Ein wahrer Freund fragt nicht, wann oder wieso... Wenn du sagst, "Ich brauche Dich!", ist die einzige Frage, die er stellt: "Wo bist Du?"
Weiche Finger berühren meine Wange, wandern über mein Gesicht, streichen zärtlich über meine Haut. Lassen ein prickelndes Gefühl zurück. Warmer Atem streift meinen Nacken, Lippen tupfen federleichte Küsse auf meinen Hals. Ein nur allzu bekannter Duft steigt mir in die Nase, nebelt mich ein. Umschließt mich, bis ich nichts anderes mehr wahrnehme. Nur ihn.
Seinen Geruch, seine Berührungen, seine Wärme.
Lächelnd lehne mich ihm entgegen. Will ihm noch näher sein. So nah, wie es nur irgendwie möglich ist.
Doch er ist weg. Mein Körper fällt ins Leere, hat nichts, was ihn aufhält. Verwirrt öffne ich meine Augen, brauche einen Moment, um zu realisieren, wo ich wirklich bin.
Nicht bei ihm. Schon lange nicht mehr.
Mein Herz zieht sich zusammen. Verzweifelt greife ich nach dem Glas, welches vor mir auf dem Tisch steht, kippe den Inhalt in einem Zug hinunter. Heiß brennt der Wodka in meiner Kehle und lenkt mich zumindest für ein paar Sekunden von dem Schmerz in meinem Inneren ab.
Er ist nicht da. Wird es nie mehr sein. Und es ist meine Schuld.
Wenn ich diesen einen Fehler nicht begangen hätte, diesen einen kleinen dummen Fehler, dann wäre er noch hier. Nein, er wäre nicht hier, aber ich auch nicht. Ich würde Zuhause sein, bei ihm.
Doch ich habe es getan und kann es nicht mehr rückgängig machen. Egal wie sehr ich es mir wünsche. Es ist zu spät.
Bestimmt schiebe ich mein Glas dem Barkeeper über den Tresen hinweg zu. Es nützt nichts. Kein Alkohol kann mich vergessen lassen, was passiert ist. Nichts kann ihn zurückbringen.
Ich erhebe mich, verlasse leicht schwankend die Bar. Wie von selbst bewegen sich meine Beine in Richtung meines Ziels. Zu dem Ort, an dem alles begonnen hat und an dem auch alles enden wird.
Die kleine Anhöhe außerhalb der Stadt.
Vor vier Monaten haben wir uns dort das erste Mal getroffen. Zufällig, niemand von uns hat damit gerechnet. Doch es ist passiert und mir ist vom ersten Moment an klar gewesen, dass das meine Chance gewesen ist.
Meine Chance, meinem alten Leben zu entfliehen, mich nicht mehr unterdrücken zu lassen. Wieder auf die Beine zu kommen. Mit seiner Hilfe.
Und er ist da gewesen. Immer. Er weiß, wie sehr ich ihn brauchte, ihn immer noch brauche. Doch nun ist er nicht mehr hier und ich merke, wie ich erneut in diesem Strudel aus Zweifel und Selbsthass versinke. Wie es mir wieder schlechter geht, mit jeder Stunde, die er nicht bei mir ist. Ich weiß, dass ich bald wieder an dem Punkt sein werde, an dem er mich vor vier Monaten gefunden hat. Körperlich ausgebrannt, psychisch ein Wrack, dass nicht mehr in der Wirklichkeit lebt. Ein Zombie, der alles versucht, um in einer künstlich erschaffenen Traumwelt zu versinken. Abzutauchen, damit die Erinnerungen, die Realität, aufhören, ihn von innen heraus zu zerfressen.
Mit jedem Schritt, den ich mich der Anhöhe nähere, spüre ich es deutlicher. Ich kann nicht mehr. Er war mein Fels in der Brandung, hat mir Halt in meinem noch sehr wackligen neuen Leben gegeben. Ohne ihn schaffe ich das nicht.
Ich werde es nicht schaffen.
Doch bevor ich aufgebe, mich der Dunkelheit überlasse, will ich ihm noch einmal nahe sein. Seinen Körper spüren, seine Stimme hören, seinen Duft einatmen. Ich will wissen, dass er da ist, mich hält, wenn ich falle.
Langsam gehe ich über die Wiese, lasse die Stadt hinter mir. Immer kleiner wird sie, immer ferner. Dunkelheit umfängt mich. Ruhe umgibt mich. Sie hat nichts mit dem Chaos in meinem Kopf gemeinsam. Dort ist es nicht friedlich, hier schon.
Zumindest so friedlich, wie es ohne ihn sein kann.
Seufzend lasse ich mich in das Gras sinken, blicke auf die beleuchtete Stadt hinunter. Irgendwo dort unten ist er. Nicht weit entfernt und doch unerreichbar.
Über mir funkeln die Sterne. Noch ist ihre Schönheit für mich nicht sichtbar, doch schon bald werde ich mich wie einer von ihnen fühlen.
So war es bisher immer. Jedes Mal.
Nur er hat es geschafft, ebenfalls dieses Gefühl in mir auszulösen, ganz ohne die Droge. Doch nun ist er nicht mehr hier. Ich bin allein. Allein mit den Tabletten, allein mit dem Pulver.
Ich greife in meine Jackentasche, hole das kleine Tütchen heraus. Nachdenklich betrachte ich es. Ich habe ihm versprochen, nie mehr damit anzufangen. Meine Vergangenheit hinter mir zu lassen. Es war okay, ich wollte es genauso wie er. Habe mich wirklich bemüht, wollte ihn stolz machen.
Mir ging es besser, ich habe wieder Fuß gefasst. Bis zu diesem einen Tag. Diesem einen verdammten Tag.
Mit zittrigen Fingern lege ich mir die erste Line.
Der Tag, an dem ich unsere Beziehung beendete, weil ich zuließ, dass mich die Vergangenheit einholte.
Er begann wie jeder andere. Ich bin neben ihm aufgewacht, wir haben zusammen gefrühstückt. Es gab Rührei. Dann bin ich wie immer joggen gewesen. Routine. Das wichtigste, um von alten Gewohnheiten wegzukommen. Der Start eines ganz normalen Tages.
Aber es war nicht alles wie sonst.
Ich traf meinen Dealer. Meinen dreckigen verdammten Dealer.
Ich hätte einfach weiterlaufen sollen, hätte ihn ignorieren und anzeigen sollen.
Doch ich bin stehengeblieben.
Er hat mich gesehen, ist auf mich zugekommen. Wir haben geredet. Das haben wir sonst nicht. Wir haben nur still Geld gegen Droge getauscht. Nicht mehr aber auch nicht weniger.
An jenem Tag redeten wir. Er hat mich gefragt, was ich mache, was aus mir geworden sei. Ich habe ihm nichts gesagt. Es geht ihn nichts an.
Irgendwann hat er seine Hand geöffnet. Eine Tüte lag darin. Eine Tüte mit weißem Pulver. Ich habe den Kopf geschüttelt, ihm erklärt, ich sei clean. Er hat gelacht, geantwortet, man würde niemals wieder clean sein. Die Droge würde immer ein Teil von einem bleiben.
Damals habe ich gedacht, dass dieser Teil sich nur auf die schlechten Erinnerungen beziehen würde. Die Erinnerungen an die Tage ohne Geld. Die Tage, an denen man schwitzend und zuckend am Boden gelegen hat, alles für eine winzige Tablette gegeben hätte.
Heute weiß ich, dass der Dealer Recht hatte. Ich werde niemals wirklich von ihr loskommen. Nicht ohne seine Hilfe. Solange er da gewesen ist, ging es mir gut. Doch nun…
Ich ziehe die Line.
Tränen laufen über meine Wangen, doch sie werden bald keine Rolle mehr spielen. Dann wird sich alles wie durch einen Schleier betrachtet anfühlen. Wie durch Watte.
Ich bin nach Hause gegangen. Zu ihm. Normalerweise habe ich mich immer gefreut, ihn wiederzusehen. Doch dieser Tag ist nicht normal gewesen. Mein Dealer hatte mir die Tüte in die Jackentasche gesteckt. Höhnisch gemeint, ich würde sie nicht wegwerfen. Doch genau das wollte ich. Ich wollte nicht zurück in mein altes Leben. Ich hatte keinen Grund mehr, mich voll zu dröhnen.
Ich hatte ihn.
Weder meine Eltern, noch mein großer Bruder, noch die Leute aus der Schule sind mehr da gewesen. Ich habe mein altes Leben abgehakt, ein neues begonnen. Mit ihm. Und deshalb hatte ich die Tüte wegwerfen wollen.
Ich hätte es sofort tun sollen. Ich hätte sie gar nicht erst annehmen dürfen.
Er hat sie entdeckt. Stumm hat er mich angesehen. Seinen Blick, die stille Frage nach dem Warum, habe ich noch immer so lebhaft vor Augen, als würde er direkt vor mir stehen. Doch daran will ich mich nicht erinnern. Ich will die schönen Momente. Die, in denen er lacht und mich in den Arm nimmt.
Ich bin an jenem Tag nicht in der Lage gewesen, ihm zu erklären, was wirklich passiert ist. Er hätte mir auch nicht geglaubt. Ich verüble es ihm nicht. Immerhin bin ich ein Ex-Junkie. Nun ja, ich war ein Ex-Junkie. Es hatte also jedes Recht dazu, mir nicht zu glauben.
Doch es ist unwichtig, was gewesen wäre. Es ist vorbei.
Ich bin hier und er ist irgendwo dort unten in dieser Stadt. In diesem funkelnden Meer aus Lichtern. Hellen Lichtern, dunklen Lichtern. Roten, gelben und orangenen Lichtern. Und ich bin hier oben im schwarzen Licht.
Gibt es so etwas wie schwarzes Licht überhaupt? Lachend stehe ich auf und drehe mich im Kreis. Schwarzes Licht… Es ist so treffend. Er ist dort unten in der Wärme, in der Helligkeit und ich stehe als schwarzes Schaf abseits und beobachte ihn. Er ist zu gut für mich, ist es immer gewesen. Er ist der Gute, ich der Böse. Der Schwarze. In dem schwarzen Licht.
Ich blicke nach oben. Helle Punkte glitzern über mir. Ob das andere Städte sind? Andere leuchtende Städte mit anderen Menschen wie ihm? Wie viele schwarze Schafe es dann wohl gibt? Oder bin ich das einzige?
Bestimmt nicht. Dazu gab es allein in meiner Nachbarschaft zu viele wie mich. Aber es fühlt sich gut an, hier allein zu stehen. Das Blut in den eigenen Adern rauschen zu hören, die Freiheit, tun zu können, was immer man will.
Doch er ist nicht hier. Alleinsein sollte nicht heißen, einsam zu sein. Ich brauche ihn. Hier. Jetzt.
Ich ziehe die nächste Line.
Mein Kopf fühlt sich dumpf an. Als wäre er mit Watte ausgestopft. So wie ich es vorhergesehen habe. Ob ich wohl ein Wahrsager bin? Die Zukunft kenne? Momentan sieht sie gerade sehr verlockend aus, denn Bilder von ihm tauchen in meinem Kopf auf. Wie wir händchenhaltend durch die Stadt laufen. Aber nicht durch diese hier. Durch eine andere, größere. Irgendwo, wo uns niemand kennt. Ein totaler Neuanfang.
Wir wohnen in einem schönen Apartment mitten in der Stadt, haben eine schöne Aussicht über die anderen Häuser. Ein kleiner Hund läuft durch die Wohnung, eine süße Katze schnurrt zufrieden in unserem Bett. Und mittendrin ist er. Er kniet vor mir, eine kleine Schachtel in der Hand.
Unsere Freunde sitzen aufgeregt in der Kirche. Er steht vorne am Altar und alle warten, dass ich den Gang entlang gehe. An meiner Seite mein Vater. Nein, nicht mein Vater. Meine beste Freundin. Meine beste Freundin…
Ein Angstschrei hallt in meinem Kopf wieder. Eine Hand schlägt mich. Ich werde zur Seite geworfen. Irgendetwas belastet meine Brust, ich kann nicht atmen. Schmerzen durchziehen meinen Körper. Ich sehe meinen Bruder, sehe glimmende Zigarettenstummel.
Panisch schütte ich den restlichen Inhalt der Tüte auf meinen Arm. Die Hälfte geht daneben, doch momentan ist es mir egal. In diesem Moment will ich nur die bösen Bilder aus meinem Kopf bekommen.
Ich schniefe.
Mehr habe ich nicht mehr. Nicht davon.
Mein Vater verschwindet. Mein Bruder ebenfalls. Erleichtert atme ich auf. An ihre Stelle rückt wieder er. Diesmal ohne Ring und ohne Hund.
Diesmal ist es eine Erinnerung.
Ein schöner Sommertag. Es ist warm. Wir sitzen zusammen auf dieser Anhöhe. Haben uns auf einer Decke aneinander gekuschelt. Seine Finger streicheln gedankenverloren über meinen Rücken, sein ruhiger Atem bläst gleichmäßig über meine Wange. Alles ist so friedlich. So ruhig. Ich dämmere weg.
Ich gehe zu der Stelle, an der die Erinnerung entstanden ist. Lasse mich dort in das Gras sinken. Es ist weich, wie seine Haut und es riecht gut. Wie er.
Lächelnd lege ich mich hin, atme tief ein. Fast könnte man denken, es duftet noch nach ihm. Seine Präsenz ist noch spürbar, ganz blass.
Ich nehme eine kleine blaue Tablette aus meiner Tasche. Schlucke sie hinunter.
Sein Duft wird stärker, immer greifbarer.
Die nächste Tablette folgt.
Ich rolle mich herum, grabe mich in die Wiese hinein. Denn er ist hier. Ich spüre es. Ganz nah. Er hat mich nie verlassen. Er liebt mich immer noch, ist nie weggegangen.
Hände legen sich auf meine Schultern, halten mich fest. Ich erkenne sie, bleibe ruhig auf dem Bauch liegen. Entspanne mich, während er über mich klettert und sich auf mich setzt.
Zufrieden schließe ich die Augen, als er beginnt, mich zu massieren. Wohltuend gleiten seine Hände über meinen Rücken, vertreiben jegliche Anspannung. Flink schlüpfen warme Finger unter mein T-Shirt, fahren sanft meine Wirbelsäule nach. Hoch und runter, runter und hoch.
Angenehme Schauder ergreifen mich, lassen mich aufseufzen. Ich habe ihn so vermisst. Wie habe ich die Zeit ohne ihn nur überleben können?
Diesmal ist es eine rote Tablette.
Es gab keine Zeit ohne ihn. Wir waren immer zusammen. Jeden Tag, jede Stunde. Jede Nacht.
Ich rolle mich herum, sodass er von meinem Rücken rutscht. Seine Augen funkeln im schwachen Licht der Stadt, laden mich dazu ein, in ihnen zu versinken. Ich tue es, komme ihm dabei immer näher.
Er lächelt mich an. Eine Gänsehaut überzieht meinen Körper, nur von diesem einen Lächeln. Ich liebe dieses Lächeln.
Ich liebe ihn.
Pink.
Sein Duft umweht meine Nase, wird vom Wind hinunter in die Stadt getragen. Hinunter in die Stadt und hinauf in den Himmel. Denn da gehört er hin, mein kleiner Engel. Seine Flügel sind so wunderschön. Sie schillern in herrlichen Regenbogenfarben. Hier und da ist ein goldener Schein.
Sein gesamter Körper schimmert golden.
Ich strecke meine Hand nach ihm aus, berühre seine Brust. Das Leuchten geht auf mich über, verbindet uns. Fast kann ich diese Verbindung spüren. Beinahe sind wir eins.
Grün.
Seine Augen nehmen mich immer mehr gefangen, sie sind so dunkel und doch strahlen sie. Ganz tief in ihnen ist ein helles Licht. Ein Licht, das aus seinem Inneren kommt. Ich will zu diesem Licht, will eins werden mit ihm.
Ich will bei ihm bleiben, ihn nie wieder loslassen.
Er schlingt einen Arm um meinen Rücken, drückt mich an sich. Erleichtert schließe ich die Augen, vergrabe meine Nase in seiner Halsbeuge. Sein Körper wärmt mich, gibt mir Kraft. Kraft, alles andere zu vergessen. Mich nur auf ihn zu konzentrieren.
Gelb.
In meinem Kopf ist nur noch er. Nichts anderes. Ich habe keine Vergangenheit, keine Zukunft. Da ist nur dieses Licht, von dem ich weiß, dass er es ist. Ich muss nur eins werden mit diesem Licht. Dann bin ich eins mit ihm. Für immer.
Ich höre seine Stimme. Weit entfernt, wie durch dicke Nebelschwaden. Wieso sind es jetzt auf einmal Nebelschwaden? Ich will meine Watte zurück. Die süße klebrige Zuckerwatte.
Wieder eine blaue. Eine orange fällt mit raus. Warum sie wieder rein tun, wenn sie einmal draußen ist? Ich habe noch vier. Genug…
Wieder höre ich meinen Namen. Meinen Namen aus seinem Mund. Jetzt ist es wieder wie Zuckerwatte. Ich glaube, noch nie hat jemand meinen Namen so lustig ausgesprochen. Ich kichere. Er ist eben etwas Besonderes. Ein Zauberer. Deswegen leuchtet er auch. Dieses wunderschöne, glänzende Leuchten. So hübsch... So wundervoll… So … er.
Ich rolle mich zu einer Kugel zusammen. Meine Bewegungen sind langsamer als ich gedacht habe. Es ist auch schon spät.
Ich bin müde.
Zufrieden schließe ich meine Augen, konzentriere mich wieder auf den Körper neben mir, seine Stimme, die weiterhin mit mir spricht, deren Worte Inhalt ich aber nicht entschlüsseln kann, und das Leuchten.
Es ist jetzt sehr viel heller. Schöner. Einladender.
Ich muss nur meine Hand ausstrecken… Nur eine winzige Bewegung und ich bin da. Bei ihm.
Ich sehe ihm in die Augen. Aufmunternd lächelt er mir zu. Eine kleine Geste… Nur eine kleine Bewegung…
„Nick?“
Ja, gleich bin ich da…
„Nicolas?“
Nur noch ein kleines Stück…
Ich strecke meine Hand aus, verschränke seine Finger mit meinen. Hitze geht von ihm aus, versenkt meine Haut. Doch es ist nicht unangenehm. Ich will unter seinen Händen zerfließen, möchte endlich ganz ihm gehören.
Seine Augen nehmen mich gefangen. Das Leuchten zieht mich immer weiter zu ihm. Hinaus aus der Dunkelheit.
Zufrieden lächelnd schließe ich meine Augen und lasse mich fallen. In seine Arme.
Ich bin da.
Bei ihm.
Noah.
*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*
Das erste, was ich wahrnehme, ist das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Das zweite die höllischen Kopfscherzen. Kein Wunder bei dem Nerv tötenden Piepen. Und als drittes bemerkte ich etwas Schweres auf meinem Bauch. Etwas, das auch gleichzeitig meine Hand schraubstockartig umklammert.
Von der Unbeschwertheit ist nichts mehr zu spüren. Wo bin ich hier nur?
Ich drehe meinen Kopf. Es ist dunkel. Auch draußen. Wie viel Zeit wohl vergangen ist?
Das Etwas auf meinem Bauch bewegt sich und umfasst meine Hand noch ein Stück fester. „Nick…“ Ich blinzle verwirrt. Woher kennt es meinen Namen?
Ich versuche mich aufzurichten, doch ein stechender Schmerz in meinem Kopf lässt mich stöhnend zurück ins Kissen fallen. Bedeutet das, dass ich in einem Bett liege?
Bett, Piepen, Schmerzen, Dunkelheit.
Wie komme ich in ein Krankenhaus? Ich sollte nicht in so einem sterilen Zimmer liegen, sondern draußen bei Noah. Ich sollte bei ihm sein.
Das nervige Piepen wird schneller. Na super.
Immerhin ist jetzt das schwere Etwas von meinem Bach verschwunden. Der Wunsch, mich übergeben zu müssen, leider nicht.
„Nick?“, flüstert eine Stimme aus der Dunkelheit. Sie kommt mir vage bekannt vor, doch es erscheint kein Gesicht in meinem Kopf, das passen könnte.
„Hey, bist du wach?“ So sanft, mitfühlend und … männlich. Mitfühlende Männer… Da gibt es nur Noah, doch von dem hat man mich weggebracht. Hierhin, in dieses Krankenhaus.
„Nick, ganz ruhig. Es ist alles okay. Du bist stabil.“
Warum muss sich diese Stimme so verdammt nach ihm anhören? Warum tut es so weh, zu wissen, dass er es nicht ist? Ich wollte doch nur vergessen…
Finger verschränken sich mit meinen. Ein vertrautes Gefühl erfasst mich. Bin ich etwa doch noch high? Aber wieso liege ich dann hier? Es ergibt alles keinen Sinn.
„Nick, es tut mir so leid. Ich hätte dich nie allein lassen dürfen. Es tut mir so leid.“
Mein Herz zieht sich zusammen. Das kann nicht Noah sein. Er trägt doch keine Schuld. Nur ich hätte etwas anders machen können. Nur ich bin verantwortlich dafür, was geschehen ist.
Träge drehe ich meinen Kopf in die Richtung der Stimme. Doch ich erkenne nur unscharfe Umrisse. Ein Mensch. Nein, ein Mann. Er kommt näher. Beugt seinen Kopf zu mir herunter.
„Es tut mir so unendlich leid. Ich hätte dir vertrauen müssen.“
Das ist ganz eindeutig Noahs Stimme, nur was soll er hier machen? Noah ist Zuhause. Im Licht.
„Nick? Bitte sag etwas. Irgendetwas.“
„Noah?“, krächze ich rau.
„Ja, ich bin hier.“
Kann das wirklich sein? Sollte er wirklich hier sein? Hier bei mir?
„Bist du es wirklich?“
Ein leises Lachen ertönt, sein Lachen.
„Ja, du kleiner Dummkopf. Ich sitze seit Tagen an diesem Bett und warte darauf, dass du endlich aufwachst.“ Stille. „Es wäre fast zu spät gewesen…“
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Fast zu spät… Heißt das?
„Was ist passiert?“
„Du hast dir eine Überdosis verpasst. Wenn ich ein paar Minuten später gekommen wäre, dann…“
Seine Stimme bricht.
Und meine Erinnerungen kommen wieder. Die Bar, der Hügel, die Drogen. Seine Stimme, die meinen Namen gerufen hatte.
„Danke.“
„Wofür?“
„Dass du hier bist.“
„Ich hätte dich nicht alleine lassen dürfen. Dann wäre das alles nicht passiert.“
„Schht… Es ist nicht deine Schuld. Alles wird gut. Ich bin wach.“
„Ich weiß.“
Schniefend legt er seinen Kopf auf meine Schulter. Ich hebe meinen Arm und fahre ihm durch die weichen Haare. Wie ich dieses Gefühl vermisst habe. Wie ich ihn vermisst habe. Es ist alles noch so unwirklich. Was, wenn ich nur halluziniere? Wenn er weg ist, sobald ich aus diesem Traum aufwache.
Noah bewegt sich und haucht mir einen Kuss auf mein Schlüsselbein.
„Ich werde dich nie wieder alleine lassen.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
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Er hält sein Versprechen. Nach einer Woche bin ich aus der Klinik entlassen worden und konnte zurück nach Hause. Naja, zu Noahs Zuhause. Meine Familie hat von dem gesamten Vorfall nichts mitbekommen und das ist gut so.
Ich habe ihm erzählt, was damals an dem Tag mit dem Dealer geschehen ist und auch, wie es zu meiner Überdosis gekommen ist. Überhaupt reden wir über alles. Sein Leben ist mein Leben und meines ist seins. Wir sind eins. Nur nicht im körperlich leuchtenden Sinne, sondern im übertragenen. Im geistigen.
Jede Sekunde, die ich mit Noah verbringen darf, ist ein kostbarer Schatz. Noch sehr viel kostbarer als vor meinem Zusammenbruch. Denn jetzt weiß ich, dass alles ein Ende hat. Doch ich weiß auch, dass Enden nicht immer allein sein müssen. Das ist wie bei der Wurst. Und wenn die alleine zwei Enden haben darf, dürfen Noah und ich zu zweit auch ein gemeinsames haben.
Irgendwann in vielen vielen Jahren.
Denn bis dahin ist noch viel zu tun. Ich denke da an eine gemütliche Wohnung am Rande der Stadt mit einem süßen verschmusten Hund und einem kleinen verfressenen Kater.
Tag der Veröffentlichung: 25.04.2016
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