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Ruf der Nacht

Der Vorteil an Studentenpartys war, dass jede Woche mindestens fünf stattfanden, der Nachteil hingegen: Fünfzig Prozent davon waren Kostümpartys. Und das waren natürlich die, auf denen man ohne Kostüme durchaus seinen Spaß hätte haben können.

Normalerweise war ich kein Fan von Schminke und dem ganzen Drum und Dran, aber als mir der Flyer für diese Party in die Hände gefallen war, hatte mich die Neugierde gepackt.

Mystery Dark war das Thema und ich hatte mich schon immer mit der Dunkelheit verbunden gefühlt. Zudem sah ich es als beste Gelegenheit meinen Freunden zu beweisen, dass ich kein langweiliger Partymuffel war und sagte deswegen zu, als sie mich fragten, ob ich mitkommen würde.

 

Jetzt stand ich hier, unter dem freien Nachthimmel mit einem Glas dunkelblauer Bowle in der Hand und beobachtete das Treiben. Manche waren, was die Kostümauswahl anging, echt kreativ gewesen, andere hatten sich wie ich mit dunklen Klamotten begnügt. Aber keiner konnte sagen, wir hätten das Thema verfehlt, Schattenjäger rannten schließlich auch in Lederjacken und nicht mit fliegenden Umhängen durch die Gegend.

 

„Cedric! Da bist du ja! Ich hab dich schon überall gesucht.“ Meine Mitbewohnerin Finja kam auf mich zu. Sie trug ein dunkelblaues Elfengewand und selbst ich, als geouteter Schwuler, musste zugeben, dass sie echt anbetungswürdig aussah.

„Was gibt’s?“ „Muss ich einen Grund haben, um mit meinem Kumpel zu reden?“ Ich lachte. „Nein, eigentlich nicht. Nur hast du sonst immer ein Anliegen, wenn du zu mir kommst.“ Sie seufzte ergeben und grinste mich an. „Durchschaut.“ „Also, was gibt’s?“ „Ich wollte dich fragen, ob ich mir deine Autoschlüssel ausleihen kann, um diesen superschnuckligen Typen da nach Hause zu fahren. Sein Auto ist kaputt und ich dachte, du könntest vielleicht bei einem der Jungs mitfahren. Bitte, bitte?“ Sie setzte ihren Hundeblick auf, wohl wissend, dass ich ihr dann keinen Wunsch abschlagen konnte. „Du hast nicht vor, es wieder her zu bringen, oder?“ „Nein… Eigentlich nicht. Er wohnt ein Stück weg und da dachte ich…“ „…du könntest gleich bei ihm übernachten.“ „Genau.“ Sie strahlte mich an. „Ist das ein ja?“ Ich seufzte ergeben. Sie würde eh nicht locker lassen, bis sie hatte, was sie wollte. „Ja“ „Yey!“, quietschte sie und fiel mir um den Hals. „Du schuldest mir was.“ „Alles! Aww, du bist der Beste!“ Sie umarmte mich noch ein letztes Mal und schnappte sich dann den Schlüssel, den ich ihr hinhielt und verschwand zu einem wirklich schnuckeligen Typen. Das musste man ihr lassen, ihr Männergeschmack war ausgezeichnet.

Ich ließ meinen Blick über die Anwesenden schweifen. Vielleicht sollte ich auch mal wieder jemanden ansprechen. Eigentlich war ich nicht der Typ für One-Night-Stands, aber wenn ich wochenlang keinen Sex mehr hatte, mutierte ich schneller zur Furie als mir lieb war.

Unter den Kostümen war es schwer, jemanden auszumachen. Einige sahen ganz ansehnlich aus, bei anderen vermutete ich es, doch es war niemand dabei, der mich so wirklich ansprach. Ja, ich gab es zu, ich war wählerisch. Aber wer wollte schon die zweite Liga, wenn man auch die erste haben konnte?

 

„Buh“, hauchte mir plötzlich jemand ins Ohr. Überrascht drehte ich mich um und stand einem echt heißen Typen gegenüber. Wobei echt heiß eine Untertreibung war, der Typ da war anbetungswürdig, trotz seines Vampiroutfits. Lag vielleicht daran, dass es sehr dezent war. Er trug wie ich schwarze Klamotten und seine dunklen Augen waren von dichten, langen Wimpern umgeben. Seine ebenfalls schwarzen Haare rundeten das Erscheinungsbild ab.

„Hi“, krächzte ich. „Hey, ich bin Dustin.“ „Cedric“ „Cedric…“ Er ließ sich meinen Namen auf der Zunge zergehen und ein wohliger Schauder lief meinen Rücken hinab. „Schöner Name.“ „Danke“ Seiner war aber auch nicht zu verachten. Vor allem passte er zu ihm. Dunkel und geheimnisvoll.

„Willst du etwas trinken?“, fragte er und deutete auf mein mittlerweile leeres Glas. „Gerne“ Ich reichte es ihm und er ging zur Bar, um uns neue Getränke zu organisieren. Dabei hatte ich einen guten Blick auf seine ansehnliche Rückansicht und leckte mir automatisch über die Lippen. Vielleicht hatte ich heute ja doch noch Glück. Dustin war definitiv mein Typ. Düster und anmutig wie die Nacht.

Ich lächelte bei dem Gedanken, wie sich die Lippen dieses Vampirs wohl anfühlen würden. Warm und süß? Weich und wie die Freiheit? Beides hatte seinen Reiz und ich beschloss, es herauszufinden.

 

„Hier“ „Danke“ Ich nahm ihm mein Glas ab. Als seine Finger dabei meine Haut streiften, breitete sich eine Gänsehaut auf meinem Körper aus. Ich sah auf und wurde von seinem intensiven Blick gefangen genommen. Seine Augen waren wirklich fast schwarz und ich hatte das Gefühl, als spiegelte sich die Nacht in ihnen. Sie waren wunderschön, so tief, so klar…

Ohne, dass ich es merkte, lehnte ich mich vor, bis ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Mein Herzschlag beschleunigte sich, er zog mich vollständig in seinen Bann. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich nicht mehr zurückweichen können.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, ein gefährliches Aufblitzen in seinen Augen zu sehen, doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, überbrückte er den Abstand zwischen uns.

 

Sobald seine Lippen meine berührt hatten, schoss ein elektrischer Impuls durch all meine Nervenbahnen. Ich keuchte überrascht auf, klammerte mich an ihm fest, um nicht umzufallen. Eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper. Dieser Kuss war mit keinem anderen zu vergleichen. Es war unglaublich, so leidenschaftlich und heiß, aber gleichzeitig auch zart und sanft. Er forderte mich, ohne mich zu dominieren, zog sich zurück, ohne mir die Oberhand zu lassen.

Es war wie eine Droge. Eine Droge, die bei der ersten Einnahme süchtig machte.

 

Vorsichtig löste er sich von mir und sah mich an. Ich hielt mich immer noch an ihm fest, hatte zeitgleich jedoch das Gefühl, dass er mich mit seinem Blick auf den Beinen hielt. Seine Augen waren dunkler geworden, Verlangen spiegelte sich in ihnen.

„Komm“, flüsterte er. Ich nickte mechanisch und griff nach seiner ausgestreckten Hand. Ließ mich von ihm führen, fort von der Party, hinein in das kleine anliegende Birkenwäldchen, immer weiter und weiter.

 

Auf einer kleinen Lichtung ließ er mich los, zog mich aber sofort wieder an sich und presste seine Lippen leidenschaftlich auf meine. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und zog ihn näher zu mir. Dass das nur ein One-Night-Stand werden würde, war mir klar und ich verdrängte das Bedauern darüber in eine kleine Ecke meines Kopfes. Dieser Typ spielte weit außerhalb meiner Liga und ich nahm mir vor, jeden Augenblick von dieser Nacht auszukosten.

Dustins Lippen hatten mittlerweile ihren Weg zu meinem Hals gefunden. Sie liebkosten ihn, wanderten zu meinem Ohr, knabberten sanft an meinem Ohrläppchen und ich stöhnte leise auf. Gott, fühlte sich das gut aus. Als seine Zunge dann auch noch meine Ohrmuschel nachfuhr, war es um mich geschehen. Ich presste mich an ihn, neigte meinen Hals zur Seite, bot ihm möglichst viel Fläche. Ich wollte mehr von ihm, seinen Berührungen. Ich wollte alles.

 

Als er sich diesmal wieder von mir löste, atmete er ebenfalls schwer. Wir standen so nah beieinander, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Ich hatte meine Hände immer noch in seinem Nacken verschränkt und versuchte, meinen Herzschlag wieder halbwegs unter Kontrolle zu bringen. Dieser Kerl machte mich fertig. Jede noch so kleine Berührung schickte kleine Stromstöße durch meine Nervenbahnen. Ich war vollkommen elektrisiert und, was mich am meisten verschreckte, ich war willig. Die Erkenntnis, dass ich alles für diesen Mann tun würde, ließ mich schlucken. Eigentlich sollte ich Angst verspüren, doch da war nichts dergleichen. Nur eine Vorfreude auf das, was noch kommen mochte.

Verwirrt ließ ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken. Ich vertraute ihm. Obwohl ich ihn nicht einmal eine Stunde kannte, vertraute ich ihm bedingungslos.

Seine Finger fuhren sanft durch meine Haare, kraulten meinen Haaransatz, beruhigten mich. Es war, als ob er genau wüsste, wie es in mir aussah. Und dennoch verspürte ich keine Angst, dass er mir etwas tun würde.

 

„Cedric? Alles okay?“ Seine Stimme war leise, klang fast schon besorgt. „Ja, mir geht’s gut.“ Ich blickte in seine Augen und versank wieder einmal. Aber diesmal spiegelte sich nicht nur Verlangen in ihnen, da war noch etwas anderes, etwas Undefinierbares, nicht Greifbares. Ein Ausdruck, den ich nicht so recht deuten konnte.

Gedankenverloren strich ich mit meinen Fingern über sein Schlüsselbein, malte kleine Kreise auf seine Oberkörper und legte meine Hand auf seine Brust. Dort, wo eigentlich ein Herzschlag zu spüren sein müsste. Aber da war nichts, auch an seinem Hals konnte ich keinen Puls ertasten…

 

Warme Lippen hielten mich von jedem weiteren Gedanken ab. Fast flehend strichen sie über meinen Mund, forderten mich auf, mitzuspielen, alles andere zu vergessen.

Und ich tat es. Ich dachte nicht mehr über seinen nicht vorhandenen Puls nach, nicht darüber, dass es nicht gesund war, einem eigentlich fremden Menschen so zu vertrauen. Es zählten nur noch diese Lippen und seine Zunge, die frech meinen Mund erkundete, meine neckend anstupste.

Nach einer Weile widmete er sich wieder meinem Hals, knabberte und saugte an der empfindlichen Haut und ließ mich immer wieder leise aufkeuchen. Er schien seine Lieblingsstelle gefunden zu haben, die er ganz besonders mit Küssen und kleinen Bissen verwöhnte. Dass diese Stelle seltsamerweise meine Halsschlagader war, bemerkte ich gar nicht.

Als er etwas fester zubiss, stöhnte ich auf und bot ihm noch mehr Platz. „Du nimmst deine Aufgabe als Vampir ganz schön ernst…“ Er antwortete nicht, aber ich spürte, dass er grinste.

 

Immer tiefer gruben sich seine Zähne in meine Haut. Es war ein unglaublich tolles Gefühl. Ich schlang meine Arme wieder um ihn, presste mich an seinen Körper. Wollte so viel Kontakt wie nur möglich herstellen. Er tat es mir gleich und strich sanft über die andere Seite meines Halses, als er noch einmal kräftiger zubiss und ein stechender Schmerz meinen Körper durchzuckte.

Doch bevor ich mich von ihm lösen konnte, begann er plötzlich, zu saugen und ich stöhnte erregt auf. Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, hatte nur noch das Gefühl, gleich vor Lust explodieren zu müssen.

Als er seine Zähne zurückzog, hinterließ er ein Gefühl der Leere in mir. Erschöpft sank ich gegen ihn, ließ mich von ihm ins Gras ziehen. Er schlang seine Arme um mich und ich bettete meinen Kopf auf seine Schulter.

So hätte ich mir den Abend nie im Leben vorgestellt, doch ich könnte nicht sagen, dass es nicht nach meinem Geschmack gewesen wäre.

 

Vorsichtig streichelte Dustin über die Stelle an meinem Hals, an der er mich gebissen hatte. Für das Wie und Warum war ich zu müde. Sanft nahm er mein Gesicht in seine Hände und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen, so zart, dass er fast nicht zu spüren war.

„Danke“ „Wofür?“ „Für alles.“ Ich runzelte verwirrt die Stirn. Was meinte er damit? Doch bevor ich nachfragen konnte, gähnte Dustin und ich sah seine Eckzähne. Nur waren es keine normalen, wie bei mir und sicherlich jedem anderen auf der Party. Nein, diese waren etwas länger und spitzer und definitiv nicht aus Plastik. War das vorhin auch schon so gewesen?

Ich versuchte mich zu erinnern und ja, ganz dunkel … war da etwas gewesen. Komisch. Aber solche Leute sollte es ja geben.

 

 

„Soll ich dich nach Hause bringen?“ Fragend blickte Dustin mich an. „Äh, ja, das wäre nett.“ Ich erinnerte mich wieder daran, dass ich mein Auto Finja geliehen hatte. Hoffentlich würde ich es in einem Stück wiederbekommen. Bei ihr wusste man da nie…

Dustin zog mich auf die Füße und zusammen gingen wir durch den Wald zurück. Normalerweise wäre mir das nicht ganz geheuer gewesen, doch an Dustins Seite fühlte ich mich sicher.

Unsere Hände streiften sich im Gehen und irgendwann griff Dustin nach meiner und verschränkte unsere Finger. Ein warmes Gefühl stieg in mir auf. Ich wollte nicht, dass es vorbei war, sobald er mich abgesetzt hatte, aber wie sollte ich ihn um ein Wiedersehen bitten, ohne dabei wie ein klammernder Teenager zu klingen?

 

Perplex starrte ich auf das schwarze Motorrad vor mir. Klar, was hatte ich erwartet? Dass so ein heißer geheimnisvoller Typ mit einem Opel anbandelt? Bestimmt nicht.

Andächtig strick ich über die schwarze Lackierung. „Gefällt es dir?“ Ich nickte ehrfürchtig. Dustin lachte. Er hatte eine angenehme Stimme, warm und tief. „Na dann, komm her.“ Er stieg auf und deutete hinter sich. Ich kam dieser Aufforderung nur zu gerne nach und nahm hinter ihm Platz. Dann schlang ich meine Arme um seine Hüfte und schmiegte mich an ihn.

Er roch total gut, nach Nachtluft, Freiheit und irgendetwas Fruchtigem. Als er losfuhr, legte ich meinen Kopf auf seine Schulter und genoss das Gefühl des Fahrtwindes. An solche Ausflüge könnte ich mich durchaus gewöhnen…

 

Die Maschine wurde langsamer und ich sah enttäuscht auf. Da waren wir, vor meiner Studentenbude. Ich seufzte und stieg ab. „Alles klar?“ Dustin musterte mich besorgt. „Ja, ähm … ich…“ Ich brach ab und sah ihn unschlüssig an.

Er streckte seine Hand nach mir aus und ich ergriff sie, ließ mich an ihn ziehen und meine Lippen wieder von seinen in Beschlag nehmen.

 

Diesmal war ich es, der sich löste, da ich nicht wusste, wie lange ich ihn noch küssen konnte, mit dem Wissen, dass es das letzte Mal sein würde.

Andererseits, was hatte ich schon zu verlieren? Ich würde ihn eh nie wieder sehen. „Willst du … noch mit hoch kommen?“, fragte ich leise. Zu meiner Überraschung verneinte er nicht, sondern stieg ebenfalls ab und folgte mir zur Tür. Für einen Moment glaubte ich, Hoffnung in seinen Augen sehen zu können.

 

Ich war mir seiner Anwesenheit nur allzu deutlich bewusst als ich aufschloss und in die Küche ging, um etwas zum Trinken zu holen. Warum war er mit hochgekommen?

„Möchtest du Wasser, Saft oder Bier?“ „Nichts davon, danke. Aber ich würde dich nehmen“, raunte er an mein Ohr und umarmte mich von hinten. Ich erschauderte und lehnte mich an ihn. „Okay…“

Sanft, aber bestimmt schob er mich Richtung Couch und ich war froh, dass Finja heute nicht da war.

„Warte“, stoppte ich Dustin, als er mich auf das Sofa drücken wollte. „Ich hab auch ein Bett. Da liegen deutlich weniger Chipskrümel drauf.“ Er lachte. „Gut, genehmigt.“

 

Ich ließ mich auf die weiche Matratze fallen und sofort war Dustin über mir und küsste mich, zog mir langsam das T-Shirt über den Kopf. Als seine Finger meine nackte Haut streiften, keuchte ich auf. Das im Wald war schon unglaublich gewesen, aber jetzt…

Ich schloss genießerisch die Augen und ließ mich vollkommen fallen. Überall wo seine Hände mich berührten, entstand ein Feuer. Ich hatte das Gefühl, als würde meine Haut verbrennen. Und dennoch konnte ich nicht genug davon bekommen. Ich bog mich ihm entgegen, zog ihn auf mich und entkleidete ihn schließlich ebenfalls.

Er war so schön, vollkommen. Mit einem Vampir könnte er locker mithalten. Auch was die Blässe seiner Haut betraf. Einen Herzschlag konnte ich auch jetzt noch nicht spüren, trotz der Tatsache, dass er unbekleidet neben mir lag.

„Dustin…“ „Scht, ich weiß. Ich weiß.“ Er küsste mich sanft und mit so viel Gefühl, dass jeder weitere Gedanke aus meinem Kopf gefegt wurde.

 

 

Ein schrilles Piepen weckte mich am nächsten Morgen. Im ersten Moment war ich etwas desorientiert, dann strömten die Erinnerung des letzten Abends auf mich ein. Dustin.

Ich drehte mich auf die Seite, doch das Bett war leer. War ja klar, dass es für ihn nur ein One-Night-Stand gewesen war. Obwohl ich es von Anfang an gewusst hatte, schmerzte es trotzdem. Der kleine Hoffnungsschimmer, dass es vielleicht doch mehr werden könnte, war im Laufe der Nacht gewachsen, hatte sich zu einem Lichtstrahl manifestiert.

Die Art wie er mich angesehen hatte, wie er mich berührt hatte, da war doch mehr… Oder hatte ich mir das alles nur eingebildet? Konnte es wirklich sein, dass ich mich so sehr getäuscht hatte?

 

Seufzend stand ich auf und stellte mich unter die Dusche. Wusch alle Beweise der letzten Nacht von meinem Körper.

Als ich in den Spiegel sah, stellte ich fest, dass selbst die Bissspuren nicht mehr zu sehen waren. Es war, als hätte es Dustin nie gegeben. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und erinnerte mich an das Gefühl, als er mir das Blut aus dem Körper gesaugt hatte.

Wenn ich so im Nachhinein darüber nachdachte, hätte es mich eigentlich abstoßen sollen. Aber das tat es nicht. Im Gegenteil, ich wollte es wiederholen. Doch Dustin war weg und ich würde ihn nie wieder sehen.

Missmutig zog ich mich an und starrte den Tag an der Uni noch unmotivierter als sonst.

 

 

Meine Gedanken kreisten ununterbrochen um Dustin, seine Lippen, seine Augen… Mehrfach wurde ich von den Professoren ermahnt, doch ich konnte nichts dagegen tun. Es war, als zöge mich eine unsichtbare Macht immer zu Dustin zurück.

Mir wurde regelrecht schlecht, ich hatte das Gefühl, wenn ich ihn nicht gleich wiedersehen würde, umzukippen, mich übergeben zu müssen.

 

„Hey, Cedric, geht’s dir nicht gut?“ Mein Banknachbar stieß mich an. „Was? Nein, es geht schon.“ „Du siehst aber gar nicht gut aus. Du bist total blass.“ Ich fühlte mich auch nicht gut. Mein Kopf dröhnte, aber am Alkohol konnte es nicht liegen, den Kater hätte ich heute Morgen schon spüren müssen.

Aber was sollte denn mit mir los sein? Ich war nicht der Typ, der schnell krank wurde. Hatte Dustin mir irgendetwas gegeben, vielleicht als er unsere Getränke geholt hatte? Konnte das sein? Hatte ich ihm deshalb so vertraut? Das würde Sinn machen. Oh Gott, ich war so ein Idiot. Wahrscheinlich konnte ich von Glück reden, dass er mich nicht umgebracht hatte. Wenn ich den Tag denn überleben würde. Momentan fühlte ich mich dazu absolut nicht im Stande.

Vielleicht hatte er mir auch durch seinen Speichel irgendeine Krankheit übertragen, als er mich gebissen hatte? Was, wenn…

Ahh! Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Was zur Hölle…?

Justus musterte mich besorgt. „Willst du kurz rausgehen?“ „Nein“, presste ich hervor. „Das geht bestimmt gleich wieder.“

 

Ein erneuter Krampf ließ mich aufkeuchen, Schweiß trat auf meine Stirn. Oh fuck, was war das denn? Ich wischte mir mit dem Handrücken über das Gesicht. Als ich ihn wieder runternahm, sah ich, dass ich blutete. Erschrocken fasste ich mir an die Nase. Tatsächlich, da lief Blut.

Panisch sprang ich auf und stürmte ohne auf die anderen zu achten aus dem Saal. Ich musste zu einer Toilette und zwar schnell.

Stolpernd rannte ich durch die Gänge und hatte Mühe, mein Gleichgewicht zu halten. Keuchend hielt ich mir die Seite. Das konnte doch nicht sein, dass es so wehtat. Was…

Meine Lungen krampften sich zusammen und ich stürzte. Nein, ich durfte nicht liegen bleiben. Ich. Musste. Weiter.

Mühsam rappelte ich mich auf, kroch halb zum Bad. Ich brauchte Wasser. Meine Kehle war staubtrocken. Ich hustete und spuckte Blut. Fuck!

 

Irgendwie schaffte ich es, mich aufzurichten und auf dem Waschbecken abzustützen. Nach Atem ringend sah ich in den Spiegel. Meine Augen waren blutunterlaufen, aus Mund, Nase und Ohren rann Blut und meine gesamte Haut war kreidebleich. Was zum Teufel hatte der Kerl nur mit mir gemacht?

Ein erneuter Hustenanfall ließ mich taumeln, röchelnd holte ich Luft und schleppte mich zur ersten Toilette. Sobald mein Kopf über der Schüssel hing, konnte ich den Brechreiz nicht mehr unterdrücken und übergab mich.

Mein Hals brannte höllisch, ich würgte Blut. Lange würde ich das nicht mehr durchhalten. Ich kugelte mich vor Schmerz auf dem Boden, schrie verzweifelt nach Hilfe, wohlwissend, dass mich hier niemand hören würde. Warum hatte ich Justus nur gesagt, dass das schon wieder werden würde? Ich hätte mir helfen lassen sollen, dann läge ich jetzt im Krankenwagen unter der Beaufsichtigung von Ärzten und nicht allein auf dem Boden einer Toilette.

Ich musste erneut würgen, schaffte es aber nicht mehr über die Schüssel. Blut befleckte den Boden, ebenso wie meine Klamotten. Wann hörte das endlich auf?

 

Kraftlos lehnte ich mich an die Wand. Ich wollte nicht mehr. Konnte nicht mehr. Die Schmerzen waren einfach zu groß. Und warum sollte ich auch kämpfen? Dustin sah ich nie wieder, meine Familie würde ohne mich zurechtkommen und die Uni ersetze mich einfach durch den nächsten Studenten.

 

Wir alle waren ersetzbar. Einer starb, der nächste wurde geboren. So war das Leben nun mal. Wir wurden geboren, um zu sterben.

 

In einen Anfall von Hysterie lachte ich auf. Ja, wir würden alle sterben. Ob jetzt oder erst in drei Jahren, wen kümmerte das schon? Vielleicht würde der Student, durch den sie mich jetzt ersetzen würden, bessere Leistungen bringen, als der in drei Jahren. Aber letztendlich lief alles auf das Gleiche hinaus.

Ich spuckte das Blut, welches sich in meinem Mund gesammelt hatte, auf den Boden. Viel konnte es nicht mehr sein. Bald war es zu Ende. Dann hörten die Schmerzen auf. Dann war es vorbei.

 

Mein Kopf kippte zur Seite, mir wurde schwindelig. Ich merkte, wie meine Kräfte schwanden, wie mein Sichtfeld langsam kleiner und kleiner wurde.

Röchelnd holte ich Luft, meine Lungen fühlten sich schwer an. So, als ob sie mit Tonnen von Blut gefüllt wären. Wie ein Blutbad. Direkt in meinem Körper. In mir drin! Das konnte nicht jeder von sich sagen.

Ich lachte auf, doch das Lachen verwandelte sich in ein Wimmern. Warum ich? Warum konnte es nicht jemand anderen treffen? Ich hatte Freunde, Familie. Meine Eltern würden am Boden zerstört sein, wenn sie erfuhren, dass ihr Sohn tot war. Warum konnte nicht jemand ohne Familie oder ein Todkranker an meiner Stelle sterben? Wieso ich?

 

Meine Lider wurden schwer, klappten langsam zu. Ich versuchte nicht, mich dagegen zu wehren. Es hatte eh keinen Sinn mehr. Ich würde sterben. Jetzt.

 

Eine Welle des Schmerzes durchlief meinen Körper. Ich krümmte mich zusammen, fiel auf den Boden. Es tat weh. So weh…

Vor meinen Augen wurde es schwarz. Alles, was ich jetzt noch wahrnahm, war der unerträgliche Schmerz in meinem Inneren. Es fühlte sich an, als ob man mir meine Seele entreißen würde. Ich konnte nicht mehr. Ich gab auf.

 

Und mit meiner sinkenden Kraft, sank auch der Schmerz. Nahm ab, bis er endlich ganz verschwand. Zurück blieb eine Leere. Eine große schwarze Leere, die mich mit offenen Armen empfing.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

EPILOG

 

Dunkelheit.

 

Nichts als Dunkelheit umgab mich. Dunkelheit und ein warmer Körper, der mich schützend festhielt, mich daran hinderte, in den Abgrund zu stürzen.

 

„Schht, es wird alles gut. Bald hast du es geschafft. Dann bist du frei. Genau wie ich.“

Leise und beruhigend drangen Dustins Worte an meine Ohren. Ich kuschelte mich dichter an ihn, spürte den Wind, der über uns hinwegwehte.

 

Der Schmerz war verschwunden. Zurückgeblieben war eine befreiende Leichtigkeit. Eine Leichtigkeit und die Gewissheit, dass Dustin Recht hatte. Ich war frei. Und bereit für unsere gemeinsame unsterbliche Zukunft.

 

Ich öffnete die Augen und blickte über Dustins Schulter hinunter auf den immer kleiner werdenden Erdboden. Nichts würde mich dorthin zurückbringen.

 

 

Jetzt gab es für mich nur noch Dustin und die vor uns liegende Nacht.

Impressum

Texte: meins
Bildmaterialien: http://www.goodfon.su/wallpaper/nature-animals-birds-puffins.html
Lektorat: Danke danke danke Schafi *♥-chen zupust*
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

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