
Ich schüttelte den Kopf und wartete, bis Tim seine Sachen zusammengepackt hatte. Dann machten wir uns gemeinsam auf die Such nach den zwei Verschollenen.
Wenn Alex bei Lukas übernachtete, schliefen die beiden nicht immer in Zimmer 2. Warum auch immer - denn Zeit, unter sich zu sein, hatten sie genug - suchten sie sich dann eine andere Schlafmöglichkeit, um dort dann wahrscheinlich sonst was zu treiben. So viel also wieder zum Thema, sie seien nur Freunde. Schon allein, mit welcher Begründung sie gestern Abend abgehauen waren. Erst hatten sie die ganze Zeit getuschelt, das Kuscheln gehörte ja schon zum Standardrepertoire, dann war Alex grinsend aufgestanden, hatte sich Lukas geschnappt und augenbrauenwackelnd etwas von „Physik lernen“ und „wahnsinnig machen“ angedeutete, was sich verdammt noch mal eindeutig zweideutig angehört hatte. Und dann waren die beiden einfach sonst wohin verschwunden! Das war zum verrückt werden. Das -
„Will ich’s wissen?“ Tim sah mich schief von der Seite her an.
„Unser Dreamteam.“
„Ah ja.“ Er nickte bedächtig. „Und was da genau?“
„Alles. Gestern, vorgestern, die ganze Zeit eigentlich schon.“
„Du denkst, da läuft was?“ Zweifelnd hob er eine Augenbraue.
„Nenn es weibliche Intuition…“, zwinkerte ich und schob den verdutzten Tim dann die Treppe hinunter, auf deren halbe Höhe ein kurzer Gang mit drei Zimmern abzweigte, die als Abstellkammern benutzt wurden.
„Du glaubst wirklich, die sind hier?“ Angeekelt pustete Tim den Staub von der ersten Türklinke.
„Sag nicht, du bist so ne Diva wie Mike und rennst vor jedem Krümel davon.“
Ein sehr sehr böser Blick traf mich.
„Wenn auf der Klinke Staub liegt, waren sie nicht hier, es sei denn, sie können neuerdings durch Wände gehen.“
„Ist ja gut“, beschwichtigte ich ihn. „Aber hier liegt kein Staub auf der Klinke.“
Triumphierend zeigte ich auf die Tür links von uns.
„Na dann, du gehst zuerst.“
„Angst, dass ich doch Recht hatte?“, neckte ich ihn.
„Nein…“
Na, überzeugt klang anders…
Dennoch klopfte ich vorsichtshalber an und wartete 30 Sekunden, als keine Antwort kam. Nur für den Fall der Fälle. Dann öffnete ich die Tür vorsichtig einen Spalt breit und spähte in den Raum. Haufenweise übereinandergestapelte Stühle, Tische und Kartons. Jede Menge Staub und … kein Lukas. Kein Alex.
Ich schob die Tür weiter auf und trat ein, dicht gefolgt von Tim. Als wir uns dem von der Tür nicht einsehbaren Teil des Raumes näherten, bedeutete ich Lukas‘ Zimmerpartner stehenzubleiben, der das auch sofort tat. Grinsend lugte ich um die Ecke und schmunzelte augenblicklich noch mehr. Da lagen sie, eng aneinandergekuschelt unter einer Decke, Alex hatte seinen Arm um Lukas gelegt und seine Nase in dessen Haaren vergraben und beide lächelten selig vor sich hin. Klar, dass da nichts lief. Jetzt hatten sie mich definitiv überzeugt. Hust hust.
Ein gemurmeltes „Shit“ hinter mir erinnerte mich wieder daran, dass Tim ja auch noch da war.
„Glaubst du es mir jetzt?“, flüsterte ich.
„Nein.“
Ich grinste. „Nicht?“
„Nö, die kuscheln andauernd und zwar auch im Schlaf. Das hat rein gar nichts zu sagen.“
Wie ein kleines Kind, das von seiner Meinung absolut überzeugt war, verschränkte er seine Arme vor der Brust. Fehlte nur noch das Aufstampfen mit dem Fuß. Ich seufzte. Irgendwann würde er es schon noch einsehen.
„So ungern ich dieses Bild - warte.“ Schnell zog ich mein Handy aus der Hosentasche und hielt diesen supersüßen Augenblick fest. Sicher ist sicher. „Auch zerstören möchte, wenn wir Physik vor der Arbeit noch erklärt bekommen wollen, sollten wir sie jetzt aufwecken.“
„Soll ich kaltes Wasser holen?“
„Bloß nicht, ich will zuschauen, wie die beiden langsam wach werden. Vielleicht gibt’s ja einen Guten-Morgen-Kuss.“
„Du bist unmöglich!“, stöhnte Tim, zog sich aber auf den mitten im Raum stehenden Tisch zurück. Ich ging derweil auf die zwei schlafenden Idioten zu und rüttelte vorsichtig an Alex‘ Schulter. Als dieser sich leicht bewegte, wiederholte ich das Ganze, bis ein gemurmeltes „Gleich“ aus seinem Mund kam. Na also, ging doch. Dann setzte ich mich zu Tim und wartete.
„Und du denkst wirklich, das funktioniert?“
„Mann, bist du heute skeptisch! Hab ein wenig Vertrauen in mich, auch wenn ich ehrlich gesagt keine Ahnung habe, aber einen Versuch ist es wert.“
Lächelnd registrierte ich das tiefe Seufzen von rechts und beobachtete mit Argusaugen die beiden Jungs. Alex grummelte noch einmal irgendetwas vor sich hin, zog Lukas dann noch fester an seine Brust, atmete einmal tief ein und öffnete anschließend verschlafen seine Augen. Lächelnd betrachtete er Lukas‘ schlafendes Profil und strich im dann liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht.
Langsam lehnte ich mich zu Tim und wisperte: „Ich revidiere das mit dem Guten-Morgen-Kuss. Das hier ist tausendmal besser.“
Und Tims leidende Mine setzte dem Ganzen noch die Sahnehaube auf. Da sage mal noch einer etwas gegen die Intuition von Frauen.
Alex‘ Blick klärte sich derweil ein wenig und als er sich leicht orientierungslos im Raum umsah, blieb sein Blick irritiert an uns hängen. Dem Stirnrunzeln entnahm ich mal, dass ihn die ganze Situation etwas überforderte.
„Guten Morgen“, sprach Tim ihn an, woraufhin er ein gegähntes „Morgen“ erntete.
„Zeit zum Aufstehen“, grinste ich.
„Hm…“ Schläfrig kuschelte sich Alex wieder an Lukas‘ Rücken. „Geht schon mal vor, wir kommen gleich.“
Tim rutschte vom Tisch und griff nach seiner Tasche. Ein wenig zu schnell, um unauffällig zu wirken.
„Okay, aber nicht wieder einschlafen! Es ist wichtig.“
Auffordernd hielt er mir seine Hand hin.
„Aber…“, protestierte ich. Ich wollte doch hierbleiben!
„Komm schon, Tam Tam, lassen wir den beiden noch ein wenig Zeit.“ Und an Alex gerichtet, fügte er hinzu: „Wir warten draußen vor der Tür. Wenn ihr in fünf Minuten nicht da seid, kommen wir nochmal.“
„Hm…“, kam es wenig begeistert von irgendwo unter der Bettdecke.
„Na schön“, gab ich schließlich bei. Irgendwann würde ich schon noch meinen Kuss bekommen. Und Tims Reaktion war ja verständlich. Irgendwie. Ich würde zwei kuschelnde Mädchen wahrscheinlich auch nicht so spannend finden…
*
Die beiden hatten es wirklich geschafft, sieben Minuten nachdem wir den Raum verlassen hatten, aus der Tür zu treten. Ziemlich zerknautscht und auch nicht gerade super gut gelaunt, aber immerhin so ansprechbar, dass sie verstanden, was unser Problem war und dass der Unterricht bald anfing.
Also waren Tim und ich Lukas in sein Zimmer gefolgt, der uns auf dem Weg, so gut wie in seinem Zustand möglich, versucht hatte, Physik zu erklären. Ich fragte mich langsam wirklich, was die beiden gestern Abend noch gemacht hatten, denn es war nicht so spät gewesen, als sie verschwunden waren. Aber immerhin hatte ich es jetzt halbwegs verstanden. Oder auch nicht. Die Aufgabe zu dem Thema hatten wir so ähnlich schon einmal im Unterricht gelöst und trotzdem saß ich seit zehn Minuten hier, ohne der Lösung auch nur einen Schritt nähergekommen zu sein. Was soll’s, den Rest hatte ich halbwegs hingekriegt. Hoffte ich zumindest.
Als es zum Stundenende klingelte und wir die Arbeiten abgeben mussten, atmete ich erleichtert auf. Jetzt war alles egal, denn ändern konnte ich nichts mehr. Also aus den Augen, aus dem Sinn.
„Hat’s halbwegs geklappt?“, wollte Lukas auf dem Flur von uns wissen.
„Ich denke. Die Aufgabe mit dem Thema, das du uns vorhin erklärt hast, habe ich zumindest gelöst. Ob’s richtig ist, werden wir sehen.“
„Bei mir isses genauso“, stimmte Alex Tim zu und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche.
„Und bei dir?“ Lukas‘ Blick richtete sich auf mich.
„Hab alles bis auf die Aufgabe. Ist aber nicht schlimm.“
Ich winkte ab. Schlechter als drei sollte es nicht werden und das war die Hauptsache.
„Holst du Alex morgen wieder vom Schwimmtraining ab?“, wechselte Tim das Thema und sah dabei zu Lukas.
„Hatte ich eigentlich vor, wieso?“
„Ähm… Naja, also… Kann … kann ich mitkommen?“
Ein leichter Rotschimmer überzog seine Wangen. Er war doch sonst nicht so schüchtern…
„Klar kannst du mitkommen“, antwortete Alex. „Ich freue mich über jeden Bewunderer.“
„Äh, ja.“ Unsicher sah Tim sich um. „Danke.“
„Kein Ding.“
Wir erreichten unseren Klassenraum und ließen uns auf unsere Plätze fallen. Doppelstunde Deutsch bei unserem Kursleiter. Nach Physik war das Entspannung pur. Wenn man davon absah, dass sie alle Internatler in einen Stammkurs gepackt hatten. Aber Julian hatte die Güte besessen, sich ans andere Ende des Klassenraumes zu setzen, sodass wir sie zumindest bei ihren „Privatgesprächen“ nicht zu hören brauchten.
„Guten Morgen!“ Herr Jansen, besagter Kursleiter, betrat ein wenig gehetzt den Raum und stellte seine Tasche auf das Lehrerpult. „Bitte setzt euch, wir haben etwas zu besprechen.“
Dabei warf er Mike einen scharfen Blick, der diesen finster erwiderte.
„Denkst du, es fällt auf, wenn ich aufstehe und verschwinde?“, fragte ich Zack. „Ich habe nämlich das Gefühl, dass ich es nicht wissen will.“
„Oh doch, das willst du wissen.“ Grinsend tippte er Maja, die eine Reihe vor uns saß, auf die Schulter. „Wetten, er bekommt nen Schulverweis?“
Ebenfalls grinsend drehte sie sich um.
„Fünf Euro dagegen. Das reicht höchstens für eine Verwarnung.“
„Wisst ihr, was passiert ist?“, schaltete sich jetzt Alex neugierig in das Gespräch mit ein.
„Nicht genau“, begann Zack. „Aber es gehen Gerüchte herum, dass es einen ziemlich heftigen Streit gegeben haben soll.“
„Und Mike ist dann anscheinend ausgeflippt und handgreiflich geworden.“ Maja sah besorgt zu Julian hinüber, der sich ein Kühlkissen auf sein rechtes Auge hielt.
„Autsch.“ Da tat er selbst mir leid. „Aber warum sollten die beide sich zoffen?“
„Wahrscheinlich wegen einem Mädel. Wenn es zwischen Jungs Streit gibt, ist doch immer ein Mädchen Schuld.“
Lachend boxte Alex Maja in die Seite, die ihn daraufhin böse anfunkelte. Wie gut, dass er offensichtlich nicht an Mädchen interessiert war, bei der Dramaqueen wollte ich mir einen eventuellen Streit gar nicht erst ausmalen. Andererseits würden Lukas und Alex nicht wegen eines Mädchens streiten. Hoffte ich zumindest.
„Ruhe jetzt!“ Herr Jansen hob seine Stimme. „Wie ich den Gesprächen in diesem Raum entnehmen konnte, wissen einige von euch schon bescheid. Also wenn die beiden Herren“, er sah zu Julian und Mike, „so freundlich wären, alle auf den gleichen Stand zu bringen?“
Mike schnaubte jedoch nur abwertend und verschränkte seine Arme vor der Brust. Julian sah starr auf den Boden und machte ebenfalls keine Anstalten, irgendetwas zu sagen. Herr Jansen seufzte.
„Bitte, Julian, es ist einfacher, wenn einer von euch beiden das wiederholt.“
Julian hob langsam seinen Kopf, blickte Herr Jansen in die Augen und ich hatte das Gefühl, dass die beiden gerade mental miteinander ausfochten, wer die Geschichte erzählen sollte, denn wenn Julian es nicht tat, würde es Herr Jansen tun müssen, denn aus Mike war, wenn der das nicht wollte, kein Ton herauszubringen und das wussten die Lehrer.
Anscheinend hatte Herr Jansen gewonnen, denn Julian seufzte geschlagen und nahm das Kühlpad von seinem Gesicht. Tim, der auf Zacks anderer Seite saß, zischte leise.
Julians Wange war leicht geschwollen und um sein Auge hatte sich ein schönes Veilchen gebildet. Zudem war seine Lippe aufgeplatzt. Aua. Worum auch immer es in dem Streit gegangen war, es musste wichtig gewesen sein.
„Also“, begann Julian nach einem Räuspern. „Eigentlich gibt es nicht viel zu erzählen. Mike und ich hatten eine Meinungsverschiedenheit, wie es unter Freunden normal ist.“
Bei dem Wort „Freunden“ schnaubte Mike abermals. Julian warf ihm einen kurzen verletzten Blick zu und fuhr dann fort.
„Und wir haben uns eben immer weiter in die Sache reingesteigert und dann ist das da“, er deutete auf sein Gesicht, „dabei rausgekommen. Ende der Geschichte.“
Entnervt lehnte er sich zurück.
„Julian, ich glaube, das konnten wir alle soweit sehen. Aber was ich immer noch nicht verstanden habe, ist, worum es denn überhaupt ging.“
Herr Jansen war in die Mitte des Klassenraumes getreten.
„Das geht Sie nichts an.“
„Wenn Schüler geschlagen werden, geht mich das sehr wohl etwas an. Vor allem, wenn diese Schüler Teil meiner Klasse sind.“
Julian zuckte mit den Schultern und sah wieder auf seine Bank. Herr Jansen seufzte abermals und drehte sich dann in unsere Richtung.
„Nun gut, wenn die beiden nicht reden wollen, vielleicht kannst Du uns dann sagen, worum es ging?“
Fast schon flehend sah er zu … Tim? Der schien genauso verdutzt zu sein, denn sein erster Reflex war, sich überrascht umzudrehen, doch der Platz hinter ihm war leer. Was sollte Tim denn mit der Sache zu tun haben?
Verwirrt fragte dieser: „Ich verstehe nicht ganz, woher soll ich denn wissen, was passiert ist?“
„Ich habe nicht viele Informationen, aber Frau Schmidt hat deinen Namen erwähnt, deswegen gehe ich mal davon aus, dass es durchaus möglich ist, dass du Teil des Streitgespräches warst.“
Hä? Es würde mich nicht wundern, wenn über meinem Kopf ein dickes fettes Fragezeichen schwebte und die anderen aus der Klasse - von Julian und Mike einmal abgesehen, die immer noch finster vor sich hinstierten - sahen auch nicht erleuchteter aus. Warum zur Hölle sollten sich Julian und Mike um Tim streiten? Julian und Mike. Um Tim. That made no sense. Wobei die Vorstellung, wie die beiden größten Machos sich um unser kleines Timmilein zofften, durchaus etwas hatte. Sah dieser offenbar nicht so, denn er blickte ziemlich irritiert und nicht gerade glücklich zwischen Julian und Mike hin und her.
Herr Jansen holte tief Luft und ließ seinen Blick dann über den Rest von uns schweifen.
„Da ich bezweifle, dass irgendjemand hier reden wird, würde ich sagen, wir verschieben das Ganze und fahren jetzt mit dem Unterricht fort. Wenn euch etwas einfallen sollte oder ihr etwas erfahrt, wäre es nett, wenn ihr damit zu mir oder Frau Schmidt kommen würdet. Und wir drei“, er sah zu Julian und Mike, „wir sprechen uns nach dem Unterricht noch. Und zwar im Büro des Rektors. Verstanden?“
Er wartete bis beide genickt oder zustimmend gemurrt hatten und wandte sich dann der Tafel zu. Getuschel kam auf und ich nutze den Moment der Unruhe und lehnte mich vor, um Alex auf die Schulter zu tippen. Fragend drehte er sich zu mir um.
„Was’n los?“
„Können wir nachher reden?“
„Wir?“ Skeptisch hob er eine Augenbraue. „Machst du Schluss?“
„Nein“, grinste ich und deutete auf Tim. „Bring Lukas mit.“
„Okay, dann wäre es vielleicht am besten, wenn wir die beiden in ihrem Zimmer heimsuchen.“
„Klingt nach einem Plan.“
Der hoffentlich funktionieren würde. So ganz sicher, dass Tim kooperieren würde, war ich mir da nämlich nicht. Dass er von dem Streit eine Ahnung hatte, bezweifelte ich zwar, aber die Bemerkung von Mike gestern Abend über das befriedigende Gespräch ließ mich einfach nicht los. Irgendetwas war da und es lief alles andere als gut.
16. Novmeber; Samstag
„Nun kommt schon! Selbst meine 95-jährige Oma ist schneller als ihr Lahmärsche! Los!“
Laut brüllend und wild gestikulierend stand der Trainer am Beckenrand und ich bewunderte ihn wieder einmal für seinen ausschweifenden Wortschatz an vergleichenden Beleidigungen und Schimpfwörtern. Neben mir auf der Zuschauertribüne saß Tim und beobachtete die schwimmende Meute und ich musste mir ein Grinsen verkneifen, als ich sah, dass er im Endspurt für irgendjemand unbewusst die Daumen drückte. Ich selbst hatte es mir abgewöhnt, weil ich die Ausgänge in den verschiedenen Schwimmstilen mittlerweile auswendig kannte. Nicolas war eigentlich immer Erster, aber der hatte auch vor, später Leistungssportler zu werden. Um die Plätze zwei bis vier stritten sich dann mein bester Freund, Kai und Julian. Zu meiner Erleichterung gewann meist Alex die Zweikämpfe gegen Julian und wenn es doch einmal nicht so sein sollte, dann ärgerte sich Alex fünf Minuten lang und schlug Julian beim nächsten Mal wieder. Nur im Schmetterlingsschwimmen war mein bester Freund regelmäßig auf Platz vier zu verzeichnen, denn - ich zitiere - „bei diesem Schwachsinn an Haltungsregeln kann man sich ja gar nicht mehr aufs Schwimmen konzentrieren. Ich meine, sind wir hier beim Ballett?“ Und dann folgte eine ellenlange Aufzählung an allerlei Regeln, die man zu beachten hatte, wenn man diesen Schwimmstil praktizierte*, gespickt mit nicht weniger Verwünschungen. Es war jedoch die Erkenntnis meinerseits, dass Alex sagen konnte was er wollte und wie er es wollte, ich liebte den Klang seiner Stimme und würde - beziehungsweise habe es an jenem Tag getan - mit ihr in den Ohren überall einschlafen können, was in meinem Hirn am meisten haften geblieben war. Und der süße Anblick von einem schmollenden Alex, als ich wieder aufgewacht war.
„Was war denn das für eine Gurke? Niels, wir sind hier nicht beim Gemüseernten, also streck gefälligst deinen Arm!“
Noch zwei Bahnen im Rückenschwimmen und wir hatten es geschafft. Es war immer eine Erleichterung aus dieser Halle wieder herauszukommen, doch ich würde unter keinen Umständen aufhören, Alex vom Training abzuholen. Da konnte der Trainer noch so laut schreien.
„So ihr Lappen, raus aus dem Wasser! Das kann man sich ja nicht mehr ansehen! Ja, genau dich meine ich, Jan, brachst gar nicht so zu schauen. Hopp, ab in die Duschen mit euch, ich will euch vor Dienstag nicht wieder sehen!“
Ja, ich war überzeugt davon, dass er seine Lappen tief im Inneren abgöttisch liebte. Denn als Trainier war er (Ich hatte seinen Namen bestimmt schon tausend Mal gehört, scheiterte aber immer wieder an der Aussprache. Irgendetwas, was wie Sauerampfer klang.) echt spitze und wenn die ganze Mannschaft zu irgendwelchen Wettbewerben fuhr, schwärmte Alex hinterher auch immer, wie cool Herr Was-auch-immer eigentlich war.
Die Lappen trollten sich also aus dem Wasser und ich stand auf, weil sie alle an der Tribüne vorbeigehen mussten und Alex und ich da unser Ritual hatten. Tim folgte mir verwirrt und stellte sich neben mir an das Geländer. Wir warteten, bis die Jungs bei uns waren und ich schloss vorsichtshalber schon einmal meine Augen.
„Mann Lukas, so macht das doch gar keinen Spaß!“, hörte ich da die Stimme meines besten Freundes und war im nächsten Moment auch schon nass. Wie nach jedem Training. Keine Ahnung, warum ich das mit mir machen ließ oder wie wir da drauf gekommen sind, aber irgendwie wurde ich es nicht mehr los. Das Gute war jedoch, dass ich so eine Ausrede hatte, mit in die Umkleide zu gehen, denn wer wollte bei 10 Grad draußen schon mit nassem T-Shirt durch die Gegend laufen?
„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, antwortete ich leicht ironisch auf Alex‘ Bemerkung und strubbelte ihm durch seine Haare, die daraufhin wie Stacheln bei einem Igel in alle Richtungen abstanden. Am Rande nahm ich gerade noch Tims Grinsen über Alex‘ neue Frisur wahr, als dieser mich auch schon unter dem Geländer hindurch zog und mich im Schwitzkasten zu den Umkleiden schleifte. Obligatorisch wehrte ich mich natürlich, auch wenn meine Konzentration deutlich nachließ, sobald ich die nackte Brust meines besten Freundes berührte. Mit meiner Wange! Konnte es mir da einer verdenken? Und warum musste seine Haut auch so fucking weich sein?
„Der Look steht dir übrigens“, riss mich Alex aus meinen Gedanken, die schon wieder drohten, ins Unanständige abzudriften und entließ mich grinsend aus seiner Umklammerung. Fragend hob ich daraufhin eine Augenbraue, doch als Alex in Richtung meines halbnassen T-Shirts nickte, hätte ich am liebsten meinen Kopf gegen die nächste Wand geschlagen. Ich hatte es verpeilt und ein weißes Oberteil angezogen. Mit Print zwar, aber dennoch weiß. Nun ja, Alex würde mich sowieso gleich oben ohne sehen. Und ich ihn unten ohne, hehe. Konnte man das überhaupt sagen? Egal, ich konnte das und wenn ich dafür ein neues Wort beim Duden anmelden gehen musste. Das war genau wie beim Ausbüchsen. Das Wort sollte endlich in die deutsche Sprache aufgenommen werden! Oder wie nannte man es, wenn man etwas aus einer Dose entfernte? Rausmachen? Nein, definitiv nicht.
„Na, was überlegst du?“
Ein Arm wurde mir um die Schulter gelegt und ich in die Kabine geschoben.
„Wann ausbüchsen in den Duden aufgenommen wird.“
„Ausbüchsen?!“
Irritiert sah Kai zu uns herüber. Alex nickte neben mir und warf seinem Teamkameraden einen Blick zu, der sagte, dass ich sie nicht mehr alles hatte. So etwas schimpfte sich also bester Freund.
„Was habt ihr denn? Ausbüxen existiert doch als Wort.“
Jan stand schon unter der Dusche, hatte sich jetzt aber zu uns umgewandt und wusste anscheinend nicht, was Kais Problem war. Der sah mich daraufhin an, als hätte er eine Erleuchtung.
„Was?“, fragte ich skeptisch.
„Du meinst ausbüxen! Sorry, stand grad auf der Leitung, aber klar, das Wort gibt’s.“
„Nein, du hattest schon recht“, mischte sich Alex wieder in das Gespräch ein, während er nach seinem Duschzeug griff und sich zu Jan gesellte. „Er meinte das Wort mit chs. Das, was assoziieren würde, etwas aus einer Büchse rauszumachen.“
Da! Rauszumachen. Das war doch so ein hässliches Wort! Und entfernen war nicht besser. Etwas auszubüchsen klang viel schöner. Bevor ich jedoch zu einer Erwiderung ansetzen konnte, tauchte der Trainer auf und sah sich suchend um. Nach zwei Sekunden gab er es allerdings wieder auf und kam auf uns zu.
„Alex, weißt du, wo Julian ist?“
„Julian? Nein… Wieso?“
„Der Trottel muss mir noch ‘nen Zettel abgeben. Kannst du ihn da dran erinnern? Damit du wenigstens etwas Sinnvolles diese Woche gemacht hast. Deine Beinarbeit war heute wieder mehr als schlampig.“
Mit diesen Worten ließ er den verdutzen Alex, der sich gerade ein Handtuch um die Hüften schlang, stehen und verschwand aus dem Raum.
„Okay…“, war Kais einziger Kommentar dazu und die Sache war gegessen. Wobei ich mich fragte, ob es überhaupt erlaubt war, Schüler als Trottel zu bezeichnen, wenn man Trainer und somit eine Person mit Vorbildfunktion war. Sonst war es definitiv erlaubt und auch in den meisten Fällen gerechtfertigt. Und ich dachte da gerade nicht an einen Internatler mit einer großen Klappe und zu viel Geld auf dem Konto, der sich ein Zimmer mit einem Idioten mit noch größerer Klappe teilte. So böse war ich nicht. Nein…
„Lukas? Willst du dich vielleicht noch umziehen?“ Belustigt zupfte mein bester Freund am Saum meines T-Shirts. „Oder soll ich das übernehmen?“
Ich blinzelte verwirrt und brauchte einen Augenblick, um zu erfassen, was Alex von mir wollte. Und das klang verlockend… Doch ich sollte lieber nichts riskieren und lenkte deswegen mit dem ersten, was mir in den Sinn kam, vom Thema ab, nämlich der Frage, wo Tim war. An den hatte ich zwar in den letzten Minuten gar nicht mehr gedacht, doch wenn ich schon so fragte, wo war der Typ eigentlich hin?
„Ähm, keine Ahnung. Vermutlich wartet er draußen. Warum sollte er auch mit reinkommen?“
Ich nickte und wechselte dabei schnell mein Shirt. Als ich fertig war und zu meinem besten Freund blickte, hätte man fast meinen können, das Bedauern in seinem Gesicht lag, doch er schüttelte fast unmerklich den Kopf und hielt mir dann meine Jacke vor die Nase.
„Na komm, ich hab Hunger. Auf zum Mittagessen!“
Wie zur Untermauerung seiner Worte, knurrte Alex‘ Magen und lachend buxierte ich ihn aus den Umkleideräumen. Es war wirklich erstaunlich, wie oft der Junge Hunger hatte und auch einfach nicht fett wurde. Nicht, dass ich das wollte.
Als wir das Foyer betraten, fiel mein Blick gleich auf Tim, der auffallend nah bei Julian stand, jedoch als er uns sah so schnell zurückwich, dass ich mir das auch eingebildet haben konnte. Dass die beiden es aber auch einfach nicht lassen konnten, andauernd zu diskutieren. Das war ja schlimmer als bei Zack und Maja und das sollte etwas heißen.
Wir nährten uns den zwei Streithähnen und ich zog irritiert eine Augenbraue nach oben, als ich Tims leicht nasse Haare entdeckte. Ich kam aber nicht zum Grübeln, da dieser sich in diesem Moment seine Beanie aufsetzte und uns zur Tür schob. Und alle wohlgemerkt.
„Tim, du hast jetzt aber nicht vor, mit dem da“, Alex deutete auf Julian, „zum Nat zu laufen, oder?“
„Eigentlich hatte ich das schon, wieso?“
„Weil es Julian ist, vielleicht?“
„Er muss doch auch dahin und wenn wir sowieso alle den gleichen Weg haben, können wir uns das Kindergartengetue auch sparen und zusammengehen.“
Alex öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloss ihn dann jedoch, ohne etwas gesagt zu haben. Stattdessen zog er beleidigt eine Schnute und stapfte voraus.
„Na dann kommt auch, ich will nicht länger als nötig mit Herrn Mit-Geld-und-pseudo-gutem-Aussehen-lässt-sich-alles-regeln unterwegs sein.“
„Es ist immer wieder schön zu erfahren, welch gute Meinung ihr doch von mir habt.“
Missmutig lief Julian Alex hinterher.
„Glaub mir, die ist schon besser geworden“, meinte ich, als ich gefolgt von Tim zu ihm aufgeschlossen hatte. Julian drohten daraufhin die Gesichtszüge zu entgleiten, doch er fing sich wieder.
„Nun ja, irgendwie bin ich da ja selbst Schuld dran, also kann ich mich nicht beschweren. Aber nur um das mal gesagt zu haben, meine Meinung von euch hält sich auch in Grenzen.“
Dabei sah er Alex an, der aufgrund Julians Fast-Entschuldigung stehengeblieben war und sich ungläubig zu uns umgedreht hatte.
„Welch‘ Freude zu hören, dass man mir dir ohne deinen Kotzbrocken von besten Freund auch halbwegs normal reden kann.“
Julian schnaubte.
„Bester Freund ist gut. Aber ja, ist ganz erfrischend, mal mir euch zu reden, ohne sich irgendwelche Beleidigungen ausdenken zu müssen.“
Sein Blick wanderte kurz zu Tim, der leicht lächelte und dann zurück zu Alex, der ihn entgeistert anstarrte.
„Wer bist du und was hast du mit Julian gemacht?“
„Glaub mir, der ist immer noch da.“
„War das ‘ne Drohung?“
„Nein, ein Versprechen.“
„Lasst das bloß nicht Tam Tam hören“, murmelte ich. „Die wird ausflippen, wenn sie bemerkt, dass ihr beide euch so gut versteht.“
„Tam Tam? Die kleine Kratzbürste?“
„Genau die“, bestätigte Alex.
„Aber das darfst du jetzt wiederum nicht Zack hören lassen, sonst bekommt diesmal wirklich jemand ein blaues Auge.“
Tim grinste schief und stopfte seine Hände in seine Jackentaschen.
„Ich erinnere mich…“
Und es schienen keine glücklichen Erinnerungen zu sein, denn Julian blickte mit hochgezogenen Schultern auf den Boden. Also ich fand den Abend witzig, wenn man von den fünf Minuten absah, in denen Mike sich wieder wie ein Proll aufgeführt hatte. Und die Nacht war auch schön gewesen…
Ich schielte zu Alex, der an der Seite neben Tim lief und so aussah, als würde er immer noch verarbeiten müssen, dass er gerade ein ganz normales Gespräch mit Julian geführt hatte. So normal es zwischen den beiden eben sein konnte.
Als wir am Internat ankamen, war ich meines Weltbildes beraubt. Und Tim anscheinend auch, denn er beobachtete ebenso ungläubig wie ich, wie Alex und Julian stehenblieben und sich per Handschlag verabschiedeten. Klar, die beiden waren noch lange keine Freunde, aber den ganzen Weg bis hierher war nicht ein bösen Wort gefallen. Zu den beiden zumindest. Gemeinsam gelästert hatten sie nämlich. Und wie. Außer Tim und mir war, glaube ich, niemand verschont geblieben. Egal ob Schüler oder Lehrer, ganz gleich welcher Freundeskreis. Die beiden verhielten sich, als würden sie sich seit Jahren kennen und verstehen. Ist im Chlorwasser irgendetwas drin gewesen?
Einzig allein ein Thema hatten wir alle in stiller Übereinkunft gemieden, nämlich den Streit zwischen Julian und Mike. Dabei hätte es mich brennend interessiert, was genau da jetzt eigentlich vorgefallen war.
„Na dann, man sieht sich!“
Julian hob zum Abschied eine Hand und sah Tim und mir noch einmal kurz in die Augen, ehe er schon fast fluchtartig verschwand. Keine Sekunde später wusste ich auch, warum, denn Tam Tam stand vor dem Haupteingang und sah ihm mit einem vernichtenden Blick nach. Dann entdeckte sie jedoch uns und schlagartig hellte sich ihr Gesicht auf.
„Na, ihr? Da seid ihr ja endlich! Ich dachte schon, ihr habt euch verlaufen.“
„Also soo inkompetent sind wir dann auch wieder nicht.“
Tim ließ schmunzelnd seine Sporttasche auf den Boden fallen.
„Bei dir wäre ich mir da aber nicht so sicher“, grinste Alex und hüpfe zurück, als Tim spielerisch nach seinem Arm schlug, ehe er beschwichtigend die Hände hob.
„Schon gut, macht das unter euch aus. Ich bin dann weg.“
„Wieso?“, fragte ich verwirrt. Ich war irgendwie davon ausgegangen, dass Alex den Rest des Wochenendes im Internat verbringen würde, obwohl er diesbezüglich nichts gesagt hatte. Wahrscheinlich war er in letzter Zeit einfach zu oft hier gewesen.
Tatsächlich war der Blick meines besten Freundes entschuldigend, als er sich zu mir drehte.
„Sorry. Ich würde echt gerne bleiben, aber meine Eltern wissen langsam nicht mehr, wie ich aussehe, deshalb sollte ich mal wieder Zuhause essen. Außerdem bekommen wir heute Abend noch Besuch und ich hab verpeilt, dass wir Montag Sozi abgeben müssen, weswegen ich noch nichts gemacht habe und naja“, er schenkte mir sein typisches Grinsen, „du kennst mich ja.“
Ja, das tat ich. Und ich war mir immer noch sehr sicher, dass Alex niemals Politiker werden sollte. Diskutieren konnte er zwar bestens, doch mit der Beherrschung klappte es oftmals nicht so sehr. Aber deswegen mochte ich ihn ja. Und es war einer der Gründe, warum ich es manchmal bereute, mich für Geografie eingetragen zu haben und nicht mit Alex zusammen in Sozialkunde zu sitzen, doch da ich keinen Plan von Politik hatte und es mich auch reichlich wenig interessierte, bestimmte ich im Abi lieber Gesteinsproben als irgendwelche Karikaturen zu interpretieren.
„Bleibst du dann Montag wieder länger?“, fragte ich und konnte nicht verhindern, dass es leicht beleidigt klang. „Immerhin haben wir die letzten beiden Stunden Ausfall und ich schulde dir noch eine Spritztour.“
Alex‘ Augen begannen zu leuchten.
„Ich dachte schon, ich werde dich nie Autofahren sehen. Musst mir doch zeigen, was ich dann alles falsch machen kann. Und jetzt komm her, ich muss los.“
Mit diesen Worten kam er auf mich zu und zog mich an sich. Ich legte meine Hände auf seinen Rücken und schloss die Augen. Eineinhalb Tage ohne Alex… Ich würde sagen, mich hatte es echt erwischt. Wie sollte ich da bitte die nächsten Ferien überstehen?
„Dass ihr es aber auch einfach nicht schafft, euch normal und ohne Drum und Dran zu verabschieden.“
Meine Lippen verzogen sich bei Tam Tams tadelnden Ton zu einem Grinsen, jedoch rückte ich nicht von Alex ab, als dieser die Umarmung löste.
„Wie sollen wir uns denn deiner Meinung nach verabschieden?“, wollte mein bester Freund wissen.
„Keine Ahnung. Mit Handschlag zum Beispiel?“
„Als ob du dich von Maja mit Handschlag verabschieden würdest.“
„Aber wir sind ja auch Mädchen.“
„Und nur weil wir Jungs sind, dürfen wir uns nicht umarmen, oder wie?“
„Ach, vergiss es einfach und hau endlich ab.“
Beleidigt schob sie ihre Unterlippe vor.
„Tam Tam, nicht weinen!“
Mit ausgestreckten Armen ging Alex auf sie zu.
„Du bekommst doch auch eine Umarmung von mir.“
„Ich will aber keine Umarmung!“
„Ein Handschlag?“
„Nein!“
Schmollend sah sie zu Boden.
„Na gut, dann doch die Umarmung.“
Und ehe Tam Tam es sich versah, hatte Alex seine Arme um sie geschlungen und sie einmal im Kreis gewirbelt.
„Du bist doof“, murmelte Tam Tam, als sie wieder Boden unter den Füßen hatte.
„Ich hab dich auch lieb. Und jetzt geh ich. Man könnte ja fast meinen, ihr könntet auf meine niveauvolle Gesellschaft gar nicht mehr verzichten.“
Warum genau hatte ich das Gefühl, dass sein Blick sich in mich hineinbohrte und die Worte nur mir galten?
„Genau, du verschwindest jetzt endlich! Tim, Lukas und ich haben nämlich auch noch etwas zu klären.“
„Haben wir?“, fragte Tim ängstlich nach.
„Ja, haben wir!“
Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand im Internat.
„Aber Mittag können wir vorher noch essen, oder? Ich sterbe nämlich sonst vor Hunger.“
„Ich denke, das lässt sich einrichten“, grinste ich und nickte Alex zu, der mir gestikulierend von seinem Rad aus mitteilte, dass er später wissen wollte, was bei diesem Gespräch herausgekommen war. Immerhin waren es er und Tam Tam gewesen, die den Vorschlag gemacht hatten.
*
Nach einem sehr sehr kurzen Mittag, bei welchem Tam Tam die gesamte Zeit über unruhig mit den Fingern auf den Tisch geklopft hatte und ihren Blick immer wieder vielsagend zur Uhr an der Wand hatte schweifen lassen, saßen sie, Tim und ich nun endlich in unserem Zimmer und warteten anscheinend alle darauf, das ein anderer den Anfang machte. Tim, weil er nicht wusste, worum es ging, ich, weil ich zwar wissen wollte, was los war, aber Tim zu nichts drängen wollte und warum Tam Tam nichts sagte, war mir ein Rätsel. Da hätten wir auch noch fünf Minuten länger essen können. Beziehungsweise hätte es dann vielleicht die Bezeichnung essen verdient.
„Also?“, begann Tim dann doch schließlich unsicher. „Was wollt ihr mit mir klären?“
„Naja, also ich weiß jetzt nicht wirklich, wie ich dich das fragen soll…“
Nervös spielte Tam Tam mit einem ihrer Armbänder.
„Frag einfach. Wir sind immerhin Freunde und da-“
„Hat Mike dich vergewaltigt?“
„Was?“
Vollkommen perplex starrte Tim sie an. Verständlich. Vergewaltigung?
„Äh, Tam Tam?“, fragte ich vorsichtig.
„Nein. Lukas, du hast es doch auch gehört. Was Mike an dem Abend gesagt hat. Das klang so, als ob er dich“, sie sah zu Tim, „irgendwie … keine Ahnung … dass er dir wehtun würde und dass er das Ganze genießt und… Ich will einfach nur, dass es dir gut geht.“
Sie senkte ihren Kopf.
„Hey.“
Tim lehnte sich zu ihr und nahm ihre Hand.
„Das ist lieb von dir - von euch, aber mir geht es gut. Mike ist ein Idiot und das wisst ihr. Ich lass mir von dem Typen nicht wehtun, da kann er noch so viel versuchen.“
„Und was war das mit dem Befriedigend? Das klang nicht so, als ob es dir nichts ausmachen würde“, warf ich skeptisch ein.
„Das meint ihr…“
Er richtete sich wieder auf.
„Das war nur was aus Wirtschaft-Recht. Nicht weiter wichtig.“
„Ah ja.“
Tam Tam klang genauso überzeugt wie ich mich fühlte.
„Es war wirklich nichts“, beteuerte Tim. „Mike hat nur auf eine von Julians Äußerungen zu einer Arbeit angespielt, das ist alles.“
„Was kann denn bei Julians Arbeiten bitte befriedigend sein? Außer vielleicht der Kunst, dauerhaft einen 3,0-Durchschnitt zu haben. Oh…“
Tam Tam blickte zu mir. Ich nickte. Ja, das machte Sinn. Drei gleich befriedigend. Da konnte ich mir vorstellen, dass Julian da blöde Kommentare abgab. Das Bild von heute Vormittag bekam wieder Risse. Nicht, dass es je wirklich schön gewesen wäre, dieses Bild, aber es wurde schneller wieder unschön, als angenommen.
„Ja, genau. War das alles, was ihr besprechen wolltet?“
Tim klang dezent genervt. Konnte ich ihm nicht verübeln, wenn man nämlich darüber nachdachte, hatten wir uns in letzter Zeit ziemlich gluckenhaft aufgeführt.
„Ja, das war alles“, sagte Tam Tam zerknirscht. „Sorry, Tim. Wir haben uns nur Sorgen gemacht.“
„Das ist ja okay, aber bitte, denkt dran, dass ich keine fünf mehr bin und jetzt auf mich selbst aufpassen kann.“
Sein Grinsen milderte die Worte und Tam Tam lächelte erleichtert zurück.
„Na dann, will ich euch mal nicht länger stören. Wir sehen uns ja heute bestimmt nochmal.“
„Garantiert“, meinte Tim und ich nickte zustimmend. „Spätestens beim Abendessen.“
„Richtig“, grinste Tam Tam. „Und diesmal verspreche ich euch, dass ihr genügend Zeit haben werdet.“
„Das will ich dir auch raten“, grummelte Tim und griff nach einem Buch, das auf seinem Nachtisch lag.
„Bis denne.“
„Jap, bis dann“, verabschiedete sich Tam Tam und schloss die Tür hinter sich.
„Was war das heute eigentlich mit Julian?“, fragte ich irgendwann in die entstandene Stille hinein.
Überrascht blickte Tim von seinem Buch auf.
„Was meinst du?“
„Naja, das heute Vormittag war doch nicht normal. Vor zwei Wochen wäre es undenkbar gewesen, dass wir uns mit ihm einfach so unterhalten.“
„Genau genommen hat sich eigentlich Alex mit ihm unterhalten, also warum fragst du nicht ihn?“
„Weil er nicht hier ist, du aber schon.“
„Ahh!“ Tim legte seinen Kopf in den Nacken und lehnte sich an die Wand. „Wirklich Lukas. Ich hab dich echt lieb und würde mich auch gern öfter mit dir unterhalten, aber immer wenn du mal redest und zwar mehr als drei Sätze am Stück, dann ist das Gespräch wichtig und man muss nachdenken. Ich will heute aber nicht mehr nachdenken!“
Flehend sah er mich an.
„Dann sag mir einfach, warum Julian in letzter Zeit so sozial ist.“
„Naja, als sozial würde ich ihn nicht bezeichnen...“
„Wenn du den Vergleich zu früher ziehst, kannst du das schon behaupten.“
Ein Blick traf mich, der mir ganz deutlich zeigte, was Tim von Vergleichen und Behauptungen hielt. Nämlich absolut gar nichts. Warum konnte hier denn niemand Mathe leiden?
„Weißt du, Lukas, wenn du unbedingt deine Vergleiche ziehen willst, dann schau dir mal bitte Jakob und Jan an und dann dich und Alex.“
„Was soll mit den beiden sein?“
Verwirrt dachte ich an die beiden beste Freunde aus der 12. Sie verstanden sich gut, genauso wie Alex und ich und Unterschiede gab es in jeder Freundschaft. Also was sollte man da vergleichen?
„Mit den beiden ist nichts. Aber mit dir und Alex.“
Fragend hob ich eine Augenbraue. Tim seufzte.
„Die einzige Gemeinsamkeit zwischen euch ist, dass ihr auch alle als beste Freunde bezeichnet. Der Unterschied ist aber, dass Jakob und Jan wirklich welche sind, ihr aber nicht.“
Stellte er jetzt wirklich Alex‘ und meine Freundschaft in Frage?
„Ich meine, ihr tut die ganze Zeit so, als wärt ihr nur Kumpels, aber Lukas, ganz ehrlich, das kannst du uns nicht mehr verkaufen.“
Ja, ganz offensichtlich tat er das.
„Ich dachte, du wolltest nicht mehr nachdenken?“
„Lenk jetzt nicht vom Thema ab! Du weißt genau, was ich meine.“
„So wie du genau weißt, was ich gemeint habe und deshalb das Gespräche von Julian auf Alex gelenkt hast?“
Einen Moment sah mich Tim irritiert an, doch dann schüttelte er entschieden den Kopf.
„Nein, das zwischen und Julian und mir ist etwas völlig anderes!“
„Das zwischen Julian und dir? Interessant, soweit waren wir ja noch gar nicht. Würde aber einiges erklären.“
„Da läuft nichts zwischen Julian und mir!“
„Und Alex und ich sind beste Freunde.“
„Nein, seid ihr nicht!“
„Dann läuft was zwischen euch.“
„Mann, Lukas!“
Entnervt massierte sich Tim seine Nasenwurzel.
„Weißt du, Tim, wenn man nicht so viel redet, beobachtet man mehr. Und irgendetwas hat sich bei Julian verändert. Und das schließt dich und Mike auch mit ein. Ich weiß nicht, was beim Novemberfeuer passiert ist, aber ich weiß, dass etwas passiert ist. Du kannst mit mir reden, das weißt du, oder?“
„So wie du mit mir redest?“ Er klang erschöpft.
„Worüber soll ich denn mit dir reden?“
„Zum Beispiel darüber, dass Alex und du mehr als beste Freunde seid?“
„Sind wir aber nicht.“
Und das entsprach der Wahrheit. Ich hätte zwar gerne mehr, aber Alex stand auf Mädchen und da konnte ich nichts machen.
„Ach, vergiss es.“
Tim stand auf.
„Aber gesteh es dir wenigstens selbst ein. Die Art, wie Alex dich ansieht ist selbst für seine Verhältnisse nicht mehr unter Freundschaft zu verzeichnen.“
Er wollte gehen, doch ich sprang ebenfalls auf und hielt ihn zurück.
„Ich habe keine Ahnung, was genau du meinst, denn Alex sieht mich nicht anders an, als er es früher getan hat. Und wenn sich hier einer etwas eingestehen muss, dann du.“
Ich hatte eigentlich absolut keine Lust, mit Tim einen Streit anzufangen und mir war es auch schleierhaft, wie wir an diese Stelle gekommen waren, doch jetzt war es zu spät.
Tim wandte sich zu mir um.
„Ich klebe nicht in jeder freien Minute an Julian oder schmeiß mich im jedes Mal, wenn ich ihn sehe, an den Hals.“
„Das tun wir doch gar ni-“
„Ihr seid beide so verknallt, dass ihr das es noch nicht einmal mehr mitbekommt!“
„Alex ist nicht in mich verknallt!“
„Aber du in ihn. Jetzt hast du es wenigstens zugegeben!“, schrie Tim schon fast triumphierend.
„Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass zwischen uns nichts läuft. Was bei dir uns Julian schon wieder anders aussieht.“
„Du hast doch keine Ahnung, wie es bei mir aussieht!“
„Dann klär mich auf!“
Auffordern verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Nein! Weil es da nichts zum Aufklären gibt. Julian ist ein Arsch und das weißt du!“
„Ich weiß das, nur bin ich mir langsam nicht mehr sicher, ob du das auch noch weißt. Ich will dich doch nur beschützen!“
„Beschützen?“ Tims Stimme wurde hysterisch. „Ihr wollt mich alle nur beschützen! Aber weder du, noch Tam Tam seid meine Mutter, also lasst es einfach gut sein! Ich bin alt genug, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen und zu beurteilen, was gut für mich ist und was nicht. Ich brauche eure Hilfe nicht!“
Er stürmte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Ich zuckte bei dem Knall automatisch zusammen.
Keine Ahnung, wie lange ich einfach nur mitten in unserem Zimmer stand, aber irgendwann bemerkte ich die Tränen, die über meine Wangen liefen. Ich wischte sie nicht weg und sank stattdessen auf mein Bett. Fuck! Fuck, fuck, fuck! Ich hatte doch nur wissen wollen, was passiert war. Wie hatte das so ausarten können?
Schniefend griff ich nach meinem Handy und wählte Alex‘ Nummer. Mailbox. Wütend schlug ich einmal auf meine Matratze, ehe mich auf selbiger zusammenrollte und mich unter meiner Decke vergrub. Der Decke, die noch leicht nach Alex duftete und zumindest dafür sorgte, dass ich nach wenigen Minuten einschlief und so der bitteren Wirklichkeit für einige Stunden entkam.
*
„Die Regeln der FINA bestimmen, dass von Beginn des ersten Armzuges nach dem Start und nach jeder Wende der Körper in Brustlage gehalten werden muss und beide Schultern mit der Wasseroberfläche in einer Linie liegen. Beinschläge unter Wasser zur Seite sind erlaubt. Eine Bewegung der Beine in der waagerechten Ebene (Brustbeinschlag) ist nicht zulässig. Nach dem Start und nach jeder Wende darf ein Schwimmer mehrere Beinschläge und einen Armzug unter Wasser ausführen, die ihn an die Wasseroberfläche bringen müssen. Dem Schwimmer ist es erlaubt, nach dem Start und nach jeder Wende bis zu 15 m völlig untergetaucht zurückzulegen. An diesem Punkt muss der Kopf die Wasseroberfläche durchbrochen haben. Der Schwimmer muss bis zur nächsten Wende oder bis zum Ziel an der Wasseroberfläche bleiben. Beide Arme müssen sowohl nach hinten als auch nach vorn gleichzeitig unter bzw. über Wasser bewegt werden. Alle Bewegungen der Füße und Beine müssen gleichzeitig ausgeführt werden; gleichzeitige Auf- und Abwärtsbewegungen der Füße und Beine in senkrechter Richtung sind erlaubt. Die Füße und Beine brauchen nicht auf gleicher Ebene zu sein, aber wechselseitige Bewegungen (Kraulbeinschlag) sind nicht erlaubt. Eine Brustbeinschlagbewegung ist nicht mehr zulässig, außer in explizit ausgewiesenen Masters-Wettkämpfen für Schwimmerinnen und Schwimmer mit einem Mindestalter von 20 Jahren.[2] Bei jeder Wende und am Ziel muss der Schwimmer mit beiden Händen gleichzeitig anschlagen.“ - Wikipedia zu Wettkampfregeln beim Schmetterlingsschwimmen
6. Dezember; Freitag
Eigentlich sollte man meinen, dass eine Schule einen Hausmeister besaß und dieser in der Lage war, eine Heizung zu reparieren. Oder dass die Schule genügend Geld hatte, um die Heizungen laufen zu lassen. Wir hatten anscheinend beides nicht, denn pünktlich zum ersten Schultag im Dezember waren sämtliche Heizkörper ausgefallen. Gefühlt zumindest und das seit einer Woche. Insgeheim hegte ich den Verdacht, dass die Heizungen in der Schulleitung funktionierten, denn jeder Lehrer, der in unseren Unterricht kam, stellte fest, wie kalt es doch war. Also konnte es gar nicht an meinem Temperaturempfinden liegen. Vielleicht sollte ich unserem Direktor einfach mal einen Besuch abstatten, dann wüsste ich es.
Seufzend setzte ich mich in eine der Nischen auf dem Gang und stellte meine Tasche neben mich. Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich an die kalte Steinwand. Eigentlich hatte ich überhaupt keine Zeit, um hier zu sein, weil wir am Freitag keine Mittagspause hatten, damit alle Internatler, die übers Wochenende nach Hause fuhren, nicht zu spät ankamen. Deswegen musste ich rein theoretisch in drei Minuten bei Musik sein, doch noch einmal zwei Stunden im gleichen Raum wie Tim zu sein, war mir gerade zu viel. Wir hatten heute nur gemeinsamen Unterricht gehabt und vielleicht sollten wir in unserem Alter in der Lage sein, so einen dämlichen Streit zu vergessen, doch die Situation war immer noch angespannt und zerrte an meinen Nerven.
Tief sog ich die kühle Luft in meine Lungen und war einmal über die Inkompetenz unserer Schulleitung froh. Die Kälte linderte den schon fast chronisch anmaßenden Kopfschmerz nämlich zumindest ein wenig.
Der Sonntag nach unserem Streit war die Hölle gewesen. Da Alex Besuch gehabt hatte, hatte ich nicht einfach zu ihm gehen können und das wäre angesichts des Streitthemas wahrscheinlich auch nicht schlau gewesen. So hatten Tim und ich uns also angeschwiegen, wobei er ziemlich oft weg gewesen war. Keine Ahnung, wo er sich herumgetrieben hatte, doch ich war froh gewesen, denn so hatte ich im Zimmer bleiben können und nicht mit Tam Tram reden müssen, die am Abend schon wieder so ausgesehen hatte, als ob sie viel zu viel wüsste.
Mittlerweile wusste sie, dass wir uns gezofft hatten und versuchte alles in ihrer Macht stehende, damit wir uns wieder vertrugen, aber irgendwie funktionierte es nicht und das kotzte mich an. Tim und ich redeten zwar wieder, aber auch nur dann, wenn es notwendig war und auch nur das Nötigste. Wenn Alex mich ansprach, traute ich mich fast gar nicht mehr zu antworteten, weil von Tim dann immer ein vernichtender Blick oder ein bissiger Kommentar kam.
An die Andeutungen von Tam Tam hatte ich mich gewöhnt und auch der Rest der Clique nahm es einfach als eine Vertiefung des Running Gags zwischen Alex und mir hin, doch ihre Worte waren auch gut gemeint. Mir graute es vor der Zukunft. Wirklich.
Immerhin schien Alex unterschwellig mitbekommen zu haben, dass es auch um ihn gegangen sein musste, sodass er sich in Tims Gegenwart etwas zurücknahm und mich dafür dann in dessen Abwesenheit stützte. Ich war ihm so unendlich dankbar dafür. Mich einfach mal zurücklehnen, nicht reden und nicht denken zu müssen. Mehr wollte ich nicht. Deshalb saß ich jetzt hier. Allein, da ich Alex nicht von seinem Musikunterricht entführen konnte und es auch nicht wollte. Früher oder später würde er wissen wollen, was genau passiert war und ich konnte ihm schlecht sagen, dass Tim dachte, er stehe auf mich. Wobei, dann könnte Alex entweder lachen und sagen, dass das Käse wäre und die Sache wäre gegessen oder er würde es bestätigen, doch da diese Möglichkeit Käse war, ließ ich es lieber. Ja, was tat man nicht alles, um sein kleines verliebtes Herz zu schützen…
Ein erneutes Seufzen verließ meine Lippen.
Ich schwänzte als fremdernannter Streber den Unterricht - denn geklingelt hatte es mittlerweile schon vor einiger Zeit-, um Tim nicht zu begegnen, weil dieser der festen Überzeugung war, mein bester Freund sei in mich verknallt. Deshalb hatten wir Streit, weil ich das Gegenteil behauptete und das Einfachste wäre, Alex einfach darauf anzusprechen, denn dann wäre die Sache geklärt - zumindest was Alex betraf - aber das tat ich nicht, aus Angst verletzt zu werden, obwohl ich sowieso wusste, dass es sinnlos war.
Das hast du schön zusammengefasst, aber hat es dir irgendetwas gebracht?
Ja, ich war jetzt noch unmotivierter und fühlte mich noch dümmer. Durfte ich mich ab jetzt kleines verliebtes Mädchen nennen, das Streit mit seiner besten Freundin begann, weil es einen Typen hinterherschmachtete, der sowieso unerreichbar war?
Wenn dir das hilft, dich besser zu fühlen, ja, ansonsten nicht.
Das war ja mal was Neues. Aber die Stimme hatte Recht, Trübsal blasen half nichts. Nur fiel mir auch nichts anderes ein, was helfen konnte.
Leise Stimmen waren aus dem Gang rechts von mir zu hören und kurz darauf piekste mir jemand auf die Nase.
„Na, du Schlafmütze? Der Unterricht hat schon vor zehn Minuten begonnen.“
Träge öffnete ich erst das eine und dann das andere Auge, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen, und um dann, nach ein paar Mal Blinzeln, eine grinsende Tam Tam vor mir stehen zu sehen.
„Ich freu mich auch, dich zu sehen. Wo warst du heute Vormittag eigentlich?“
„Beim Arzt. Hat etwas länger gedauert, weil die ihren Zeitplan mal wieder verpeilt haben, aber immerhin war es dort schön warm. Warst du zwischenzeitlich mal bei der Schulleitung?“
„Nö.“
Sie nickte und ließ ihren Blick lächelnd über mich schweifen.
„Okay, dann werde ich der nachher einen Besuch abstatten. Und nun, erzähl! Was machst du hier?“
„Nachdenken.“
„Tim?“
Ich nickte. Tam Tam verzog mitleidig ihren Mund und setzte sich neben mich.
„Das wird schon wieder. Ihr seid doch große Jungs.“
Sie legte einen Arm um mich und ich ließ meinen Kopf auf ihre Schulter fallen und schloss die Augen.
„Wenn du reden willst“, meinte sie leise. „Kannst du zu mir kommen, ja? Falls es mit Alex nicht gehen sollte.“
„Hm, vielleicht mache ich das bald mal.“
War vielleicht wirklich keine schlechte Idee. Wenn ich mir nicht mehr zu helfen wusste, hatte Tam Tam möglicherweise eine Idee.
„Was machst du jetzt eigentlich hier?“, wechselte ich das Thema.
„Kunst“, antwortete Tam Tam bedeutungsvoll. „Wir sollen uns die Architektur dieses Gebäudes anschauen und dazu irgendetwas aufschreiben. Hab die Aufgabenstellung aber schon wieder vergessen.“
Also planvoll wie immer. Ich lächelte.
„Und was macht ihr in Musik gerade Spannendes, das du es wagst, zu schwänzen?“
Das Grinsen war aus ihrer Stimme deutlich herauszuhören. Ich zuckte mit den Schultern.
„Sie wollte mit einem neuen Thema beginnen und hat schon angedroht, dass wir dazu sehr viel singen müssen.“
„Ich dachte, du darfst auch Klavierspielen? So als Begleitung?“
„Nee, hab mich ja immerhin für Musik eingetragen, da muss ich auch singen. Sie kommt mir ja schon entgegen.“
„Ach, Lukas, sind diese zwei Stunden mit Alex die Mühe wirklich wert?“
„Ja“, antwortete ich ohne zu zögern. Allein seine Stimme, wenn er sang, war ausreichend, dass ich diesen Terror über mich ergehen ließ.
„Naja, du wirst schon wissen, was du tust.“
Sie klang aber nicht böse, sondern einfach nur belustigt.
Eine Weile saßen wir noch in der Nische, sie mit einem Arm auf meinem Rücken und ich halb dösend mit dem Kopf auf ihrer Schulter. Irgendwann hallte die Stimme der Kunstlehrerin durch den Gang und Tam Tam seufzte ergeben.
„Ich werd‘ dann mal. Bete für mich, dass ich nicht dran komme.“
„Immer“, grinste ich und reichte ihr ihre Tasche, als sie aufgestanden war.
„Danke. Wir sehen uns nachher?“
„Ich hol dich ab.“
„Du hast nicht vor, heute noch zu Musik zu gehen, oder?“
„Eigentlich nicht.“
„Okay.“
Sie lachte und ging einige Schritte den Gang hinunter.
„Ach übrigens“, drehte sie sich noch einmal um. „Warum genau wundert mich das nicht? Warum wundert es niemanden?“
„Was?“, fragte ich irritiert, doch sie nickte nur in meine Richtung und ließ mich verwirrt zurück.
*
Als es zum Ende der Doppelstunde klingelte, erhob ich mich träge und schlenderte langsam in Richtung Kunstraum. Ich fühlte mich ein wenig entspannter, weil ich es geschafft hatte, die restliche Zeit nicht mehr an Tim zu denken sondern einfach einmal hatte abschalten können. Und das schlechte Gewissen wegen des Schwänzens blieb auch aus. Noch zumindest, denn bisher war mir unsere Musiklehrerin auch nicht über den Weg gelaufen. Bis das allerdings geschah, verging garantiert noch eine Woche, denn - glücklicherweise - sah ich sie wirklich nur zu den Musikstunden. Okay, eigentlich war sie ja ganz in Ordnung, aber … ihr Fach war eben Musik.
Ich war an den Kunsträumen angekommen und lehnte mich gegenüber der Tür an die Mauer. Die kalte Mauer. Vorhin war das ja ganz angenehm gewesen, aber zwei Stunden in der Kälte zu sitzen, war selbst mir zu viel. Gähnend vergrub ich meine Hände in meiner Jacke unter der ich sogar noch eine Sweatjacke trug. Viel mehr konnte man nicht mehr anziehen.
„So müde?“
Ein grinsender Zack tauchte in meinem Blickfeld auf. Ich nickte nur schläfrig und sah lächelnd dabei zu, wie er Tam Tam in den Arm nahm und sie zärtlich küsste. Die beiden waren schon ein süßes Paar und zum Glück keine Kletten. Da kuschelten Alex und ich weit mehr und wenn wir jemals zusammenkommen würden… Okay, egal was dann, es würde nämlich nicht passieren. Seufzend stieß ich mich von der Wand ab und ging Richtung Internat.
„Ich dachte, wir gehen vorher noch zum Direx?“
Fragend zog Tam Tam eine Augenbraue nach oben.
„Was wollt ihr beim Rektor?“, wollte Zack zweifelnd wissen.
„Ich denke nicht, dass das was bringt“, antwortete ich Tam Tam, die Zack in der Zwischenzeit das Problem mit den Heizungen erklärte. An mich gewandt, meinte sie: „Einen Versuch ist es doch aber wert, oder nicht?“
Grummelnd stimmte ich zu und zusammen liefen wir in die entgegensetzte Richtung zur Schulleitung. Auf dem Weg zog ich mein Handy aus der Tasche und schaltete es wieder an. Die letzten beiden Stunden hatte ich es in den Flugmodus gestellt, um meine Ruhe zu haben. Jetzt war ich mir aber sehr sicher, dass Alex mindestens drei Nachrichten hinterlassen hatte, in denen er fragte, wo ich war. Tatsächlich leuchtete das Nachrichtensymbol und als ich drauftippte, stellte ich grinsend fest, dass es sogar acht SMS waren. Sieben von Alex und eine von Maja.
„Lukas?“
Tam Tam schnippte einmal vor meinen Augen.
„Willst du mit rein kommen?“
Sie deutete auf die Tür hinter sich und Zack.
„Nee, ich muss Alex erstmal versichern, dass ich noch lebe.“
„Okay“, grinste sie. „Dann mach das mal, nicht dass er am Ende noch umkommt, weil er einen Herzkasper erlitten hat.“
Zack sah irritiert zwischen seiner Freundin zu mir hin und her. Als er jedoch ansetzte, etwas zu sagen, zog ihn diese aber nur bestimmt zur Tür und klopfte.
„Kann es sein, dass Lukas geschwänzt hat?“, flüsterte Zack Tam Tam zu, als sie das Büro des Schulleiters betraten.
Danke auch. War es wirklich so abwegig, dass ich mal zwei Stunden Musik ausfallen ließ? Musik!? Anscheinend. Naja gut, wenn sie meinten… Jetzt musste ich erstmal Alex beruhigen, der sich - wie ich ihn kannte - wahrscheinlich gerade sonst was für Horrorszenarien ausmalte. Trotzdem las ich erst die Nachricht von Maja, in der sich mich kurz fragte, ob alles okay sei. Dann öffnete ich grinsend die erste SMS von Alex.
Hey, wo bist du?
Alles ok? Geht’s dir nicht gut? Soll ich dich ins Nat bringen?
Lächelnd scrollte ich weiter.
Lukas, das ist nicht mehr lustig! Ist ja ok, wenn du mich hier allein lässt, aber sag mir wenigstens, wo du bist. Ich will nur wissen, dass du nicht irgendwo bewusstlos auf dem Boden liegst. Also ANTWORTE mir!!!
Dahinter sahen mich ganz viele Smileys böse an.
Schätzchen, ich komm dich gleich suchen! Das neue Thema ist so dermaßen langweilig, das hättest du mir ruhig sagen können. Dann könnten wir jetzt zusammen irgendetwas machen. Aber das du alleine abgehauen bist, nehme ich dir wirklich übel! Hat dich die Mafia entführt oder was? Was anderes lasse ich als Entschuldigung nämlich nicht gelten!
Und noch mehr böse Smileys. Er war schon ein Schatz.
Okay, das war nicht so gemeint. Wenn’s dir nicht gut geht, versteh ich das. Fühl dich ganz doll geknuddelt, ja?
Ich biss mir auf die Lippe. Fuck, er war wirklich ein Schatz.
Lukas!?
Mahaann, du bist doof! Du weißt genau, dass ich mir Sorgen mache und lachst dir wahrscheinlich gerade einen ab, während ich hier verzweifle! Schöner bester Freund bist du, weißt du das? Offensichtlich. -.- Komm schon! Ich mache alles was du willst, aber bitte, ANTWORTE!
Na, das klang doch vielversprechend. Ich wollte gerade eine Antwort eintippen, als Tam Tam und Zack zurückkamen und ziemlich zufrieden aussahen. Abwarten hob ich eine Augenbraue.
„Am Montag kommt der Heizungstyp“, antwortete Tam Tam nur knapp, aber Zack sah mich bedeutungsvoll an.
„Sie hat denen da drinnen die Hölle heiß gemacht. Das hättest du sehen müssen! Mann, ist die heiß, wenn sie wütend ist! Da würdest selbst du weich werden.“
Grinsend stieß er mir seinen Ellenbogen in die Seite, ehe er den Arm um meine Schultern legte und mich hinter Tam Tam herzog.
Ich konnte mir das Bild von einer angesäuerten Tam Tam und dem verzweifelten Schulleiter bildlich vorstellen, dennoch bezweifelte ich, dass das meine Meinung über meine Sexualität ändern würde. Denn der Typ, dessen Nummer ich gerade wählte, war sehr viel heißer und niedlicher, wenn er wütend war.
„LUAKS!“, brüllte mich Alex schon fast an, als er meinen Anruf entgegennahm. Und zwar sofort. Das Bild, wie er die gesamte Zeit sein Handy hypnotisierte, hatte ich ebenfalls im Kopf.
„Hallo? Könntest du mich wenigstens jetzt nicht ignorieren? Das hast du die letzten zwei Stunden schon getan, wenn ich dich erinnern darf.“
„Sorry.“
„Sorry? Sorry? Ist das dein fucking ernst?“
Schmunzelnd hielt ich das Smartphone ein Stück von meinem Ohr weg und verdrehte in Richtung Tam Tam und Zack, die mich beide wissend ansahen, die Augen. Sie wussten genau, wen ich da am Telefon hatte.
„Ja, sorry. Hör zu, Alex. Wir kommen jetzt in den Aufenthaltsraum. Und bevor du fragst, ja, mir geht es gut. Ich hab nur ‘ne kurze Auszeit gebraucht. Bis gleich.“
Ich legte auf, wohl wissend, dass ich das bereuen würde. Aber ich hatte gerade keinen Nerv, mir Alex‘ Vorwürfe anzuhören.
„Der ist manchmal echt ‘ne Glucke“, schüttelte Zack den Kopf. „Naja, egal. Was habt ihr das Wochenende geplant?“
„Hast du was vor?“
Skeptisch musterte Tam Tam ihren Freund.
„In der Nähe hat doch die neue PaintBall-Halle aufgemacht. Ich dachte, vielleicht könnte man da mal vorbeischauen.“
„Das ist eine super Idee“, unterstützte ich Zack, denn Tam Tam sah immer noch misstrauisch aus.
Aber PaintBall war wirklich klasse. Und aus dem Internat rauszukommen, war auch ganz gut. Einfach ein wenig Abwechslung haben und vielleicht konnte ich das mit Tim dort wieder in Ordnung bringen.
„Na okay“, stimmte Tam Tam schließlich zu. „Mal sehen, was die anderen davon halten.“
*
„WO ZUR HÖLLE WARST DU???“
Ein aufgebrachter Alex sprang auf mich zu und warf sich mit so viel Wucht um meinen Hals, dass ich rückwärts stolperte und wir beide schließlich auf dem Boden landeten.
„Musste das sein?“, fragte ich leidend, als Alex es irgendwann schaffte, sich so aufzurichten, dass ich zumindest wieder halbwegs Luft bekam.
„Ja, musste es! Du bist aber auch ein Idiot! Hättest du nicht wenigstens einmal antworten können? Ich wäre fast gestorben vor Sorge!“
„Hatte mein Handy aus.“
„Aus? Lukas! Es ist deine Pflicht, erreichbar zu sein!“
„Sagt wer?“
„Ich!“
Zweifelnd sah ich zu ihm hoch und versuchte dabei zu ignorieren, wie nah wir uns waren. Aufeinanderliegen war eben doch etwas anderes als kuscheln. Gott sei Dank räusperte sich jemand in dem Moment, sodass Alex auch wieder aufzufallen schien, dass wir mitten im Aufenthaltsraum auf dem Boden lagen. Mich nicht aus den Augen lassend stand er auf und reichte mir sogar eine Hand. Als ich sie ergriff, wurde mir jedoch klar, dass es weniger aus Nettigkeit, sondern eher aus Kontrolle gewesen war, denn als ich stand, ließ Alex sie nicht mehr los. Stattdessen zog er mich zu den anderen auf die Sofas und setzte mich dann bestimmt zwischen seine Beine. Eine Flucht wurde von seinen Armen, die sich fast schraubstockartig um meinen Oberkörper schlangen, verhindert.
Kapitulierend ließ ich mich gegen ihn fallen und Alex schien damit zufrieden zu sein, denn er lockerte seinen Griff etwas. Was die anderen jetzt von uns dachten, wollte ich gar nicht wissen. Dennoch sah ich auf und begegnete dem Blick einer Neuntklässlerin, die uns mit einer Mischung aus Amüsement und vollkommenem Unverständnis musterte. Sollte sie doch. Solange Alex zufrieden war, konnte es mir egal sein. Und Alex war sehr sicher zufrieden, denn er hatte auch seine Beine mehr oder weniger um mich gewickelt und seinen Kopf an meinem Rücken vergraben und wenn mich nicht alles täuschte, schnurrte er leise. Die zwei Stunden ohne mich mussten ihn wirklich gezeichnet haben…
„Habt ihr’s dann bald mal?“
Genervt sah Tim zu uns herüber und ich spannte mich unwillkürlich an. Sofort reagierte Alex und verstärkte den Druck seiner Arme, während er meinen Beinen wieder etwas Spielraum ließ.
„Wir sind doch fertig“, meinte er dann ganz unschuldig an Tim gerichtet, der ihn nur düster anschaute.
„Cooles Shirt übrigens, Lukas!“, sprach mich Zack plötzlich an und grinste. „Ist mir schon heute Morgen aufgefallen, habe aber immer vergessen, dich drauf hinzuweisen. Ist ganz ungewohnt, es mal an dir zu sehen.“
„Es sieht aber nicht schlecht aus“, verteidigte Alex mich sofort.
Was zum Kuckuck hatten die denn mit meinem T-Shirt? Verwirrt sah ich an mir herab. Da war kein Fleck, kein komischer Aufdruck, kein irgendwas. Und wieso sollte es ungewohnt aussehen? Es war eben keins der Shirts, die ich andauern trug, jedoch kam es mir dennoch merkwürdig bekannt vor. Aber ich konnte mich nicht erinnern, es oft angehabt zu haben. Irgendwie konnte ich mich überhaupt nicht erinnern, es je einmal angehabt zu haben…
„Ich glaube, er hat es geschnallt“, kicherte Maja.
„Wäre ja nicht das erste Mal, nur bei dem Shirt war es eben besonders auffällig.“
Tam Tam grinste breit in meine Richtung und plötzlich wurde mir einiges klar. Der Kommentar von ihr vorhin im Gang, die belustigten und irritierten Blicke der anderen Schüler und Lehrer… Ich hatte Alex‘ T-Shirt an! Und zwar nicht irgendein T-Shirt, nein, Alex‘ Lieblingsshirt und es war allgemein bekannt, dass er dieses T-Shirt liebte. Warum auch immer das jeder wusste, aber es erklärte, wieso es allen auffiel, dass es nicht meins war.
„Ähm“, begann ich etwas ratlos. Was sollte ich da auch sagen? Ich hatte es ja nicht einmal bemerkt. Wahrscheinlich hatte Alex wieder einen Stapel Klamotten in meinem Schrank gebunkert, ohne mir Bescheid zu geben und ich hatte mir früh morgens einfach ein Shirt gegriffen.
„Ist nicht schlimm. Es steht dir!“, murmelte Alex an meinem Nacken und blies sacht seinen Atem über die Haut. Ich erschauderte und verzog meine Lippen automatisch zu einem Lächeln. Es war eine Ehre, dieses T-Shirt tragen zu dürfen, denn Alex hütete es wie einen Schatz. Da war es leichter an seine Haare ranzukommen…
Als ich aufblickte, begegnete ich Tims eisigen Blick und zuckte bei der Kälte in seinen Augen zusammen. Er hielt dem Blickkontakt kurz stand, ehe er sich abwandte. Was war nur schief gelaufen? So schlimm war der Streit doch nicht gewesen. Hatte da irgendetwas Unausgesprochenes eine Rolle gespielt? Wenn ja, wieso hatte ich es nicht mitbekommen?
Die Spannung zwischen mir und Tim schien sich auch auf die anderen ausgeweitet zu haben, denn Zack räusperte sich unwohl und sah betreten auf den Boden, während Maja hilflos zwischen uns hin und her blickte. Schließlich war es Tam Tam, die das Thema wechselte.
„Sagt mal, Leute, Zack hat vorhin vorgeschlagen, dass wir dieses Wochenende der neuen PaintBall-Halle vielleicht einen Besuch abstatten könnten. Was haltet ihr davon?“
„Das klingt super, aber meine Oma hat dieses Wochenende Geburtstag, da muss ich leider hin.“
Maja sah traurig in die Runde.
„Naja, wird bestimmt nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir dahin gehen“, munterte Alex sie auf und nickte gleich darauf Zack zustimmend zu. „Also ich würde auf jeden Fall mitkommen. Was ist mir dir, Lukas?“
„Ja, ist eine super Idee.“
„Und du, Tim?“
Fragend sah Tam Tam zu ihm hinüber. Tims Blick zuckte kurz zu mir, dann schüttelte er den Kopf.
„Nee, hab schon was vor…“
„Ach, komm schon!“, rief Zack entnervt aus. „Ihr könnt euch doch nicht ewig anschweigen! Das wäre ein guter Aggressionsabbau.“
„Ich brauche aber keinen Aggressionsabbau“, meinte Tim bitter und stand auf. „Viel Spaß.“
„Na, das ist doch super gelaufen“, seufzte Tam Tam und rutschte auf der Couch erschöpft nach unten.
Ich biss mir auf die Lippe. Es war meine Schuld. Wäre ich nur nicht so stur gewesen, dann hätten wir diesen Mist jetzt nicht. Wenn unsere Clique jetzt wegen dieser Sache zerbrach, dann würde ich mir das nie verzeihen.
„Hey“, erklang Alex‘ Stimme leise an meinem Ohr. „Es ist nicht deine Schuld. Das wird schon wieder. Früher oder später wird er nämlich feststellen, dass man ohne dich nicht leben kann.“
„Sicher?“
„Ganz sicher.“ Dann meinte er lauter: „Und jetzt lasst uns Spaß haben!“
„Das werden wir garantiert“, grinste Zack und seine Augen funkelten.
Ich ahnte Böses. Wenn Alex und Zack sich jetzt schon so angriffslustig ansahen, konnte das ja nur heiter werden. Ich tauschte einen verzweifelten Blick mit Tam Tam.
„Nun kommt schon, Leute!“, ermutigte Maja uns schmunzelnd. „Ihr kennt die beiden doch, lange halten die nicht durch.“
„Dir ist bewusst, dass die beiden dich hören können?“, maulte Alex. Es war ihm jedoch anzuhören, dass er es ihr nicht böse nahm.
„Das ist mir sehr wohl bewusst und da ihr ja jetzt so etwas wie ein Doppeldate habt, müsst ihr auch dafür sorgen, dass alle Spaß haben.“
Also anders gesagt: Jungs, schließt die Mädels nicht aus. Warum beleidigte mich heute jeder? Das war nicht fair!
„Lukas, du musst übrigens fahren.“
„Zack, ich darf nicht fahren.“
„Du hast doch einen Führerschein, oder?“
„Ja, aber ich darf nur fahren, wenn eine Begleitperson daneben sitzt.“
„Scheiß auf die Begleitperson. Es ist doch nicht weit. Komm schon!“
Bittend sah er mich an.
„Ja, komm schon, Lukas!“, unterstütze Alex ihn jetzt auch noch. „Du schuldest mir noch eine Fahrt.“
Eigentlich tat ich das nicht, aber seinem Hundeblick konnte ich nicht widerstehen und das wusste er nur zu gut. Mistkerl.
„Na gut“, gab ich mich geschlagen. „Aber wenn wir erwischt werden, gehen wir zusammen in den Knast.“
„Abgemacht“, strahlte Zack, während Tam Tam ihn nur zweifelnd musterte.
„Und wo willst du bitte ein Auto herbekommen?“, wollte sie wissen.
„Das lass mal meine Sorge sein“, meinte Zack nur und wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen.
Oh ha, wenn das mal kein Abenteuer wurde. Hallo Knast, wir kommen!
11. Dezember; Mittwoch
Ein Kratzen an der Tür lenkte mich von meinem Buch ab und es passte mir gar nicht, denn es war gerade wirklich spannend. Der Anblick von Alex, welcher versuchte, geschätzte 50 Pakete gleichzeitig in mein Zimmer zu balancieren, entschädigte mich jedoch von der Störung.
„Jetzt grins nicht so blöd, hilf mir lieber!“
Böse sah mein bester Freund mich an, stellte den Geschenkehaufen gleichzeitig aber auf meinem Schreibtisch ab, sodass ich ohne schlechtes Gewissen auf meinem Bett sitzen bleiben konnte. Nicht, dass ich andernfalls eins gehabt hätte. Alex schien das schon befürchtet zu haben, denn der Blick, den er mir zuwarf, sprach Bände. Jedoch änderte sich der Ausdruck in seinen Augen schlagartig, als er zu Tims verlassenen Bett sah. Ihm brannten die Fragen auf der Zunge, das wusste ich, und dennoch versuchte er mich so gut es ging abzulenken, ohne nachzuhaken.
Lächelnd betrachtete ich meinen besten Freund, der die Weihnachtsgeschenke für seine Familie auf meinem Schreibtisch ausgebreitet hatte und nun nach dem Geschenkpapier griff. Die Sachen für Tam Tam, Zack, Maja und Tim mussten auch dabei sein, denn in drei Tagen fand die Weihnachtsfeier unserer Schule statt und ich war wirklich stolz auf Alex, weil er die ganzen Geschenke jetzt schon hatte. Meine eigenen lagen schon fertig eingepackt im Schrank. Es war auch eins für Tim dabei, wobei ich momentan meine Zweifel hatte, ob er es überhaupt annehmen würde.
Die letzten Tage waren weird gewesen. Die Heizungen funktionierten zwar wieder, dafür war aber alles andere total durcheinander. Ich weiß nicht mehr, wie genau wir in die Situation gekommen waren, aber Tim hatte zugegeben, dass da was zwischen ihm und Julian lief. Wir hatten alle draußen auf dem Schulhof gestanden und uns die Beine in den Bauch gefroren, als Tam Tam plötzlich begonnen hatte, mit Tim zu diskutieren. Ich war aus ihren Bemerkungen nicht wirklich schlau geworden, doch sie hatte immer wieder in Julians Richtung gestikuliert und irgendwann hatte Tim ein entnervtes „Ja“ von sich gegeben und Tam Tam damit schlagartig verstummen lassen. Dadurch war dann auch Zack auf die Situation aufmerksam geworden, der solange mit Nadine über irgendetwas gesprochen hatte, und jetzt von Tim hatte wissen wollen, was los gewesen sei. Maja hatte dann, als weder Tim noch Tam Tam geantwortet hatten, einfach das Wort ergriffen und gemeint, zwischen Tim und Julian würde anscheinend etwas laufen, was Zack zu einem fassungslosen „Was?“ animiert hatte, woraufhin Tim ihn nur stumm angesehen hatte und dann ins Schulhaus gestapft war. Ende vom Lied war, dass Tam Tam immer noch versuchte, Zack wieder zu beruhigen, Tim noch weniger mit uns unternahm und ich keine Ahnung hatte, wo mir der Kopf stand. Ich hatte also offensichtlich Recht gehabt, als ich Tim auf Julian angesprochen hatte, auch wenn es anfangs eigentlich nur scherzhaft gemeint war. Nur half mir das überhaupt nichts, denn die Situation verschlechterte sich immer mehr, als dass sie sich entspannte. Konnten wir nur hoffen, dass Maja zu Tim durchdringen würde, denn jemand anderes ließ er zurzeit überhaupt nicht mehr an sich heran.
„Huhu! Erde an Lukas!“
Perplex sah ich auf und fand mich Auge um Auge einer Horde Rentiere gegenüber. Verwirrt schob ich die Geschenkpapierstange zur Seite und zog fragend eine Augenbraue nach oben. Alex seufzte daraufhin abgrundtief, was mir ein kleines Schmunzeln entlockte - er konnte schon eine kleine Dramaqueen sein - und hielt mir dann noch eine zweite Geschenkpapierrolle unter diese Nase, diesmal eine mit Schneemännern.
„Welche soll ich nehmen?“
Ich sah an ihm vorbei zu meinem Schreibtisch und stellte fest, dass bis jetzt noch kein einziges Geschenk eingepackt war. Ups, dann versuchte er wohl schon eine ganze Weile, zu mir durchzudringen.
„Rentiere“, entschied ich dann nach einigen Sekunden. „Außer Zack, der bekommt Schneemänner.“
„Okidoki, mehr wollte ich doch gar nicht wissen.“
Ein strafender Blick traf mich, ehe Alex wieder zu seinem Päckchenhaufen tänzelte und sich auf meinen Stuhl plumpsen ließ. Ich fühlte mich ja schon schuldig. Diesmal wirklich.
Mein Buch, welches sich immer noch aufgeschlagen auf meinem Schoß befand, legte ich auf den Nachttisch und schaltete dann das Radio ein, welches neben meinem Bett stand. Sofort schallten die Töne von „Jingle Bells“ durch mein Zimmer. Alex sah mich grinsend über seine Schulter an und begann dann einfach, mitzusingen. Schmunzelnd lehnte ich mich an die Wand und lauschte der Stimme meines besten Freundes mit geschlossenen Augen. Mit ihm konnte die nervige Vorweihnachtszeit fast schön sein.
„Jingle bells, jingle bells, jingle all the way. Oh, what fun to kill someone and end up in jail.”
Irritiert öffnete ich meine Augen und sah zu Alex, der selenruhig weitersang und nebenbei Geschenke einpackte.
„A day or two ago, the story I must tell. I went out on the snow and on my back I fell.”
„Alex?”
„Hm? In a one-horse open sleigh.”
„Welche Version ist das?”
Alex hielt kurz in der Bewegung inne, dann verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen und er drehte sich zu mir herum.
„Die Connor Walsh-Version*.“
Äh, ja. Das sagte mir jetzt alles.
„Du hast die Serie nicht gesehen, oder?“
„Welche Serie?“
„Die, von der ich dir schon tausend mal gesagt habe, dass du sie endlich schauen sollst!“
„Du hast mir bei vielen Serien gesagt, dass ich sie schauen soll.“
„Und wie viele hast du jetzt schon gesehen?“
„Keine Ahnung. Ich fange eben nur höchstens zwei Serien gleichzeitig an und suchte nicht wie du gleich zehn auf einmal durch.“
„Hey! Das waren nur … acht?“
Ich legte den Kopf schief und grinste. Jaja, mein kleiner Serienjunkie. Ich las lieber, denn beim Lesen wurden einem die Bilder nicht schon in den Kopf gesetzt. Auch wenn die Serien, die Alex mir vorschlug, zu 90 Prozent genau meinen Geschmack trafen.
„How to get away with murder.“
„Was?”
„Die Serie. Connor Walsh. Das Lied.“
„Ach so. Ja, ich erinnere mich an den Namen.“
„Na, immerhin etwas“, murmelte Alex und wand sich wieder seinem Rentierpapier zu.
Eine Weile saßen wir schweigend da und ließen uns von der Musik berieseln. Ab und an summte Alex mit oder sang leise ein, zwei Zeilen. Ich saß auf meinem Bett, hatte die Beine angewinkelt und sah ihm beim Geschenkeeinpacken zu. Ein Grinsen huschte über mein Gesicht, als sich das Klebeband um seinen Finger wickelte und er gedämpft fluchte. Als er dann jedoch den dünnen Plastikstreifen zwischen seine Lippen nahm und es bei dem Anblick in meinem Magen gleichzeitig zu kribbeln und zu stechen begann, zuckte ich ertappt zusammen. War ich jetzt allen Ernstes auf ein Stück Klebeband eifersüchtig? Das konnte doch nicht wahr sein! Am Anfang war doch alles so einfach. Der Pakt mit meinem Unterbewusstsein hatte funktioniert und ich war glücklich. Ich hatte mich über jede Berührung gefreut und es war okay. Aber jetzt … jetzt war es nicht mehr okay! Denn jetzt war ich auf jede Berührung und jeden Blick, der nicht mir galt, eifersüchtig und das war anstrengend! Und nervenaufreibend. Und alles andere als gesund. So viel also zum Thema, Liebe machte glücklich. Da hatte der Verfasser das kleine, aber entscheidende Wörtchen „erwiderte“ vergessen. Tja, dumm gelaufen, würde ich sagen, nur war nicht der Verfasser sondern ich der Dumme. In der derzeitigen Situation zumindest. Ich könnte mir jetzt die Haare raufen, aber dann würde ich mit 20 glatzköpfig hier sitzen, weil von meinen Haaren nichts mehr übrig wäre. Es war schon ein Dilemma.
Seufzend wand ich den Blick von Alex‘ Lippen ab und richtete meine Aufmerksamkeit stattdessen auf seine Haare, die - wie immer - total verwuschelt waren und es mich wieder einmal in den Finger juckte, sie noch mehr durcheinanderzubringen. Dann jedoch blieben meine Augen an seinem Ohr hängen. Belustigt krabbelte ich aus dem Bett und stellte mich hinter Alex. Interessiert beugte ich mich vor und besah den inzwischen recht großen Haufen eingepackter Geschenke. Und die sahen wieder einmal verdammt gut aus. So lange Alex auch immer brauchte, um sie zu besorgen, im Einpacken war er ein Meister.
„Brauchst gar nicht zu suchen, deins ist nicht dabei.“
„Hatte ich nicht vor“, grinste ich und stupste Alex sachte mit meinem Kopf an. Dann fuhr ich mit meinen Fingern durch seine Haare und ließ sie seinen Nacken hinuntergleiten.
„Was wird das?“
Alex‘ Stimme klang unbeschwert wie immer, aber ich kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Dass er kurz erstarrt war, ist mir nämlich aufgefallen.
„Du hast noch Farbe hinter dem Ohr.“
Als Unterstreichung meiner Worte umkreiste ich sein linkes Ohr einmal und zupfte dann die Paintball-Farbreste aus seinen Haaren. Wie die da hingekommen waren, war mir allerdings ein Rätsel, denn eigentlich hatten wir ja Helme aufgehabt. Und noch eigentlicher sollte diese Farbe mit Wasser abzuwaschen sein. Aber bei Alex wunderte mich ehrlich gesagt nichts mehr.
Als seine Haare wieder die Farbe hatten, die sie eigentlich haben sollten - nämlich schokobraun - stützte ich mich mit meinen Händen auf der Stuhllehne ab. Alex und ich kuschelten zwar sehr oft und hatten dementsprechend auch keine Berührungsängste, aber wenn er erstarrte, sobald ich ihn anfasste, dann war er vielleicht gerade nicht in Kuschellaune und das akzeptierte ich, wenn auch nur schweren Herzens.
„Hey, nicht aufhören.“ Auffordernd lehnte Alex seinen Hinterkopf an meinen Unterarm. „Das war angenehm.“
Okay… Also doch in Kuschellaune. Naja, ich würde mich nicht beschweren. Also vergrub ich meine Finger wieder in seinen Haaren, während Alex nach dem vorletzten Geschenk griff und sich derweil von mir kraulen ließ. Hatte er vorher zur Musik gesummt, schnurrte er jetzt wieder wie ein kleiner Kater, der seine Leibspeise vor das Näschen gestellt bekommen hatte. Ich musste mich arg zusammenreißen, um mich nicht zu ihm herunterzubeugen und an seinem Nacken zu knabbern, denn dieser lag gerade sehr verlockend vor mir.
Auf einmal war es aber nicht mehr Alex’ weiche Haut, die ich vor der Nase hatte, sondern seine schön geschwungenen Lippen, die sich sinnlich bewegten und meinen immer näher zu kommen schienen. Sein typischer Duft, den ich mehr als alles andere liebte, hüllte mich ein und … seine Lippen bewegten sich? Wieso bewegten sich seine Lippen?
Ich blinzelte ein paar Mal und sah dann auch Alex‘ Nase und seine Augen, die mich belustigt musterten. Belustigt und mit einem Ausdruck, den ich nicht so wirklich deuten konnte, der mir aber gefiel. Sehr gefiel. Und nach ein paar Momenten wusste ich auch, warum sich die Lippen meines besten Freundes bewegt hatten, beziehungsweise immer noch bewegten, denn im Radio lief gerade „You’ll Be In My Heart“ von Phil Collins und naja, wie sollte man es sagen? Es war unser Lied.
Während Alex sang, wich die Belustigung aus seinem Blick und machte dem anderen Platz.
„Why can't they understand
The way we feel.
They just don't trust
What they can't explain.”
Seine Stimme war leise, fast schon rau und sorgte dafür, dass sich eine ordentliche Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitete. Ich konnte meinen Blick nicht von seinen Augen abwenden, die immer dunkler zu werden schienen.
„I know we're different
But deep inside us
We're not that different at all.”
Meine Hände lagen mittlerweile auf Alex‘ Hals, streichelten vorsichtig über die warme Haut. Ich müsste mich nur ein wenig vorlehnen, er sich nur ein wenig drehen…
„From this day on
Now and forever more.”
Alex verstummte. Weil das Lied vorbei war oder er den Text nicht mehr konnte, wusste ich nicht. Es war nicht relevant. Ich nahm sowieso nichts mehr von meiner Umwelt war, da war nur noch Alex. Alex mit den wunderschönen braunen Augen, die kleine grüne Sprenkel um die Iris herum besaßen. Alex mit der etwas schiefen Nase, weil er in der Sechsten einen Volleyball abbekommen hatte. Alex mit den anbetungswürdigen Grübchen, das immer dann auftauchte, wenn er lachte. Es gab so viel, was Alex zu dem Alex machte, den ich liebte, was ihn die Person werden ließ, der man alles verzieh, ganz einfach, weil man es musste. Es gab keinen anderen Weg, man konnte Alex nicht böse sein. Vor allem dann nicht, wenn er einen so ansah. Ich hatte nicht mitbekommen, wann sein Gesicht meinem so nahe gekommen war, wann sich seine Hände in meinen Nacken gelegt hatten. Dafür wurde der Ausdruck in seinen Augen für mich immer deutlicher. Ich musste ihn nur noch greifen, den Tunnelblick für einen kurzen Moment aufgeben, dann wüsste ich es. Doch ich wollte nicht. Nicht jetzt, denn momentan reichte das Wissen, dass ich im Augenblick das einzige war, was für ihn existierte. Das wusste ich instinktiv. Vielleicht, weil es mir genauso ging.
„Lukas“, wisperte er mit belegter Stimme. „Ich - “
Die Tür wurde aufgestoßen und wir fuhren auseinander. Tim stand mit Sportsachen bekleidet im Raum und musterte uns mit einem abschätzenden Blick. Ich stieß überrascht die Luft aus meinen Lungen und bemerkte erst jetzt, dass ich sie angehalten haben musste. Dann sah ich zu Alex, der Tim einen bösen Blick zuwarf und dann, als wäre nichts gewesen, sein letztes Geschenk in die Hände nahm, um es einzupacken. In die Hände, die kurz zuvor noch meinen Nacken gekrault hatten. Es kam mir vor, als wäre gerade eine Seifenblase geplatzt, nur dass ich der einzige zu sein schien, der hart auf dem Boden der Realität aufgekommen war. Wäre das Ganze hier einer dieser Schnulzenfilme, müssten Alex und ich uns jetzt verstohlene Blicke zuwerfen, während wir knallrot im Gesicht irgendetwas machen würden, um uns abzulenken. Nur war es kein Schnulzenfilm, denn warum sollten wir uns fast geküsst haben? Es war Wunschdenken gewesen und die Tatsache, dass Alex selenruhig und vollkommen nicht rot im Gesicht die letzte Schleife um das Rentierpapier wickelte, bestätigte das nur. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und versteckte mich hinter der erstbesten Zeitschrift, die ich in die Finger bekam, denn ich war mir sehr sicher, dass meine Wangen im Gegenzug zu Alex‘ knallrot leuchteten.
„Ich wusste gar nicht, dass du dich neuerdings für Babyklamotten interessierst. Ich dachte, du wärst schwul.“
„Darf ich deswegen keine Kinder haben, oder was?“, blaffte ich in Tims Richtung zurück und pfefferte die Zeitung auf meinen Schreibtisch.
„Doch klar, aber ich wollte es nur bestätigt haben. Du hattest nämlich eine Gartenzeitschrift in der Hand, keine mit Babyklamotten. Mann oh Mann, Alex muss ja echt talentiert sein.“
„Wir haben nicht -“
„Lass gut sein, Lukas. Wem machst du eigentlich was vor? Und jetzt genießt eure Zweisamkeit, Tam Tam hat angedroht, nachher zu euch hoch zu kommen.“
Und damit war er wieder aus dem Zimmer verschwunden. Langsam drehte ich meinen Kopf und warf einen Blick auf das Cover. Tatsächlich, Gartenzeitschrift. Oh fuck, bitte Boden, tu dich auf! Ich wollte Alex nicht mehr in die Augen sehen. Nicht jetzt, nicht morgen und am besten auch nicht in 100 Jahren.
„Ignorier ihn einfach“, durchbrach Alex nach einigen Sekunden das Schweigen. „Er ist nur neidisch.“
Jetzt blickte ich doch auf, nicht wissend, auf was Tim neidisch sein sollte. Alex saß immer noch auf meinem Stuhl, spielte unbewusst mit einer Schere und sah ruhig zu mir auf. Ruhig, gelassen und vollkommen beherrscht. Boden? Bitte bitte?
„Kommst du morgen eigentlich mit zu mir? Weil nach der Weihnachtsfeier übernachte ich ja wieder hier. Also, wenn das okay ist.“
„Was?“, krächzte ich. „Ja, ähm, klar. Warum sollte es nicht okay sein?“
Weil du gerade an einem Herzkasper krepierst?
„Gut, wollte nur sicher gehen“, grinste Alex und stand auf. „Ich werde mich dann mal bettfertig machen, Geschenkeeinpacken ganz wirklich anstrengend sein. Und bevor Tam Tam dann kommt…“
Er schnappte sich sein Waschzeug, warf sich ein Handtusch über die Schulter, zwinkerte mir zu und verließ den Raum. Wie konnte er es wagen, mir zuzuzwinkern? Nach allem, was gerade passiert war, konnte er mir doch nicht einfach zuzwinkern! Das war… Das…
Atme.
Tat ich doch die ganze Zeit.
Atme ruhig! Ein und aus. Ein. Und. Aus. Du schaffst das! Er hat schon schlimmeres angestellt. Und Tim auch. Du stehst über so etwas. Kein Grund, sich aufzuregen, das bringt nämlich nichts, außer dass du dich noch mehr zum Affen machst.
Wie überaus motivierend, aber Recht hatte die Stimme ja. Und wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich den liebevollen Spott schon vermisst. Als sie sich das letzte Mal um mein Wohlergehen gesorgt hatte, war das nämlich etwas verwirrend gewesen. Also: Ein- und ausatmen. Ein und aus. Ein und aus. Ein und -
„Äh, Lukas?“ Alex steckte seinen Kopf durch die Tür. „Ich hab meine Zahnbürste vergessen. Kann ich deine benutzen?“
Perplex blinzelte ich und brauchte eine Sekunde, um zu realisieren, wie verpeilt dieser Kerl mal wieder war. Dann holte ich meine Zahnbürste, drückte ihm das Ding in die Hand und gab ihm zum Schluss noch einen Klaps auf den Hinterkopf. Wie konnte man nur so durchs Leben kommen?
Dankbar nickend drehte Alex sich wieder um und rannte prompt in Tam Tam hinein, die offenbar direkt hinter ihm gestanden hatte.
„Hoppla!“
Entschuldigend hob er die Hände und schenkte ihr sein typisches Alex-Grinsen. Mein Alex-Grinsen! Ich verspürte einen Stich in der Brust und beobachtete mit Argusaugen, wie Tam Tam abwinkte, Alex dann an ihr vorbei in den Gang schob und lächelnd auf mich zukam.
„Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt.
„Ja.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ja, natürlich. Komm rein.“
Ist das dein Ernst? Du bist eifersüchtig? Auf Tam Tam?
Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ja, ich war neidisch auf meine beste Freundin, die glücklich vergeben war, weil mein bester Freund sie angegrinst hatte, so wie er es hundertmal am Tag tat. Das war es definitiv mit dem Jede-Berührung-genießen-Pakt. Und zwar endgültig.
*https://www.youtube.com/watch?v=kuOgaV6O5rk
13. Dezember; Freitag
„Morgen Mum, Morgen Dad! Morgen Süßer!“
Gut gelaunt kam Alex in die Küche und gab erst seinen Eltern einen Kuss auf die Wange, ehe er mich von hinten umarmte und das Gleiche bei mir wiederholte. Irritiert sah ich meinem besten Freund dabei zu, wie er sich neben mich setzte und nach dem Behälter seines Hauptnahrungsmittels - dem Nutellaglas - Ausschau hielt.
„Guten Morgen“, begrüßte Alex‘ Vater seinen Sohn. „Entschuldige, aber die Nutella habe ich vergessen hinzustellen. Außer dir essen hier nämlich alle herzhaft zum Frühstück.“
„Dabei ist Lukas ja so ein Süßer, nicht wahr, Schätzchen?“, lächelte seine Mutter vielsagend und zwinkerte mir zu.
Das war jetzt echt gemein! Erstens war ich nicht dafür verantwortlich, dass sich Alex am frühen Morgen körperlich betätigen musste, um an seine Nutella zu kommen und zweitens war ich nicht süß!
„Oh ja, das ist er“, stimmte Alex seiner Mutter zu und wuschelte mir durch die Haare, bevor er sich wieder setzte und sein Brötchen aufschnitt.
„Nimm es uns nicht übel, Liebes, aber du gehörst eben zur Familie.“
Liebevoll blickte Alex‘ Mutter - Sandra - mich über den Tisch hinweg an. Ich schluckte und nickte. Solche Bemerkungen von Alex war ich gewöhnt, auch wenn der Kuss etwas überraschend kam, ebenso wie seine gute Laune am Morgen. Andererseits hatten wir heute Freitag und das hieß zwei Stunden Musik. Mal wieder. Und diesmal konnte ich nicht schwänzen, da Alex schon angekündigt hatte, dass er mich nicht aus den Augen lassen würde. Nach der Sache am Mittwoch war ich eigentlich erleichtert, dass alles wieder wie vorher war - von meinen gelegentlichen Eifersuchtsattacken einmal abgesehen - denn ein angespanntes Verhältnis zwischen Alex und mir war das letzte, was ich jetzt noch brauchte. Und da er sich normal verhielt, tat ich es ebenso und taddaa: alles war gut.
„Apropos Familie“, begann Chris, Alex‘ Vater. „Möchtest du Apfelrotkohl oder soll ich lieber Pflaumen dran machen?“
„Ähm…“ Verwirrt sah ich zu Alex, der mich mit Nutella am Mund angrinste.
„Weihnachten“, erklärte er.
Oh. Das war ja bald.
„Ihr meint, ich darf hier bleiben über die Ferien?“
„Ach, Schätzchen“, lachte Sandra. „Du musst. Wir bestehen darauf.“
„Das ist doch gar keine Frage!“, meinte auch Chris.
Ich blinzelte. Das war… Ich war gerührt. Zwar hatte ich das letzte Weihnachten auch hier verbracht, aber dass Alex‘ Familie selbstverständlich davon ausging, dass es dieses Jahr wieder so sein würde, war einfach unglaublich.
„Also? Äpfel oder Pflaumen?“
Liebevoll blickte Alex mich an und umschloss meinen einen Fuß unter dem Tisch mit seinen.
„Ist mir egal“, antwortete ich und fügte ein „Wirklich!“ hinzu, als Chris mich kritisch beäugte. „Ich esse beides gern und wenn du es kochst, dann schmeckt es ausgezeichnet, ganz gleich was es ist.“
„Oh oh, Papa, merk dir das gut! So ein Geschleime wirst du von Mama und mir nicht bekommen.“
„Genau, mein Hase. Auch wenn du wirklich sehr gut kochen kannst.“
„Jaja, ich weiß doch. Aber danke, Lukas, ich freue mich, dass es dir so gut schmeckt.“
„Immer“, grinste ich.
Chris‘ Kochkünste waren wirklich super, aber er leitete auch ein eigenes kleines Restaurant, da sollte man das, glaube ich, können.
„So, und nun ab mit euch in die Schule, nicht dass ihr wegen uns noch zu spät kommt. Außerdem ist es glatt draußen, also fahrt vorsichtig, wenn ihr das Rad nehmt.“
Sandra stand auf und scheuchte uns ebenfalls von den Stühlen. Danach drückte sie jedem von uns noch eine Brotbüchse in die Hand und schloss erst mich und dann Alex in eine herzliche Umarmung.
„Wann beginnt die Feier morgen?“, fragte sie, als wir im Flur standen und uns gerade die Schuhe zubanden.
„Um sieben“, antwortete Alex. „Ist aber Open-End, also wenn ihr fünf Minuten später da seid, ist es nicht schlimm.“
„Du willst deine alten Eltern wohl nicht dabei haben?“, tadelte ihn Chris.
„Doch, klar. Ich möchte euch nur die Langeweile ersparen. Um sieben ist da noch nichts los.“
„Aber das Buffet ist noch voll“, warf ich ein.
„Das stimmt allerdings“, grinste Alex. „Also ist es egal, wann ihr kommt. Ich sehe euch ja dann. Ihr könnt auch nochmal eine Nachricht schreiben.“
„Machen wir. Und jetzt ab mit euch! Ihr müsst zur Schule.“
„Viel Spaß!“, rief uns Chris noch nach, als wir das Haus verließen und ich schon gleich das erste Mal fast ausgerutscht wäre.
*
„Wow... Vorsicht!“
Lachend griff Alex nach meinem Arm und verhinderte so, dass ich zum was weiß ich wievielten Male an diesem Morgen mit dem Boden Bekanntschaft schließen wollte. Aber immerhin waren wir jetzt am Internat angekommen, was so viel wie Standfestigkeit für die Füße bedeutete. Endlich!
„Danke“, murmelte ich und richtete mich aus meiner Schieflage wieder auf.
„Immer wieder gern.“
Alex salutierte und schob mich dann zur Eingangstür hinein. So langsam hatte ich die Befürchtung, mein bester Freund war auf Drogen. Gut gelaunt war er zwar ständig, aber nicht um diese Uhrzeit und auch nicht bei diesen Temperaturen!
„Du siehst aus, als könntest du einen zweiten Kaffee gebrauchen.“
Fachmännisch musterte mich besagter Freund und zog mich dann in Richtung unseres hart erkämpften Getränkeautomaten. Während er auf dem Weg dorthin darüber philosophierte, wie viel Sinn es machte, wenn er mir jetzt einen Kaffee spendierte, wenn ich doch vor einer halben Stunde erst einen getrunken hatte und dessen Wirkung erst später einsetzte, holte ich mein Handy aus der Tasche, da dieses vibriert hatte. Eine neue Nachricht von Mia. Lächelnd öffnete ich die SMS, gespannt, was meine große Schwester zu sagen hatte.
Na Großer? Oder eher Kleiner? :P Wie geht’s dir? Hab lange nichts mehr von dir gehört… Müssen wir dringend nachholen, denn ich hab schlechte Nachrichten für dich. Ruf mich einfach so bald du kannst an, ich hab heute keine Uni. ^-^ Also, bis dann, ne? Hab dich lieb! :)
Schlechte Nachrichten? Ich biss mir auf die Lippe und tippte schnell eine Antwort ein. Die 20-Minuten-Pause nach der ersten Doppelstunde musste reichen. Ich konnte nicht schon wieder schwänzen, auch wenn ich es im Notfall für meine Lieblingsschwester tun würde. Nebenbei nahm ich geistesgegenwärtig den Becher an, den Alex mir vor die Nase hielt, und nahm einen Schluck. Hieß also, er hatte sich dazu entschieden, das Risiko einzugehen, dass ich in den ersten Stunden wahrscheinlich dennoch nicht an seine gute Laune herankam und dann später meinen Koffeinkick hatte, wenn Alex wieder normal war. Also vielleicht die Chance, dass wir beide gleich aufgekratzt waren. Wir würden es ja sehen…
*
Sobald es zur Frühstückspause klingelte, verzog ich mich in eine ruhige Ecke des Schulgebäudes und wählte schon auf dem Weg Mias Nummer.
„Na, mein Kleiner?“
„Hey, Mia! Schwänzt du etwa?“
„Als ob ich schwänzen würde!“
Ich sah das scheinheilige Grinsen bildlich vor mir und lehnte mich lächelnd an die Hauswand.
„Hast du gerade Pause?“
„Jap, aber nur 20 Minuten. Also erzähl! Was gibt’s Neues?“
„Nicht so viel. Uni läuft ganz gut, meine Mitbewohner haben sich wieder eingekriegt - du kannst dir nicht vorstellen, was die alles abgezogen haben -, das heißt, man kann die Wohnung sogar wieder betreten und najaaa…“
Ich wurde hellhörig.
„Ja?“
„Also, die schlechte Nachricht, die ich habe… Wir können Weihnachten dieses Jahr nicht zusammen skypen. Es tut mir so leid, Kleiner!“
„Was? Wieso denn das?“
Enttäuscht fuhr ich mir durch die Haare. Weihnachten ohne Mia? Das war wie Schule ohne Alex - das ging nicht!
„Es tut mir wirklich wahnsinnig leid! Letztes Jahr war so witzig.“
Bei der Erinnerung musste ich unwillkürlich grinsen. Ja, das konnte man bisher als bestes Weihnachtsfest ever bezeichnen.
„Deine Plätzchen waren sogar genießbar“, stichelte ich grinsend. „Trotz acht Stunden Flug plus Vor- und Nachreiseweg.“
„Meine Backkünste bleiben eben unschlagbar.“
Sie lachte und obwohl Mia eigentlich immer recht bescheiden war, wusste ich, wie stolz sie auf diese Fähigkeit war. Und diese Plätzchen waren wirklich der Hammer gewesen.
„Hatte Alex nicht sogar ein Rentiergeweih auf, als er probiert hat? Ich glaube, diesen Anblick werde ich nie vergessen.“
Ich sah auf den Hof, wo die anderen standen, und beobachtete meinen besten Freund, wie er mit irgendwelchen Zetteln herumfuchtelte. Eine Welle aus Wärme durchströmte meinen Körper und ich seufzte leise.
„Hatte er, ja. Vielleicht bringe ich ihn dieses Jahr dazu, es wieder aufzusetzen, dann kann ich dir ein Foto schicken.“
„Das wäre super, nur bekomme ich das leider erst später.“
Bedauern schwang in ihrer Stimme mit und ich wandte mein Blick von Alex ab und runzelte die Stirn.
„Was ist denn nun los? Du macht mir gerade Angst, Schwesterherz.“
„Naja, ich fahre mit meinem Freund zu seinen Eltern und die -“
„Freund? Warum erfahre ich davon erst jetzt?“
Ich versuchte, streng zu klingen, doch ich war Mia alles andere als böse. Es war schön, wenn sie endlich jemanden gefunden hatte.
„Ja, Freund…“, bestätigte sie kleinlaut. „Er heißt David und ist super super süß! Und er sieht gut aus, ist zuvorkommend und ganz lieb! Du kannst dir nicht vorstellen, was der für blaue Augen hat! Lukas, ich glaube, ich bin verliebt!“
„Das denke ich auch.“
Sie seufzte.
„Hey, aber ist doch schön! Und wenn ihr zu seinen Eltern fahrt, klingt es auch so, als wäre es etwas Ernstes.“
„Das hoffe ich. Wir kennen uns noch nicht so lange, aber ihm war es wichtig, dass ich seine Familie kennenlerne. Bei unseren Eltern hat er zum Glück eingesehen, dass sie ein wenig zu weit wegwohnen. Das würde ich ihm nicht antun wollen.“
Wir wussten beide, dass sie nicht von der Entfernung sprach.
„Ich drücke dir ganz fest die Daumen!“
„Danke, Kleiner!“
Ich lächelte und trat ein paar Schritte vor.
„Und wieso genau können wir jetzt nicht skypen?“
„Naja, seine Eltern wohnen in der Pampa. Also in der richtigen Pampa. Stell dir am besten die größtmögliche Pampa vor und dann dürre sie nochmal um ein Tausendfaches aus und dann hast du das Was-auch-immer, wo Davids Eltern wohnen. Keine Ahnung, wie man da leben kann, denn sie haben kein Internet, keine Telefonverbindung, kein irgendwas! Ich glaube, er hatte was davon gesagt, dass alle paar Wochen ein Postbote kommt und die Briefe und Pakete mitnimmt und dass es einen kleinen Laden gibt. Und natürlich eine Bar.“
Ich sog ihr Lachen in mich auf, denn wenn das stimmte, würde ich wirklich nichts von ihr hören. Hauptsache, sie quartierte sich da nicht ein. Doch so wie sie gerade jammerte, bezweifelte ich das.
„Kleiner, ich habe keinen Plan, wie ich das überleben soll!“
„Mit ganz viel kuscheln“, grinste ich.
„Wer soll kuscheln?“
Neugierig schlang Alex seine Arme von hinten um mich und drückte seine Nase an meinen Nacken.
„Mia mit ihrem Freund.“
„Ist das Alex?“
„Ja. Willst du ihm sprechen?“
Bevor ich ihre Antwort hörte, nahm Alex mir das Handy aus der Hand und hielt es sich ans Ohr.
„Na, du kleiner Ami? Schon die Hundert-Kilo-Marke erreicht? -- Jaja, sorry. Hab’s nicht so gemeint, kennst mich doch. -- Ach, der kümmert sich ausgezeichnet um mich.“
Alex zwinkerte mir zu.
„Hey, ich würde gerne weiter mit dir quatschen, aber wir haben jetzt Deutsch. -- Ja, genau mit dem. -- Haha, danke, ich werde ich es ihm ausrichten. -- Mach’s gut, ich knuddel Lukas von dir. -- Danke, dir auch! Bye!“
Er legte auf und drückte mir das Handy wieder in die Hand, ehe er sein Versprechen wahrmachte und mich in seine Arme zog und durchknuddelte.
„Was hat sie gesagt?“, wollte ich wissen, als sich die blöden Schmetterlinge in meinem Bauch wieder gelegt hatten und wir Richtung Schulgebäude gingen.
„Sie hat uns viel Spaß mit Herrn Jansen gewünscht. Aber jetzt mal ehrlich: Müsste sie nicht längst fett sein?“
„Nur weil sie in Amerika studiert?“
„Ja?“
„Du bist doch auch nicht fett, obwohl du haufenweise Süßigkeiten isst.“
„Ich mache ja auch Sport.“
„Stell dir vor, das kann man in Amerika auch tun.“
Ich knuffte ihm in die Seite und wuschelte dann entschuldigend durch seine Haare. In Deutsch brauchte ich einen gut gelaunten Alex, da durfte er nicht wegen mir beleidigt sein.
„Na gut“, seufzte er schließlich. „Dir sei verziehen.“
Dann nahm er meine Hand und zog mich zu unseren Plätzen.
*
„Lukas! Warte mal bitte!“
Ich drehte mich um und sah Tam Tam fragend entgegen, die keuchend auf mich zukam. Alex, Maja, Zack und ich waren gerade auf dem Weg in die Internatsküche gewesen, weil Maja ein neues Muffinrezept entdeckt hatte und jeder von uns Muffins liebte und wir es deshalb ausprobieren wollten.
„Kann ich dich kurz entführen? Es ist wichtig.“
Ihr Blick wanderte zu Alex, der nicht gerade begeistert aussah.
„Wie sollen wir denn ohne Lukas Mupfins backen?“, beschwerte er sich auch sofort und legte einen Arm um meine Schultern. Ich grinste wegen seiner Bezeichnung für Muffins und musste ihm insgeheim Recht geben. Wie die das schaffen sollten, ohne dass Tam Tam oder ich dabei waren, war fragwürdig.
„Oh, Muffins?“ Tam Tam sah aus, als wollte sie am liebsten alles andere vergessen und mitmachen, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Die bekommt ihr auch alleine hin, ihr seid ja zu dritt.“ Sie zwinkerte Zack zu. „Ist wirklich wichtig, sonst würde ich euch helfen.“
„Na gut“, gab Alex schließlich nach. „Aber wirklich nur kurz.“
„Versprochen.“
Widerwillig löste er seinen Arm von mir und nahm dann die Mehlpackung aus meinen Händen.
„Viel Spaß“, grinste ich und sah zu, wie sich die drei entfernten. Dann wandte ich mich Tam Tam zu. „Was gibt’s?“
„Du musst mir helfen.“
Sie nahm meinen Arm und zog mich in ihr Zimmer. Dort ließ sie sich auf ihr Bett sinken und sah mich entkräftet an.
„Es geht um die Weihnachtsfeier“, erklärte sich.
„Gab’s Probleme bei der Planung?“
Tam Tam hatte das Ganze mit vorbereitet und wenn jetzt noch irgendwelche Dinge dazwischenkamen, die nicht dazwischenkommen sollten, dann konnte ich verstehen, warum sie so verzweifelt aussah.
„Nein, für morgen steht alles. Hoffe ich zumindest. Es geht um Zacks Geschenk. Ich… Ich habe keine Ahnung, was ich ihm schenken könnte und die Feier ist morgen! Und selbst wenn nicht… Ich habe kein Geschenk!“
Schluchzend rollte sie sich zusammen und umklammerte das rote Herzkissen, welches Zack ihr zu ihrem ersten Jahrestag geschenkt hatte. Ich lächelte. Die beiden waren jetzt schon seit knapp zwei Jahren zusammen. Doch meine beste Freundin sah gerade so aus, als ob ihr gar nicht nach Lachen zumute wäre und ich setzte mich neben sie und legte ihr tröstend eine Hand auf den Rücken.
„Hat Zack irgendetwas angedeutet?“
„Nein“, schniefte sie. „Ich bin so eine schlechte Freundin!“
Sie drückte das Kissen noch dichter an ihren Körper.
„Hey, das bist du nicht und das weißt du. Zack kann sich glücklich schätzen, dass er dich hat und das weiß er. Also mach dir keine Sorgen, außerdem hast du bis Weihnachten noch elf Tage. Du hast es letztes Jahr geschafft, innerhalb von 36 Stunden ein Frühlingsfest zu organisieren und das war der Hammer! Also wirst du auch in 11 Tagen ein Geschenk zustande bringen.“
Ich glaube, so viel habe ich seit Langem nicht mehr am Stück gesagt. Doch es schien Wirkung zu zeigen, denn Tam Tam lugte hinter dem roten Fusselhaufen hervor und sah mich aus großen Augen an.
„Aber es geht doch um das Geschenk für meinen Freund. Das ist kein Frühlingsfest -“
„Dass man eben mal so nebenbei organisiert? Da hast du recht.“
Aufmunternd lächelte ich sie an und ganz zaghaft erwiderte sie es.
„Hilfst du mir?“
„Natürlich.“
„Danke.“
Sie setzte sich auf und wischte sich die Tränen von den Wangen. Es musste sie wirklich fertig machen, ich hatte Tam Tam nämlich noch nicht oft weinen gesehen.
„Schon gut“, flüsterte ich und zog sie in meine Arme. „Also, was mag er denn gerne?“
„Muffins.“
Sie lachte und ich stimmte mit ein.
„Er hat in letzter Zeit die Jason Harbor-Trilogie verschlungen.“
„Zack liest?“
Entgeistert sah ich Tam Tam an.
„Stell dir vor, manchmal geschehen Wunder.“
Sie kicherte.
Immer noch perplex lehnte ich meinen Kopf an ihren und überlegte. Jason Harbor. Der Name sagte mir etwas, aber nicht in Verbindung mit einer Buchtrilogie. Harbor… Nicht Pearl Harbor und nicht Jason Bourne. Jason Harbor. Jason Harbor, das Computerspiel. Das war’s!
Ich tippte Tam Tam an.
„Es gibt ein Computerspiel, das an die Buchreihe angelehnt ist. Habe neulich die Werbung dafür gesehen und es hatte, glaube ich, ganz gute Kritiken.“
„Ja?“ Mit leuchtenden Augen sah Tam Tam zu mir auf. „Das wäre perfekt. Weißt du noch, wo du die Werbung gesehen hast?“
„Nope, aber wenn du das im Netz eingibst, dann solltest du da etwas finden.“
„Du bist ein Schatz!“
Strahlend fiel sie mir um den Hals und zusammen kippten wir um.
„Sorry.“
Zerknirscht rollte sie von mir herunter und half mir auf.
„Irgendwie scheine ich zum Umfallen einzuladen.“
„Ja, da ist was dran. Wie läuft’s denn zwischen dir und Alex?“
Aufmerksam musterte sie mich.
„Äh, wie immer?“
Tam Tam legte ihren Kopf schief.
„Und wirklich? Du sahst am Mittwoch als ich bei euch im Zimmer war ziemlich durcheinander aus und überhaupt: Wie Alex sich um dich sorgt, wie ihr noch mehr als sonst kuschelt, die Klamotten des jeweils anderen tragt und … Tim hat da auch was fallen gelassen…“
Bei Tims Namen zuckte ich zusammen.
„Ihr redet immer noch nicht?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Dann solltet ihr das endlich klären!“
„Aber wie?“
„Indem du dir erstmal selbst eingestehst, dass du in Alex verknallt bist?“
„Das habe ich doch schon längst.“
Ich seufzte und fuhr mir durch die Haare. Zumindest solange, bis ich erschrocken zusammenfuhr.
„Sorry, ich wollte nicht quietschen.“ Zerknirscht zerknautschte Tam Tam ihr Kissen. „Vor allem, weil ich die Vermutung schon lange habe, aber… Ahhh, das ist einfach so süß! Wie lange schon?“
Mit großen leuchtenden Augen sah sie mich an und klatschte freudig in die Hände. Was Mädchen immer hatten…
„Wie lange ich ihn schon mag oder seit wann ich es mir eingestanden habe?“
„Beides“, grinste sie über beide Ohren. „Das und wer noch davon weiß und ob ihr zusammen seid und … einfach alles.“
„Oh Gott, das artet ja in Arbeit aus.“
„Du kennst mich doch.“
Scheinheilig lehnte sie sich an meine Schulter und griff nach einem mit Süßigkeiten gefülltes Glas, welches auf ihrem Nachttisch stand. Auffordernd hielt sie es mir unter die Nase.
„Als Entschädigung.“
„Danke.“
„Und nun erzähl!“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen… Wir sind nicht zusammen und ich bin im Gegensatz zu Tim auch davon überzeugt, dass Alex nichts von mir will und -“
Ich stoppte, als ich Tam Tams vielsagenden Blick bemerkte, doch sie winkte ab.
„Naja, wie lange ich schon auf ihn stehe… Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung und eingestanden habe ich es mir nicht so wirklich.“
„Wie meinst du das?“
„Es war eher so ein Ich-genieße-seine-Nähe-Ding, das irgendwann mit Eifersucht einherging und nicht mehr ganz so entspannt war.“
„Oh, die Eifersucht.“ Tam Tam seufzte. „Das kenne ich. Ich hätte damals mehrere Mädchen umbringen können und das nur, weil sie einmal in Zacks Richtung geschaut haben.“
„Ja…“
Nervös knetete ich meine Hände und wich ihrem Blick aus.
„Lukas? Was ist los?“
„Also ich wollte dich nicht umbringen, aber … eifersüchtig war ich schon.“
„Äh…“
Sprachlos starrte Tam Tam mich einen Moment an, dann prustete sie los.
„Sorry, Lukas, aber … du? Eifersüchtig auf mich? Das ist… Das -“
Die Tür öffnete sich und Nadine kam ins Zimmer. Sie warf Tam Tam und mir einen skeptischen Blick zu, aber ich konnte es ihr nicht verübeln. Wie Tam Tam und ich auf Tam Tams Bett saßen, sie vor Lachen knallrot im Gesicht und ich nicht gerade begeistert, war bestimmt ein komisches Bild. Sie fragte aber nicht nach, sondern holte nur einen Hefter von ihrem Schreibtisch und verschwand wieder.
Tief holte Tam Tam Luft und versuchte - nur bedingt erfolgreich -, sich zu beruhigen.
„Was bitte ist daran jetzt so witzig? Ich fand das nämlich nicht lustig.“
Beleidigt verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Lukas, es tut mir wirklich leid, aber die Vorstellung, wie du auf mich eifersüchtig bist, und das wegen Alex, ist einfach zu herrlich.“
„Hm…“
„Ach, komm her.“
Sie zog mich in ihre Arme und beruhigte sich langsam wieder.
„Hast du vor, es ihm zu sagen?“
„Was? Nein! Ich will ihn nicht verlieren.“
„Ich bezweifle, dass du ihn verlieren würdest.“
„Nein, ich will das Risiko nicht eingehen. Noch nicht zumindest.“
„Okay, es gibt ja auch erstmal andere Dinge, die man klären könnte. Dinge wie Tim zum Beispiel.“
„Ja, du hast Recht. Wir sollten das klären, aber ich habe keine Ahnung wie.“
Verzweifelt vergrub ich das Gesicht in meinen Händen. Bis jetzt war jede Begegnung zwischen Tim und mir die Hölle gewesen. Warum sollte es also dieses Mal anders sein?
„Hey“, sanft zwang Tam Tam mich, sie anzusehen. „Du schaffst das! Ihr beide schafft das! Okay?“
„Okay.“
Ich nickte. Wir würden das hinkriegen. Bis jetzt hatten wir es immer hinbekommen.
„Sehr gut. Also hopp hopp, ab mit dir! Ich will euch nicht mehr sehen, bis ihr das geklärt habt.“
Grinsend erhob ich mich. Jetzt hatte ich ja gar keine andere Wahl mehr, als es wieder gerade zu biegen.
„Und Lukas?“
Ich drehte mich um.
„Danke. Ohne dich wäre ich verzweifelt.“
„Immer wieder gern.“
Ich lächelte und verließ das Zimmer. Sobald sich die Tür jedoch hinter mir schloss, erlosch das Lächeln auf meinen Lippen und machte einem dicken fetten Kloß in meinem Hals Platz. Ich wäre gerne so überzeugt gewesen wie Tam Tam, doch ich war es nicht. Ganz und gar nicht.
*
„Das war länger als kurz!“, wurde ich anklagend von meinem besten Freund begrüßt, als ich die Internatsküche betrat. Ja, ich konnte mir versuchen einzureden, was ich wollte, Fakt war, dass ich die Begegnung mit Tim nur hinauszögern wollte.
„Sorry, war wichtig.“
„Und das nicht?“
Erwartungsvoll zeigte Alex auf einen riesengroßen Haufen Muffins, die verlockend dufteten.
„Ihr habt es ja geschafft“, meinte ich und betrachtete grinsend die vollbekleckerten Schürzen der Drei. Ich wollte nicht drüber nachdenken, wie viele Anläufe sie gebraucht hatten.
„Im Ofen sind gerade welche und Teig ist auch noch da.“
Mit einer großen Schüssel in den Händen stand Maja neben Zack und nahm ihm kopfschüttelnd einen Löffel aus der Hand, mit welchem er versucht hatte, sich Teig zu stibitzen.
„Manno“, grummelte Zack beleidigt, hüpfte dann aber auf mich zu und drückte mir ein Glas Kirschen in die Hand. „Einmal aufmachen, bitte.“
Lächelnd ging ich zum Tisch und tat ihm den Gefallen.
„Was habt ihr damit vor?“, fragte ich interessiert.
„Kreationen. Immerhin ist noch Teig da und 60 gleiche Muffins sind langweilig.“
„60!?“
Ungläubig sah ich erst Maja und Zack an, dann wanderte mein Blick zu Alex, der abwehrend die Hände hob.
„Ich hab gesagt, dass das Teelöffel heißt, aber Zack war der felsenfesten Überzeugung, dass er da drei gehäufte Esslöffel Backpulver dran schmeißen musste, deswegen mussten wir den Rest anpassen.“
„Ihr seid schon intelligent.“
Grinsend schüttelte ich den Kopf. Immerhin schienen sie den Rest wirklich hinbekommen zu haben. Wenn man von dem halben Kilo Mehl und den zwei heruntergefallenen Eiern auf dem Boden einmal absah.
„Das ist alles deine schuld!“, maulte Alex und drückte sich von hinten an mich. „Oder eigentlich ist es Tam Tams Schuld, denn sie hat dich ja entführt.“
„Hey, lass meine Freundin in Ruhe!“
Gespielt böse funkelte Zack meinen besten Freund an, doch der grinste nur und schloss seine Arme noch fester um mich, als ich mich befreien wollte. Das war jetzt echt gemein! Einfach hierzubleiben war so verlockend und dann raffte ich mich schon einmal auf und dann wurde ich gewaltsam zurückgehalten.
„Du verschwindest jetzt nicht!“, murmelte Alex.
„Ich muss. Aber nachher darfst du machen, was du willst.“
„Mit dir?“
Er drehte mich in seinen Armen um und seine Augen funkelten schelmisch. Oh oh… Die anderen beiden grinsten vielsagen, hielten sich aber dezent im Hintergrund.
„Ja, mit mir. Aber nur, wenn du mich jetzt gehen lässt.“
„Na gut, aber dann nimm wenigstens einen Mupfin mit. Oder auch zwei oder drei. Warte kurz!“
Alex ging um mich herum zum Tisch mit den Muffins, nahm sich einen und griff dann nach der Zuckerschrift. Nach ein paar Sekunden drehte er sich wieder um und hielt mir stolz einen Muffin mit einem dicken fetten - und schiefen - Herz unter die Nase.
Ich biss mir auf die Lippe und nahm ihm den Muffin lächelnd ab.
„Danke.“
„Für dich immer und diese da“, er zeigte auf einen Teller mit bestimmt zehn Muffins drauf, „nimmst du auch noch mit.“
„Äh…“
„Lass gut sein, Lukas“, grinste Maja. „Wir haben genug.“
Sie zwinkerte mir frech zu und drückte mir dann den Teller in die Hand. Verräterin. Aber vielleicht konnte ich dann Tim damit füttern, wenn ich nicht mehr hören wollte, was er zu sagen hatte. Okay, eigentlich wollte ich ja mit ihm reden und das klären und dann ging nicht, wenn er nicht antworten konnte. Egal, irgendetwas würde mir schon einfallen.
„Na gut, danke. Wir sehen uns nachher, ja?“
„Klar“, sagte Zack und schob sich grinsend einen Löffel zwischen die Lippen. Maja schnappte empört nach Luft und scheuchte Zack eine Runde um den Küchentisch.
„Kann ich vielleicht mitkommen?“, fragte Alex mich hilfesuchend.
„Nope, nachher bin ich für dich da.“
Ich lächelte ihm aufmunternd zu und verließ dann eilig die Küche, bevor ich Opfer der entstandenen Mehlschlacht von Zack und Maja wurde.
*
Ich hatte keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so aufgeregt gewesen war. Mit klopfendem Herzen stand ich vor Tim und meiner Zimmertür und wäre fast der Versuchung unterlegen, anzuklopfen. Ich wusste, dass er da drinnen war, denn ich hatte auf dem Weg hierher einen Zehner gefragt, der mir für einen Muffin bereitwillig Auskunft gegeben hatte.
Ich wollte das mit Tim endlich aus der Welt haben. So lange hatten wir uns noch nie gestritten. Eigentlich hatten wir uns noch gar nicht wirklich gezofft. Aber diese Tür dann auch zu öffnen und ihm gegenüberzustehen, das erschien mir gerade als ein Ding der Unmöglichkeit.
„Du schaffst das“, flüsterte ich mir selbst aufmunternd zu und drückte dann langsam die Klinke nach unten.
Tim lag auf seinem Bett, Kopfhörer auf den Ohren und ein Buch in der Hand. Als ich eintrat, sah er auf und seine Mine verfinsterte sich. Er klappte das Buch zu und erhob sich. Als er an mir vorbei zur Tür ging, hielt ich ihm am Handgelenk zurück.
„Nicht“, krächzte ich, doch er hatte es sowieso nicht gehört. Fragend nahm er seine Beats von den Ohren.
„Geh nicht“, wiederholte ich bittend.
„Wieso nicht?“
Der Blick, mit dem er mich ansah, verletzte mich. So kalt und gefühllos.
„Wir müssen reden.“
„Ich wüsste nicht worüber.“
Seine Stimme war ebenfalls kalt, dennoch wandte er sich mir zu und schloss die Tür hinter sich. Abwartend sah er mich an.
Nervös blickte ich auf den Teller, den ich immer noch in den Händen hielt und stellte ihn dann auf meinem Schreibtisch ab. Tim verfolgte meine Bewegungen und als er die Muffins entdeckte, glaubte ich eine Spur von Bedauern über sein Gesicht huschen zu sehen. Wenn ich mir das nicht nur eingebildet hatte, war das etwas, auf dem ich aufbauen konnte. Mutiger trat ich wieder auf ihn zu.
„Es tut mir leid.“
„Was tut dir leid?“
„Alles. Dass ich dich angeschrieben habe, dass wir uns gestritten haben, dass ich nicht mit dir geredet habe.“
Hilflos zuckte ich mit den Schultern.
„Und was erwartest du jetzt von mir?“
Das war nicht ganz die Reaktion, die ich mir erhofft hatte, aber immerhin klang seine Stimme nicht mehr ganz so neutral und sein Blick war auch nicht mehr ganz so eisig.
„Keine Ahnung. Vielleicht können wir darüber reden und es wieder gerade biegen. Ich will dich nicht verlieren, Tim. Dafür bist du mir zu wichtig.“
Ich setzte mich auf sein Bett und nahm mir ein Kissen, das ich nervös zusammenknautschte.
„Ich will dich auch nicht verlieren“, sagte Tim leise und beobachte, wie ich sein Kissen misshandelte. Dann setzte er sich neben mich und tat es mir mit einem anderen gleich. „Aber es hat mich echt verletzt.“
„Was hat dich verletzt?“, fragte ich vorsichtig.
„Keine Ahnung. In letzter Zeit habe ich viel darüber nachgedacht und es irgendwann selbst nicht mehr verstanden. Ich denke, ich war eifersüchtig auf Alex.“
„Eifersüchtig?“
„Ja. Ihr seid beste Freunde, oder zumindest… Naja, egal. Jedenfalls pennt der Typ quasi jede zweite Nacht in deinem Bett und ihr hängt sowieso ständig aneinander und…“ Er fuhr sich durch die Haare. „Du redest nur noch mit ihm. Ich bin zwar da und wenn ich Probleme habe, hörst du mir zu, aber ich kann dir nicht mehr zuhören, weil du nur noch mit Alex sprichst.“ Er sah auf. „Ich möchte aber, dass du mit mir redest.“
Ich erwiderte Tims Blick kurz, unfähig etwas zu sagen. Dass er so dachte, war mir nie bewusst gewesen, ebenso, dass ihn Alex so sehr störte. Bedrückt kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Alex und ich verbrachten in den letzten Monaten mehr Zeit miteinander als früher, aber dass das Tim so sehr belastet hatte, hatte ich nicht gewusst. Wie auch, wenn ich die gesamte Zeit mit Alex beschäftigt gewesen war?
„Es tut mir leid.“
„Ich weiß.“
Überrascht sah ich wieder auf. Tim lächelte zaghaft.
„Ich kenne dich, Lukas. Immerhin schlafen wir seit zwei Jahren im gleichen Zimmer. Wenn man es so betrachtet, frage ich mich wirklich, wie wir das ausgehalten haben, ohne uns zu streiten.“
„Die Chemie hat eben gepasst“, schmunzelte ich und Tims Lippen verzogen sich ebenfalls zu einem Lächeln.
„Ich glaube, jeder dachte anfangs, dass wir was miteinander haben.“
„Ja, bei manchen habe ich heute noch das Gefühl.“ Ich sah Tim an und wurde wieder ernst. „Du willst aber nichts von mir, oder? Also ich weiß ja, dass da was mit Julian ist, aber…“
„Nein, zumindest nichts, was über Freundschaft hinausgeht. Und das mit Julian ist Vergangenheit.“
„Wieso das?“
Tim winkte ab.
„Lange Geschichte, erzähle ich dir ein anderes Mal. Du hattest eben Recht, er ist ein Arsch.“
„Er hat dich nicht verdient. Und es wird mir gerade erst bewusst, dass er ja dann auch schwul ist. Oder zumindest bi.“
„Naja, da bin ich mir langsam nicht mehr so sicher. Zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, dass er mich wirklich mag, aber dann gab es Momente, in denen er einfach genauso scheiße war wie früher und … es ist vorbei. Ist wahrscheinlich am besten so.“
Ich rückte an ihn heran und nahm ihn in den Arm.
„Er bedeutet dir etwas, oder?“, fragte ich leise. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was man an Julian toll finden konnte, aber wenn Tim ihn mochte, musste er seine guten Seiten haben. Oder zumindest eine.
„Ja und ich verfluche mich dafür.“
Ich nickte und stand dann grinsend auf. Irritiert sah Tim mir nach, als ich zum Schreibtisch ging und die Muffins holte.
„Hier.“ Ich hielt ihm den Herzmuffin hin. „Der ist für dich. Hast ihn nötiger als ich.“
Lächelnd griff Tim danach und drehte sich dann zu mir, als ich wieder Platz genommen hatte.
„Hat Alex den gemacht?“
Ich spürte, wie ich rot wurde.
„Ja.“
„Du weißt schon, was das bedeutet?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Tam Tam deutet auch andauernd sowas an, aber ich glaube wirklich nicht, dass er etwas von mir will.“
„Und wenn du ihm einfach sagst, was du fühlst?“
„Ich bin nicht lebensmüde! Und Alex würde ich es auch zutrauen, dass er dann extra viel mit mir kuschelt, nach dem Motto: Ich bin nicht schwul, aber wenn du was von mir willst, dann gebe ich es dir. Nein, er macht mich so schon fertig genug.“
Tim lächelte verständnisvoll.
„Tut mir leid.“
„Was? Du kannst doch nichts dafür.“
Verwirrt musterte ich meinen Zimmerpartner.
„Ich hätte dich damals nicht so bedrängen dürfen. Und jetzt weiß ich auch, dass ihr mir wirklich nur helfen wolltet. Aber ihr hattet Recht und ich wollte es nicht wahrhaben. Ich dachte eben, Julian hätte sich geändert. Sorry.“
„Schon okay, wir haben beide, glaube ich, überreagiert.“
„Wieder Freunde?“
Grinsend streckte Tim mir seine Hand entgegen, doch in seinem Blick konnte ich die Unsicherheit erkennen. Lächelnd ergriff ich seine Hand.
„Du warst nie nicht mein Freund.“
„Das beruhigt mich jetzt, ich habe mich nämlich wirklich scheiße verhalten. Keine Ahnung, wie ich das wieder gut machen kann.“
„Du könntest die anderen für die Muffins loben. Alex, Zack und Maja haben das ganz alleine gebacken.“
„Wirklich?“ Skeptisch musterte Tim den Muffin in seiner Hand. „Die sehen gar nicht angebrannt aus und schmecken tun sie auch. Wie zur Hölle haben die das geschafft?“
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, aber ich denke sie freuen sich, wenn du sie das fragst.“
„Ich war echt ein Arsch, oder?“
Ich biss in einen der Muffins und nutzte die Zeit zum Überlegen. Als ich heruntergekaut hatte, antwortete ich: „So kann man das nicht sagen. Es war eher so, dass alle nicht verstanden haben, was zwischen uns passiert ist und es hat sie ziemlich verletzt, dass du irgendwann gar nichts mehr mit uns unternommen hast. Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?“
Betreten sah Tim zu Boden.
„Das wollte ich alles nicht. Ich konnte es eben einfach nicht mehr mit ansehen, wenn du und Alex immer wieder gekuschelt habt und alle Welt sich Sorgen um mich gemacht hat. Ich bin dann eben zu Julian. Am Anfang zumindest. Irgendwann hab ich ihn mit Sofia im Bett erwischt und seitdem läuft da nichts mehr zwischen uns.“
„Ich könnte ihn umbringen.“
Ich hasste es, wenn meine Freunde nicht glücklich waren und Tim sah gerade sehr verletzt aus. Dieser verdammte Mistkerl! Wenn ich ihn das nächste Mal sah, dann würde er etwas erleben.
„Lass gut sein, Lukas. Ist wirklich lieb von dir, aber an dem Punkt war ich auch schon. Es wird besser mit der Zeit. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann musste so etwas passieren. Kein Mensch ändert sich so dermaßen schnell.“
„Wahrscheinlich hast du Recht. Auch wenn er gerade auf meiner Beliebtheitsskala wieder ein ganzes Stück nach unten gerutscht ist.“
„Geht es da überhaupt noch tiefer?“
Belustigt legte Tim seinen Kopf schief und griff nach einem neuen Muffin. Die Dinger waren echt lecker.
„Ja, irgendwann nach ein paar Lichtjahren kommt Mike.“
Tim lachte auf und stimmte mir kauend zu.
„Den konnte ich auch noch nie leiden.“
Wir saßen beide auf Tims Bett und verputzten einen Muffin nach dem anderen, als Tim plötzlich meinte: „Es tut gut, wieder mit dir zu reden. Ich habe das echt vermisst.“
Glücklich erwiderte ich sein Lächeln.
„Geht mir genauso.“
Ich hätte nie im Leben gedacht, dass das Gespräch so gut laufen würde. Wahrscheinlich hatten wir beide nur auf den jeweils anderen gewartet, dass der den ersten Schritt tat. Ein Hoch auf Tam Tam, ohne sie hätte es noch eine Weile gedauert. Tims nächste Worte bestätigten meine Gedanken.
„Ich hatte mehr als einmal überlegt, ob ich mit dir reden sollte, aber irgendwie war dann immer was. Erinnerst du dich an den Tag, an dem Alex hier Geschenke eingepackt hatte?“
Ich nickte. Wie hätte ich den vergessen können?
„Naja, da hatte ich mich endlich soweit, aber als ich euch dann gesehen hab, kam alles wieder hoch.“
„Du hast einen sehr ungünstigen Zeitpunkt gewählt.“
„Ja, das habe ich auch bemerkt.“ Gelöst schmunzelte Tim. „Aber jetzt mal ganz ehrlich, bei was habe ich euch da eigentlich gestört?“
„Das frage ich mich heute noch.“
„Ihr habt euch nicht geküsst?“
„Nein, aber für einen kurzen Moment dachte ich, es könnte was werden.“
„Sorry.“
„Muss dir nicht leidtun. Alex sah danach nicht so aus, als hättest du uns bei was Wichtigem unterbrochen.“
„Naja, also mich hat er danach ein paar Tage ignoriert.“
„Könnte vielleicht an deinen bissigen Bemerkungen gelegen haben.“
„Vielleicht. Aber es war einfach köstlich, wie du nicht mitbekommen hast, was du in der Hand hältst.“
„Ich fand das echt gemein von dir!“, schmollte ich. „Und genau genommen bist du derjenige, der schwul ist. Ich bin nur bi.“
„Nur bi, schon klar. Standest du je auf ein Mädchen?“
„Ja, in der Achten war ich furchtbar in Kathi aus der jetzigen 12 verknallt. Sie hat mich aber nicht ein einziges Mal angesehen. Hat sie bis heute nicht.“
„Wirklich? Kann ich mir nicht vorstellen. Aber ist ja ihre Schuld. Sie verpasst was.“
Tim zwinkerte mir zu und ich warf mein Kissen nach ihm. Zum Glück hatten wir alle Muffins aufgegessen, sonst hätte das jetzt schön gekrümelt.
„Mach mir keine Komplimente, sonst ändere ich meine Meinung vielleicht.“
„Oh, besser nicht! Alex würde mich häuten.“
„Wahrscheinlich. Apropos: Wollen wir den anderen die frohe Nachricht überbringen?“
„Noch nicht.“ Tim grinste verschwörerisch. „Du kannst ihnen ja sagen, dass sie um sechs mit Grillzeug zum See kommen sollen.“
„Es ist verdammt kalt draußen.“
„Ich weiß. Aber wir saßen lange nicht mehr zusammen auf dem Steg.“
*
„Das ist jetzt nicht euer ernst!“
Grinsend drehten Tim und ich uns zu den anderen um, die lachend und mit Grillzeug bepackt auf uns zukamen. Wir hatten uns, nachdem ich den anderen geschrieben hatte, wo sie hinkommen sollten, ein paar Kissen geklaut und es uns auf dem kleinen Steg gemütlich gemacht. Früher haben wir oft hier gesessen, meistens nachts, und geredet, während wir die Spiegelungen auf der Seeoberfläche betrachtet hatten. Es war eine gute Idee von Tim gewesen, immerhin hatten wir einiges nachzuholen.
„Seit wann redet ihr wieder miteinander?“
Ungläubig blieb Zack vor uns stehen und schien noch nicht wirklich realisiert zu haben, was gerade geschah. Tam Tam stand neben ihm und grinste breit.
„Ich bin stolz auf euch“, meinte sie und warf uns einen Teil des eingeschweißten Fleisches zu. „Und jetzt könnt ihr euch gleich mal nützlich machen! Immerhin haben die anderen die Muffins gebacken und ich durfte die Küche wieder aufräumen.“
„Süße, es tut mir so leid!“
Verzweifelt ging Zack seiner Freundin nach, die mit hoch erhobenen Kopf davonstolzierte. Tim und ich erhoben uns und wurden von Maja kurz umarmt.
„Ich freue mich, dass ihr euch wieder versteht.“
„Wir uns auch“, grinste Tim und folgte Maja zu Zack und Tam Tam.
Ich sah zu Alex, der bis jetzt stumm danebengestanden hatte, und mich nun mit einem warmen Ausdruck in den Augen musterte. Die Schmetterlinge in meinem Bauch begannen wieder zu flattern und ich war mir plötzlich sicher, dass ich das mit ihm auch schon irgendwie hinbekommen würde. Alex lag mir nämlich viel zu sehr am Herzen, als das ich ihn wegen irgendwelchen Eifersuchtsattacken verlieren könnte.
*
So viel, wie an diesem Abend, hatte ich lange nicht mehr gelacht. Tim und ich hatten erfahren, was es mit Tam Tam und der Küchensäuberungsgeschichte auf sich hatte. Die anderen hatten nämlich die Muffins in ihre Zimmer gebracht und wollten danach aufräumen, aber Tam Tam hatte sie in der Zwischenzeit gesucht und als sie alleine in der Küche stand, war eine Aufsicht gekommen und hatte sie dazu verdonnert, das Chaos auf der Stelle zu beseitigen. Uns war auch berichtet worden, dass Zack und Maja wieder gewettet hatten, diesmal wie lange Tim und ich brauchen würden, um uns wieder zu vertragen.
Wir hatten trotz der Kälte lange um den kleinen Grill herum gesessen und über alles Mögliche geredet und gelacht. Irgendwann hatte Zack festgestellt, dass Tim und ich uns gar nicht so sehr gehasst haben konnten, denn dann würden wir jetzt nicht so nebeneinandersitzen. Ich musste ihm zustimmen. Ich hatte Tim nie gehasst und dem Blick nach, den er mir zugeworfen hatte, war es andersrum ebenso gewesen. Alle dunklen Momente der letzten Wochen waren an diesem Abend nichtig gemacht worden. Ich hatte meinen besten Freund wieder. Den besten Freund, für den ich keine geheimen Gefühle hegte und der wie ein Bruder für mich war. Ich hatte Tim zurück. Und ich war mir sicher, dass uns in nächster Zeit nichts mehr trennen konnte.
14. Dezember; Samstag
„Hör auf die Stimme! Hör was sie sagt! Sie war immer da! Komm, hör auf ihren Rat! Hör auf die Stimme! Sie macht dich stark! Sie will, dass du's schaffst, also hör was sie dir sagt!“
Schmunzelnd sah ich zu der grölenden Truppe hinüber und eigentlich klang es gar nicht so schlecht, es war nur unglaublich laut und unglaublich schief. Dass die Lehrer ruhig daneben saßen, wunderte mich, denn es war offensichtlich, dass Alkohol im Spiel war. Aber es war ja Samstag, die meiste Eltern standen hier ebenfalls herum und die, die sich hauptsächlich zum Deppen machten, waren mindestens 16. Ach ja, und wir befanden uns auf der Weihnachtsfeier. Also alles super.
„Willst du weggehen oder bleiben? Du musst entscheiden, keiner nimmt's dir ab. Das ist ne Reise ohne Navi. Alles offen und immer wieder neu.“
Super, laut, schief und jetzt auch noch beachtlich unsynchron. Aber bei der Melodie und dem Text war das auch kein Wunder.
Jetzt sag mal nichts gegen den Text, der hat schon seine Richtigkeit.
Naja, darüber ließ sich streiten. Grinsend sah ich zu dem Rest unserer Clique, der ebenfalls ausgelassen sang. Nur Tim und ich standen etwas abseits und beobachteten das Spektakel. Alex hüpfte aufgedreht mit den anderen im Kreis und schien sich prächtig zu amüsieren. Seine Haare klebten ihm im Nacken und ich hatte das Bedürfnis, ihm die Strähnen, die in sein Gesicht fielen, aus der Stirn zu streichen, egal wie verschwitzt sie waren.
Ein belustigtes Lachen riss mich von seinem Anblick los.
„Was denn?“, fragte ich Tim, der neben mir saß und an der Weihnachtsbowle nippte.
„Du sahst gerade sehr verliebt aus, das ist alles.“
„Wirklich?“
Ja. Hör doch mal auf mich.
Tim nickte.
„Ist aber nicht schlimm. Ich glaube, das ist keinem aufgefallen.“
„Na so ein Glück“, erwiderte ich ironisch und boxte Tim in die Seite. Er setzte gerade zu einer Antwort an, als Alex plötzlich neben uns auftauchte und mir einen überschwänglichen Kuss auf die Wange drückte. Vollkommen überrumpelt starrte ich meinen besten Freund an.
„Wofür war das denn jetzt?“
„Der Dank dafür, dass du mir gleich ein Glas Bowle gibst, weil ich sonst verdurste.“
Seine Augen glänzten, jedoch nicht vom Alkohol. Ergeben angelte ich nach einem Glas. Praktischerweise hatten Tim und ich uns nämlich direkt vor dem Getränketisch niedergelassen.
„Hier, bitte sehr.“
Salutierend nahm Alex mir das Glas ab und kippte es auf Ex hinunter. Vielleicht sollte ich ihm Wasser besorgen, denn das zuckrige Zeug würde wohl kaum seinen Durst löschen.
„Danke!“
Grinsend stellte er es ab und gab mir noch einen Kuss - diesmal auf die andere Wange.
„Werden hier gerade Getränke für Küsschen verteilt?“
Ich brauchte einen Moment, um Tam Tams aufgekratzte Stimmung aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie hatte sich zusammen mit Zack und Maja ebenfalls wieder zu uns gesellt. Nur waren die anderen beiden nicht minder angeheitert und ich zog ernsthaft in Erwägung, ebenfalls mit der alkoholischen Bowle anzufangen, sonst würde der Abend noch sehr sehr anstrengend werden.
Untersteh dich! So viel haben die anderen nicht intus. Wenn überhaupt. Das kommt vom Tanzen, also solltest du, statt zu tief ins Glas zu sehen, lieber die Hüfte schwingen.
Ich verzog das Gesicht. Tanzen war so gar nicht meins. Zumindest nicht das Rumgehopse auf der Tanzfläche.
„Ja, jeder der Lukas einen Kuss gibt, bekommt ein Glas.“
Entgeistert drehte ich meinen Kopf zu Tim.
„Ich hatte eigentlich nicht vor, mich hier abknutschen zu lassen.“
„Und ich hatte nicht vor, ihn abzuknutschen. Nichts gegen dich, Mann, aber ich habe eine Freundin.“
Entschuldigend legte Zack einen Arm um Tam Tam.
„Siehst du?“, wandte ich mich an Tim.
„Also ich finde die Idee super“, warf Alex ein und Tam Tam stimmte schmunzelnd zu. Maja sah etwas skeptisch aus, zuckte dann jedoch mit den Schultern.
„Vielleicht können wir da irgendein Spiel draus machen, damit Lukas nicht alles abbekommt.“
Dankbar sah ich sie an.
„Wenn’s sein muss…“, schmollte Alex und stellte sich neben mich, sodass ich meinen Kopf an seinen Bauch lehnen konnte. Diese Aktion brachte mir zwar zwei wissende Blicke seitens Tam Tam und Tim ein, doch ich blendete sie aus. Die waren nur neidisch, dass ich ein so lecker duftendes Kissen hatte!
„Nicht einschlafen, Süßer.“
Lächelnd strich Alex mir durch die Haare. Hatte ich das nicht bei ihm machen wollen? Aber so ging es natürlich auch. Ausnahmsweise.
„Und wie soll dieses Spiel jetzt aussehen?“, ergriff Zack wieder das Wort. Er klang immer noch nicht überzeugt, was mich schmunzeln ließ. Wenn ich mich nicht abfüllen durfte, konnte ich ihm vielleicht das ein oder andere Glas zukommen lassen, dann wäre er nämlich definitiv offener…
„Tja“, begann Maja. „So genau habe ich mir das auch nicht überlegt.“
„Vielleicht machen wir einfach Lippen-Raten?“, schlug Tam Tam vor.
„Das macht wenig Sinn, weil ich weiß, wie du küsst und es dann nur noch Maja gibt.“
„Ach Schätzchen...“ Tam Tam klimperte unschuldig mit den Wimpern. „Du wirst natürlich von jedem geküsst. Und ich glaube, wie sich Tims Lippen anfühlen, weißt du nicht.“
„Noch nicht“, grinste Alex. „Ich finde die Idee klasse. Was meint ihr?“
Tim warf mir einen kurzen Blick zu und nickte dann.
„Aber lasst uns bitte in eine der Kuschelecken gehen.“
„Ja, das wäre vielleicht ganz gut.“
Ich erhob mich träge, wurde von Tam Tam jedoch sofort wieder auf den Stuhl gedrückt.
„Moment! Wir brauchen noch Getränke. Also Leute!“ Sie sah zu Maja und Zack. „Alex hat schon, jetzt müsst ihr Lukas noch überzeugen, euch ein Glas zu geben. So als Einstimmung.“
„Wirklich jetzt?“
Zack sah alles andere als begeistert aus.
„Ja, wirklich!“
Tadelnd schob Tam Tam ihren Freund vor mich, der mich flehend ansah.
„Du bist doch sicher so nett und gibst mir was zu Trinken ohne dass ich dich küssen muss?“
Ich blickte zu Tam Tam, die den Kopf schüttelte.
„Nö.“
„Du bist doof.“
„Eigentlich nicht.“
Seufzend bückte Zack sich, sodass er mit mir auf Augenhöhe war und berührte dann federleicht mit seinen Lippen meine Wange. Grinsend reichte ich ihm ein Glas. Die Bemühung war da gewesen. Danach gaben Tam Tam und Maja mir gleichzeitig einen Kuss auf jede Wange und zusammen gingen wir durch den Saal zu den Kuschelecken, jeder mit einem Getränk in der Hand.
„Du hast das übrigens toll gemacht“, lobte Zack seine Freundin und machte eine ausschweifende Handbewegung durch den Raum.
„Stimmt, das sieht Hammer aus! Und die Kuschelecken erst…“, schwärmte Maja und ließ sich auf eines der roten Sofas fallen.
Ich setzte mich neben sie und zog Alex an meine Seite. Von dieser Position hatte man einen guten Blick über den Raum und ich grinste Alex‘ Eltern kurz zu, die an einem der Tische saßen und sich mit irgendjemanden angeregt unterhielten. Das Buffet war schon am Anfang gleich eröffnet worden, Getränke und Snacks gab es zur Genüge und überall hingen Lichterketten und Weihnachtsdekorationen. Jedoch nicht kitschig und too much, sondern gerade so viel, dass man in die richtige Stimmung kam. Die Musik im Hintergrund rundete das Ganze ab und man konnte wirklich sagen, die Atmosphäre war klasse.
„So, dann wollen wir mal!“ Tam Tam klatschte voller Tatendrang in die Hände. „Möchte jemand freiwillig beginnen?“
„Ich!“
Alex stellte sein Glas auf den kleinen Tisch und setzte sich dann auf den einzigen Sessel der Runde.
„Was zur Hölle hast du genommen?“
Tim sah meinem besten Freund kopfschüttend dabei zu, wie er sich selbst eine Krawatte um die Augen band, die Tam Tam irgendwo auf die Schnelle aufgetrieben haben musste.
„Du bist doch nur neidisch auf meine gute Laune.“
„Du hast aber immer gute Laune!“
„Zack, hör auf, zu maulen! Einen Jungen zu küssen, bringt dich nicht um!“
Mit in die Seiten gestützten Händen ermahnte Tam Tam ihren Freund streng und ließ sich dann auf seinem Schoß nieder. Vorher legte sie noch eine leere Flasche auf den Tisch und gab ihr einen kleinen Schubs. Langsam fragte ich mich, ob das nicht alles geplant war. Denn wo hatte sie die denn bitte schon wieder her?
Jetzt werde mal nicht paranoid! Pass lieber auf, denn dein bester Freund wird gleich jemanden küssen und dieser jemand wirst nicht du sein.
Ich sah auf die Flasche und tatsächlich - sie zeigte auf Maja. Ein unangenehmes Ziehen machte sich in meiner Brust breit und ich begann, die ganze Aktion noch einmal zu überdenken. Kussspiele waren nämlich schön und gut, aber dass Alex dann auch geküsst wurde und küssen musste, hatte ich nicht bedacht. Diese Tatsache gefiel mir überhaupt nicht.
Mit Argussaugen beobachtete ich Maja, wie sie leise aufstand und sich Alex dann vorsichtig näherte. Sie beugte sich zu ihm hinunter und ich war mir nicht sicher, ob ich wegsehen sollte oder nicht, als sie ihre Lippen auf seine legte. Mir wurde schlecht und ich versuchte es vergeblich auf die Mischung aus Bowle und Gummibärchen zu schieben. Letztendlich wandte ich meinen Blick dann doch ab, denn das Bild, wie Alex seinen Mund öffnete und die beiden den Kuss vertieften, hätte das Gemisch in meinem Magen definitiv wieder an die Oberfläche gebracht. Und das war erst die erste Runde!
„Und? Wer, glaubst du, war es?“
Versucht, sein aufkommendes Interesse nicht allzu offensichtlich zu zeigen, blickte Zack zu Alex hinüber, der, nachdem Maja wieder Platz genommen hatte, sich die Krawatte herunterzog und überlegend jeden von uns ins Auge fasste. Als sein Blick kurz an mir hängen blieb, hätte ich schwören können, dass seine Augen mir ein stummes Sorry vermitteln wollten, doch ich wurde von Tam Tam abgelenkt, die mir ein neues Glas Bowle unter die Nase hielt. Wann auch immer sie verschwunden war, um die neue Runde zu holen. Langsam wurde mir dieses Mädchen unheimlich.
„Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung.“
„War es denn gut?“, wollte Tam Tam wissen und setzte sich wieder.
„Es war ganz passabel.“ Alex grinste und unterzog uns dann einer weiteren Musterung. „Ich würde mal auf … Maja tippen.“
„Sag mal, hat die Krawatte Löcher oder trefft du und Maja euch heimlich zum Knutschen? Ich dachte, du hättest keine Ahnung!“
Böse funkelte ich Zack an, der mir mit dieser Aussage nicht gerade geholfen hatte, meine Eifersucht in den Griff zu bekommen. Und dabei war ich doch … gestern? noch ganz überzeugt davon gewesen, genau das hinzubekommen!
„Nein, tun wir nicht. Obwohl, wer weiß?“ Scheinheilig lächelte Alex, fuhr dann aber nach einem kurzen Blick auf mich ernster fort: „Tam Tam hat ja gerade Getränke geholt, du wärst sehr viel schüchterner gewesen, Tim und Lukas sind beide Jungs, die wissen, wie man einen anderen Jungen küsst, aber es hat sich eher wie ein Mädchen angefühlt und deswegen blieb nur noch Maja übrig.“
„Ich dachte, es gäbe keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungs?“
„Mann, Zack, jetzt hör auf, so verklemmt zu sein!“ Entnervt deutete Tim auf den Sessel. „Du bist dran!“
„Was?“, quiekte Zack sehr unmännlich.
„It’s your turn. Come on, give us some action!”
„Könntest du aufhören, englisch zu reden, das verwirrt mich gerade zutiefst.”
„Sorry“, grinste Tim und Alex erhob sich derweil, um Zack Platz zu machen, der sich - wenn auch nur sehr widerwillig - auf den Sessel fallen ließ.
Nachdem Tam Tam ihm von hinten die Krawatte umgebunden und sich gesetzt hatte, beugte Tim sich vor und drehte die Flasche. Gespannt verfolgte ich den Flaschenkopf, während Alex einen Arm um mich legte und sich an meine Seite kuschelte. Ein unterdrücktes Lachen ertönte. Die Flasche zeigte auf Tim. Dieser grinste stumm als er sich erhob und auf Zack zutrat. Er hatte wohl den gleichen Gedanken, wie der Rest von uns auch. Gleich würde Zack wissen, wie Tim küsste. Und ich war mir sicher, dass dieser sich nicht zurückhalten würde. Er warf noch einen kurzen Blick zur Tanzfläche und verwickelte Zack dann wirklich in einen Zungenkuss, der sich gewaschen hatte. Und ich musste sagen, es sah echt heiß aus. Gut, anfangs schien Zack etwas überfordert zu sein, weil es eben nicht Tam Tam war, die ihn da küsste, aber als Tim dann mit seiner Zunge über Zacks Lippen strich, öffnete er dieser bereitwillig und erwiderte den Kuss ebenso stürmisch.
„Ich glaube, der denkt, er küsst Maja“, wisperte Alex leise in mein Ohr und ich nickte grinsend.
„Der wird vor Scham im Boden versinken, wenn er die Wahrheit erfährt.“
Irgendwann räusperte sich Tam Tam und brachte damit wohl beide Jungs zurück in die Realität. Tim warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und setzte sich zurück auf das Sofa, ehe Tam Tam die Augenbinde löste.
Zack blinzelte kurz wegen des Lichts und sah dann mit roten Wangen auf.
„Und?“, wollte seine Freundin leicht schnippisch wissen.
Daraufhin sah auch Zack sie schuldbewusst an und meinte dann voller Überzeugung „Maja.“
„Falsch“, grinste Alex und war sichtlich bemüht, nicht laut loszulachen.
„Du?“
Vollkommen entgeistert starrte Zack meinen besten Freund an.
„Wieder falsch“, erwiderte dieser und ich grinste, als ich die Szene aus Rapunzel - Neu verföhnt wiedererkannte.
„Lukas?“
Skeptischer hätte man meinen Namen nicht aussprechen können und ich verschränkte beleidigt die Arme. Ganz offensichtlich traute Zack mir ein solches Kusstalent nicht zu.
„Auch falsch“, beendete Alex seine Rolle und zog mich dann auf seinen Schoß. Er rieb seine Nase zwischen meinen Schulterblättern und ich entspannte mich. Wie schaffte der Typ das bloß immer? Ich nahm seine Hände und verschränkte sie vor meinem Bauch mit meinen.
„Wer soll es denn sonst gewesen sein? Tam Tam war es nämlich definitiv nicht, es sei denn, sie hat plötzlich ihre Technik vollkommen über den Haufen geworfen!“
„War die neue Technik denn besser?“, fragte ich herausfordernd und erwiderte Tims Grinsen, der direkt hinter Zack stand.
„Äh… Sie war anders.“
„Also besser“, freute sich Tim und kam um den Sessel herum.
Zack zuckte so plötzlich zusammen, dass ich Angst hatte, er fiele gleich vom Stuhl, doch er fing sich wieder.
„Du?“
„Du wolltest doch wissen, wie ich küsse. Jetzt weißt du es.“
Kreidebleich schüttelte Zack den Kopf.
„A-Aber … d-das ist… D-Das geht nicht!“
„Wieso? Weil ich ein Junge bin, es dir aber gefallen hat?“
Herausfordernd blickte Tim Zack an, doch ich hatte das Gefühl, dass er gleichzeitig noch jemand anderen ansprach. Als ich den Blick durch den Raum schweifen ließ, entdeckte ich Julian, der mit irgendeinem blonden Mädchen nicht weit von uns entfernt stand - ganz offensichtlich noch in Hörweite - und zu uns herübersah. Als er jedoch bemerkte, dass wir ihn alle anstarrten, wandte er sich schnell wieder seiner Matratze für diese Nacht zu und drückte ihr einen nicht unbedingt zärtlich aussehenden Kuss auf die Lippen. Doch das Mädchen schien es nicht zu stören - im Gegenteil. Sie schlang ihre Arme um Julians Nacken und presste sich so fest an ihn, dass man meinen könnte, sie wollte durch ihn hindurch.
„Also ich habe jetzt Augenkrebs. Wie geht es euch?“
Ich nickte heftig und auch die anderen stimmten meinem besten Freund zu. Tim kehrte wortlos zu seinem Platz zurück und wir tauschten einen kurzen Blick, als plötzlich Tiger neben uns auftauchte. Im Schlepptau hatte er Freddy, Jakob und Jan - die beiden BFs aus der 12 - und dann noch ein paar 11er und 10er.
„Können wir mitspielen?“, fragte er.
„Gerne. Dann wird es schwieriger.“
„Und wir haben mehr Mädchen als Jungs.“
Erleichtert setzte Zack sich wieder zu uns und bedeutete Tam Tam, sich auf seine Beine zu setzen. Aus Platzgründen taten es die anderen uns nach, sodass am Ende quasi jeder jemand anderen auf dem Schoß hatte.
So spielten wir eine ganze Weile. Die Stimmung wurde immer besser, woran der Alkohol und der Zucker aus den Bowlen nicht ganz unschuldig waren. Dadurch fiel auch die Hemmschwelle immer mehr nach unten und ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was die Lehrer und Eltern jetzt von uns hielten, denn mittlerweile waren es wirklich keine unschuldigen Küsse mehr. Egal, ob sie zwischen Junge und Mädchen, Mädchen und Mädchen oder Junge und Junge ausgetauscht wurden. Auch Zack hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass Jungs mindestens genauso gut küssen konnten wie Mädchen, und als er diesmal Tim küssen musste, lieferten die beiden eine Show ab, bei der es mich nicht wundern würde, wenn sie sämtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Es blieb nämlich nicht nur beim Küssen, wobei ich das Gefühl hatte, dass Tim da nur mitmachte, weil er wusste, dass es Zack war. Doch das war egal. So blieb Tim immerhin ein wenig von der Bowle verschont, denn wer nicht innerhalb von dreimal Raten herausfand, wer ihn geküsst hatte, musste ein Becher Bowle exen.
Mittlerweile lag ich mehr auf Alex als dass ich saß und genoss die Wärme, die von seinem Körper ausging. Ich war gerade dabei einzuschlafen, als lauthals mein Name gebrüllt wurde und ich so unsanft in die feuchtfröhliche Realität zurückkatapultiert wurde.
„Was’n?“
„Du bist dran.“
„Das darf man doch nicht verraten.“
Warum sonst hatte die Person, die geküsst wurde, wohl eine Augenbinde?
„Ach, Lukas!“ Freddy beugte sich zu mir rüber und knuffte mich in die Seite. „Du sollst dich auf den Sessel setzen!“
Ach so. Ich verzog das Gesicht, doch Widerstand war zwecklos.
„Kann Alex wenigstens mitkommen?“, fragte ich hoffnungsvoll. Ich hielt nicht viel davon, wenn man mich von meinem Kissen trennte.
„Nein, aber wenn du dich beeilst, kannst du gleich wieder zu deinem Schatzi zurück.“
„Ihr seid doch doof.“
Grummelnd erhob ich mich von meinem besten Freund und ließ mich auf den Sessel plumpsen. Sofort fröstelte ich und verfluchte das Mädchen, welches gefühlte Stunden benötigte, um diese verdammte Krawatte an meinem Kopf zu befestigen. Ich wollte doch nur wieder zu Alex!
Endlich schien sie es geschafft zu haben, denn es wurde still - oder zumindest ruhiger - und ich begann, Panik zu schieben. So ganz allein im Dunkeln zu sitzen und nicht zu wissen, was als nächstes geschah, war irgendwie nicht so toll.
Plötzlich spürte ich warmen Atem an meiner Wange und hielt reflexartig die Luft an. Als die Lippen sich dann auf meine legten, zuckte ich sogar zusammen und war so abgelenkt, dass ich das leise Lachen gar nicht wirklich wahrnahm. Das einzige, was hängen blieb, war die Erkenntnis, dass ich definitiv einen Jungen küsste. Einen Jungen, dessen Lippen sich schon fast fragend an meinen bewegten, so als ob sie sichergehen wollten, wie weit sie gehen durften.
Innerlich aufseufzend verdrängte ich alles andere und erinnerte mich dann auch wieder daran, dass ich vielleicht mal wieder Luft holen sollte. Ich löste mich kurz und schnappte nach Sauerstoff. Jedoch hatte ich nicht viel Zeit, mein Blut mit dem überlebenswichtigen Gas zu versorgen, denn die fremden Lippen landeten sofort wieder auf meinen. Na gut, wenn der Typ mich unbedingt küssen wollte, dann sollte er das tun. So schlecht roch er ja gar nicht und… Eigentlich roch er überhaupt nicht schlecht, nicht einmal annähernd. Und je mehr ich über diesen Duft nachdachte, desto sicherer wurde ich mir, dass ich tatsächlich gerade meinen besten Freund küsste. Das da vor mir war Alex!
Vor Freude hätte ich den Kuss fast abgebrochen, doch ich erinnerte mich im letzten Moment daran, dass das hier vielleicht meine einzige Chance war. Also schmiss ich alle Zweifel über Bord, legte eine Hand in Alex‘ Nacken und zog ihn so näher zu mir. Seinen Lippen entwich ein leises und für die anderen unhörbares Seufzen. Dieser einfache Laut schoss mit so einer Heftigkeit durch meinen Körper, dass mir kurz schwindelig wurde. Oder lag das an den Zähnen, die gerade an meiner Unterlippe knabberten? Oder einfach an der Überdosis Alex? Mein Hirn lief nur noch auf Sparflamme und ich beschloss, es ganz abzuschalten. Das Kribbeln, welches mich am ganzen Körper erfasst hatte, genügte mir um zu wissen, dass gerade alles richtig lief.
Ich lächelte in den Kuss hinein und öffnete meinen Mund ein wenig. Jetzt war ich es, der sich langsam vortastete. Fragend fuhr ich mit meiner Zunge über seine Lippen und war überrascht, dass Alex sie ohne zu zögern öffnete. Das Kribbeln in und auf meinem Körper verstärkte sich und ich wurde in einem Strudel aus kraulenden Fingern, weichen Lippen und einer talentierten Zunge gefangen genommen.
Irgendwann ertönten in der Ferne leise Pfiffe und irgendjemand rief, dass wir uns ein Zimmer nehmen sollten. Mein Kopf versuchte sich wieder, anzuschalten, doch ich wollte nicht denken. Noch nicht. Im Moment wollte ich nur fühlen, genießen und auskosten.
Doch Alex machte mir einen Strich durch die Rechnung. Langsam und - wie ich mit Freuden feststellte - widerwillig löste er sich von mir. Diese Freude verschwand jedoch augenblicklich, als Alex sich entfernte und ich das Gefühl nicht loswurde, dass er einen kleinen Teil von mir mitgenommen hatte. Einen kleinen nicht ganz unwichtigen Teil, der sich Herz nannte und an dessen Befestigungen Alex in den letzten Monaten schon fleißig gesägt hatte. Jetzt war auch die letzte Halterung gerissen und ich konnte es amtlich machen. Ich hatte mein Herz an meinen besten Freund verloren.
Die Krawatte vor meinen Augen verschwand und die plötzliche Helligkeit verhinderte, dass ich darüber nachdenken konnte, wie groß meine Chancen standen, im Gegenzug Alex‘ Herz zu bekommen. Wahrscheinlich war es besser so, denn das Glück, welches immer noch durch meine Adern floss, würde sich ganz schnell verkrümeln, wenn die negativen Zahlen mein Gehirn erreichen würden.
Also holte ich tief Luft und sah auf. Ich hatte keine Ahnung, wie ich Alex jetzt entgegentreten sollte. Ich hatte noch nicht einmal eine Ahnung, wie man seinem Gehirn klar machte, dass es doch bitte einen Aufsteh-Befehl an die Beinmuskulatur leiten sollte. Meine unteren Gliedmaßen fühlten sich nämlich gerade sehr puddinghaft an.
Immerhin konnte ich darüber noch kurz nachdenken, denn erst einmal musste ich das Rätsel ja lösen.
„Also ich habe ja das Gefühl, Lukas wusste, wer ihn da küsst.“
Tim legte seinen Kopf schief und musterte mich. Die anderen grinsten oder tuschelten und ich nickte schließlich.
„Ja, ich denke, ich wusste es.“
„Dann stellt sich jetzt die Frage, ob du bei jemand anderen auch so leidenschaftlich gewesen wärst, aber das kriegen wir vielleicht im Laufe des Abends noch raus. Jetzt bist du erstmal erlöst.“
Freddy nickte mir zu und ich stand auf. Es hatte geklappt! Hürde Eins überstanden. Jetzt kam Hürde Zwei. Oder auch nicht. Denn als ich zu Alex sah, grinste dieser mich breit an und wackelte vielsagen mit den Augenbrauen. Dann streckte er seine Arme nach mir aus und als die anderen begannen, zu lachen, beschloss ich, einfach mitzuspielen, und stürzte mich mit einem theatralischen „Schatziii!“ auf ihn. Ich landete auf seinem Schoß - diesmal andersherum - und konnte nicht wiederstehen, ihm noch einen Kuss zu geben.
Gerade als Alex diesen erwidern wollte, unterbrach uns Zack mit einem gutmütigen „Schluss jetzt!“ Widerstrebend ließ ich von Alex ab und sah zu Tam Tams Freund hinüber. Dieser fügte unter meinem anklagende Blick hinzu: „Ihr könnt ja nachher weitermachen. Oder meinetwegen auch jetzt“, setzte er nach, denn offensichtlich sah ich immer noch nicht überzeugt aus. „Aber nicht hier.“
Das klang schon besser. Fragend drehte ich mich zu Alex. Der blickte kurz zu Zack, dann zu den anderen und schlussendlich wieder zu mir.
„Also ich hätte jetzt Lust zu tanzen. Kommst du mit?“
„Klar.“
Wie war das mit dem Ich-mag-kein-Rumgehopse?
Pfft. Rumgehopse mit Alex war okay. Also verabschiedeten wir uns mehr oder weniger von den anderen und machten uns auf den Weg zur Tanzfläche. Mittlerweile hatten wir es kurz vor Eins und die meisten Eltern und Lehrer waren schon gegangen. Immerhin war Montag wieder Schule, da konnte man am Samstagabend - oder eben Sonntagmorgen - nicht so lange aufbleiben. Aber nur noch fünf Tage und dann zwei Woche nur Alex, seine Eltern und ich.
Ich blieb stehen und als Alex sich zu mir umdrehte und mir einen seiner Blicke schenkte, wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen und hätte ihn zu Boden geknutscht. Vor allem, da in diesem Blick noch mehr Wärme und Zärtlichkeit lag als sonst. Vielleicht waren meine Chancen ja doch nicht negativ.
„Komm her“, flüsterte er und legte seine Hände auf meine Hüften.
Erstaunt stellte ich fest, dass gerade nur langsame Lieder zu laufen schienen und ich nahm mir vor, den DJ später zu danken. Alex schön und gut, aber dämliches Rumgehopse blieb eben dämliches Rumgehopse. Also legte ich meine Hände auf Alex‘ Rücken und meinen Kopf auf seine Schulter. Tief einatmend schloss ich die Augen und zusammen begannen wir, uns im Takt hin und herzuwiegen.
„Ich weiß nicht, wie ihr das geschafft habt, aber ihr seid die einzigen zwei Jungs, bei denen niemand dumme Kommentare abgibt, wenn sie zusammen tanzen. Bei solchen Liedern wohlgemerkt.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte Alex mehr meine Haare, als Tim. „Immerhin sind wir die einzigen Jungs, die zusammen tanzen.“
„Wollen wir wetten?“
„Nee, überlass das mal Zack und Maja.“
„Genau, das ist unser Job!“, meldete sich Maja zu Wort und zwischen ihr und Tim brach eine hitzige Diskussion über diverse Wetten aus.
Ich blendete sie aus und schmiegte mich stattdessen enger an Alex. Meins! Zumindest für den Moment. Jedoch wurden wir wenige Minuten später unsanft aus unserem Geschunkel gerissen, denn plötzlich hallte wieder schnellere Musik aus den Lautsprechern. Ich wollte den DJ gerade verwünschen, da fiel mir auf, dass es sich um Jingle Bells handelte und schmunzelnd löste ich mich von Alex. Wir sahen uns in die Augen und begannen gleichzeitig, lauthals mitzusingen. Die anderen sahen uns kurz schief an, zuckten dann jedoch mit den Schultern und stimmten mit ein.
Und so kam es, dass am Ende alle noch Anwesenden durch den Saal tanzten, Jingle Bells und Leise rieselt der Schnee in den unterschiedlichsten Versionen sangen, zu Moskau und Das rote Pferd körperlich aktiv und vor allem kreativ wurden und bei den ersten Tönen eines Helene Fischer Songs frustriert aufstöhnten, dann aber voller Elan mitgrölten. Denn wie hieß es so schön? You only live once.
25. - 31. Dezember; Mittwoch bis Dienstag
Verschlafen drehte ich mich auf die andere Seite und tastete suchend nach dem warmen Körper, der neben mir liegen sollte. Statt Alex fand ich jedoch nur ein kaltes Laken, sodass ich meinen Kopf enttäuscht wieder unter der Bettdecke vergrub. So hatte ich mir den Weihnachtsmorgen nicht vorgestellt. Ja, ich durfte mich eigentlich nicht beschweren, immerhin waren Alex und ich nicht zusammen, auch wenn es für Außenstehende vielleicht so aussah. Ziemlich sicher tat es das sogar, denn Alex hatte der Kuss auf der Weihnachtsfeier anscheinend so gut gefallen, dass es jetzt keine Gelegenheit mehr ausließ, um mir den ein oder anderen Schmatzer aufzudrücken. Auf den Mund, wohlgemerkt.
Er hatte keine Ahnung, was er mir damit antat. An die Küsse auf die Wange hatte ich mich ja schon gewöhnt. Herzrasen bekam ich von ihnen zwar immer noch, aber es gehörte eben wie das Kuscheln mittlerweile einfach zu unserer Beziehung. Unserer rein platonischen Beziehung. Aber als Alex mich das erste Mal nach der Party auf den Mund geküsst hatte, war ich einem Herzstillstand schon sehr nahe gekommen. Ich meine, wer rechnet denn damit, dass man plötzlich die Lippen des besten Freundes auf den eigenen spürt, nur weil man ihm mitten in der Nacht total verpennt bei seinem Aufsatz geholfen hat? Also ich nicht und da ich um diese Uhrzeit nicht mehr ganz klar im Kopf gewesen bin, bin ich mir nicht ganz sicher gewesen, ob das jetzt ein Versehen oder Absicht gewesen war. Da ich aber ein paar Tage später wieder fast an einem Herzrasen krepiert wäre, weil diese verflucht sündigen Lippen meine erneut in Beschlag genommen hatten, ging ich einfach mal davon aus, dass Alex jedes Mal, wenn er mich küsste, bei vollem Bewusstsein war. Leider dauerten diese Küsse immer nur Millisekunden an, also konnte man sie quasi gar nicht als solche bezeichnen. Schmatzer traf es eher, aber auch diese schafften es jedes Mal, mich wiederholt um den Verstand zu bringen.
Aber nicht nur diese neue Seite der Zuneigung ließ regelmäßig neue Hoffnung in mir aufkeimen. Alex verhielt sich, seit ich mich wieder mit Tim vertragen hatte, noch anhänglicher, was eigentlich nur bedeuten konnte, dass er eifersüchtig war. Eifersüchtig auf Tim, weil dieser mit mir redete, lachte und … befreundet war? Eben das ergab keinen Sinn, denn ich vernachlässigte Alex nicht, auch wenn ich wieder mehr Zeit mit Tim verbrachte.
Tam Tam war mir da auch keine große Hilfe, denn bei ihr hatte ich mich in der Woche vor den Ferien zwar regelmäßig ausheulen können, weil meine Nerven einfach blank lagen, doch ihr einziger Rat war, mit Alex zu reden. Ich sollte ihm sagen, was ich fühlte und dann wäre alles gut. Davon war sie zumindest überzeugt. Ich hatte aber keine Lust, die jetzige Situation aufzugeben, denn eigentlich hatte ich alles, was ich mir wünschte. Es fehlte nur noch das Wissen, dass Alex all das tat, weil er mich liebte und nicht, weil er mich mochte.
Nur leider nagt es ziemlich an dir, dieses Wissen nicht zu haben, nicht?
Seufzend kroch ich unter der Decke wieder hervor und starrte an die Zimmerwand, an der ein Haufen Bilder von Alex und mir hingen. Alex und ich zusammen unter einem Gipfelkreuz in den Alpen, Alex und ich im Schwimmbad, wo er an meinem Eis leckte, wir, als wir im Sommer unter dem Sternenhimmel eingeschlafen waren und Sandra uns am nächsten Morgen aneinandergekuschelt gefunden hatte. Auch das Bild, welches Tam Tam von uns am Tag der letzten Physikkursarbeit gemacht hatte, hing dort. Ich konnte immer noch nicht glauben, wie unglaublich süß Alex darauf aussah. Er hatte seine Nase in meinen Haaren vergraben und ein friedliches Lächeln lag auf seinen Lippen. Mir hatte Tam Tam das Foto ebenfalls gegeben, doch meins lag unter meinem Kopfkissen im Internat. Ich wusste nicht genau, warum ich es nicht aufhing. Vielleicht, weil niemand sonst es sehen sollte. Dieser Moment hatte Alex und mir gehört und ich hätte keine Einwände gegen eine Wiederholung gehabt. Vorzugsweise hier und jetzt. Doch der Typ, so lange er auch immer schlief, war heute schon weg und hatte mich ganz allein in seinem großen Bett liegen gelassen.
Ich überlegte gerade, ob ich aufstehen oder weiterschlafen sollte, als leise Musik durch das Haus schallte. Sofort erkannte ich die Melodie von Oh Tannebaum und dann ganz entfernt auch Alex‘ Stimme, die langsam näher kam.
„Mon beau sapin, roi des forêts
Que j'aime ta verdure!
Quand par l'hiver, bois et guérets
Sont dépouillés de leurs attraits
Mon beau sapin, roi des forêts
Tu gardes ta parure.“
Alex kam mit einem Tablett in sein Zimmer und schenkte mir ein sanftes Lächeln. Er trug immer noch nur ein T-Shirt und seine Boxer. Auch seine Haare sahen so aus, als wäre er gerade aus dem Bett gekrochen. Ich legte den Kopf schief und fragte erstaunt: „Seit wann kannst du so gut französisch?“
„Wir haben das Lied im Französischunterricht jedes Jahr zu Weihnachten gesungen. Das war einprägsam.“
Er stellte das Tablett auf den Nachttisch und setzte sich hinter mich, sodass ich mich an seine Brust lehnen konnte. Während er die Decke über uns zog, begann er leise, die zweite Strophe zu singen.
„Toi que Noël planta chez nous
Au saint anniversaire joli sapin
Comme ils sont doux
Et tes bonbons et tes joujoux
Toi que Noël planta chez nous
Tout brillant de lumière.“
Ich kuschelte mich derweil an ihn und wickelte sowohl seine Beine als auch die Decke so um mich herum, dass ein schützender und wärmender Kokon entstand. Alex‘ Brust vibrierte, als er leise lachte und seine Arme legten sich um mich, sodass ich vollständig von ihm umgeben war. Zufrieden schloss ich meine Augen und entschied mich, wieder einzuschlafen.
„Mon beau sapin tes verts sommets
Et leur fidèle ombrage
De la foi qui ne ment jamais
De la constance et de la paix.
Mon beau sapin tes verts sommets
M'offrent la douce image.“
Plötzlich duftete etwas verlockend vor meiner Nase und träge öffnete ich die Augen. Ich erblickte Alex Hand, die meine Lieblingstasse hielt.
„Mit Milch, Karamell und Kakao. So wie du es magst.“
Auffordernd schwebte der Kaffee vor meinem Gesicht und ich befreite meine eine Hand etwas umständlich aus Alex‘ Decke, ehe ich die warme Tasse ergriff.
„Danke“, nuschelte ich und trank einen Schluck. Seufzend schloss ich meine Augen und genoss die bittersüße Mischung, die meine Kehle hinunterrann. So bekam nur Alex meinen Kaffee hin.
„Wie meine Eltern immer noch davon ausgehen können, dass du keine Naschkatze bist, ist mir wirklich ein Rätsel.“
„Ich esse nicht viel Süßes.“
„Dafür besteht dein Kaffee aber quasi nur aus Zucker.“
„Und?“
Verteidigend drückte ich die Tasse an meine Brust. Meins! Egal, wie sehr sich die anderen immer über meine Kaffeegewohnheiten amüsierten, diese Mischung war einfach göttlich. Und wenn sie Alex dann auch noch mit Liebe zubereitete, denn das hatte er - das Kakaoherz auf dem Milchschaum verriet ihn -, dann war sie perfekt.
„Schon gut, ich trinke sie dir schon nicht weg. Hier!“
Ein Obstspieß tauchte vor meinem Mund auf und lächelnd nahm ich das erste Stückchen Ananas zwischen meine Lippen und zog es ab. Als nächstes stellte Alex einen Teller vor mich, auf dem ein Sandwich und eine Toastscheibe lagen. Ich biss mir gerührt auf die Lippe, als ich das Nutellaherz auf dem Toast entdeckte und legte meinen Kopf auf Alex‘ Schulter, um ihn anzusehen.
„Heute in Herzchenlaune?“
Es sollte eine scherzhafte Bemerkung werden, doch meine Stimme klang seltsam belegt. Alex‘ Augen verdunkelten sich und sein Blick nahm mich gefangen. Die Wärme, die seine Augen ausstrahlten, übertrug sich auf mich und ich bemerkte gar nicht, wie sein Gesicht meinem immer näher kam. Als unsere Nasenspitzen sich berührten, hielt er inne und wisperte rau: „Bei dir immer.“ Dann hauchte er mir einen federleichten Kuss auf die Lippen und ließ ein angenehmes Kribbeln zurück, das mich schwindlig werden ließ.
Ich seufzte erneut und vergrub meine Nase an seinem Hals.
„Fütterst du mich?“
„Klar.“
Er lehnte seinen Kopf an meinen und begann, das Sandwich in kleine Stücken zu schneiden. Währenddessen bekam ich immer wieder ein Stück Obst zwischen die Lippen geschoben und so schmatzte ich friedlich vor mich hin, trank meinen Kaffee und verdichtete die Ränder dieser geliebten Seifenblase immer weiter. So sehr, dass nicht einmal das Vibrieren meines Handys sie zerstören konnte.
Alex legte das Messer weg und beugte sich dann zur Seite, um mein Smartphone von Nachttisch zu holen. Bei der Gelegenheit stellte er gleich die mittlerweile leere Kaffeetasse zurück und ich versteckte meine Hände wieder unter der Decke.
„Von wem ist sie?“, fragte ich, als Alex wieder seine Ausgangsposition angenommen hatte und mir das Handy vor die Nase hielt.
„Tam Tam.“
„Was steht … warte.“
Ich nahm ihm das Handy ab und öffnete die SMS. Alex konnte zwar theoretisch alle Nachrichten von mir lesen, aber wenn Tam Tam gerade in dieser auf irgendetwas anspielte, dann war das vielleicht nicht so gut.
„Okay, du kannst sie mir vorlesen.“
„Du hast das Handy doch in der Hand.“
„Ja, aber ich bin zu faul, um das alles zu lesen. Hab’s nur überflogen.“
„Du bist wirklich…“
„Was?“
„Nichts.“
Schmunzelnd nahm er das Handy und las.
„Sie wünscht uns frohe Weihnachten und viel Spaß. Dann sind da ein anzüglich grinsender Smiley und ganz viele Herzen, weil Zack sein Geschenk offensichtlich gefallen hat. Und dann … hat sie dir eine mega lange Aufzählung von allen möglichen Dankaussagen geschickt. Was hast du denn gemacht?“
„Sie hatte keine Ahnung, was sie Zack schenken könnte und da habe ich sie auf eine Idee gebracht.“
„Du Held.“
Alex legte das Handy weg und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe. Ich erschauderte und schmiegte mich dann schnurrend an ihn. Wenn er das andauernd tat, dann durfte ich das jetzt auch.
„Wie findest du eigentlich Tims Angebot?“, fragte er nach einer Weile, ließ aber nicht davon ab, mir träge durch die Haare zu fahren.
„Klasse. Ich freue mich schon total drauf.“
Tims Eltern besaßen ein kleines Ferienhaus in den Alpen, mussten aber immer sehr viel arbeiten, deshalb hatten sie Tim angeboten, dieses Jahr dort die Winterferien zu verbringen. Tim hatte natürlich sofort zugesagt und uns dann kurzerhand mit eingeladen.
„Du klingst nicht so begeistert“, stellte ich fest, als Alex nichts weiter sagte.
„Doch, schon. Es ist nur…“
„Was?“
Ich drehte meinen Kopf so weit es ging und sah ihn an.
„Naja, seit du dich mit Tim wieder vertragen hast, macht ihr ziemlich viel zusammen und…“
„Aber er hat doch alle eingeladen.“
„Ja, aber ich hab einfach Angst, dass… Lukas, ich…“
Er biss sich auf die Lippe und druckste unsicher herum. Besorgt musterte ich meinen besten Freund. Sonst sagte er doch immer, was er dachte. Was war jetzt anders?
Tief holte Alex Luft und sah mir dann ernst in die Augen.
„Ich will dich nicht verlieren, Lukas. Ich-“
„Du wirst mich nicht verlieren.“
„Lass mich bitte ausreden, ja?“
Ich nickte.
„Ich weiß, du und Tim seid gute Freunde und teilt euch ein Zimmer und das ist auch alles okay. Ich kann dich nicht die ganze Zeit für mich beanspruchen. Das weiß ich und ich tue es wahrscheinlich trotzdem viel zu sehr, aber ich … ich möchte dich für mich beanspruchen, verstehst du?“
Hoffnungsvoll blickte er mich an.
„Äh…“, begann ich wenig einfallsreich. Was sollte ich dazu auch sagen? Dass er mich so viel beanspruchen konnte, wie er wollte?
„Okay, tust du nicht.“ Er seufzte. „Ich kann sowas nicht gut ausdrücken. Könnte vielleicht daran liegen, dass ich es noch nie gemacht habe, aber … ich gebe mir Mühe. Irgendwann musst du es ja verstehen.“
Warum wurde ich gerade das Gefühl nicht los, etwas Offensichtliches nicht zu sehen?
„Also, was ich damit sagen wollte, ist“, begann er wieder, „dass ich dich … mag. Wir sind beste Freunde, ich weiß, aber… Ich will das auch nicht verlieren, also dieses Freundschaftsding, aber ich will es eben auch nicht … behalten.“ Er sah mir in die Augen und fuhr sich seufzend durch die Haare. „Du hast keinen Plan, worauf ich hinauswill, oder?“
Ich schüttelte total überfordert den Kopf.
„Sorry.“
„Nicht deine Schuld. Wenn ich es einfach sagen könnte, dann… Wie gesagt, ich hab es noch nie gemacht und irgendwie ist es in der Praxis schwerer, als gedacht. Aber ich bekomme das schon irgendwann hin. Wir haben ja Zeit.“
Ich hatte immer noch keinen blassen Schimmer, was er von mir wollte, sondern weiterhin nur das Gefühl, vollkommen auf der Leitung zu stehen. Aber wenn er meinte, es wäre nicht meine Schuld und er würde es noch schaffen, dann wartete ich einfach ab.
Sag mal, tust du nur so oder bist du wirklich so blind? Wenn du es jetzt immer noch nicht geschnallt hast, wirst du es auch nicht kapieren, wenn Alex es dir direkt ins Gesicht sagt.
Das war doch überhaupt nicht sicher. Ich war ja nicht dumm, also würde ich das schon verstehen.
Also davon wäre ich jetzt nicht überzeugt, aber wir hatten ja schon festgestellt, dass ich grundsätzlich ignoriert werde.
Richtig. Und deshalb verbannte ich die Stimme auch wieder in den hintersten Teil meines Kopfes und konzentrierte mich stattdessen wieder auf Alex.
„Was machen wir bis heute Abend noch?“
„Liegenbleiben?“, fragte er grinsend und rutschte in eine liegende Position. Unsere Beine waren immer noch verknotet und ich bettete meinen Kopf auf seine Brust und malte wahllos Linien auf seinen Bauch. Jetzt war es wieder an Alex, zu schnurren und mit seinem gleichmäßigen Herzschlag an meinem Ohr und seinen sanften Fingern in meinem Nacken döste ich langsam wieder weg.
*
Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Träumen, in denen Alex und ich zusammen in einem Iglu gewohnt und ein Rentier besessen hatten, das erstaunlich viele Ähnlichkeiten mit Zack aufgewiesen hatte.
„Jungs, es gibt gleich Essen“, ertönte Sandras Stimme durch die Tür.
„Kommen gleich“, brummte Alex und zog mich näher an seinen Körper.
Das schien eine Angewohnheit von ihm zu sein, denn er tat es immer, wenn er aufstehen sollte. Sehr zu meinem Leidwesen, denn dann kämpften in meinem Kopf immer Engel und Teufel um den Sieg. Der Engel wollte aus Pflichtgefühl nämlich trotzdem aufstehen, doch der Teufel hielt sehr überzeugend dagegen, dass ich auch einfach in Alex‘ Armen liegenbleiben konnte. Zumindest noch fünf Minuten. Und dann nochmal fünf und so weiter.
„Jungs! Ihr hatten den ganzen Tag Zeit, um zu kuscheln und sonst was zu tun, jetzt könntet ihr uns wenigstens zum Abendessen Gesellschaft leisten. Außerdem habe ich gerade den Weihnachtsmann am Fenster vorbeifliegen sehen.“
Abendessen? Alarmiert schreckte ich hoch und brachte Alex damit dazu, seinen Kopf maulend unter seinem Kissen zu verstecken.
„Haben wir echt den ganzen Tag gepennt?“
„Hm.“
„Krass.“
„Hm.“
„Alex!“ Ich sah auf mein Handy. „Es ist gleich um sieben.“
„Hm.“
Lächelnd befreite ich mich von Alex‘ Armen und Beinen, was diesen noch mehr murren ließ, und setzte mich dann auf seine Hüfte. Meine Finger fuhren unter sein Shirt und zufrieden bemerkte ich die Gänsehaut, die sich unter meinen Berührungen ausbreitete. Dann begann ich vorsichtig, ihn zu kitzeln und hatte damit innerhalb einer Sekunde seine volle Aufmerksamkeit.
Das Kissen, welches vorher seinen Kopf bedeckt hatte, flog direkt auf meine Brust zu und mit seinen Händen versuchte er hektisch, meine einzufangen. Dabei wehrte er sich und unterdrückte das Bedürfnis, zu lachen. Eigentlich schade, denn ein ausgelassen lachender Alex war ein mehr als lohnender Anblick.
Plötzlich hatte er sich meine Hände geschnappt und ich wusste, dass ich keine Chance mehr hatte, denn er war einfach stärker. Grinsend sah ich ihm in die Augen, aus denen mir der Schalk entgegenblitzte. Ich ahnte Böses und quiekte gleich darauf auch schon überrascht auf, als Alex nun seinerseits begann, mich durchzukitzeln.
„Nein! Bitte nicht!“, flehte ich mit Tränen in den Augen und schnappte nach Luft. „Bitte!“
Irgendwann lag ich auf dem Rücken und Alex kniete über mir. Er pinnte meine Handgelenke neben meinem Kopf auf die Matratze und beugte sich zu mir herunter.
„Du hast Glück, dass wir zum Essen müssen, sonst hätte ich mich jetzt gerächt und zwar so, dass du gewusst hättest, was ich dir sagen will. Aber vielleicht kann ich das heute Nacht nachholen…“
Sein Mund verschwand von meinem Ohr und er stand auf. Ich schluckte und leckte mir über die plötzlich trocken geworden Lippen. Mein Herz schlug viel zu schnell und wenn wir nicht nur beste Freunde gewesen wären, dann hätte ich seine Worte definitiv als Versprechen verstanden. Ein Versprechen, das mein Blut schon jetzt zum Rauschen brachte.
„Na, komm.“
Ich atmete noch einmal tief durch und ergriff dann Alex‘ dargebotene Hand.
*
„Da seid ihr ja endlich! Wir wollten gerade einen Suchtrupp losschicken.“
„Sorry, Lukas musste mich erst wecken.“
Alex grinste schelmisch und ließ sich auf seinen Platz fallen. Ich setzte mich ebenfalls und schnupperte begeistert.
„Wenn ich gewusst hätte, wie gut das hier riecht, dann wäre ich eher runtergekommen.“
Chris lächelte und befüllte meinen Teller.
„Ich hoffe, es schmeckt auch.“
„Also dann.“ Sandra hob ihr Glas, als wir alle volle und dampfende Teller vor uns stehen hatten, und prostete uns zu. „Auf ein schönes, friedliches und entspanntes Weihnachtsfest.“
„Prost!“, erwiderte der Rest von uns danach hörte man erst einmal nur noch die leise Weihnachtsmusik aus dem Radio, die immer mal vom Klappern des Bestecks unterbrochen wurde.
*
„Wollen wir dann mit der Bescherung anfangen?“, fragte Chris, als wir alle satt waren und sowohl der Tisch als auch die Küche wieder glänzten und deutete ins Wohnzimmer. Dort lagen unter dem Baum schon einige Päckchen und die Lichterketten und Kerzen sorgten für eine heimelige gemütliche Atmosphäre, die ich augenblicklich ins Herz schloss.
Alex nickte sofort begeistert und ich verdrückte mich kurz nach oben, um meine Geschenke zu holen. Auch wenn Sandra und Chris andauernd gesagt hatten, es wäre das größte Geschenk, wenn ich hierher käme und mit ihnen feierte, hatte ich trotzdem etwas besorgt, denn sie hatten garantiert auch etwas für mich und das Leben bestand ja aus Geben und Nehmen.
Als ich wieder in den Flur kam, schloss Alex gerade leise die Wohnzimmertür hinter sich. Fragend sah ich ihn an, doch er legte nur einen Finger auf meine Lippen.
„Sie haben plötzlich angefangen, rumzuturteln und ich dachte mir, ich gönne ihnen ein wenig Privatsphäre.“
Ich nickte lächelnd. Alex‘ Eltern waren glücklich und es freute mich immer wieder, dass es so war. Und wenn das bedeutete, ihnen kurz Zeit für sich zu lassen und hier zu warten, dann war das kein Problem.
Zumindest hatte ich gedacht, dass wir ihnen Zeit für sich gaben, doch als mich Alex auf einmal von hinten umarmte und begann, an meinem Ohr zu knabbern, hatte ich eher das Gefühl, dass wir diejenigen waren, die ihre Privatsphäre nutzten. Dennoch lehnte ich mich gegen ihn und genoss das mittlerweile schon vertraute Gefühl seiner Lippen auf meiner Haut und seines Körpers an meinen.
Viel zu schnell löste er sich allerdings schon fast ruckartig wieder von mir und öffnete vorsichtig die Wohnzimmertür. Leicht benommen folgte ich ihm und legte meine drei kleinen Päckchen zu den anderen unter den Baum, ehe ich mich neben Alex und gegenüber von seinen Eltern auf den Boden setzte.
„Ich hoffe, die sind nicht für uns“, sagte Chris und deutete auf meine Geschenke.
„Doch, grinste ich. „Für jeden eins.“
„Ach Lukas“, begann Sandra, doch ich wischte ihre Einwände mit einer Geste zur Seite.
„Es ist nur eine Kleinigkeit und so wie ich euch kenne, habt ihr auch etwas für mich besorgt.“
An ihren Gesichtsausdrücken erkannte ich, dass ich Recht hatte und damit war das Thema abgehakt.
„Ein Schal? Woher wusstest du-?“
Vorsichtig nahm Sandra den weinroten Schal aus der kleinen Box und befühlte den weichen Stoff.
„Tja“, grinste ich und blickte zu Alex, der noch breiter zurücklächelte.
Sandra sah ihren Sohn tadelnd an und schlug dann spielerisch mit dem Schal nach ihm, ehe sie zu mir herüberkam und mich umarmte.
„Danke!“ Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und hauchte mir dann einen Kuss auf die Stirn. „Meine Kollegen werden vor Neid umfallen.“
„Das hoffe ich doch.“
Ein amüsiertes Lachen ließ mich zu Chris sehen, der gerade sein Geschenk ausgepackt hatte und Sandra und mich skeptisch ansah.
„Sagt mal, habt ihr euch abgesprochen?“
„Eigentlich nicht, mein Schatz. Wieso?“
Grinsend hielt Alex‘ Vater ein Gewürzkochbuch und die dazugehörigen Gewürzreagenzgläser in die Höhe. Sandra und ich sahen uns an und prusteten dann los. Zwei Dumme, ein Gedanke, würde ich sagen.
„Ups“, kam es dann plötzlich von Alex. „Ich hab den Ständer dafür besorgt.“
Chris griff nach seinem letzten Geschenk und zum Vorschein kam tatsächlich ein Reagenzglasständer, den schon ein paar Reagenzgläser füllten. Und zwar gerade so viele, dass meine perfekt noch hineinpassten.
„Also ich muss schon sagen“, grinste Alex, „unsere telepathischen Fähigkeiten sind echt unglaublich.“
„Ach kommt! Ihr könnt mir jetzt nicht weismachen, dass ihr euch gar nicht abgesprochen habt.“
„Haben wir aber wirklich nicht“, bekräftigte ich.
„Nun gut, da Weihnachten ist, will ich euch das mal glauben. Aber herzlichen Dank, ihr drei! Da kann das Feiertagsessen morgen ja nichts mehr toppen.“
Eine Hand legte sich auf meine und lächelnd sah ich auf unsere verschränkten Finger hinunter. Ich war so unendlich froh, jetzt hier sein zu dürfen und die Tatsache, dass Sandra und Chris mich wie ihren zweiten Sohn behandelten, verstärkte das Glücksgefühl in mir nur noch mehr. Klar gab es Momente, in denen ich mir wünschte, meine Eltern wären hier und würden so herzlich mit mir umgehen, aber spätestens sobald ich Alex‘ liebevollen Blick begegnete, verflog jeglicher Gedanke an meine Erzeuger. Das hier war meine Familie, mein Zuhause. Und ich konnte mir kein schöneres Weihnachtsgeschenk vorstellen.
*
Den nächsten Tag hatte ich mit einem Lächeln begonnen. Denn diesmal war Alex nicht vorzeitig ausgebüxt, sondern lag brav neben mir, so wie sich das gehörte. Immerhin brauchte ich doch eine Motivation, wenn ich schon so früh aufwachte. Ein friedlich schlafender Alex war da genau das Richtige. Leider spielten meine Hormone in seine Nähe immer noch verrückt und mittlerweile hatte ich aufgeben, auf Besserung zu hoffen. So hatte ich aber irgendwann selbst das Bett verlassen, was zwar nicht wirklich freiwillig gewesen war, aber notwendig. Auch wenn ich Zweifel hatte, dass es Alex groß stören würde, wenn ich ihn wachküsste, so wollte ich das Risiko lieber nicht eingehen und hatte stattdessen die Flucht ergriffen.
Natürlich war Alex alles andere als begeistert gewesen, aber gerade schien er noch weniger begeistert zu sein.
„Willst du mir das wirklich antun?“, maulte er jetzt schon zum bestimmt hundertstens Mal und blickte skeptisch auf das Rentiergeweih.
„Ich hab’s Mia versprochen.“
„Na gut“, lenkte er schließlich ein. „Aber nur, wenn ich als Entschädigung einen Kuss bekomme.“
„Du willst was?“, piepste ich.
Die gelegentlichen Knutscher waren eine Sache, aber wenn er einen Kuss forderte, dann konnte ich das nicht mehr auf spontane Glückshormonüberschüsse schieben.
Spontane Glückshormonüberschüsse?
Klar. Die existierten wirklich.
Ja, bei Alex.
Um wen anders ging’s ja jetzt auch nicht.
Und was wäre so schlimm daran, wenn du es nicht mehr auf deine Überschüsse schieben könntest?
Was daran schlimm wäre? Schlimm wäre dann, dass ich mir eine andere Erklärung dafür suchen müsste, warum mein bester Freund mich andauernd abknutschte.
Vielleicht, weil-
Nein! Ich wollte es nicht hören. Denk an den Deal, Lukas. Der Deal. Da gab’s nichts Kompliziertes.
Das ist doch überhaupt nicht kompliziert! Du magst ihn, er mag dich und fertig. Du solltest dir dringend ein anderes Lebensmotto beschaffen.
Nichts da. Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht passte einfach hervorragend zu mir. Also basta. Wenn Alex einen Kuss wollte, dann würde er einen bekommen.
Ich atmete tief durch und sah meinen besten Freund an.
„Einen Kuss. Okay. Aber dann muss das Foto auch schön werden.
„Das wird schön. Ich bin ja drauf.“
Kopfschüttelnd sah ich Alex dabei zu, wie er sich das Geweih auf den Kopf setzte und mich dabei breit angrinste. Dann hockte er sich neben mich auf sein Bett und machte sein Handy selfiebereit.
„Immerhin habe ich gestern keinen bekommen.“
„Was?“
Irritiert sah ich zu Alex hinüber.
„Einen Kuss. Wir wurden unterbrochen, erinnerst du dich?“
In seinen Augen blitzte es schon wieder und automatisch schoss mir das Blut in die Wangen, als ich an den gestrigen Abend zurückdachte. Alex‘ Verwandtschaft hatte am Telefon Sturm geklingelt, sodass Chris und Sandra nach draußen in den Flur gegangen waren, um ein wenig mit ihren Eltern zu schwatzen. In der Zeit hatte Alex festgestellt, dass ich sein Geschenk noch gar nicht ausgepackt hatte und das dringend nachholen müsste. Also hatte ich vorsichtig das Geschenkpapier gelöst und begeistert nach Luft geschnappt. Zum Vorschein war nämlich der letzte Band meiner Lieblingsbuchreihe gekommen und das bedeutete 900 Seiten pures Lesevergnügen. Vor Freude war ich Alex um den Hals gefallen und hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, als ich meine Lippen auf seine gedrückt hatte. Es war in diesem Moment einfach selbstverständlich gewesen. Für Alex aber anscheinend nicht, denn er hatte mich verdutzt angesehen und mir auf meine Nachfrage erklärt, dass es das erste Mal gewesen sei, dass ich die Initiative ergriffen hätte. Daraufhin hatte ich unsicher ein „Schlimm?“ gemurmelt, doch Alex hatte widersprochen, ein „Ganz im Gegenteil.“ drangehängt und sich dann wieder zu mir gebeugt und mich geküsst. Nur hatte ich diesmal das Gefühl gehabt, dass er den Kuss hatte vertiefen wollen und es auch getan hätte, wenn seine Eltern nicht just in diesem Moment zurück ins Wohnzimmer gekommen wären.
„Wie ich sehe, erinnerst du dich. Deine Wangen sind ganz rot. Und jetzt schau mal hierher.“
Sanft drehte er meinen Kopf, sodass ich geradewegs in die Kamera blickte. Ich bekam davon allerdings nicht so viel mit, denn meine Gedanken kreisten immer noch um den gestrigen Abend. Erst als der Auslöseton ertönte und ich im gleichen Moment etwas Weiches auf meinem Mundwinkel spürte, stellte ich fest, dass Alex gerade das gewünschte Bild für meine Schwester gemacht hatte.
„Taddaa! Fertig. Gefällt’s dir?“
Er hielt mir sein Handy unter die Nase und das Blut sammelte sich augenblicklich wieder in meinem Kopf. Ich sah wie ein Reh im Scheinwerferlicht in die Kamera, während Alex mich breit grinsend auf die Wange küsste. Oder eben quasi auf den Mund. Das konnte ich meiner Schwester doch unmöglich schicken! Sie würde mich bis an mein Lebensende damit aufziehen!
„So. Abgeschickt.“
„Was?“
„Ganz ruhig, Süßer! Sie bekommt es doch sowieso erst in ein paar Tagen.“
„Ich bin tot.“
Verzweifelt ließ ich mich rücklings auf das Bett fallen. Alex legte sich seitlich neben mich und stützte sich auf den Ellenbogen.
„Ach was. Und wenn, dann müsste sie erst an mir vorbei.“
„Großer Trost.“
„Jetzt werde mal nicht sarkastisch! Ich meine das ernst.“
„Ich weiß.“
Tat ich wirklich. Alex würde nicht zulassen, dass mir irgendetwas schlimmes passierte. Jedoch waren unsere Definitionen von etwas Schlimmes manchmal ein bisschen verschieden. Doch Mia war in Amerika und gerade war ich froh darüber. Denn wenn wir skypten konnte ich jederzeit auflegen, wenn es mir zu viel wurde.
„So, und wann bekomme ich jetzt meinen Kuss?“
Unschuldig klimperte Alex mit den Wimpern.
„Den hattest du doch schon.“
Sein Blick verfinsterte sich.
„Lukas, ich rede von einem Kuss. So auf die Lippen, länger als zehn Sekunden, mit Zunge. Ein Kuss eben.“
„Ähm…“
„Oder willst du nicht?“
Was war das denn jetzt für eine Frage? Natürlich wollte ich ihn küssen. Unglaublich gerne sogar, aber…
„Keine Antwort ist auch eine Antwort, also?“
„Ich-“
„Alex!? Lukas!? Kommt ihr mal bitte?“
„Das darf doch jetzt nicht wahr sein!“ Entnervt ließ Alex seinen Kopf auf die Matratze fallen. „Was hab ich falsch gemacht, um so bestraft zu werden? Was?“
„Äh, Alex?“ Vorsichtig berührte ich ihn an der Schulter. „Alles okay?“
„Nein! Irgendjemand hat sich nämlich offensichtlich gegen mich verschworen.“
„Quatsch! Und jetzt komm, deine Eltern warten.“
Ich stand auf und zog einen grummelnden und schimpfenden Alex hinter mir her. Um ehrlich zu sein, war ich froh über die Unterbrechung, auch wenn ich mich wirklich danach sehnte, Alex zu küssen. So richtig, auf die Lippen und mit Zunge. Lächelnd bog ich ihn die Küche.
„Wisst ihr schon, was nächstes Jahr alles ansteht?“
Wir saßen am Küchentisch zusammen und aßen selbstgebackene Plätzchen.
„Direkt nach den Ferien startet das Info-Projekt.“
„Diese große Gruppenarbeit?“
Alex nickte.
„Ich arbeite mit Susanne zusammen.“
„Das war die kleine Rothaarige, oder?“
Wieder nickte Alex und ich beglückwünschte mich innerlich dazu, Informatik abgewählt zu haben. Programmieren war einfach so gar nicht mein Ding.
„Und was habt ihr dieses Jahr noch geplant?“, wechselte Sandra das Thema.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Entspannen, denke ich.“
„Wir wollten uns eventuell nochmal mit dem Rest treffen und irgendetwas unternehmen, aber das steht noch nicht fest.“
„Okay, sagt einfach Bescheid, wenn ihr irgendwohin geht. Deine Mutter und ich müssen nämlich ab morgen wieder arbeiten.“
„Ihr habt nicht frei bekommen?“
„Nein, leider nicht.“
Sandra lächelte zerknirscht.
„Naja, eigentlich wollten wir euch beiden nur ein bisschen Ruhe gönnen. Ihr schafft es doch, euch zum Mittag was zu machen, oder?“
Ich nickte Chris zu und versuchte gleichzeitig, mein rasendes Herz wieder unter Kontrolle zu kriegen. Alex und ich ganz alleine und das für fünf Tage? Das würde eine schöne Nervenprobe werden.
*
Letztendlich hatte ich die Zeit allein mit Alex irgendwie überstanden. Seinen Kuss für das Foto hatte er immer noch nicht bekommen und deswegen schmollte er jetzt ein wenig, aber naja. Als Ersatz hatte ich ganz viel mit ihm gekuschelt und ihm sogar eine Rückenmassage gegeben. Die war zwar für mich die Hölle gewesen, weil einen halbnackten Alex unter sich liegen zu haben, der wohlig schurrt und das wegen der eigenen Berührungen, war etwas viel für meine sowieso schon angespannten Nerven gewesen. Egal, ihm hatte es gefallen, auch wenn er betont hatte, dass das kein Ausgleich für den Kuss sein würde und das allein zählte. Außerdem hatten wir uns am Nachmittag dann mit den anderen getroffen und ein bisschen abgehangen, sodass meine Nerven eine kurze Entspannungspause gehabt hatten.
„Kannst du die mit rausnehmen?“
Alex drückte mir eine Packung Raketen in die Hand, die ich brav zu Chris auf den kleinen Hügel neben Alex‘ Haus brachte. In zehn Minuten war es Mitternacht und gerade bereiteten wir die letzten Dinge für den Jahreswechsel vor. Bleigießen würden wir dann machen, wenn wir wieder drinnen waren, aber Tischfeuerwerk, Raclette und Schokoladenfondue war alles schon abgehakt. Das gesamte Wohnzimmer sah aus, als wäre eine Bombe geplatzt, aber das konnten wir später immer noch aufräumen.
„Ich werde dich dieses Jahr nur noch acht Minuten sehen“, schniefte Alex und drückte mich an sich.
Ich grinste.
„Dafür bist du der Erste, der mich nächstes Jahr sieht.“
„Stimmt.“
So alt diese Jahreswechselwitze auch waren, sie gehörten einfach dazu.
Bis Mitternacht standen wir dicht zusammen, weil es mittlerweile wirklich kalt geworden war. Irgendwann begann Chris dann von Zehn rückwärts zu zählen und verwirrt beobachtete ich Alex, der einen Finger unter mein Kinn gelegt hatte und mich sanft dazu zwang, ihn anzusehen.
„Frohes neues Jahr“, wisperte er, als sein Vater bei Null angekommen war. Und als um uns herum die Raketen begannen, in den Himmel zu fliegen und ein farbiges Durcheinander aus Funken entstehen ließen, beugte Alex sich zu mir herunter und küsste mich hauchzart auf die Lippen. Sofort klappten meine Lider nach unten und ich erwiderte leise seufzend den Druck seiner Lippen. Es war anders, als alle anderen Male davor. Dieser Kuss war kein spaßiger Knutscher. Dieser Kuss hier war zärtlich und wenn ich Alex nicht schon längst hoffnungslos verfallen gewesen wäre, wäre es spätestens jetzt zu spät gewesen.
Viel zu schnell löste er sich wieder von mir. Kurz huschte mein Blick zu seinen Eltern, die ein Stück vor uns standen, sich im Arm hielten und von all dem nichts mitbekommen hatten. Dann sah ich zurück zu Alex und mir stockte bei seinem intensiven Blick der Atem. Ich schluckte und konnte das „Dir auch.“ nur noch hauchen. Doch Alex hatte mich verstanden und zog mich lächelnd in seine Arme. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und gemeinsam sahen wir den Feuerwerkskörpern beim Explodieren zu.
„So Jungs! Wer möchte die erste Rakete anzünden?“
06. Januar; Montag
- Alex' Sicht -
Es war kalt. Arschkalt. Wie kam ich auch auf die hirnrissige Idee, mich hier treffen zu wollen? Hier, am Haupteingang? Okay, ich könnte mich auch einfach nach drinnen stellen, aber… Nee, das wäre zu einfach. Und außerdem … passte das nicht. Deshalb hier. Anfang Januar um zehn vor dem Haupteingang.
Wir müssen reden.
Mehr habe ich ihm nicht geschrieben. Abgesehen von dem Wann und Wo. Aber dafür ganz ordentlich und vor allem altmodisch auf einen kleinen Zettel, den ich ihm vorhin in die Hand gedrückt habe. Noch so eine hirnrissige Idee von mir, aber irgendwann musste es der Typ ja mal kapieren. Beziehungsweise hatte ich das gehofft. Denn ganz offensichtlich tat er das ja nicht, weswegen ich mir ausnahmsweise einmal etwas für das neue Jahr vorgenommen habe, was ich gewillt war, einzuhalten. Nägel mit Köpfen machen. So sagte man doch.
Seufzend fuhr ich mir durch die Haare. Dieser Typ machte mich noch verrückt! Wie lange stand ich hier jetzt schon? Ich sah auf mein Handy. Drei Minuten. Kamen mir vor wie 30. Und so wie ich Lukas kannte, konnten das auch durchaus 30 werden. Oder 33, weil die Zahl schöner war. Ja, er hatte es tatsächlich schon fertig gebracht, sechs Minuten einfach vor der Tür zu stehen, um dann sagen zu können: „Leute, ich bin 42 Minuten zu spät.“ Er hatte einen Zahnarzttermin, man verzeihe es ihm also.
„Sorry, Lena hat darauf bestanden, dass ich mir die Story mit ihrem Ex unbedingt noch bis zum bitteren Ende anhören muss.“
Vor Schreck bekam ich fast einen Herzkasper, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte. Ich fuhr herum.
„Lukas.“
Er grinste.
„Wollte dich nicht erschrecken. Was gibt’s denn so wichtiges, dass ich unbedingt hierher kommen musste?“
Fröstelns zog er seinen Hoodie ein Stückchen hoch und versteckte seine Nase in dem weichen Stoff. Obwohl, wenn ich mir das Teil genauer ansah, dann stellte ich fest, dass es eigentlich mein Pullover war. Aber ich würde es Lukas mal durchgehen lassen. So von wegen Niedlichkeitsbonus und so.
Um aber wieder zum eigentlich Thema zurückzukommen: Ich wollte mit Lukas reden. Okay, wer das jetzt noch nicht geschnallt hatte, dem konnte man auch nicht mehr helfen, aber ich wollte so richtig reden. Die Art von reden, die lebensverändernd sein konnte. Eigentlich hatte ich das seit Silvester tun wollen, aber irgendwie habe ich jede Gelegenheit verpasst. Also jetzt. Und zwar über den Kuss. Oder den Kuss an Weihnachten, der von ihm ausgegangen ist. Oder den Kuss an Weihnachten, der nicht von ihm ausgegangen ist. Eben das ganze Zeug, was man in einer platonischen Freundschaft nicht tat. Also ich zumindest tat es nicht. Lukas ja irgendwie schon. Und dabei war er derjenige, der offen bi war. Naja, ich war ja hier, um das zu klären. Also:
„Wir müssen reden.“
„Das weiß ich.“
Er grinste schon wieder so süß und ich könnte ihn knutschen. Oder zumindest knuddeln. Und vielleicht konnte ich das bald auch die ganze Zeit tun, aber dafür musste ich ihm da erst einmal einiges klar machen. Der Sweetie schien nämlich mächtig gewaltig auf der Leitung zu stehen.
„Also“, begann ich und holte tief Luft. An Weihnachten hatte ich es nicht hinbekommen, aber jetzt wusste ich, was ich sagen wollte. So rein theoretisch hatte ich es zumindest mal gewusst.
„Es geht um Weihnachten. Also nicht direkt Weihnachten, sondern eher darum, was ich da gesagt habe.“
Das war doch schon mal ein guter Anfang. Davon einmal abgesehen, dass ich an Weihnachten viel gesagt hatte.
„Was genau meinst du?“
„Die Sache mit dem … befreundet bleiben. Oder eben auch nicht. Du erinnerst dich?“
Hoffnungsvoll legte ich den Kopf leicht schief und betete innerlich auch darum, dass es bei ihm vielleicht gleich Klick machte und ich gar nichts mehr erklären musste. Aber Lukas wäre nicht Lukas, wenn er es mir so einfach machen würde.
„Ja, tue ich, aber ehrlich gesagt, habe ich das nicht so wirklich verstanden.“
„Das habe ich mitbekommen. Aber ist nicht schlimm, deswegen stehen wir ja jetzt hier.“
„Okay, ich bin gespannt.“
So ganz überzeugt klang er nicht, aber das wäre ich an seiner Stelle auch nicht gewesen.
„Also“, setzte ich wieder an. „Ich meinte das so: Die Freundschaft zwischen uns bedeutet mir eine Menge und egal was passiert, die will ich nicht verlieren. Vielleicht ein bisschen ausbauen und auf eine andere Ebene bringen, aber eben nicht wegwerfen. Das ist mir wichtig, ja?“
Er nickte, aber mit war klar, dass er immer noch keinen Schimmer hatte, worauf ich hinauswollte. Also war das jetzt wohl die Stelle, wo ich mit der Wahrheit herausrücken musste. Mit der ganzen Wahrheit.
„Wie schon gesagt, hab ich dich echt gern. So richtig gern und vielleicht sogar … zu gern. Lukas, ich glaube … ich bin… Ich steh auf … Jun -“
„Alex! Hier bist du! Ich hab dich schon den ganzen Tag gesucht!“
Etwas außer Atem kam Susanne die Treppen hochgelaufen, dick eingemummelt in einen Pelzmantel und rot wie eine Tomate. Ich wünschte ihr im Stillen den Teufel an den Hals und die Pest auf den Buckel und was man sonst noch so unheilvolles wünschen konnte. Wie konnte sie es wagen, jetzt, gerade jetzt, hier aufzukreuzen? Hatte sie eigentlich eine Ahnung, was sie gerade unterbrochen hatte? Eine Silbe! Eine fucking Silbe hatte noch gefehlt. Noch nicht mal. Jungs war ein einsilbiges Wort. Argh! Und was zur Hölle tat sie um diese Uhrzeit hier draußen? Morgen war Schule, Sperrzeit war auch schon, also warum. War. Sie. Hier?
„Es geht um das Infoprojekt“, plapperte sie auch gleich weiter. Merkte sie nicht, dass wir beschäftigt waren? „Du musst unbedingt mitkommen.“
„Nein.“
„Es ist sehr wichtig und - Was?“
„Wir haben noch drei Monate dafür Zeit, es ist nach Zehn und ich habe gerade absolut keine Zeit für dich.“
„Oh.“
Ja, oh. Und jetzt verschwinde endlich, du kleine -
„Ist schon gut, du kannst es mir ja ein anderes Mal sagen, Alex. Ich geh dann mal ins Bett. Bis morgen.“
Mit offenem Mund starrte ich Lukas hinterher, der es tatsächlich wagte, sich jetzt aus dem Staub zu machen. Das konnte er mir doch nicht antun! So weit wie eben würde ich mit meinen Erklärungen so schnell nicht wieder kommen. Und glücklich hatte er auch nicht ausgesehen. Vielmehr enttäuscht und ... verletzt.
„Dann hast du ja jetzt doch Zeit. Kommst du?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stolzierte sie an mir vorbei durch die Tür. Ich betrachtete das dunkle Holz eine Weile, dann wandte ich mich um und schloss mein Fahrrad ab. Eigentlich hatte ich bei Lukas übernachten wollen, aber das konnte ich gerade nicht. Und außerdem würde ich so auch Susanne über den Weg laufen. Dabei war sie ja noch nicht einmal im Internat. Also was zum Teufel tat sie hier? Am Anfang hatte ich ja noch gedacht, dass es ganz cool werden würde, weil sie eigentlich einen ziemlich guten Plan von Info hatte, aber je mehr ich mit ihr zu tun hatte, desto weniger Zeit wollte ich mit ihr verbringen. Also schwang ich mich einfach auf meinen Sattel und radelte nach Hause. Sollte sie mich doch suchen. Geschah ihr recht.
*
Ich glaube, ich war noch nie so schlecht gelaunt. Zumindest nicht an einem Stück. Aber wer konnte es mir denn bitte verübeln? Da hatte ich mich jetzt nochmal aufgerafft, um das mit Lukas endlich zu Ende zu bringen und was bekam ich auf die Frage, wo er wäre, an den Kopf geschmettert? Er war mit Tim unterwegs. Ja, schön für ihn. Oder besser, schön für Tim. Und ich? Ich stand jetzt wie bestellt und nicht abgeholt in der Eingangshalle des Internats und versuchte fieberhaft, meine Wut wieder in den Griff zu bekommen. Dabei wusste ich noch nicht einmal genau, warum ich überhaupt wütend war. Doch, eigentlich wusste ich das nur zu genau. Der Grund war nämlich schwul und teilte sich mit Lukas ein Zimmer. Und so viel Zeit, wie die in den letzten Wochen miteinander verbrachten, konnte ja nur auf eines hindeuten. Nämlich darauf, dass Tim es eindeutig auf meinen Süßen abgesehen hatte. Und so treudoof wie Lukas war, merkte er das natürlich nicht. Ja, ich war eifersüchtig und zwar verdammt gewaltig. Argh, ich hasste es, schlecht gelaunt zu sein!
Ich sah zu der großen Uhr, die über der Tür hing. Mein Training würde erst in zweieinhalb Stunden beginnen, aber Schwimmen war zum Frustabbau schon immer gut gewesen. Außerdem fand in wenigen Wochen ein Wettkampf statt, da konnten zwei zusätzliche Stunden nicht schaden.
Frustriert machte ich mich also auf den Weg zur Schwimmhalle, zog mich schnell um und sprang dann mit einem astreinen Köpfer ins Wasser. Ja, astrein war der gewesen, sonst würden die Mädchen auf der Tribüne nicht so doof applaudieren. Da konnte ich mir jetzt einen Keks freuen. Nicht wegen der Mädchen - die interessierten mich herzlich gar nicht - sondern weil mein Coach das letzte Mal gemeckert hatte, dass ich springen würde wie ein Dreijähriger. Pfft, sollte er sein Können erst einmal selbst unter Beweis stellen. Ich hatte ihm während der fast 10 Jahre, die ich jetzt schon trainierte, noch nie im Wasser gesehen. Freiwillig zumindest nicht. Auf diversen Wettkampffahrten hatte er sich gezwungenermaßen ins Nasse begeben müssen. Immerhin konnte er uns ja nicht ertrinken lassen. Und Niels war ein ausgezeichneter Schauspieler…
Ich war die zwei Stunden bis zum Trainingsanfang wirklich durchgeschwommen und hatte auch während des Trainings nicht schlapp gemacht. Wozu Wut nicht alles gut sein konnte… Doch sobald ich aus dem Wasser stieg, kamen mit der Erschöpfung auch alle Gedanken schlagartig wieder hoch, die ich bis dahin erfolgreich verdrängt hatte.
Die Tribüne war nämlich leer. Nicht im herkömmlichen Sinne, aber Lukas war nicht da. Und wenn Lukas nicht auf den Stufen saß, dann waren diese leer. Uninteressant. Trostlos. Das war das erste Mal, dass er mich nicht abholte ohne vorher Bescheid gesagt zu haben. Dieser… Ich atmete tief durch. Vielleicht hatte er mir ja eine Nachricht geschrieben und ich musste Tim nicht häuten und vierteilen. Nicht gleich zumindest. Denn es war offensichtlich, dass er der Grund dafür war, dass Lukas jetzt nicht hier saß.
Ohne groß Hoffnungen zu haben, kramte ich in der Umkleide mein Handy aus der Tasche und meine Laune sank noch einmal um ein Hundertfaches an diesem Tag. Keine SMS, kein Anruf. Nichts.
Seufzend machte ich mich auf den Weg zum Nat. Es hatte angefangen zu regnen und fröstelnd zog ich meine Jacke fester um den Oberkörper. Blieb mir heute wirklich gar nichts erspart?
Anscheinend nicht, denn als ich endlich wieder im Trockenen stand, fiel mein Blick gleich auf einen bestimmten blonden Idioten, der sich angeregt mit meinem süßen Kleinen unterhielt. Mussten die so nah beieinander stehen? Und warum zur Hölle strich Tim Lukas eine Haarsträhne aus dem Gesicht? Das war mein Job, verdammt nochmal! Weg da, mit der Hand! Pfui, die hatte in Lukas‘ Haaren nichts zu suchen!
Mein Todesblick verfinsterte sich abermals, als Lukas plötzlich anfing, herzhaft zu lachen und sich gar nicht mehr einkriegen wollte. Wieso konnte ich nicht dort stehen und mit ihm lachen? Mich über seine Grübchen freuen und ihm durch die Haare wuscheln? Das war nicht fair!
„Na du?“
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und als ich mich umdrehte - natürlich nur soweit, dass ich Tim weiterhin gut im Blick hatte - erkannte ich Tam Tam, deren Grinsen augenblicklich erlosch, als sie mir ins Gesicht blickte. Sah ich so schrecklich aus? Gut. Dann würde Tim vielleicht das Weite suchen, wenn ich zu ihm ging.
„Was ist denn los?“
„Nichts“, knurrte ich. Sie würde sich sowieso auf Tims Seite schlagen. Immerhin konnte man ja nicht riskieren, dass er gleich wieder die Fliege machte. Die Zeit ohne ihn hatte mir eigentlich ganz gut gefallen. Okay, sie war teilweise ziemlich scheiße gewesen, aber trotzdem. Kein Grund für ihn, jetzt so mit Lukas zu schäkern. Und was zum Teufel machte seine fucking Hand jetzt schon wieder auf Lukas‘ Arm!? Die gehörte da nicht hin! Nimm deine verdammten Pfoten von ihm!
Tat er natürlich nicht. Nein, er begann auch noch, über die weiche Haut zu streicheln!
„Oh, jetzt reicht’s!“
Wutentbrannt stapfte ich auf die beiden zu. Durch Tam Tams fragende Rufe wurden die beiden auch schon auf mich aufmerksam, ehe ich vor ihnen stand. Tims Hand rutschte von Lukas‘ Arm - na endlich! - und mein Sweetie kam freudestrahlend auf mich zugehüpft. Wieso hüpfte er? War die Zeit mit Tim wirklich so toll gewesen? Ich könnte heulen!
„Hey“, wurde ich strahlend begrüßt und in eine Umarmung gezogen. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich sie nicht erwiderte.
„Alles okay?“
Nein.
„Warum bist du so nass?“
Es regnete!? Und ich war schwimmen?
„Alex?“
Zwei große Kulleraugen sahen ängstlich zu mir auf und ich biss mir von innen auf die Wange. Nicht weich werden, Alex. Er hat dein Training vergessen. Wegen ihm! Feindselig starrte ich Tim an, der mich ebenfalls besorgt musterte.
„Mann, Alex, du redest doch sonst so viel“, begann er dann aber gut gelaunt. „Wir wollten uns jetzt einen Film anschauen, da können wir keinen Miesepeter gebrauchen.“
Und ich konnte dich nicht gebrauchen.
Ich sah wieder zu Lukas, dessen Augen sich plötzlich erschreckt weiteten.
„Oh Shit“, flüsterte er. „Ich habe dein Training vergessen!“
Blitzmerker.
„Alex, das tut mir so leid! Tim und ich waren unterwegs und-“
Ich brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Es interessierte mich nicht, was er mit Tim ja ach so tolles getrieben hatte. Doch, eigentlich tat es das schon, aber es war wahrscheinlich besser für alle Beteiligten, wenn ich es nicht erfuhr.
„Redest du heute überhaupt noch?“ Tam Tam kratzte sich verwirrt am Kopf. „Oder hat das Chlor deine Stimmbänder verätzt?“
Ich setzte an, etwas zu sagen, doch da bemerkte ich Tims Hand, die sich wie selbstverständlich auf Lukas‘ Schulter gelegt hatte.
„Alex?“ Lukas war unter meinem eisigen Blick richtig klein geworden. „Es tut mir ehrlich leid. Kommt nicht wieder vor. Schaust du trotzdem mit Film?“
„Nein“, sagte ich tonlos. „Ich geh joggen.“
„Aber es regnet“, warf Tam Tam ein und erntete einen vernichtenden Blick dafür.
Was interessierte mich der Regen? Jetzt zumindest war er mir egal. Wenn ich nach vier Stunden schwimmen joggen ging und das mit immer noch halbnassen Haaren, dann störte der Regen da auch nicht weiter. Hinterher würde ich zwar höchstwahrscheinlich krank sein, aber vielleicht würde Lukas ja dann mal von Tim ablassen und sich um mich kümmern. Das klang nach einem Plan.
Ich warf den anderen noch einen letzten Blick zu, ignorierte Lukas‘ Versuche, herauszufinden, was los war, und verschwand dann wieder nach draußen. Mittlerweile goss es wie aus Kübeln.
Ich atmete einmal tief durch und begann dann, Richtung See zu joggen. Die kühle Luft tat gut und die Bewegung war wie vorhin das Schwimmen zum Abreagieren perfekt. Nach zehn Minuten wollte ich Tim nicht mehr ans Kreuz nageln und als ich bereits eine halbe Stunde lief, war ich mir sicher, etwas zu fies zu meinem eigentlichen Kumpel gewesen zu sein. Die beiden waren ja Freunde und Freunde berührten sich auch manchmal. Doch irgendwie war das heute vermehrt der Fall gewesen. Oder bildete ich mir das nur ein? Ging da die Eifersucht mit mir durch? Wahrscheinlich, aber der Typ sollte trotzdem seine Finger schön bei sich lassen. Lukas gehörte mir! Zumindest fast. Es war in Planung.
Die bevorstehenden Winterferien schlichen sich in meine Gedanken und ich wurde langsamer, ehe ich schließlich stehenblieb, den Wassertropfen zusah, wie sie in den See fielen, und mich ein wenig dehnte. Natürlich hatte Tim auch den Rest der Clique eingeladen, aber es war eben sein Haus und seine Idee und somit sein Terrain. Das passte mir ganz und gar nicht. Eigentlich hatte ich mich auf die Winterferien gefreut, aber jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob diese wirklich schön werden würden.
Als ich mich wieder auf den Rückweg machte, hatte der Regen nachgelassen und es tropfte nur noch hier und da von den Bäumen. Ich erreichte den Fahrradweg, der sich meinen Schulweg schimpfte, und dachte unwillkürlich an die alte Dame mit dem Hund. Ich hatte sie lange nicht mehr gesehen. War sie krank? Oder noch schlimmer? Ja, ich konnte sie nicht wirklich leiden, aber deswegen durfte ich mir doch trotzdem Sorgen machen. Hoffte ich also einfach mal, dass sie nur eine Winterpause eingelegt hatte. Der Hund musste zwar dennoch Gassi gehen, aber ihr würde es schon gut gehen. Ich hatte im Moment andere Probleme.
Zurück im Nat ging ich roboterartig in Lukas Zimmer, schälte mich aus meinen klatschnassen Klamotten und schlurfte mit einem Handtuch bekleidet und mit einigen von Lukas‘ Sachen eingedeckt ins Bad. Warme Dusche, ich komme!
Nachdem ich mich wieder halbwegs wie ein bewegungsfähiger Mensch fühlte, hängte ich meine Sachen noch schnell über die Heizung und machte mich dann auf die Suche nach den anderen. Meine Wut war weitestgehend verpufft und ich war gewillt, Tim am Leben zu lassen, solange er meine Geduld nicht überstrapazierte. Ich würde ihm nämlich zeigen, dass er bei Lukas keine Chance hatte.
Fündig wurde ich in Zacks Zimmer, in dem alle auf irgendwelchen Kissen zusammensaßen und fröhlich quatschten. Als ich eintrat, richteten sich alle Blicke auf mich. Tam Tam war die Erste, die mich grinsend aufforderte, Platz zu nehmen. Anscheinend schien sich meine Waffenpause auch auf meinem Gesicht widerzuspiegeln. Und Tim hatte meine Gedanken wohl ebenso irgendwie gehört, denn er saß zwar neben Lukas, aber mit einem gebührenden Sicherheitsabstand und auf einem anderen Kissen. Braver Junge.
Lukas selbst sah stirnrunzelnd zu mir auf, so als würde er abwägen, ob es sicher war, wenn er mich neben sich ließ. Ich nahm ihm die Entscheidung jedoch ab, als ich mich zwischen Maja und Zack auf dem Boden niederließ. Gefährliches Terrain, aber ich konnte im Moment nicht mit Lukas kuscheln. Ja, ich war nachtragend und das er mich vergessen hatte - für Tim - war schon ein schweres Verbrechen. Sein geknickter Blick ließ mich allerdings sofort ein schlechtes Gewissen bekommen.
Das Radio dudelte leise im Hintergrund und eigentlich war es eine schöne Atmosphäre, doch ich ließ Tim und Lukas keine Sekunde aus den Augen und es gefiel mir gar nicht, wie die beiden sich andauernd ansahen, miteinander lachten oder sich gegenseitig in die Seite boxten.
Plötzlich kündigte der Radiosprecher Phil Collins an und als die ersten Töne von „You’ll be in my heart“ erlangen, konnte ich nicht mehr. Genervt stand ich auf, schaltete unter Protestrufen das Dudelding ab und ignorierte Lukas verletzten und verständnislosen Blick als ich das Zimmer verließ. Sorry, Sweetie, ich konnte das jetzt nicht. Noch nicht.
8. Februar; Samstag
Hoch und imposant ragten die schneebedeckten Berge am Horizont vor uns auf. Die Sonne schien, sodass der Schnee auf den Wiesen neben der Autobahn wieder geschmolzen war, doch hier und da konnte man noch vereinzelte Reste entdecken. Im Auto selbst herrschte eine fröhliche und ausgelassene Stimmung. Die Halbjahreszeugnisse hatten wir in der Tasche, betrinken würden wir sie später am Abend und jetzt hieß es erst einmal eine Woche Ausspannen und ganz viel Skifahren. Auch Alex lachte wieder, wobei das Funkeln in seinen Augen immer noch fehlte.
Ich konnte es nicht so wirklich erklären. Die Aura, welche er ausstrahlte, die Beziehung zwischen uns… All das war in letzter Zeit sehr verwirrend. Man könnte fast meinen, wir befänden uns auf einer Achterbahnfahrt. Eine Achterbahn mit allem Drum und Dran: Höhen und Tiefen, Loopings, freie Fälle, scharfe Kurven, Zickzackfahrten… Alles was es eben gab. In den Weihnachtsferien schwebte ich quasi auf Wolke Sieben und gleich am ersten Schultag stürzte ich in ein tiefes schwarzes Loch. Dabei war doch gerade alles so perfekt gewesen. Wenn ich meinen Verstand ausgeschaltet hatte, war die Beziehung von Alex und mir eine wirkliche, nicht mehr platonische, gewesen und Tim und ich verstanden uns besser als je zuvor. Wobei ich irgendwie das Gefühl hatte, dass gerade das dazu geführt hatte, dass es zwischen Alex und mir nicht mehr so gut lief.
Mittlerweile ging es ja sogar wieder. Jetzt - einen Monat später. Außenstehende würden wahrscheinlich sagen, es wäre alles normal. Frieden im Paradies und sowas. Aber ich wusste leider nur zu genau, dass da definitiv kein Frieden war. Waffenstillstand vielleicht, aber bestimmt kein Frieden. Wobei ich in manchen Momenten schon zu hoffen gewagt hatte, dass jetzt wieder alles okay wäre. Doch im nächsten Augenblick war Alex wieder abwesend, eingeschnappt und kapselte sich ab. Sein Verhalten war so widersprüchlich, dass ich manchmal Angst hatte, mein bester Freund war schizophren.
Vielleicht wäre es ganz gut, wenn er wirklich zwei Persönlichkeiten hätte. Denn dann würde ich von meinem ehemaligen Alex 50 Prozent abbekommen. Doch so wie es jetzt war, war es gelinde gesagt scheiße. Wir redeten wieder, wir berührten uns wieder, aber Kuscheln war auf ein Minimum beschränkt und Küsse gab es gleich gar nicht mehr. Ich vermisste das Gefühl seiner weichen Lippen, aber vor allem trauerte ich dem Leuchten in seinen Augen hinterher. Das freche Blitzen, wenn er etwas ausheckte, die Tiefe, in welche man sich hinfallen lassen konnte. All die Dinge, die Alex‘ Augen so besonders machten. Die sie seine Augen werden ließen.
Ich blickte durch den Rückspiegel zu meinem besten Freund, der wie die anderen aus dem Fenster sah und sich riesig über den Schnee freute. Doch das fucking Funkeln fehlte. Verdammt! Er schien bemerkt zu haben, dass ich ihn beobachtete, denn er wandte den Blick von den Bergen ab und sah mir direkt in die Augen. Ich versuchte mich an einem zaghaften Lächeln und mein Herz machte einen Hopser, als Alex es ebenso schüchtern erwiderte. Es war ein Anfang. Und irgendwann würde alles wieder wie früher werden. Wir hatten nämlich schon zwei Tage, nachdem Alex aus dem Raum gestürmt war, festgestellt, dass wir ohne einander nicht auskamen. Alleine konnten wir also nicht, aber miteinander war momentan auch schwierig. Ich wollte den alten Alex wieder. Meinen Alex. Den Alex, der mich in den Arm nahm, der mich frech angrinste und mich mit so viel Gefühl küsste, dass meine Knie weich wurden. Ja, ich wurde kitschig, aber ich durfte das jetzt. Ausnahmsweise.
Ausnahmsweise wie die letzten vier Wochen?
Jap. Ausnahmsweise war ein dehnbarer Begriff. Genauso wie gleich. Das konnte auch alles bedeuten.
„Wie lange brauchen wir noch?“, wollte Zack von der Rückbank aus wissen.
Ich hatte mich schon gefragt, wann die Frage das erste Mal kommen würde. Ich sah zu Tim, der auf dem Beifahrersitz saß und mich nachher durch die Täler lotsen würde. Auch so ein heikles Thema, denn es war Alex sehr genau anzusehen gewesen, wieviel er davon hielt, dass Tim und nicht er neben mir saß. Umso mehr bedeutete mir sein Lächeln von vorhin.
„Ungefähr noch eineinhalb Stunden“, antwortete Tim nach hinten. „Wir biegen die übernächste Abfahrt ab und dann kommen nochmal knapp 80 Kilometer Landstraße.“
„Okay. Das halte ich noch aus. Ich muss nämlich mal ganz dringend pissen.“
„Schatzi, dir ist bewusst, dass wir vor einer halben Stunde eine Pinkelpause eingelegt haben?“, zog Tam Tam ihren Freund auf, der daraufhin nur schnaubte.
„Da musste ich noch nicht aufs Klo.“
„Ich hätte hier einen Beutel…“
Grinsend hielt Alex eine Tüte in die Höhe. Lächelnd betrachtete ich ihn und war mir mit einem Mal wieder ganz sicher, dass wir das schaffen würden. Wir mussten einfach.
„Äh, ja… Danke, aber nein danke. Ich schaffe das schon.“
„Soll ich mich vielleicht absichtlich verfahren?“, warf ich ein und Alex nickte sofort begeistert.
„Mach das mal, dann würde der Spruch hier auch endlich Sinn ergeben.“ Er deutet auf den Plastiksack in seiner Hand. „Ihr Helfer in der Not würde ich nämlich eigentlich nicht mit einem Möbelhaus in Verbindung bringen.“
„Wehe!“
Drohend hob Zack einen Zeigefinger.
„Nein, keine Sorge“, grinste ich. „Ich bin froh, wenn ich endlich aus dem Auto raus bin. Denn erstens ist es nicht so ganz legal, was wir hier machen und zweitens seid ihr echt anstrengend.“
„Hey!“, empörte sich Maja. „Ich habe nichts gemacht!“
„Außer mit Zack ‘ne Wetter abgeschlossen, wie lange ihr braucht, um die Nummer des Typens im Auto neben uns zu bekommen.“
Genervt verdrehte Tam Tam ihre Augen.
„Du bist doch nur neidisch, weil er mich augenscheinlich attraktiv fand. Aber keine Sorge, du bist die Einzige in meinem Leben.“
Tröstend legte Zack einen Arm um sie.
„Jaja, eigentlich war dem Typen nur langweilig, weil er im Stau stand. So wie wir übrigens auch. Für zwei Stunden! Also drück aufs Gas, Lukas, ich will endlich ankommen.“
„Aj aj, Käpt‘n Maja.“
Ich warf Alex noch einen Blick zu und beschleunigte. Eineinhalb Stunden? Na, das wollten wir doch mal sehen…
*
„Also Tim, ich wusste ja, dass deine Eltern reich sind, aber das?“
Mit großen Augen und vor Staunen geöffnetem Mund drehte Maja sich einmal im Kreis und sah sich in dem riesigen Wohnzimmer des Ferienhauses um.
„Ja, einer der wenigen Vorteile.“
Tim grinste schief und stellte die riesige Kühltasche auf dem Tresen ab, der Küche und Wohnzimmer voneinander trennte. Diesem gegenüber in die Wand eingelassen war ein Kamin und dazwischen stand eine gewaltige Couchgarnitur. Die großen Fenster gaben einen herrlichen Blick über einen verschneiten Winterwald frei und auf der angrenzenden überdachten Terrasse stand ein Grill, von dem ich mir sehr sicher war, dass er des Öfteren zum Einsatz kommen würde.
Das gesamte Haus war in einer ansprechenden Mischung aus Rustikalem und Modernem eingerichtet worden, was sich bis ins Bad und die Schlafzimmer zog. Wobei meine Freude einen kleinen Dämpfer erhielt, als ich feststellte, dass es nur zwei Schlafzimmer gab. Gleichzeitig breitete sich aber auch ein wohlbekanntes Kribbeln in meinem Magen aus, denn vier Betten plus eine Couch bedeuteten, dass meine Chancen, mit Alex zusammen irgendwo zu schlafen, nicht schlecht standen. Denn Tam Tam und Zack würden definitiv beieinander übernachten und Alex und Tim zusammen zu stecken, wäre Selbstmord.
„Leute!“, schallte Zacks Stimme plötzlich durch das Haus. „Schmeißt euer Zeug einfach irgendwo hin, helft mir mit den Küchenutensilien und dann rein in eure Skisachen! Ich will auf die Piste!“
Das ließen wir uns natürlich nicht zweimal sagen und in Windeseile waren die verderblichen Sachen in den Kühlschrank geräumt und wir in unsere Klamotten geschlüpft. Skier hatten wir alle, sodass wir uns das nervige Ausleihen sparen - nicht, dass es hier in der Nähe einen Verleih gegeben hätte - und direkt auf die Piste gehen konnten. Diese grenzte nämlich praktischerweise gleich an das Haus an. Wir mussten nur einen kleinen Abhang hinunterfahren und schon standen wir auf dem von Pistenraupen planiertem Schnee. Göttlich!
Da die Anreise jedoch jeden von uns geschlaucht hatte und es auch schon auf den Abend zuging, kehrten wir zwei Stunden später bereits zur Hütte zurück. Vollkommen ausgepowert ließ ich mich auf die Couch fallen, nachdem ich mich aus meinen Skisachen geschält hatte. Das tat gut. Entspannt schloss ich meine Augen und genoss die letzten Sonnenstrahlen, die durch die Fensterfront auf mein Gesicht fielen.
Die Matratze senkte sich neben mir und gleich darauf legte sich ein Kopf zögernd auf meine Brust und ein Arm über meinen Bauch. Lächelnd und ohne die Augen zu öffnen hob ich meine eine Hand und begann, den mir nur zu vertrauten Wuschelkopf zu kraulen. Vorsichtig und darauf bedacht, ihn nicht zu verschrecken. Denn wenn ich eins in den letzten vier Wochen gelernt hatte, dann dass die Stimmungsschwankungen einer schwangeren Frau nichts im Vergleich zu denen von Alex waren.
Doch im Moment schien der Typ im Reinen mit sich und der Welt zu sein, denn schon wenige Minuten später vernahm ich nur noch seine regelmäßigen Atemzüge. Und da hatte ich gedacht, ich wäre derjenige, der überall schlafen konnte.
Als Tam Tam nach einer halben Stunde zum Essen rief, schlief Alex noch immer friedlich auf meiner Brust und ich beschloss kurzerhand, das Essen ausfallen zu lassen. Solche Momente waren kostbar - zumindest in letzter Zeit - und ein Mensch konnte eine Woche ohne Nahrung überleben. Ohne Alex jedoch nur höchstens zwei Tage. Nachdem ich also meine Prioritäten für den heutigen Abend gesetzt hatte, schlang ich meinen anderen Arm um Alex‘ Rücken und vergrub meine Nase in seinen Haaren.
Tam Tam lächelte nur verstehend und verschwand schweigend zurück in die Küche. Keine Ahnung, was sie den anderen erzählt hatte, aber als diese auf die Ferien anstießen, kam niemand ins Wohnzimmer und störte uns. Ich dankte meiner Freundin im Stillen und winkte Tim nur einmal träge zu, als dieser spät abends einen Holzscheit im Kamin nachlegte.
*
Irgendwann musste ich wohl ebenfalls eingenickt sein, denn als ich die Augen aufschlug, war er hell draußen und das Gewicht auf meiner Brust fehlte. Bevor ich mich darüber jedoch beschweren konnte, stieg mir ein köstlicher Duft in die Nase und mit grummelnden Magen kletterte ich von der Couch und begab mich dem Kaffeegeruch folgend in die Küche.
Zack und Tam Tam saßen bereits an dem fertig gedeckten Tisch, wobei Tam Tam es sich auf dem Schoß ihres Freundes bequem gemacht hatte - nur in Unterwäsche übrigens - und sich nun von ihm füttern ließ. Ich lächelte bei dem vertrauten Umgang der beiden und verdrängte den eifersüchtigen Stich in meiner Brust. Es war schön, wenn wenigstens zwei von uns glücklich waren uns ihren Spaß gehabt hatten. Denn das dem so war, war unübersehbar.
Grinsend ließ ich meinen Bick über den Tisch schweifen, was meinen Magen erneut knurren ließ, und blieb schließlich an einer dampfenden Tasse hängen, deren Inhalt sehr nach meinem geliebten Kaffeegemisch aussah. Ich sah noch einmal zu beiden Turteltäubchen, die leise kicherten, aber völlig in ihrer eigenen Welt versunken waren, und hob dann meinen Blick. Sofort begann mein Herz schneller zu schlagen. Alex wandte seinen Blick, der bis dato auch auf Tam Tam und Zack gerichtet gewesen war, von diesen ab und sah mir direkt in die Augen. Die Intensität seines Blickes ließ mich schlucken. Ich wusste genau, was er dachte und was er sich wünschte. Mir ging es ja genauso. Nervös sah ich zu Boden und ließ mich auf den erstbesten Stuhl fallen.
Ein tiefes Seufzen erklang von hinten als Alex sich ebenfalls setzte und Tim erschien in meinem Gesichtsfeld. Er warf mir einen tadelnden Blick zu, der sehr genau sagte Ist das dein ernst?, klatschte dann jedoch in die Hände und verkündete freudestrahlend: „Da die Zimmerverteilung geklärt ist, können wir jetzt ganz in Ruhe frühstücken und dann auf die Piste. Es gibt da nur noch zwei Sachen: Erstens, wir dürfen nicht vergessen, die Heizung des Schwimmbades anzuschalten, sonst müssen wir heute Abend Eisbaden und zweitens wäre es wahrscheinlich besser, wenn Lukas und Alex sich das zweite Zimmer nehmen, denn ich möchte um jeden Preis verhindern, dass ihr beide das gleiche wie Zack und Tam Tam letzte Nacht auf meiner Couch veranstaltet.“
Zacks Wangen schimmerten in einem leichten Rotton, während seine Freundin nur einen belustigten Blick mit Maja austauschte und Alex sah überrascht zu Tim auf, so als ob er nicht erwartet hätte, dass dieser mich selbstverständlich ihm überlassen würde. Das klang zwar jetzt so, als wäre ich irgendein Objekt, das man besitzen konnte, aber wenn Alex der Besitzer war…
„Hör auf zu träumen, Lukas“, schmunzelte Tam Tam. „Das darfst du heute Nacht in den Armen des Idioten da drüben machen.“
Sie deutete auf Alex, der wieder nur verlegen seinen Blick senkte und tauschte dann einen Blick mit Tim, der mir gar nicht gefiel. Was zur Hölle plante sie?
Ich hatte jedoch keine Zeit, mir darüber weitere Gedanken zu machen, denn aus Tims In Ruhe frühstücken wurde ein Macht hinne, ich will Skifahren, sodass wir alle unsere Kaffees hinunterstürzten (Ich hatte recht behalten, in meiner Tasse war wirklich mein Lieblingsgetränk enthalten gewesen und zwar in der perfekten Mischung wie nur einer sie hinbekam.) und die Brötchen verdrückten, um dann in Rekordtempo fertig angezogen und mit Skiern beladen vor der Hütte zu stehen. Und zu stehen und zu stehen. Denn wer fehlte? Richtig, der der den meisten Stress gemacht hatte. Der und Tam Tam.
„Das ist ja mal wieder typisch“, knurrte Zack ungeduldig und schulterte seine Skier. „Also ich geh jetzt auf die Piste. Wenn die beiden nicht fertig werden, ist das deren Problem. Kommt wer mit?“
„Ich“, rief Maja sofort und auch Alex und ich schlossen uns an. Irgendwo würden wir uns schon wiedertreffen.
*
Es war eine gute Entscheidung gewesen, nicht auf die anderen beiden zu warten, denn diese stießen erst eine halbe Stunde später zu uns. Leicht bedauerte ich das Zusammentreffen, denn jetzt konnten Alex und ich nicht mehr ganz so entspannt und vor allem nicht mehr allein zu zweit hinter den beiden Streithähnen herfahren, die sich bis dahin gegenseitig gejagt und wilde Wettrennen geliefert hatten.
Doch es war ja kein Pärchenurlaub - davon abgesehen, dass Alex und ich auch kein Paar waren - und deswegen sollte ich mich nicht beschweren und würde es auch nicht mehr tun. Mit Tim und Tam Tam Ski zu fahren, war nämlich eigentlich mega cool.
So machten wir zu sechst das Skigebiet unsicher und hatten uns sehr wahrscheinlich auch schon den einen oder anderen Feind gemacht, denn unsere beiden Snowboarder, alias Zack und Maja, fuhren nicht gerade rücksichtsvoll. Aber wen kümmerte es? Solange niemand körperlichen oder seelischen Schaden nahm, war doch alles gut.
So wie auch alles gut war, weil Alex wieder mit dir redete?
Wir hatten auch gekuschelt und er hatte mir meinen Lieblingskaffee gemacht.
Ja, und jetzt überleg mal, warum!
Weil unsere Freundschaft noch eine Chance hatte?
Nein, du Depp! Weil er dich mag! Hör endlich auf mit diesem Freundschaftsding! Weder du noch er will Freundschaft, also warum bekommt ihr es denn nicht endlich auf die Reihe?
Wow, da war aber jemand angepisst. Aber ich hatte keine Lust, mir meine Ferien vermiesen zu lassen. Ich wollte Spaß haben! Und zwar so viel wie möglich und das bedeutete alles zu nehmen, was Alex mir gab.
Oh Kleiner, der Typ würde dir noch so viel mehr geben. Aber ich seh‘ schon, ich werde wieder ignoriert.
Und wie die Stimme ignoriert wurde. Wenn Alex mir mehr geben wollen würde, hätte er das längst getan. Denn wann war der Kerl bitte mal schüchtern gewesen?
…
Jaja, schon klar, dass da die Stimme wieder etwas sagen wollte, aber nein. Ich fuhr jetzt schwarz, da brauchte ich jegliche Konzentration. War ja nicht so, dass ich jede Woche auf Skiern stand.
Okay, die Stimme hatte mich zwar nicht mehr abgelenkt, dafür Alex‘ Hintern, der in der engen schwarzen Skihose einfach nur verboten gut aussah und den er mir quasi auf dem Präsentierteller serviert hatte. Seit wann konnte der Typ so elegant wedeln? Ich hatte also ein zwei Mal mit dem Boden Bekanntschaft gemacht. Vielleicht auch ein wenig mehr als ein zwei Mal, aber hey, der Schnee war echt sympathisch! Es kümmerte mich auch nicht wirklich, denn die anderen - von Tim und Alex abgesehen - lagen auch oft genug am Boden. Und wenn man dann auch noch von seinem Prinzen, der auf einem weißen Ross daher geritten kam, hochgehoben wurde… Gut, Alex war kein Prinz und er war mit grün-schwarzen Skiern auf mich zu gefahren, aber die Message zählte. Er hatte mir aufgeholfen und da ich manchmal etwas ungeschickt war, hatte er mich auch noch auffangen müssen, sonst wäre ich mit ihm den Hang runtergepurzelt. Also Fazit des Tages: Auf dem Boden ließ es sich echt gut liegen und ich durfte mich ab heute Jungfrau in Nöten nennen. Störte mich etwas daran? Die Jungfrau vielleicht. Aber wenn Alex derjenige war, der mich jedes Mal rettete, dann würde ich doch gern bis an mein Lebensende unberührt bleiben…
Hust.
Das war kein Sarkasmus! Es war auch nicht ganz die Wahrheit, aber pff! Es gab wichtigeres im Leben, zum Beispiel warmes Wasser und einen Alex in Badehosen.
„Also das Haus war ja schon der Hammer ohne das Schwimmbad, aber jetzt…“
Sprachlos legte Tam Tam ihr Handtuch auf eine der Liegen und stieg zu uns ins warme Nass.
„Luxusprobleme“, grinste Tim. „Zuhause haben wir auch einen Pool im Keller, da konnte der hier natürlich nicht fehlen, auch wenn er um einiges kleiner ist als der Zuhause. Da hinten ist noch eine winzige Sauna, aber das war’s dann auch schon.“
„Schon ist gut“, murmelte Alex und lehnte sich neben mich an den Beckenrand. Unsere Arme berührten sich und eine Gänsehaut überzog meinen Körper.
„Und jetzt?“, fragte Maja in die Runde.
„Jetzt“, grinst Zack, „machen wir das, was ich schon die ganze Zeit machen wollte.“
Er tauchte ab und wenige Sekunden später schrie Tam Tam erschrocken auf und wurde unter Wasser gezogen. Maja kicherte vergnügt, bis sie ebenfalls ruckartig abtauchte.
Ich spürte einen Blick auf mir und drehte mich zu meinem besten Freund, dessen Augen wie die eines Raubtieres blitzten. Gefährlich und unberechenbar. Gedankengegenwärtig stieß ich mich vom Beckenrand ab und brachte etwas Abstand zwischen Alex und mich. Womit ich jedoch nicht gerechnet hatte, war, dass es plötzlich finster um uns herum wurde. Nur ein paar Leuchten tauchten den Pool noch in ein dunkelblaues Licht, der Rest war dunkel.
Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich zuckte zusammen, als Tim mit einem eleganten Köpfer wieder ins Wasser sprang. Er und Tam Tam, die mittlerweile wieder aufgetaucht war, schlugen ein und sahen dann in meine Richtung. Zumindest nahm ich das an, denn im nächsten Augenblick streifte etwas mein Bein und ich schwamm strampelnd davon. Zumindest versuchte ich es, denn gegen Alex, dessen Kopf kurz darauf über der Wasseroberfläche erschien, hatte ich keine Chance. Er grinste mich kurz verschwörerisch an und tauchte dann wieder ab. Durch die quasi nicht mehr vorhandene Beleuchtung konnte ich ihn nicht mehr sehen und kraulte auf gut Glück einfach irgendwo hin.
Die anderen lieferten sich auf der gegenüberliegenden Seite eine echte Wasserschlacht und ich hielt lächelnd inne und besah mir das Schauspiel. Meine Chancen, von Alex nicht entdeckt zu werden, standen sowieso besser, wenn ich mich nicht bewegte und im Schatten verharrte. Eine Minute verging, in der nichts passierte und auch eine zweite. Da Alex aber nirgends aufgetaucht war, stieg meine Nervosität mehr, als dass sie sank. Wo war er nur?
Suchend sah ich mich um und plätscherte dabei leicht im Wasser. Das war wohl der Moment, auf den Alex gewartete hatte, denn auf einmal vernahm ich hinter mir ein paar kräftige Schwimmzüge und ehe ich reagieren konnte, drückte sich jemand von hinten an mich und hielt mich fest.
„Hab dich“, raunte Alex an meinem Ohr und streifte mit seinen Lippen die empfindliche Haut.
Ein Seufzend entwich ungewollt meinen Lippen und ich drängte mich automatisch an den warmen festen Körper hinter mir, der mich an der Oberfläche hielt. Sämtliche meiner Muskeln waren nämlich in dem Augenblick flöten gegangen, als Alex mich berührt hatte. Es war einfach viel zu lange her.
Ihm schien es aber nicht anders zu gehen, stellte ich nach einige Zeit fest, denn sein Atem ging schwer und er klammerte sich so sehr an mich, dass ich die Befürchtung hatte, wir hielten uns gegenseitig über Wasser. Hielten uns gegenseitig fest. Und was anderes war es auch nicht. Wir klammerten uns aneinander, versuchten den Abstand zwischen uns auf ein Minimum zu reduzieren und genossen die Nähe des anderen, die viel zu lange gefehlt hatte.
Vergessen waren die anderen, vergessen waren all die Stunden Verzweiflung der letzten Wochen. Eine Hand bahnte sich langsam einen Weg über meinen Oberkörper nach unten und verscheuchte auch den letzten Gedanken aus meinem Kopf. Ich stöhnte leise auf, als Alex mich umdrehte und seine eine Hand an meiner Hüfte platzierte. Ein Lächelnd umspielte seine Lippen und mit einem wissenden Blick zog er mich etwas zur Seite, bis wir beiden wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Dennoch würde ich einen Teufel tun, jetzt von ihm abzulassen und er war anscheinend der gleichen Meinung.
Ein zärtliches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und er beugte sich nach vorn, bis seine Stirn an meiner lehnte.
„Ich habe dich so vermisst“, wisperte er.
„Ich war doch die ganze Zeit da.“
Er löste sich ein Stück von mir und sah mir tief in die Augen. Seine Hände hielten mein Gesicht umschlossen, so als hätte er Angst, ich würde plötzlich verschwinden.
„Ich war ein Idiot“, begann er nach einigen Minuten, in denen wir uns nur angesehen hatten. „Ich wollte es dir so gerne sagen, doch immer ist etwas dazwischen gekommen. Und anstatt ich es einfach noch einmal probiert habe, war ich eifersüchtig auf Tim und habe ich dich von mir weggestoßen. Es tut mir so leid!“
Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und vielleicht war das der Grund dafür, dass ich ihm eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht strich und mich dann vorlehnte und ihm einen hauchzarten Kuss auf den Mund hauchte.
„Lukas“, krächzte er, doch ich legte ihm einen Finger auf die weichen Lippen, die ich so vermisst hatte.
„Nicht entschuldigen“, flüsterte ich.
„Doch.“
Er umschloss meine Hand mit seiner und schmiegte seine Wange hinein. Ich lächelte nachsichtig. Er war schon immer ein kleiner Sturkopf gewesen.
„Warst du wirklich auf Tim eifersüchtig?“, fragte ich ungläubig.
„Ja. Ihr habt so viel Zeit miteinander verbracht und gelacht und geredet. Ich weiß, es war dumm, aber… Es tut mir leid.“
Ich seufzte. Irgendetwas machten meine Freunde falsch. Erst stritt ich mich mit dem einen, weil ich zu viel Zeit mit dem anderen verbrachte und als ich mich mit dem wieder vertragen hatte, wurde der andere eifersüchtig, weil ich zu viel mit dem ersten redete.
„Zwischen mir und Tim lief noch nie was und da wird auch nichts laufen. Ich mag ihn, ja und das auch sehr, aber nur als Freund. Und daran wird sich nichts ändern.“
„Okay“, war alles, was Alex dazu meinte, doch sein Blick sagte mir, was ich wissen musste und wollte. Er glaubte mir. Er vertraute mir und bereute seine Handlungen. Mehr war nicht wichtig.
Ich strich ihm kurz über die Wange, als Zeichen, das ich verstanden hatte und wechselte dann das Thema.
„Erzählst du mir jetzt, was du mir damals sagen wolltest.“
Er lachte leise und ich erschauderte wohlig.
„Versprichst du mir dann, es dieses Mal zu verstehen?“
„Warum sollte ich es nicht verstehen?“
Wieder lachte er.
„Weil Taten normalerweise mehr als Worte sagen, aber aus meinen Taten bist du offensichtlich nicht schlau geworden.“
„Aus deinen Worten auch nicht so wirklich. Magst du mir jetzt endlich mal erklären, was du mit diesem befreundet bleiben oder auch nicht befreundet bleiben meintest?“
„Ja, ich gebe zu, das habe ich so verwirrend formuliert, wie es nur ging. Was hast du dir denn bis jetzt zusammengereimt?“
„Naja…“ Ich wurde rot. „Du hast irgendetwas davon gesagt, auf wen du stehst…“
„Ja?“
Hoffnungsvoll blickte Alex mich an.
„Du meintest, du würdest auf Jun stehen, dann hat Susanne dich unterbrochen.“
Mein bester Freund blinzelte kurz irritiert dann nickte er.
„Ja, stimmt.“
„Und naja… Ich habe mir die ganzen Wochen bis zu den Ferien den Kopf darüber zerbrochen, wer diese Jun ist. Welcher Name so anfängt und so. Wer Sinn machen würde, denn du würdest dich nicht in jede verlieben.“
Ich sah Alex in die Augen, konnte den Ausdruck in ihnen jedoch überhaupt nicht deuten. Also fuhr ich fort: „Und dann hätte das Ganze auch Sinn ergeben. Wenn du mir sagen wolltest, dass du verliebt bist, dann wäre es logisch, wenn du um unsere Freundschaft besorgt gewesen wärst. Ich dachte, du hättest Angst, dass unsere Freundschaft zerstört wird, sobald du jemanden findest.“
Jetzt wusste ich, welcher Ausdruck in Alex‘ Augen lag. Enttäuschung. Und Verzweiflung.
„Und zu welchem Schluss bist du mit Jun jetzt gekommen?“, fragte er heiser.
„Zu gar keinem.“ Ich sah ihm fest in die Augen und legte meine Hand in seinen Nacken. „Es gibt keine, die in Frage käme.“ Sanft zog ich ihn ein Stück zu mir. „Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es wirklich keine gibt. Dass Jun kein Mädchen ist.“
Er lächelte leicht und sein Blick wurde wärmer.
„Da hast du Recht. Ich wollte eigentlich Jungs sagen.“
„Jungs?“
Irritiert zog ich meine Augenbrauen zusammen, bis mir der genaue Gesprächsverlauf wieder einfiel.
„Du stehst auf…“, keuchte ich ungläubig.
„Jungs, ja“, beendete er grinsend meinen Satz. „Aber eigentlich gibt es für mich nur dich und ich habe keine Ahnung, was ich noch machen muss, damit du das endlich kapierst.“
„Ähm…“
So fühlte es sich dann wohl an, wenn plötzlich alle Hirnwindungen lahmgelegt worden waren. Bitte was?
„Lukas?“
„Ja?“
„Willst du dazu vielleicht irgendetwas sagen?“
Angst und Unsicherheit flackerten in seinen Augen auf.
„Du stehst auf mich?“, fiepste ich.
Seine Gesichtszüge entspannten sich wieder, bis er begann, erlöst zu lachen.
„Ja, Dummerchen. Schon seit einer ziemlich langen Zeit.“
Seine Augen leuchteten und wahrscheinlich war das das entscheidende Puzzleteil, was gefehlt hatte. Denn mit einem Mal machte es in meinem Hirn Klick und alles ergab Sinn.
„Du stehst auf mich.“
„Immer noch, ja.“
„Auf mich, einen Jungen. Nicht auf irgendein Mädchen. Du magst mich.“
„Nein.“
Perplex sah ich zu ihm auf. Nicht? Aber er hatte doch eben noch gesagt, dass -
Eine Hand legte sich an meine Wange.
„Ich mag dich nicht nur, Lukas. Das ist genauso wie mit dem befreundet bleiben. Ich möchte dich als Freund behalten, weil du nun einmal mein bester Freund bist und diesen Job einfach wunderbar beherrschst. Aber ebenso möchte ich dich als meinen Freund haben, denn ich bin mir sicher, dass du das auch hervorragend hinbekommen wirst. Ich habe mich in dich verliebt, Lukas, und ich möchte gerne mit dir zusammen sein. Und wenn du es jetzt immer noch nicht verstanden hast, dann verzweifle ich wirklich. Jeder, wirklich jeder hat gemerkt, dass ich was von dir will, nur du nicht. Hast du denn wirklich nie was mitbekommen? In all der Zeit?“
Zu viele Informationen. Oder auch nicht. Eigentlich gab es nur eine Information und die hatte ich schon so lange hören wollen, dass ich es jetzt fast nicht glauben konnte. Ich tastete unter Wasser nach Alex‘ Hand und verschränkte unsere Finger miteinander.
„Also so im Nachhinein könnte man schon sagen, dass da was war…“
„Dass da was war?“
Geschockt sah Alex zu mir herunter. Ich grinste glücklich.
„Die Küsse in den Weihnachtsferien waren schon ganz nett. Aber ich dachte eben, das gehört zu deinem Kuschel-Händchenhalten-Umarmungs-Paket dazu.“
„Verpeilt wie immer. Hast du mich schon mal mit jemand anderen Händchenhalten gesehen?“
„Nein, aber du hast auch keinen anderen besten Freund.“
„Stimmt. Auch wenn du das bester ab jetzt hoffentlich streichst.“
„Mal sehen.“ Ich zwinkerte Alex verschmitzt zu. „Wieso bist du vor der Bescherung eigentlich so plötzlich ins Wohnzimmer geflohen?“
„Oh, ähm … naja… Sagen wir es so, es wäre sonst vielleicht etwas peinlich geworden…“
„War ich so gut?“, fragte ich grinsend und lachte, als Alex rot wurde. Schmunzelnd zog ich ihn in meine Arme. Meine Hände strichen über seinen Rücken und vergruben sich schlussendlich in seinen Haaren. „Das Frühstück am Bett war übrigens echt süß.“
„Das können wir gerne wiederholen.“ Er lehnte seine Stirn an meine und sah mir tief in die Augen. „Aber diesmal offiziell als Pärchen.“
„Fände ich super.“
„Darf ich dich jetzt küssen?“, fragte er leise.
„Das durftest du schon die ganze Zeit“, erwiderte ich lächelnd und überbrückte die letzten Zentimeter, die uns trennten.
„Na endlich!“, kam es plötzlich unter Applaus von hinten. „Wir dachten schon, das wird nie was.“
Murrend ließ Alex von meiner Unterlippe ab, an der er bis dahin zärtlich geknabbert und gesaugt hatte, und starrte böse hinter mich.
„Verschwindet.“
„Das hättest du wohl gerne“, trällerte Tim. „Aber das ist immer noch mein Haus.“
Ein Knurren entkam Alex‘ Lippen und ich legte ihm beruhigend eine Hand auf die Wange. Nur weil er vorhin gemeint hatte, dass ihm sein Verhalten leid tat, hieß das nicht, dass er und Tim sich nicht noch einmal aussprechen sollten. Irgendwann später dann mal. Zuerst musste Tim die nächsten Minuten überleben.
Ich löste mich also von Alex‘ niedlichen Anblick - geschwollene Lippen, zerzauste Haare und rote Wangen - und drehte mich zu meinem Kumpel um, der mit den anderen am Beckenrand saß und eine Flasche in die Höhe hielt.
„Eigentlich wollten wir euch ja aussperren uns so lange in der Kälte lassen, bis ihr das wieder hinbekommt, aber so geht’s natürlich auch.“
Tam Tam grinste von einem Ohr bis zum anderen. Entrüstet streckte ich ihr die Zunge raus, zuckte aber genießend zusammen, als ich Alex‘ Zunge plötzlich hinter meinem Ohr spürte.
„Ich denke nicht, dass das der richte Ort dafür ist“, krächzte ich heiser, doch mein bester Freund - pardon, Freund - schien das nicht zu stören. Im Gegenteil. Ich spürte wie er grinste und dann begann, an meinem Hals zu saugen.
„Okay, Leute!“, rief Zack da ergeben. „Kommt bitte einfach her, damit wir anstoßen können. Dann könnt ihr in eurem Zimmer verschwinden.“
„Genau. Wir haben unsere Sachen schon rausgeräumt“, unterstützte Maja ihn.
Himmel, wie lange hatten wir dann hier gestanden und geredet? Beziehungsweise uns geküsst?
Alex brummte plötzlich an meinem Ohr und schob mich Richtung Beckenrand. Dort angekommen, griff er sich die zwei Gläser, die uns hingehalten wurden - mit einer Hand wohlgemerkt, die anderen hielt mich weiterhin fest -, drückte mir eins in die Hand, stieß mit seinem der Reihe nach an, wartete, bis ich es ebenso getan hatte und stürzte es dann in einem Zug hinunter.
Unter den wissenden und belustigten Blicken der anderen, verließ er das Becken und half mir danach ebenfalls heraus. Sobald ich das Wasser verlassen hatte, zog er mich zurück in seine Arme und bugsierte mich dann Richtung Ausgang. Ich hatte keinen Schimmer, was gerade passierte, doch da niemand protestierte, als Alex und ich die Schwimmhalle verließen, ließ ich es geschehen. Zu sehr war mein Hirn noch immer von dem Kuss und der Tatsache berauscht, dass ich jetzt wirklich einen Freund hatte und dieser Freund Alex war. Und anscheinend hatte eben jener vor, gleich ernst zu machen, denn schon auf der Treppe zu den Schlafzimmern verlor ich das einzige Stück Stoff, welches ich am Körper getragen hatte. Und als meine Badehose gerade den Boden berührte, fiel die Tür hinter uns auch schon ins Schloss und während Alex sich seinen Weg an meinem Hals entlangküsste, wusste ich plötzlich, was die Szene da untern zu bedeuten hatte. Und ich würde einen Teufel tun, das hier jetzt zu unterbrechen.
*
So ernst hatte Alex dann doch nicht gemacht. Dafür waren wir beide viel zu aufgekratzt gewesen. Aber wir hatten noch fünf Nächte, die wir hier verbringen würden und das war eine sehr sehr lange Zeit… Und danach würde sich garantiert auch noch die eine oder andere Gelegenheit bieten.
„Alles klar?“
Liebevoll strich Alex mir eine Haarsträhne aus der Stirn und hauchte mir einen Kuss auf die Nase.
„Mir ging’s nie besser“, grinste ich und fuhr schon fast ehrfürchtig mit einem Finger über den roten Fleck an meinem Schlüsselbein. Alex lächelte ebenfalls, ging an mir vorbei zur Tür und hielt mir diese salutierend auf. Ich knuffte in die Seite und stieg dann vor ihm die Treppe zur Küche hinunter, aus der es schon verführerisch nach Kaffee und frisch aufgebackenen Brötchen duftete.
Unsere Freunde hatten uns gestern Abend zwar quasi gezwungen, zu verschwinden, aber ich hatte keine Ahnung, wie genau sie jetzt wirklich auf die Nachricht reagieren würden, dass wir zusammen waren. Denn eins war sicher. Nach diesen Ferien würde alles anders sein. Wobei, so anders dann auch wieder nicht. Gekuschelt hatten Alex und ich ja schon vorher und uns geküsst seit den letzten Ferien auch. Aber nun konnte ich jedem, der ihm zu nahe kam, sagen, dass er mir gehörte. Und zwar nur mir.
Grinsend umarmte ich meinen Freund, der an mir vorbei zum Tisch gehüpft war, von hinten und bettete mein Kinn auf seine Schulter.
„Meins!“
Die anderen begannen zu lachen und Alex drehte lächelnd seinen Kopf und drückte mir einen Kuss auf den Mundwinkel.
„Auf euch!“, rief Tim und hielt seine Kaffeetasse hoch.
„Auf Lukas und Alex“, stimmten die anderen zu und es begann ein fröhlich buntes Frühstück.
Und während ich auf Alex‘ Schoß saß und draußen die aufgehende Sonne alles zum Glitzern und Funkeln brachte, fühlte ich tief in mir die Gewissheit, dass all die Tiefen und Zickzackfahrten der vergangenen Wochen es wert gewesen waren. Und dass jede Hürde es in Zukunft auch sein würde.
Oh ja, das tat gut! Sonne, ein leichter Wind, eine schaukelnde Hängematte… Da konnte man sich so richtig schön räkeln und ausspannen. Und dieser Duft… Yamiyam, Lindenblüten! Es fehlte eigentlich nur noch -
„Schatzi!? Wo hast du die Kekse hingetan?“
Genau der da. Hatte mich schon gewundert, wo der abgeblieben war. Es überraschte mich aber keinesfalls, dass ich ihn auf der Suche nach Essen gefunden hatte. Würde mir nicht anders gehen. Wenn ich essen könnte. Naja… Zurück zum Wesentlichen: Schatzi. Gefiel mir. Etwas einfallslos, aber okay. Zuckerschnäuzchen oder Sahneschnute waren so viel schöner, aber leider wehrte Lukas sich da vehement gegen. Ganz gleich, ob er sie benutzen oder damit angesprochen werden sollte.
„Lukas?“
Murrend öffnete der Angesprochene die Augen und funkelte seinen Freund böse an. Ja, seinen Freund! So viel zum Thema Alex liebt mich nicht und er ist hetero und bla bla bla. Pffft! Ich hatte es von Anfang an gesagt. Der Typ war so dermaßen in meinen Kleinen verknallt, das war manchmal fast schon nicht mehr zum Aushalten. Aber ich hatte es ja so gewollt. Und so schlimm war es dann doch noch nicht.
„Du stehst mir in der Sonne.“
Oh, der Spruch hätte von mir kommen können! Aber ehrlich mal, Alex, du stehst im Weg!
„Ich weiß“, wagte der es tatsächlich zu grinsen. „Und ich werde erst verschwinden, wenn ich meine Kekse habe.“
„Deine Kekse?“
„Meine Kekse. Und dann kann ich zu meinem Freund in seine Hängematte springen und mich ganz doll um sein Wohlergehen kümmern.“
„Also bis auf das Springen klingt das gut.“
Und wie gut das klang… Von mir aus konnte der Typ hier auch rein springen - mich würde es nicht stören. Den Kleinen, der gerade lächelnd nach der Kekstüte zwischen seinen Beinen angelte, vielleicht aber schon. Deswegen würde ich mal klein bei geben. Hatte ich ja in den letzten Monaten geübt.
Vier! Vier Monate waren die beiden Turteltauben jetzt schon zusammen. Genauer gesagt, vier Monate, 12 Tage, 17 Stunden, 23 Minuten und ... 42 Sekunden. Und davor hatten sie meine Nerven gut drei Monate überstrapaziert. Also nicht bloß angespannt und teilweise überspannt, nein, sie hatten sie mit Freuden immer wieder so weit gedehnt, dass die armen Bündel irgendwann gar nicht mehr in der Lage gewesen sind, sich zusammenzuziehen, um zu erholen. Wie Stromleitungen im Sommer hingen die Dinger jetzt in meinem Kopf. Wurde Zeit, dass ich in meinen wohlverdienten Urlaub reiste. Der war mehr als überfällig!
„Die sind ja schon fast leer!“, empörten sich da plötzlich 50 Prozent des Grundes meines Nervenschadens. Der sollte sich mal nicht so haben. Lern lieber, wie man den Mund gleich beim ersten Mal aufmacht, Junge! Das hätte nämlich dir, mir und auch deinem Schatzi einiges erspart. Aber wer wäre Alex ohne Drama? So ein bisschen war ja auch okay, das konnte ich nicht abstreiten.
„Sorry, die lagen halt so rum und ich dachte, du würdest mir als mein Freund bestimmt den ein oder anderen abgeben.“
Uhh, hatte ich ihm das Kontern nicht schön beigebracht? Applaus wäre jetzt angemessen.
„Jaja, schon gut. Jetzt mach mal Platz!“
Also alles auf Anfang: Sonne, leichter Wind, eine schaukelnde Hängematte und ein kekseschnorbsender Alex, der die Hälfte seines kläglichen Restes aber mehr in Lukas‘ Haaren, als in seinem Mund verteilte. Zusammengefasst gesagt, einfach schön. Ich bekam ja nichts ab. Hehehe.
„Mach dich mal nicht so breit“, murrte Lukas und rutschte unbehaglich in der zugegeben viel zu engen Hängematte herum.
„Du kannst ja auch einfach herkommen“, antwortete ihm Alex und zog ihn kurzerhand über sein eines Bein drüber, sodass mein Kleiner jetzt quasi halb auf ihm und zwischen seinen Beinen lag. Der Junge gefiel mir immer besser. Hatte nämlich gelernt, dass es bei Lukas besser war, nicht zu diskutieren sondern einfach zu handeln. Vielleicht wäre mir das ein oder andere Drama erspart geblieben, wenn ich das eher gewusst hätte. Andererseits konnte ich nicht handeln, sodass mir nur das Diskutieren übriggeblieben war. Egal. Jetzt waren sie ja zusammen und auch glücklich. Auch wenn mein Kleiner immer noch etwas griesgrämig schaute. Tja, mich kannst du nicht täuschen, Schätzchen. Ich kenne deine Gedanken…
Na also. Lukas seufzte und drückte einen Kuss auf Alex‘ Hand, die er vorher eingefangen hatte. Geht doch!
Alex brummte zustimmend und zog den Kleinen enger an sich. Keine Ahnung, wie er das immer schaffte, denn zwischen denen war keine Luft mehr, aber solange er Lukas nicht mehr loslassen würde, war alles gut. Und das würde er nicht. Das sah ich in seinem Blick. In seinen Handlungen. In seinen Worten. An seine Gedanken kam ich nicht heran - leider. Oder auch nicht. Wahrscheinlich rettete mir das das Leben. Alex‘ Gedanken direkt zu spüren war bestimmt anstrengend. Aber nicht mein Problem. Er sprach sie ja oft genug direkt aus. Außer als er Lukas sagen sollte, dass er ihn liebt, aber das Thema hatten wir schon. Ewig durchgekaut. Bäh!
„Wann treffen wir uns morgen mit den anderen?“, fragte mein Kleiner schläfrig.
„So gegen zwei. Wir müssen ja noch aufbauen und…“ Alex gähnte herzhaft. „… dann beginnt das Festival ja auch schon. Freust du dich?“
„Hm“, lächelte Lukas und genoss ganz offensichtlich die Hand, die ihn kraulte. Ich würde mich ja gerne dazulegen und ebenfalls schlafen, aber das konnte ich nicht. So ein Mist! Mit den beiden zu kuscheln war bestimmt herrlich. Andererseits würde ich dann alles mitbekommen, was die zwei so trieben. Okay, das tat ich auch so - notgedrungener Maßen -, aber … ich würde sie alleine lassen. Dann hatte ich etwas Zeit zum Entspannen, bevor wir morgen auf den Rest der Clique treffen würden. Das Festival in den nächsten Tagen würde meinen Nerven sowieso den Rest geben - immerhin liefen da tausende wildgewordene Menschen herum, die Lukas niedertrampeln könnten -, aber dann … dann konnte ich endlich in meinen Urlaub. Denn danach würden meine zwei Turteltäubchen - waren die wirklich so schnell eingeschlafen? - zu Alex‘ Eltern fahren und hoffentlich in der Lage sein, auf sich selbst aufzupassen. Ich brauchte mal eine Pause!
Ich kontrollierte noch einmal die Hängematte - nicht dass sie plötzlich den Abgang machte -, sah mich dann zum hundertstens Mal nach irgendwelchen Bäumen und ähnlichen um, was die zwei erschlagen könnte und vergewisserte mich hinterher, dass meine beiden ruhig gestellt waren und nicht rauspurzelten, sobald ich einmal nicht hinsah. Dann ließ ich meine Wenigkeit im nächst gelegenen Baum nieder und genoss den Duft der Lindenblüten, der mich umhüllte, während ich mit einem seligen Lächeln auf die leicht hin und her wiegende Hängematte sah, die von der untergehenden Sonne in ein warmes Licht getaucht wurde.
~*~*~*~
Ahhhh! Da ist man einmal - einmal - nicht da gewesen, weil man dachte, man könnte sich in Rio ein wenig entspannen und dann passierte so etwas! Argh! Wie alt waren die? Drei?
Okay, zu ihrer Verteidigung musste man sagen, sie hatte sich in keine Situation hineinkatapultiert, in der ich ihnen unbedingt helfen müsste. Also Lukas helfen. Alex konnte ich nicht retten, aber der war sowieso nicht mehr zu retten. Zumindest sah er im Moment so aus, als ob er am liebsten sterben würde und mein Kleiner saß total unglücklich an seinem Bett und wusste nicht weiter. Es war ja auch nur ein Schnupfen! Aber selbst ein Männerschnupfen schien nichts im Vergleich zu einem Alex-Schnupfen zu sein. Kein Wunder, dass Lukas gerade verzweifelte.
Also musste ich ihm wohl doch helfen, damit er sich um seinen Freund kümmern konnte. Ich hatte mir eigentlich nicht vorgestellt, nach meinem Urlaub zum Krankenengel zu mutieren, aber wenn Alex etwas wollte, dann bekam es der werte Herr auch, nicht wahr? Na gut, dann machte ich mich mal ans Werk.
Was hatten wir denn da? Salbei- oder Thymiantee mit Honig, Hühnersuppe, Wärmflaschen. Hatte er alles schon ausprobiert. Fein. Oder auch nicht, denn nichts davon hatte geholfen. Hm… Aufpäppeln im Sinne von -
Argh!!! Was machst du denn da, Kleiner? Hör sofort auf damit! Nein, nicht Alex küssen! Der ist krank! Es reicht schon, wenn du die ganze Zeit in seinem virenverseuchten Bett sitzt! Aus!
Hatte ich schon mal erwähnt, dass ich ignoriert wurde? Undankbares Ding! Da machte man sich so viel Mühe, leistete einem Tag und Nacht Gesellschaft, gab gute Ratschläge und wurde mit Nichtachtung belohnt. Ich bin ja auch nur dein Schutzengel, Kleiner. Also niemand, den du pflegen oder mögen solltest. Nein, wirklich, musstest du nicht, aber ein danke ab und an wäre ganz nett.
Und jetzt lass endlich von seinen verdammten Lippen ab!
Guuut, verdammt waren die nicht. Wenn verdammt, dann verdammt sündig. Aber gerade waren sie einfach nur spröde und wurden höchstens von etwas Rotze befeuchtet, die Alex aus der Nase lief. Kleiner, komm weg da! Ich habe keine Lust, dich gesund zu pflegen. Reicht aus, wenn dein Freund krank ist.
Wa-? Okay, jetzt reichte es! Nimm deine Zunge aus seinem Mund! Hörst du? Nimm sie raus! Sofort! Lukas!
Oh, das war doch zum Verrücktwerden! Konnte der Typ nicht einmal auf mich hören? Was ihm alles erspart geblieben wäre… Die blutende Nase, als er als Fünfjähriger ausgerutscht und gegen einen Stein geknallt war, weil er meinte, mir nicht glauben zu müssen, als ich sagte, es wäre glatt. Der verstauchte Finger in der zehnten Klasse hätte ebenfalls nicht sein müssen, wenn mein Kleiner sich nicht zu fein gewesen wäre, einen Schritt zur Seite zu gehen. Aber da hätte er ja Alex nicht mehr so gut sehen können, deswegen musste er leider den Fußball mit voller Wucht abbekommen. Immerhin hatte besagter Grund für die Misere sich hinterher herzzerreißend um Lukas gekümmert, sodass das schon in Ordnung ging. Aber das blaue Auge, dass ihm so ein blöder Schläger verpasst hat, weil mein Kleiner unbedingt durch diese dunkle Gasse gehen wollte, weil es der kürzere Weg gewesen ist, hätte nun wirklich vermieden werden können. Und natürlich das ewige Hin und Her mit seinem ex-besten Freund.
Pfft, dann werde halt krank! Aber ich werde mich bestimmt nicht um dich kümmern. Das konnte dann schön Alex übernehmen. Und dann würde der erneut krank werden und dann wieder Lukas und dann Alex und dann -
Ich sollte gehen. Und zwar sofort.
Nur noch mal zur Klarstellung: Ich war gut in meinem Job! Das, was ich da gerade aufgezählt hatte, war nichts, wo Lukas ernsthaft in Schwierigkeiten gewesen ist. Da hätte ich mich dann schon durchgesetzt. Aber jeder muss aus seinen eigenen Fehlern lernen, also war es vielleicht gar nicht so schlecht, wenn mein Kleiner jetzt herausfand, dass man seinem kranken Freund nicht die Zunge in den Hals steckte. Egal, wie trostlos dieser aussah.
Aber das würde er ohne mich tun. Ich verabschiedete mich jetzt wieder nach Rio. Olympische Spiele waren schon immer etwas, was ich unbedingt mal sehen wollte.
~*~*~*~
…
Da, wo guter Rat teuer ist, du grad lost und gebeutelt bist,
war da nicht immer diese Stimme, die dir hilft, und zwar immer?
Hör auf die Stimme,
Hör, was sie sagt, sie war immer da,
komm, hör auf ihren Rat.
Hör auf die Stimme, sie macht dich stark.
Sie will, dass du’s schaffst, also hör, was sie dir sagt.
Hör auf die Stimme,
Hör, was sie sagt, sie war immer da,
komm, hör auf ihren Ra-
- at. Hey! Empört sah ich zum Radio. Alex. Natürlich, wer hätte es auch sonst sein sollen, mein Kleiner lag ja brav neben mir uns surfte durch das Internet. Himmlische Erfindung übrigens.
„Hey Tiger.“
Der Störfried beugte sich über die Sofalehne und gab seinem Freund einen zärtlichen Kuss auf den Mund. Blödmann. Jetzt konnte ich ihm doch nicht mehr böse sein.
„Hey“, lächelte Lukas und rutschte ein Stück zur Seite, um Alex Platz zu machen. Der schwang sich mit viel Eleganz über die Lehne und packte dann seine Tasche aus. Oder stapelte eher er eine ganze Bücherei auf den kleinen Couchtisch. Was hatte der denn vor? Immerhin brachte es meinen Kleinen zum Schmunzeln.
„Jetzt grins nicht so, Lukas! Du weißt doch, dass ich das Referat in zwei Tagen abgeben muss.“
„Ja, und ich weiß auch, dass du schon zwei Wochen Zeit hattest.“
„Tut mir ja leid. Aber du kennst mich doch.“
„Hm…“, nuschelte mein Kleiner und rutschte dichter an den Wuschelkopf heran. Seine Haare hatte Alex nämlich immer noch nicht bändigen können. Auch nach drei Jahren nicht.
„Hey, du weißt doch, dass es mir leid tut.“
Reuevoll legte Alex einen Arm um Lukas‘ Schultern und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Ich bin dir doch auch gar nicht mehr böse. Aber es hat mich echt verletzt“, murmelte der.
Und wie ihn das verletzt hatte! Jetzt hatte ich doch wieder einen Grund, böse zu sein. Die Musik ohne Vorwarnung auszuschalten, war nämlich gar nicht nett gewesen - auch wenn sich Alex offensichtlich konzentrieren musste -, denn immerhin lief das Lied auch am Abend ihres ersten Kusses. Was aber sehr viel schlimmer gewesen ist, war das, was Alex sich vor zwei Wochen erlaubt hatte. Da flirtete der Typ einfach hemmungslos mit irgend so einem dahergelaufenen versifften Knallkopf! Vor den entsetzten Augen meines Kleinen! Zugegeben, wenn man es objektiv betrachtete, dann hat es nicht um einen dahergelaufener versiffter Knallkopf gehandelt - er war schon ganz ansehnlich -, aber es war eben nicht Lukas gewesen!
„Ich weiß. Und es tut mir furchtbar leid, aber du bist und bleibst der einzige in meinem Leben. Das schwöre ich dir. Ohne dich wäre ich total aufgeschmissen.“
Und wie aufgeschmissen der wäre. Konnte er froh sein, dass Lukas ihm verziehen hatte. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte er Alex ruhig noch ein wenig schmoren lassen können. Nur leider war Lukas ohne seinen Freund genauso aufgeschmissen wie der ohne ihn.
Und Alex hatte sich ja auch nur angeregt unterhalten. Und man konnte ja auch mal nur so zum Spaß flirten, aber doch nicht direkt vor seinem festen Freund, der unglücklich daneben stand und vor Eifersucht tausend Tode starb! Argh, der Junge hatte noch viel zu lernen. Aber erstmal musste er kapieren, dass man seine Hausarbeiten nicht bis zur Deadline aufhob.
„Das weiß ich doch und ich weiß auch, dass du gerne … flirtest. Aber…“
„… es nagt immer noch an dir“, beendete Alex Lukas‘ Satz. Der nickte und Alex zog ihn vollends in seine Arme. „Ich weiß jetzt auch, dass das richtig scheiße von mir war und ich werde es nicht wieder machen. Aber von jetzt auf gleich kann ich das nicht abstellen und…“
„… ich werde dich ermahnen, wenn du im Begriff bist, es zu wiederholen. Ich kenne unsere Abmachung noch. Ist ja noch nicht so lange her, dass wir sie festgelegt haben.“
„Hmpf…“, brummte jetzt Alex und vergrub seine Nase in den Haaren meines Kleinen. Die dufteten gut, was? Das Shampoo hatte ich höchst selbst im Laden rausgesucht. Es kam jetzt nämlich vor, dass Lukas doch manchmal auf mich hörte. Er war halt nicht mehr 17 sondern 20. Was drei Jahre so alles ausmachen konnten. Außerdem studierte er und wohnte jetzt mit Alex in einer lauschigen kleinen Wohnung. Ob Letzteres allerdings so förderlich für Lukas‘ und meine Beziehung war, wusste ich nicht. Aber ich war stolz auf meinen Kleinen und mir auch sehr sicher, dass die beiden das schaffen würden. Das Abi hatten sie mit Bravur gemeistert, den Umzug und die Wohnungssuche mit etwas Unterstützung ihrer Freunde ebenfalls und ihre Beziehung würde auch noch eine Weile halten. Vorausgesetzt Alex benahm sich.
„Soll ich dir bei dem Referat helfen?“
„Was?“ Verschlafen richtete sich eben genannter auf. „Ach so, ähm…“
War der Typ echt eingenickt? Schien so. Lukas lachte leise.
„Du Schlafmütze!“ Er drehte Alex‘ Kopf zu sich herum und beugte sich vor. Kurz vor seinen Lippen stoppte er und grinste: „Ich glaube, wir müssen dich erst einmal wieder munter kriegen, was?“
„Mhm“, murmelte Alex und seine Lippen verzogen sich ebenfalls zu einem Grinsen. „Hast du da etwa eine Idee?“
„Vielleicht…“ Lukas rückte wieder ein Stück weg und legte seinen Kopf leicht schief. „Eisbaden beispielsweise soll helfen.“
„Ich soll eisbaden?“
Oh, wie schön! Alex sah aus, als hätte er wirklich einen Eimer kaltes Wasser abbekommen.
„Ja, wenn du das willst. Also mir wäre eigentlich Beispiel Nummer zwei lieber gewesen, aber wenn du deinen Körper unbedingt schockgefrieren möchtest…“
Lukas blinzelte unschuldig, während Alex misstrauisch seine Augen verengte.
„Was ist Beispiel Nummer zwei?“
Mein Kleiner zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung, aber es würde im Schlafzimmer spielen…“
Sein Freund schloss für einen kurzen Moment die Augen und sah so aus, als ob er eine Reihe von Ausflüchen herunterschlucken würde, was nebenbei gesagt sehr schlau von ihm war, denn immerhin redete er hier mit meinem Baby.
„Okay“, antwortete er schließlich und sah Lukas wieder an. „Beispiel zwei.“
„Sicher?“
„Sicher. Denn ich wüsste da etwas, was mich wieder munter machen würde…“
„Ja, vorerst. Und dann? Pennst du bis heute Abend.“
„Dann bin ich da wieder fit.“
Oh, da waren die Raubtieraugen. Grr… Ab ins Bett mit euch!
„Und wann machst du dann dein Referat?“
Ups, das war ja auch noch da. Aber…
„Ich hab morgen noch Zeit.“
Genau. Also: Bett. Sofort!
„Alex?“
„Ja?“
„Du versaust dir deine Note.“
„Nur wenn ich das Referat verhaue und da du vorhin so zuvorkommend deine Hilfe angeboten hast…“
„Ich werde nicht wieder bis in die Nacht neben dir sitzen und irgendwelche Bücher wälzen!“
„Musst du auch nicht, mein Süßer.“ Lächelnd stand Alex auf und hielt Lukas eine Hand hin. „Ich arbeite morgen Vormittag an dem Text, du schaust, wenn du nach Hause kommst, drüber und voilà: Das Referat ist fertig!“
Immer noch etwas skeptisch ergriff mein Kleiner die dargebotene Hand und ließ sich hochziehen. Klar, Alex würde wahrscheinlich wieder bis in die Nacht sitzen, aber jetzt konntest du doch Spaß haben! Lukas, der Typ schaffte das schon. Der hatte die letzten vier Semester auch irgendwie überstanden.
Der Sweetie seufzte ergeben und nickte.
„Okay.“
Jippie! Wieder ein Strich mehr auf der Er-hat-auf-mich-gehört-Liste!
„Super!“
Alex strahlte über das ganze Gesicht und umarmte dann seinen und meinen Kleinen. Mittlerweile war er sogar einen ganzen Kopf größer als Lukas, doch dieser würde immer der vernünftigere bleiben. War das irgendwie immer so? Dass der kleinere mehr Verstand hatte? Oder ihn zumindest öfter benutzte?
Egal. Jetzt hatte Lukas seinen Kopf ausgeschaltet und nichts anderes wollte ich. Und Alex ebenfalls. Der schien nämlich sehr glücklich darüber zu sein, dem Kleinen langsam vor sich her ins Schlafzimmer zu schieben, während er Hochleistungssport mit seiner Zunge betrieb. Nun ja, sollten die beiden mal ihren Spaß haben. Ich würde solange sehen, was diese Woche noch so anstand.
Alex‘ Referat auf jeden Fall. Danach die Vorbereitungen für die Grillparty am Samstag, zu der eine Menge Leute kommen würden. Zack und Tam Tam, die es nach einem Jahr Trennung geschafft hatten, sich wieder zusammenzuraufen und jetzt sogar schon ein Kind erwarteten, Maja mit ihrem Freund, Tim und Julian natürlich - wenn ich mir die beiden so ansah, war ich ganz froh, mich nur um Alex und Lukas kümmern zu müssen, auch wenn die zwei ja jetzt glücklich waren - und dann noch ein paar Leute vom Studium. Ah, und Julians beste Freundin natürlich. Wegen der wurde die Party ja veranstaltet, immerhin flog sie extra aus Amerika ein.
Ja, was gab es dann noch zu tun? Die Wäsche musste mal wieder gewaschen werden und aufräumen konnte auch nicht schaden. Ach, und einkaufen! Ganz wichtig, der Kühlschrank war nämlich le-
Rumps!
Oh nein! Nicht mal im Schlafzimmer schafften die es, sich nicht zu stoßen. Aber da gab es ja auch scharfe Kanten, böse Abgründe und … Ahhh! Kleiner ich komme! Halte durch!
Texte: meins
Bildmaterialien: bearbeitet mit Pho.to Lab, Bild: http://www.fotolog.com/chelliieh_08/77646704/
Lektorat: Fühl dich ganz doll geknuddelt, Tigerchen!
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für eine ganz bestimmte Person. Ich bin unendlich dankbar dafür, mir dir befreundet sein zu dürfen. ♥