Der Geist ist der Herr über sein Schicksal: Er kann sowohl Ursache seines Glücks als auch seines Unglücks sein.
(Lucius Annaeus Seneca)
»Ruhe! Oder ich lasse den Himmel räumen!« Das rege Treiben erstarb mit einem Schlag. Alle Wesen, egal, ob Seraphim, Cherubim, Erzengel oder Schutzengel, erstarrten. Sogar die Rekonvaleszenz-Duschen stellten die Arbeit ein. Die gesamte Obere Ebene harrte aus und wartete, was nun kommen würde. Es war mucksmäuschenstill. »Himmlische Geschöpfe.« Obwohl es keine Lautsprecher gab, war die warme männliche Stimme überall zu hören. »Ich möchte euch mitteilen, dass ein neues Wesen das Universum betreten hat. Ein mächtiges Wesen. Es nennt sich Aveline. Noch ist nicht sicher, welcher Seite dieses Wesen sich zuwenden wird. Das Rad des Schicksals ist noch nicht zum Stillstand gekommen. Doch seid versichert, es wird alles in unserer Macht Stehende getan, damit es seine Kräfte in unseren Dienst stellen wird. Sollte das Wesen euren Weg kreuzen, begegnet ihm mit Wohlwollen. Aveline ist noch sehr jung und unerfahren. Es weiß nicht, was es zu erwarten hat, noch weiß es, welche Macht es in sich trägt. Ich habe bereits einen Stab zusammengestellt, der sich um das unbekannte Wesen kümmern wird. Er soll dafür sorgen, dass sich Aveline für unsere Seite entscheidet. Sollte sich das Wesen der anderen Partei zuwenden, so wird es einen unvermeidbaren Krieg heraufbeschwören, dessen Ausgang verheerende Folgen hätte. Samael und Lilith warten nur darauf, ihr Reich auszuweiten. Sie üben starken Druck aus für einen triumphalen Einzug in die Obere Ebene. Das muss mit allen Mitteln verhindert werden. Das Gleichgewicht darf nicht aus den Fugen geraten. Jeder von euch ist aufgefordert, diesen Zustand beizubehalten. Ich wende mich nun direkt an die Schutzengel: Stellt eure Taten in den höheren Dienst, damit wir auch weiterhin existieren.«
Das anfängliche Raunen wandelte sich langsam in ein allgemeines Gemurmel, bis es in lautstarken Diskussionen endete. Alle himmlischen Geschöpfe begannen zu spekulieren. Einige waren der festen Überzeugung, Aveline bereits begegnet zu sein. Hätte man sie jedoch gefragt, wie Aveline aussah, konnte sich keiner von ihnen daran erinnern.
Yahel betrat das achteckige Prisma aus ultraviolettem Licht, das seinem Grün noch mehr Intensität verlieh.
»Nun, Yahel, wie kommst du voran?«, fragte dieselbe Stimme, die soeben die Ansprache gehalten hatte.
»Ich habe dem Schutzengel Jesajah den Auftrag erteilt, Azrael für uns zu gewinnen.« Die menschlich wirkende Erscheinung umgab nun eine grüne Aura, deren Konturen verschwammen. »Mit dem Erzengel haben wir die besten Chancen, dass sich dieses Wesen für uns entscheiden wird.«
»Azrael, sagst du?« Eine violette Kugel mit einem Durchmesser von zwei Metern schwebte auf ihn zu, deren Pulsieren eine hypnotische Wirkung ausübte, während sie den gesamten Raum mit ihrem Licht erfüllte. »Wie kommst du darauf?«
»Es erschien mir als die beste Lösung. Seit sich diese Aveline verwandelt hat, ist er ihr ständiger Begleiter.«
»Azrael ist ein gefallener Erzengel. Er wollte es töten.«
Die Bedenken des obersten Erzengels der Throne beeindruckten Yahel nicht im mindesten.
»Ich erinnere mich noch sehr gut an den Prozess, Metatron. Ein Präzedenzfall, der bis heute seinesgleichen sucht. Azrael wurde damals von Seraphiel angeklagt und von Tigernmas verurteilt. Die Richterin verdammte ihn. Als Dunkler Engel kümmert er sich nun um die unschuldigen Seelen, die sich in die Hölle verirren. Es ist seine Aufgabe, ihnen den richtigen Weg zu weisen. Seit diesem Urteil wandelt er mit Samael, dem Höllenfürst in persona, durch die Unterwelt.«
»Richtig. Und nun bist du der Meinung, Azrael wird sich uns anschließen und für uns kämpfen?« Metatron schien nicht überzeugt. Als Angehöriger der Ersten Triade bekleidete Metatron zusätzlich das Amt des Statthalters des Himmels. Seine Visionen hatten Tigernmas veranlasst, dieses ungewöhnlich harte Urteil über den angeklagten Erzengel zu fällen. Es war Metatrons Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass IHM niemand seinen Thron streitig machte oder IHN gar vom Thron stürzte. Dafür war dem Engel jedes Mittel recht.
»Ich glaube, wenn wir dem Dunklen Engel einen guten Grund geben, wird er es tun«, entgegnete Yahel mit einer Überzeugung, die keinen Zweifel zuließ. Als ein Engel der Ersten Triade trug seine Meinung viel dazu bei, dass himmlische Geschicke in gewisse Bahnen geleitet wurden.
»Einen guten Grund?« Metatron klang überrascht. »Mein lieber Yahel. Liebe hat viele Facetten und ist kein zuverlässiger Partner.«
»Das meine ich nicht.«
»Sondern? Wie willst du Azrael für unsere Dienste begeistern? Hast du bereits einen Plan?«
Eine dramatische Pause entstand. Das Pulsieren verlangsamte sich, sodass Yahel schließlich antwortete:
»Die Aussicht, wieder ein Erzengel zu werden, könnte ihn überzeugen, für unsere Sache einzustehen. Ich werde Tigernmas bitten, das Urteil als nichtig zu erklären. Sie soll ihn begnadigen, sobald Azrael seine Aufgabe erfüllt hat.«
»Begnadigen. Hm.«
Eine wohltuende Ruhe beherrschte kurz den Innenraum des Prismas.
»Das wird Seraphiel nicht gern hören«, unterbrach Metatron das Schweigen. »Er wird protestieren, was Unruhe und Zwietracht in unseren Reihen säen könnte.« Das Violett nahm an Intensität zu.
»Vermutlich«, entgegnete Yahel ungerührt. »Es war mehr dem Zufall zu schulden, als mir eine alte Schriftrolle förmlich in die Hände fiel, während ich auf Xenophons Rückkehr wartete. Eine längst in Vergessenheit geratene Prophezeiung.«
»Eine Prophezeiung? Auf einer Schriftrolle?« Nichts konnte den höchsten Engel der Throne aus der Fassung bringen, doch diese Nachricht schien ihn zu beunruhigen. »Und du bist sicher, dass es nicht nur eine seiner Geschichten ist, mit denen er die Schutzengel unterhält? Sicherlich hat sich dieser Chronist wieder Märchen ausgedacht, die er den Guardians erzählen wollte.«
Die grüne Gestalt schüttelte ihren flimmernden Kopf.
»In diesem Fall war die Schriftrolle datiert. Sie entstand nicht direkt aus der Feder von Xenophon. Er erzählte mir, dass er keine Kenntnisse von dieser Prophezeiung hatte, bis ich dieses Pergament entdeckte. Er wirkte über dessen Inhalt sehr verstört.«
»Xenophon ist kein Engel, Yahel.« Metatron erhob die Stimme. »Sicherlich nur ein Hirngespinst von ihm. Er ist bereits sehr lange auf der Oberen Ebene, die ausschließlich uns himmlischen Geschöpfen zusteht. Vermutlich verliert der Nicht-Engel, nachdem er längere Zeit hier verbracht hat, den Verstand.«
»Willst du das Risiko eingehen?«
»Du drohst mir, Yahel?« Der Ball erreichte nun einen Durchmesser von vier Metern.
»Keinesfalls, Metatron. Doch wir sollten alle Register ziehen, wenn wir das Wesen auf unserer Seite wissen wollen. Selbst wenn es bedeutet, einen weiteren Engel zu stürzen.«
Sie kannte den Raum. Das Weiß um sie herum machte ihr nichts aus. Noch immer standen vier Stühle an der Wand, die ihr zu hoch waren.
Während sie die Wände ablief, betrachtete Jesajah die Bilder. An einer Stelle klaffte weiterhin die Lücke. Sie wusste, dass es dort keine Tür gab, somit war klar, dass nur eines der riesigen Porträts fehlen konnte. Ihr Blick blieb auf dem leeren Platz haften, während sie überlegte, welches Erzengelbildnis dort einst erstrahlte, oder ob man die Lücke für einen neuen Erzengel freihielt.
»Also, Jesajah. Weshalb sind wir hier?«
Azraels Stimme holte sie aus den Gedanken. Sie drehte den Kopf zur Seite und schaute über ihre rechte Schulter.
Der Dunkle Engel saß auf einem der vier Stühle. Den Oberkörper hatte er nach vorn gebeugt, die Unterarme auf den Schenkeln abgelegt. Die Spuren des Kampfes gegen Batukhan waren noch nicht vollständig verblasst. Sein Unterkiefer mahlte. Er machte keinen Hehl daraus, dass er sich auf der Oberen Ebene unbehaglich fühlte.
»Du sagtest, sie wollen meinen Fall aufrollen.«
»Ja.« Jessy lief auf den gefallenen Engel zu und strahlte. »Ist das nicht toll?«
Ihre kindliche Fröhlichkeit schien von ihm abzuprallen. Er war gereizt.
»Und weshalb lässt man mich warten?«
Jessy machte große Augen. Darauf hatte sie keine Antwort. Bisher hatte sie Wartezeiten bei den Obersten der Triade nie infrage gestellt. Zudem stand den Engeln viel Zeit zur Verfügung, wenn nicht gerade ein Notfall eintrat. Nur als Schutzengel Zweiter Klasse, wie Jessy es war, hatte man sehr viel zu tun, da diese Guardians oftmals mehr als einen Schützling betreuten.
Sie schürzte die Lippen.
»Die sind bestimmt sehr beschäftigt. Du kannst dir nicht vorstellen, was gerade auf der Welt los ist.« Sie legte ihre kleinen Hände auf seine Knie. Mit leicht geneigtem Kopf suchte sie seinen Blick.
»Und ob ich das kann«, erwiderte er kühl. »Das bedeutet, sie wollen einen Söldner.« Er stand auf und ging einige Schritte, während er die Hände gegen seinen Rücken drückte, um den Oberkörper zu strecken. Seine schwarz glänzenden Flügel breiteten sich aus. Er tat einige Flügelschläge, sodass Jessys Korkenzieherlocken wild auf ihrem Kopf tanzten.
Ihre meerblauen, staunenden Augen waren auf ihn gerichtet.
Azrael war gut gebaut und hochgewachsen. Ausgestattet mit mächtigen Flügeln gab er eine imposante Erscheinung ab. An den Rändern schimmerten seine sonst tiefschwarzen Federn silbern. Das einzige Relikt, das noch aus seiner Zeit als himmlischer Bote übrig geblieben war, bevor er zum Dunklen Engel wurde. Er trug nur eine enge schwarze Jeans. Oberkörper und Füße waren nackt.
Jessy hatte eine Ahnung, weshalb Aveline auf dieses dunkle Geschöpf abfuhr. Unweigerlich musste sie schlucken.
»Ihr dürft eintreten.«
Gegenüber der Stuhlreihe öffnete sich eine Tür.
»Nur hereinspaziert«, rief der Seraph, »wenn es …« Die Stimme verstummte.
Mit stolzen Schritten trat Azrael auf den Durchgang zu.
Jessy hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten, und trappelte hinterher.
An der Türschwelle hatte der Schutzengel den Dunklen Engel eingeholt, sodass Jessy nun vorausging.
Der Raum erstrahlte in Neonblau wie der wolkenlose Himmel auf dem Meer an einem sonnigen Tag. Es war so grell, dass die beiden die Augen leicht zusammenkneifen mussten, um überhaupt etwas erkennen zu können.
»Oh! Ist es zu hell? Moment.« Das Neonblau verwandelte sich in ein pastellfarbenes Blau.
Nun konnten sie die Gestalt erkennen, die hinter einem mausgrauen Tisch auf einem bequemen Bürostuhl aus einer Wolke saß.
Es war Seraphiel. Einer der höchsten Seraphs, die man nur selten zu Gesicht bekam. Doch Azrael war er nur zu gut bekannt. Mehr, als dem Dunklen Engel lieb war.
»Setzt euch doch. Bitte.«
Jessy kam der Aufforderung nach. Als sie vor dem hohen Stuhl stand, seufzte sie. Unbeholfen versuchte der Schutzengel hinaufzukrabbeln. Schließlich gab sie es auf und nahm ihre kleinen Flügel zu Hilfe. Diese erwiesen sich eher als hinderlich, da ihr leichtes Flattern sie aus dem Gleichgewicht brachten. Die Guardian war aus der Übung. Ihre Flügel benutzte sie nur in den seltensten Fällen. Sie hasste das Fliegen. Davon wurde ihr immer schlecht. Auf Knien landete sie schließlich auf der Sitzfläche. Sie musste aufstoßen und presste ihre kleine Hand vor den Mund. Dadurch wurde das Geräusch zwar gedämpft, dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sich ihr Gesicht rot färbte. Seraphiel nahm keine Notiz davon. Er kannte Jesajahs Schwäche.
Nachdem er in den Raum getreten war, blieb Azrael stehen. Geduldig sah er Jesajah bei ihrem unbeholfenen Flugversuch zu, bis sie es endlich geschafft hatte und sich setzte.
Keine Sekunde ließ Seraphiel den Gast aus den Augen. Noch wusste er nicht, welche Wendung dieses Gespräch mit sich führen würde.
»Wieso hast du mir nicht gesagt, dass Seraphiel dich geschickt hat, Jesajah?« Azraels Stimme war alles andere als freundlich, sodass ihre Unterlippe zu zucken begann.
Der kleine Schutzengel starrte ihn verständnislos an. Sie hatte doch nur einen Auftrag ausgeführt.
»Sie hatte die Anweisung erhalten, es dir nicht zu sagen, Azrael«, entgegnete Seraphiel in einem überheblich klingenden Tonfall. »Oder wärst du gekommen, wenn sie dir die Wahrheit erzählt hätte?«
Azrael verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg.
Seraphiel nickte. Er kannte die Antwort bereits. »Wer nicht wagt, der …«
»Der nicht gewinnt«, beendete Jessy hastig das Sprichwort, um ihre Verlegenheit zu überspielen.
Seraphiel bestätigte es mit einem Nicken, während Azrael schwieg.
»Das dachte ich mir.« Die Gestalt erhob sich, blieb aber weiterhin hinter dem Tisch stehen. »Gibt es dort, wo du herkommst, keine Dusche?« Seraphiels Frage klang nicht nur wie eine Beleidigung, sie war auch so gemeint, was den Dunklen Engel noch mehr verstimmte.
Die Lippen zu einem schmalen Streifen gepresst starrte er auf Jessy hinunter, die verstohlen auf den Boden blickte.
Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit dem Seraph zu.
»Ihr habt mich doch nicht geholt, um über meine Vorlieben für das Baden zu diskutieren«, entgegnete der Dunkle Engel kühl.
Ein Zischen war zu hören, als der Seraph die Luft einsog. Das Gespräch entwickelte sich nicht in die Richtung, die er geplant und einstudiert hatte. Seiner Meinung nach hätte Azrael dankbar sein müssen, sobald ihm erlaubt wurde, einen Fuß in die Obere Ebene zu setzen. Nun musste sich Seraphiel eingestehen, dass er sich verkalkuliert hatte. Der Dunkle Engel hielt an seinem Versprechen fest, das er allen Anwesenden im Gerichtssaal gegeben hatte: Er würde ihnen nie vergeben. Noch nicht einmal verzeihen, für das, was sie ihm damals angetan hatten. Engel sollten immer gütig sein. Hilfreich und vergeben können. Eigenschaften, die Tigernmas damals – während der Rechtsprechung – einfach aus dem himmlischen Vokabular tilgte. Niemand kümmerte die Wahrheit.
Der Seraph war es nicht gewohnt, dass man in diesem Ton mit ihm sprach. Seraphiel musste sich selbst die Tugenden eines himmlischen Geschöpfes in Erinnerung holen. Seit der Verhandlung gab es nichts Aufregendes mehr in der Oberen Ebene. Ein Umstand, der ihm mehr zusetzte, als ihm – und allen anderen Engeln – bewusst war.
»Richtig. Das ist nicht der Grund.« Er machte einige Schritte, bis er neben dem Schreibtisch stehen blieb. »Wir haben einen Spezialauftrag und denken, dass du bestens dazu geeignet bist, ihn auszuführen.«
Azrael nickte kaum merklich, ohne sich etwas anmerken zu lassen.
»Ähm.« Jessy, die das Gespräch mit großem Interesse verfolgte, versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. »Seraphiel.«
»Jesajah. Zu dir komme ich gleich«, schnitt der Seraph ihr das Wort ab, ohne verärgert zu klingen.
Diese kleine Guardian hatte es Seraphiel angetan. Er kannte Jessys Kampfgeist, ihren Mut und ihre Sturheit, wenn sie etwas erreichen wollte.
Jessys Wangen liefen rot an. Einen der höchsten Engel zu unterbrechen, schickte sich nicht. Seraphiel bemerkte ihre Unsicherheit.
»Das hast du gut gemacht«, entgegnete der Engel mit sanfter Stimme. »Du hast es geschafft, den gefallenen Engel zu mir zu bringen, wie ich es dir aufgetragen hatte.«
Jessy lächelte verlegen. »Das war nicht so schwer.«
Seraphiel kam näher und kniete sich zu ihr herunter. Sein Leuchten strahlte eine beruhigende Güte aus. Sein bläuliches Farbspektrum war atemberaubend schön.
»Wie hast du es angestellt, dass er auf dich gehört hat?«
Azrael fuhr herum.
»Hast du mich belogen, Jesajah?«
Jessy riss die Augen auf. »Nein! Überhaupt nicht!« Um ihre Beteuerung zu unterstützen, schüttelte sie heftig den Kopf. In den Augen erkannte sie, dass der Dunkle Engel ihr keinen Glauben schenkte.
»Was hat sie dir denn erzählt?« Der Seraph erhob sich und trat auf Azrael zu. Dabei veränderte das Licht seine Größe, bis es Azrael um einen halben Meter überragte.
»Samael hatte recht.« Mit der Hand machte er eine wegwerfende Geste. »Ihr treibt Spielchen. Und das Verwerfliche daran ist, dass ihr es mit euresgleichen macht.« Er wandte sich um, um zu gehen.
»Halt!«
Azrael hielt inne, drehte sich jedoch nicht um.
»Du musst verzeihen, Azrael. Doch hier oben haben wir kaum etwas zu lachen. Wir erleben hier nicht sehr viel. Alles ist Friede, Freude und …«
»Eierkuchen«, vervollständigte Jessy den Satz. Sie wusste, dass Seraphiel die Sprüche nie beendete.
»Sagt man das, Jesajah?« Das Licht knickte im oberen Viertel ab, als hätte es dort einen Kopf, den es schief legte.
»Ja«, entgegnete der Schutzengel zögerlich. Dabei blickte sie zu Azrael hinüber, als ersehnte sie seinen Beistand.
»Das klingt seltsam. Na, wie dem auch sei. Dann ist es eben so.«
Azrael begann der Geduldsfaden zu reißen.
»Sag mir, was du von mir willst.« Er hatte keine Lust auf diese Mätzchen. Da der Seraph nicht antwortete, wandte er sich Jessy zu: »Nun, Jesajah. Du hast mich hierher gebracht. Kannst du mir sagen, was wirklich los ist?« Die Guardian presste die Lippen aufeinander. »Oder willst du es mir nicht sagen?« Azrael zuckte mit den Schultern und machte sich auf zum Gehen.
»Sie wollen, dass sich Aveline auf unsere Seite stellt«, entgegnete sie schnell, sodass der Dunkle Engel in der Bewegung innehielt.
»Ihr wollt Aveline?« Abrupt wirbelte er herum, sodass Jessy erschrak und hastig rückwärts gegen die Stuhllehne rutschte.
»Nun ja. Ja«, beantwortete Seraphiel die Frage, als wäre es das Selbstverständlichste im gesamten Universum.
»Weshalb? Sie ist kein Engel. Ava gehört nicht hierher. Sie hat Dämonenflügel. Ihr würdet ihr nie erlauben, auch nur einen Fuß auf die Obere Ebene zu setzen.«
»Das ist korrekt. Und unter anderen Umständen … Nun, wie uns zu Ohren kam, besitzt dieses Wesen eine Gabe, die unter keinen Umständen der Hölle zufallen darf.«
»Was macht dich so sicher, dass sie das nicht bereits getan hat?«
»Wir wissen, dass es Samael nicht wohlgesonnen ist«, entgegnete Seraphiel mit einer Leichtigkeit in der Stimme, die über jeden Zweifel erhaben war. »Zumindest noch nicht. Das hat es schon mehrmals bewiesen. Und er hasst es. Er will doch nur seine Seele besitzen«, fuhr der Seraph im Plauderton fort, als säße er bei einem Kaffeekränzchen.
»Du solltest aufhören, Aveline als ein Ding zu betrachten. Sie ist als Mensch geboren worden. Eine junge Frau, die versucht herauszufinden, was eine unbekannte Macht ihr angetan hat. Weder Samael noch ich konnten in dieser Hinsicht Erfolge erzielen. Wir tappen wohl alle im Dunkeln.«
»Stell dich nicht dümmer, als du bist, Azrael.«
Die Lippen des Dunklen Engels verwandelten sich in einen schmalen Streifen. Er war nicht gekommen, um sich beleidigen zu lassen.
»Es ist immer wieder das alte Spiel zwischen Gut und Böse«, beschwichtigte Seraphiel mit erhobenen Händen. »Bisher waren die Machtverhältnisse ausgeglichen. Nun gibt es scheinbar ein neues Zünglein …« Seraphiel legte die Stirn in Falten.
»An der Waage«, lenkte Jessy leise ein.
Der Engel schenkte der Guardian ein gut gemeintes Nicken.
»Richtig. Und das heißt Aveline Black.« Der Engel konnte den bitteren Unterton nicht verhindern, als er Avelines Namen aussprach.
Und das scheint euch ziemliche Kopfschmerzen zu bereiten, schoss es dem Dunklen Engel durch den Kopf. Er hatte keine Intension, seinen Gedanken auch laut zu äußern. Noch immer trug er dem Seraph nach, was der ihm damals angetan hatte. Seinetwegen war er zum Schwarzen Engel geworden. Daraus folgte, dass man ihn aus dem Himmel vertrieben und letztendlich verbannt hatte.
»Aveline hat bewiesen, dass sie auf sich selbst aufpassen kann. Schließlich ist sie noch am Leben. Das können nicht viele von sich behaupten, die Samael begegnet sind.« Azrael verging die Lust an diesem Gespräch, das eher einer Farce glich. Er wollte nur noch weg. Und Aveline vergessen.
»Wenn du das selbst glaubst, Azrael, was du da von dir gibst, dann brauchst du dir ja keine Gedanken zu machen, sollte sie Samael in die Hände fallen.«
Azraels Unterkiefer mahlte.
»Und ja, es bereitet uns Kopfzerbrechen«, bestätigte Seraphiel den Gedanken des Dunklen Engels. Der Engel wusste um die Gefahr, die von der Verschiebung der Machtverhältnisse ausging. Allein der jetzige Zustand kam bereits einer Katastrophe nahe. Zudem kannte er Azrael und dessen Fähigkeiten. All die Jahrhunderte über hatte er den Dunklen Engel nie aus den Augen verloren.
»Sie liebt dich«, erklang es wie ein himmlischer Chor aus Jessys und Seraphiels Mund.
Langsam gingen dem Seraph die Gründe aus, mit denen er den gefallenen Engel überzeugte, für die Obere Ebene einzustehen.
Jessy hingegen wollte alles tun, damit ihr ehemaliger Schützling nicht doch noch dem Höllendämon in die Hände fiel. Bereits einmal hatte sie gegen Samael verloren. Ihre Strafe: Degradierung zum Schutzengel Zweiter Klasse.
»Und du liebst sie, Azrael. Das weiß ich«, murmelte Jessy.
»Dieses frohlockende Dasein hat euch den Verstand geraubt«, schnaubte der gefallene Engel.
Jessy rutschte vom Stuhl herunter. Das alles war zu aufregend für sie. Entschlossen ging sie auf Azrael zu und nahm seine Hand.
Azrael schaute hinunter. Er hatte nichts gegen Jesajah. Sie machte nur ihren Job. Und in seinen Augen machte sie ihn gut. Sie hatte ihre Existenz für Aveline geopfert. Dazu sind Schutzengel auserkoren. Ohne Jesajah wäre Avelines Seele längst für immer in Samaels Reich verbannt worden und es hätte keine Möglichkeit gegeben, sie zu retten. Wenigstens war es ihm gestattet gewesen, etwas Zeit mit ihr zu verbringen. Anfangs konnte Azrael nicht ahnen, worauf er sich einlassen würde, sobald er wieder die Obere Ebene betrat. Das Gespräch erschien ihm mehr als suspekt. Zudem war er unentschlossen, ob er Seraphiel Glauben schenken sollte. Die Triade hatte ihre eigenen Kampfengel. Wozu brauchten sie ihn?
Seraphiels Licht leuchtete kurz intensiver auf.
»Nun, wir brauchen dich, da du der einzige Engel bist, der Zugang zur Unterwelt hat. Samael ist dein …« Er überlegte. »Tja, was ist er eigentlich?« Das Licht um den Engel verwandelte sich in einen schmalen Streifen, sodass seine Statur klarer zu erkennen war.
»Azrael?«, flüsterte Jessy, um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Er schaute sie an. »Ich war unten.«
Er kniete sich zu Jessy hinunter.
»Was willst du mir sagen, Jesajah?«
Ihr Blick schweifte zum Licht, dann zu Azrael, während sie die Lippen zusammenpresste.
Azrael sah mit Sorge, wie der Schutzengel mit sich kämpfte. Er gewährte ihr die Zeit, die sie benötigte.
Verstohlen blickte sie nach unten.
»Ich stand vor dem Höllentor«, wisperte sie.
Der Dunkle Engel kniff die Augenbrauen zusammen.
»Was hattest du dort zu suchen?«
Jessy hatte nie an Azraels Unschuld gezweifelt. Sie vertraute ihm. Seine Überraschung gab Jessy den Anstoß, den sie brauchte, um fortzufahren.
»Weißt du, das war damals ziemlich blöd gelaufen. Ich habe einen Schutzengel ins Jenseits befördert.«
Die Augenbrauen des Dunklen Engels schossen nach oben.
»Du hast …?« Er brachte den Satz nicht zu Ende, da Jessy ihm ins Wort fiel.
»Goliath und ich waren Gefangene bei Sarina. Sie sammelt Schutzengel … und … und … andere seltene Geschöpfe«, entgegnete Jessy schnell. »Ich sah keinen anderen Ausweg. Dabei hat auch Goliath mich …« Ihr Ausdruck wurde traurig. »Na, ja, und zur Strafe wurde meine Seele als Geisel zu Lilith gebracht. Damit ich sie wiederbekomme, sollte ich dich dazu überreden, diesen Auftrag anzunehmen.«
Azrael spürte, wie eine Wut in ihm aufstieg. Wer einmal in den Fängen der Hölle landete, konnte nicht mehr gerettet werden.
»Ist das wahr, Jesajah?« Er konnte nicht fassen, wie die Erzengel ihre Macht missbrauchten. Nun zogen sie schon die Schutzengel in den Dreck, nur, um sich selbst nicht die Flügel zu beschmutzen.
Sie schaute ihn aus ihren meerblauen Augen an.
»Ich weiß, es war nicht richtig.« Sie knetete ihre Finger. »Aber ich wusste keinen anderen Ausweg.«
Ihr Geständnis ließ in Azrael ein Gefühl wach werden, von dem er glaubte, es längst vergessen zu haben: Mitleid.
»Hast du einen Schritt direkt in Samaels Reich gemacht?« Verstohlen blickte Jessy auf den Boden. »Bist du durch das Tor geschritten?«
Der Nachdruck in seiner Frage ließ Jessy den Kopf schütteln, sodass ihre Locken hin und her flogen.
»Das ist immerhin schon mal was Positives«, zischte der Dunkle Engel dem Seraph zu, der jedoch keine Regung zeigte. »Und deine Seele ist dort noch gefangen?« Azrael wusste nur zu gut, was das für Folgen hatte.
Die Guardian nickte langsam. Jetzt, wo Azrael es aussprach, wurde ihr bewusst, in welcher misslichen Lage sie sich befand.
»Ich bin hier und meine Seele ist noch bei Lilith.« Ohne Seele war sie kein Schutzengel mehr. Sie fühlte eine Hand an ihrem Gesicht.
Mit dem Daumen wischte der Dunkle Engel ihr die Träne von der Wange.
»Was haben sie dir nur angetan, Jessy?«
Es war das erste Mal, dass Azrael sie mit ihrem Menschennamen angesprochen hatte.
Jessy schluchzte.
Aveline und Samael starrten in den dunklen Himmel. Nur der Jagdmond erhellte den Platz.
Erst einmal mussten beide das Geschehene verarbeiten.
In Aveline zog sich alles zusammen. Ihr Magen krampfte so heftig, dass ihr übel wurde. Sie wollte sich übergeben, konnte es aber nicht. Ihr heftiges Husten unterbrach Samaels Gedanken.
Der Dämon beobachtete, wie sie auf allen vieren von ihm wegkroch.
»Hiergeblieben, Nagual!« Seine Stimme war frostig, sodass Aveline kurz eine Gänsehaut überzog. Diesen schneidenden Tonfall hatte sie noch nie von ihm gehört. Den kannte sie bisher nur von Azrael, wenn der keinen Hehl aus seiner Enttäuschung machte.
Für Aveline stand es außer Frage, jemals eine Freundschaft mit Samael zu unterhalten. Das wusste sie bereits, seit sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Die Zugfahrt von Inverness nach London kam ihr wieder in den Sinn. Samaels stetige Bemühungen, ihre Seele für sich zu gewinnen. Der Dämon lechzte förmlich danach. Eine Seele bestehend aus zwei Wesen, wie sie verschiedener nicht sein konnten. Hätte Samael die Möglichkeit gehabt, diesen Schatz sein Eigen zu nennen, niemand wäre mehr in der Lage gewesen, ihn zu stoppen. Er wäre mächtiger als alle Wesen des Himmels und der Hölle zusammen.
Aveline hielt inne. Ihr gesamter Körper schien in einer Autopresse gefangen, als sie versuchte, sich aufzurappeln. Jede kleinste Bewegung schmerzte. Ein leises Stöhnen entschlüpfte ihr. Er sollte es nicht mitbekommen. Also mobilisierte Aveline ihre letzten Kräfte, bevor sie sich sehr langsam umdrehte.
Es war nur ein kurzer Anflug, als sie spürte, wie eine Sicherheit in ihr aufkeimte. Ihre Atmung verlangsamte sich. Woher das plötzliche Gefühl kam, konnte sie sich nicht erklären. Und was immer der Dämon mit ihr vorhatte, sie würde ihm entkommen können. Zumindest hoffte sie es.
Wortlos taxierte einer den anderen.
»Was ist hier gerade geschehen?«, rief Ames, der sich kurzerhand entschlossen hatte, doch noch zu bleiben. Die Mondelfen befanden sich in einem Ausnahmezustand. Viele von ihnen waren verängstigt, da sie noch immer nicht realisierten, was hier gerade vor sich ging. Ames war sich der Situation bewusst. Er konnte nicht anders, als ihnen beizustehen, obwohl er den Titel König von Amesbury nicht mehr trug.
Samael erhob sich, dabei klopfte er seine schmerzenden Glieder aus. »Ah. Das tut gut.« Genüsslich überstreckte er den Rücken, ohne Aveline dabei aus den Augen zu lassen.
Sie wankte. Die Folge des Energieschlags, der noch immer an ihren Kräften zehrte.
Ames eilte Aveline zu Hilfe. »Geht es dir gut, Lady Aveline?«
Sie überlegte kurz. »Ich denke schon«, entgegnete sie, als sie in die besorgte Miene des Bogenschützens blickte. Mit den Händen wischte sie sich die Haare aus dem Gesicht.
»Kannst du allein gehen?«
Aveline nickte schwach. Ames wirkte vorerst beruhigt.
»Nun, Samael, was genau hat dich denn niedergerungen?« Der Bogenschütze schien amüsiert, was dem Dämon gar nicht passte.
»Engelslicht«, spuckte er verdrossen heraus.
Ames hob überrascht die Augenbrauen. »Oh«, sagte er nur.
»Oh«, äffte der Dämon ihn nach. »Genau.«
»Das war also das Licht.« Ames legte den Zeigefinger an die Unterlippe, während er nachdachte. »Ist Azrael … ich meine … Ich sah, wie er ins Licht trat. Ist er nun kein gefallener Engel mehr?«
»Woher soll ich das wissen«, blaffte der Dämon. »Keine Ahnung.« Noch immer behielt Samael Aveline im Blick, die sich am Brunnen abstützen musste, um nicht auf die Knie zu sinken.
Auch sie litt noch immer unter den verheerenden Auswirkungen, nachdem das Licht sie abgewehrt hatte, als sie versuchte, Jessy zu umarmen. Sie verstand nicht, weshalb das passiert war. Sie und Jessy waren beste Freundinnen. Nie hätte sie Jessy ein Leid zufügen können. Weshalb wurde sie so rabiat von ihr weggestoßen? Sie hatte noch nicht einmal eine Chance gehabt, überhaupt einen Meter an den Schutzengel heranzukommen. Der Umstand, dass sie nicht die Einzige war, die darunter litt, spendete ihr nur wenig Trost.
Du musst nicht vor ihm weglaufen, sprach die Stimme in ihrem Kopf. Du hast mich. Wir sind jetzt vereint.
Mit dem Handrücken fuhr sich Aveline über die Stirn.
Bedeutet das, ich kann mich überall hin teleportieren?, versuchte sie, die Stimme mit der Kraft der Gedanken zu erreichen.
Teleportieren? Dieses Wort ist mir nicht bekannt. Aber gemeinsam können wir in andere Dimensionen reisen, Ort und Stelle bleiben dieselben.
Obwohl Aveline nicht wusste, ob die innere Stimme es mitbekam, nickte sie, als Zeichen, dass sie es verstanden hatte.
Bewegte sie sich in einer anderen Dimension vom Fleck und wollte dann wieder auf die Erde, dann würde sie auch an einem anderen Ort auf der Erde erscheinen. Blieb sie hier und trat die Rückreise an, würde sie wieder neben dem Brunnen auftauchen.
In der Zwischenzeit hatten einige der Mondelfen das Feuer unter Kontrolle gebracht und gelöscht. Nur noch ein paar kleinere Brandherde loderten in der Ferne, um die sich zwei Diener kümmerten. Das Schloss von Pentref Mawre hatte zwar einigen Schaden davongetragen, doch es würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, bis alles repariert und Mynydd Uchel wieder in alter Schönheit erstrahlte. Nur der Thronsaal, mit seinen aufwendigen Ornamenten, würde von den Arbeitern mehr abverlangen, um seinen Prunk wiederzuerlangen.
Batukhan, der tyrannische Herrscher, hatte Mynydd Uchel verkommen lassen. Nun lösten sich die schaurigen Erinnerungen an seine Herrschaft mit den letzten Rauchschwaden im Nichts auf.
Einige der Mondelfen kamen näher. Unter ihnen befanden sich auch Hede, die Wirtin der hiesigen Taverne, sowie Baladiyya, Batukhans ehemaliger Diener, nun Avelines Vertrauter. Ohne seine Hilfe hätten sie es nie geschafft, den tyrannischen Herrscher zu besiegen.
Ihre Gesichter waren voller Ruß, ebenso die Kleidung. Immer mehr Mondelfen tauchten hinter ihnen auf und versammelten sich in einem gebührenden Abstand um den Brunnen, der sich auf dem Vorplatz des Schlosses befand.
Aveline wirkte kurz verwirrt. In den Gesichtern konnte sie nicht erkennen, ob die Mondelfen ihr freundlich gesinnt waren.
Innerhalb der Menge wurde es unruhig.
»Lady Aveline!«, rief Baladiyya, der sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Das Volk von Pentref Mawre dankt Euch. Wir stehen tief in Eurer Schuld.« Als er vor ihr zum Stehen kam, entdeckte er einige Verletzungen. Sie schienen jedoch nicht lebensgefährlich zu sein.
»Das ist nicht nötig«, winkte sie ab. »Ich habe nur getan, was getan werden musste.« Die Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Der Kampf war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Ihr Unterarm brannte noch immer und wies eine große Wunde auf. Sie wollte nur noch nach Hause. Doch da gab es ein Problem: Sie hatte kein Zuhause mehr. Aveline wusste weder, wohin sie gehörte, noch hatte sie eine Ahnung, wie sie Pentref Mawre verlassen sollte. Das magische Portal war noch immer existent. Doch wie sollte sie es öffnen? Samael vertraute sie nicht. Ob einer der Mondelfen ihr beim Öffnen des Portals helfen würde?
Gut gesprochen, Aveline, flüsterte die Stimme, doch Aveline ignorierte sie. Ihre Gedanken wanderten einen anderen Pfad entlang. Suchten einen Weg, der sie aus dieser Dimension führen würde.
»Wir haben uns beraten. Eure Tat spricht für sich selbst und für Euch. Wir alle«, Baladiyya breitete die Arme aus, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, »sind der Meinung, dass Ihr es verdient habt. Es wäre uns eine Ehre, wenn Ihr unsere neue Königin werden würdet.«
Aveline spürte, wie sich Beklommenheit in ihr regte. Sie wurde nicht zum Teufel gejagt, stattdessen sollte sie über Pentref Mawre herrschen! Das Volk der Mondelfen schien ihr zu vertrauen. Die Sorgen wurden weniger, die Erleichterung ließ sie ausatmen. Dieses Ende hätte sie nie zu träumen gewagt.
»Königin?«, stieß Samael entsetzt aus. »Sie ist eine Diebin! Ihr wollt doch nicht, dass sie bei nächstbester Gelegenheit mit all dem Reichtum aus dem Schloss abhaut?«
Abrupt wurde es still. Alle Augenpaare sahen Aveline an, deren Mund offenstand.
Ein Raunen ging durch die Menge.
»Ist es wahr, Lady Aveline? Seid Ihr eine Diebin?« Aus Baladiyya sprach pure Überraschung.
Aveline richtete sich zu ihrer gesamten Größe auf. So schnell in ihr die Hoffnung erwacht war, so abrupt ließ Samael sie sterben. Es wäre ein Fehler, es ihnen nicht zu sagen, so viel war ihr klar.
In ihren Augen entdeckte Samael den Nachtregenbogen. Unweigerlich ballte er die Hände zu Fäusten. Nun hatte er Gewissheit, dass Nagual einen unzertrennlichen Teil von Aveline bildete. Sie war eins mit der Dimensionswandlerin. Und er hatte es nicht verhindern können. Wut glomm in seinem Antlitz auf, doch er schwieg. Erst einmal musste der Dämon abwarten, ob sich Aveline der Wahrheit stellte. Davon würde ihre weitere Zukunft abhängen. Egal, was sie sagte, wie sie sich aus der Sache herausreden würde, der Dämon war sich sicher: Aveline war dabei, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln.
Samaels Augen wurden schmaler. Wer genau hinsah, konnte darin ein Glimmen entdecken.
Doch der Dämon schien bei den Mondelfen kein Interesse zu wecken.
Stattdessen schauten ein Dutzend Augenpaare Aveline erwartungsvoll an.
Auf dem Platz war es gespenstisch ruhig geworden.
Der Jagdmond schien hell, sodass keine zusätzliche Lichtquelle notwendig war, um den gespannten Ausdruck in jedem einzelnen Gesicht zu erkennen. Die sonst aschgraue Haut der Mondelfen veränderte sich zunehmend in einen cremefarbenen Ton. Sie alle wirkten gesünder, vitaler und noch größer, als sie es sonst waren.
Selbst Sigdum, er war der kleinste Mondelf, überragte Aveline nun um einen Kopf.
Aveline räusperte sich.
»Es ist wahr.« Sie stockte, als ein Raunen durch die Menge zog. »Doch das war auf der Erde.«
»Was ist Erde?«, hörte sie Sigdum fragen.
»Von dort stamme ich her.« Es überraschte sie, dass die Erde hier gänzlich unbekannt war.
»Es ist die Dimension auf der anderen Seite des Brunnenportals. Wir Elfen wirken über deren Mond«, erklärte Ames.
»Aber wie ist sie dann hierhergekommen? Nur Mondelfen können das Portal durchqueren«, bemerkte Hede.
Ein Unbehagen breitete sich innerhalb der Menge aus. Sollten noch mehr Wesen in der Lage sein, das Portal zu durchqueren, könnte es ungeahnte Auswirkungen auf Pentref Mawre und dessen Einwohner haben. Fremde, mit guten Absichten, waren in Pentref Mawre zwar willkommen, doch nur, solange sie sich nicht längerfristig dort aufhielten, oder auf der Durchreise befanden.
Der Bogenschütze hob beschwichtigend die Hände.
»Und magische Wesen«, wurde sie von Ames korrigiert. »Menschen, wie sie auf der Erde leben, haben keine Möglichkeit, das Portal zu passieren. Lady Aveline ist mit Azrael und Samael durch das Portal gereist.« Er wandte sich Samael zu. »Und sie wird nur mit euch gemeinsam Pentref Mawre verlassen.«
Aveline schien die Luft wegzubleiben.
»Du sagst, ich kann entweder mit Azrael oder mit Samael von hier weg?« Ihr Blick traf den von Samael, der hämisch grinste.
Aveline, flüsterte die Stimme im Kopf. Befreie dich von der Angst und überlasse mir das Zepter. Wie schon zuvor.
Aveline schluckte, ihre Lider senkten sich und sie dachte an nichts. Plötzlich spürte sie ein Kribbeln, ihre Beine wollten nachgeben. Mit einem Mal fühlte sich ihr Körper so leicht an, als würde sie fliegen.
»Oh nein! Du machst dich jetzt nicht aus dem Staub!«, hörte sie noch den Dämon brüllen.
Man starrte ihn an, als wäre er irgendein missratenes Wesen. Niemand sprach ein Wort. Alle Anwesenden waren zu sehr schockiert und konnten nicht glauben, dass er es gewagt hatte, sich zu ihnen zu gesellen. Ja, sogar einen Raum mit ihnen zu teilen.
Mit einem Glas Vollmilch in der rechten sowie einem Glas Hafermilch in der linken Hand kam Jessy zurück von der Bar.
»Hier, Azrael. Ich habe dir eine Vollmilch mitgebracht.« Jessy schob langsam das Glas zu ihm. Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber, nahm das Glas mit der Hafermilch und prostete ihm zu.
Er hingegen starrte nur das volle Glas vor ihm auf dem Tisch an.
»Magst du keine Vollmilch?«, fragte sie vorsichtig.
Beide starrten das Glas an.
Der Dunkle Engel, noch immer in Gedanken versunken, und sie, weil sie gerade ihre gesamten Ersparnisse dafür hergegeben hatte. Und das für jemanden, der es wohl noch nicht einmal zu schätzen wusste.
Jessy knabberte an ihrer Unterlippe, während sie mit beiden Händen ihr Glas umfasste.
»Was trinkst du?«, beendete er das Schweigen zwischen ihnen.
»Hafermilch«, antwortete sie zaghaft.
Er schob das Glas Vollmilch zu ihr herüber und nahm ihr das Glas aus der Hand.
Jessy starrte ihn verdutzt an.
»Du solltest deinen Sonderbonus nicht an mich verschwenden, Jesajah.« Er trank ihr Glas leer. Als er es auf dem Tisch abstellte, verzog er die Miene, als hätte er puren Zitronensaft getrunken.
Die Guardian spürte, wie ihr innerlich mulmig wurde. Das hatte sie nun gar nicht erwartet. Erzengel, egal, ob gefallen oder nicht, kümmerte es wenig, was die Schutzengel anging. Jeder hatte seine Aufgabe und somit sein Päckchen zu tragen.
»Woher weißt du …?«
»Woher ich weiß, dass sich Schutzengel Zweiter Klasse Vollmilch eigentlich nicht leisten können?«, unterbrach er sie, ohne dabei beleidigend zu werden. Jessy nickte einmal. »Ich bin zwar seit vielen Jahrhunderten nicht mehr auf der Oberen Ebene gewesen, dennoch habe ich meine Quellen, Jesajah. Und zufällig weiß ich, dass die Bonikarten von euch hart arbeitenden Schutzengeln nicht so gut bestückt sind wie die von jenen, die …« Den letzten Teil des Satzes sprach er so laut aus, dass jeder im Pub es hören konnte und musste. »… sich die Arbeit zu einfach machen.«
Wie bei einem Startschuss wandten sich die anderen Schutzengel im ›Paradise‹ abrupt ab und taten geschäftig.
»Du verurteilst uns niederen Schutzengel nicht?« Sie klang überrascht. Eine Locke rutschte ihr ins Auge, sodass sie blinzeln musste. Jessy schob die Unterlippe vor und versuchte mehrmals, die Strähne wegzupusten. Da es ihr nicht gelang, wischte sie die Locke mit den Fingern hinter das Ohr.
»Weshalb sollte ich? Ihr meistert die wirklich schweren Fälle. Dank euch bekommen Mädchen wie Aveline …« Er hielt kurz inne. Für eine Sekunde schweiften seine Gedanken ab. Schließlich entsann er sich wieder. »… eine Chance.«
Jessy hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Ein leises Schniefen war zu hören, während sie gleichzeitig versuchte, die Tränen wegzublinzeln.
»Es ist schon gut, Jesajah.«
Seine sanfte Stimme entlockte ihr ein Lächeln.
Sie nahm das Glas Vollmilch in beide Hände und trank einen kräftigen Schluck. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Milchbart weg, während ein Seufzer des Wohlwollens aus ihrem Mund entschlüpfte. Das Getränk hatte sofort eine Wirkung auf den Schutzengel und löste ihre Zunge.
»Azrael. Hilfst du mir, damit ich meine Seele zurückbekomme?«
Der Dunkle Engel lehnte sich zurück. Die Stuhllehne drückte sich in seinen Rücken.
Das ›Paradise‹ wurde ausschließlich von Schutzengeln besucht. Dementsprechend war das Mobiliar ausgelegt. Erzengel, Seraphims, Cherubims oder andere Engel der höheren Ordnung sah man hier nur in Ausnahmefällen. Jede Engelart blieb lieber unter sich und besuchte ihren eigenen Pub, um sich ungestört über das göttliche oder irdische Geschehen auszutauschen.
»Erzähl mir die ganze Geschichte, weshalb man deine Seele in Samaels Reich geschickt hat.«
Bevor sie mit ihrer Darlegung begann, plusterte Jessy die Backen auf. Es waren unschöne Erinnerungen, die sie am liebsten vergessen würde.
Jessy begann mit dem Auftrag, Avelines Seele zu retten.
Azrael winkte ab. Daran war er maßgeblich beteiligt gewesen. Den Ausgang kannte er nur zu gut.
Jessy dämpfte ihre Lautstärke, während sie über ihre Gefangenschaft in Pentref Mawre erzählte. Es fiel ihr nicht leicht, ihre eigenen Verfehlungen einem Engel zu offenbaren.
Währenddessen hörte Azrael aufmerksam zu, ohne Jessy zu unterbrechen.
Immer wieder nahm die Guardian einen Schluck, um sich Mut anzutrinken.
Nach einer Stunde war sie fast am Ende der Geschichte angelangt.
»Um fliehen su können, gab es – hicks – nur einen Ausweg, ich musste meinen Partner umbringen. Dafür wurde ich beschtraft und – hicks – meine Seele sum Teufel geschickt. Doch Seraphiel gab mir noch eine Schance. Sofern es mir gelänge, dich für den himmlischen Auftrag zu begeistern, würde – hicks – meine Seele im Gegensug befreit werden. Da ich disch nicht überseugen konnte und du disch abgewendet hast, ist meine Seele nun verdammt«, beendete sie ihre Erzählung, während sie das leere Glas so intensiv anstarrte, als wünschte sie sich, es würde sich von allein wieder füllen.
»Sie haben dich hinters Licht geführt, Jesajah. Fakt ist, sie haben dir zwei schwere Aufgaben übertragen. Es ist nicht nur deine Seele, die gerettet werden muss, auch Aveline sollst du überzeugen, dass sie ihre Magie, von der sie noch nicht einmal weiß, wie sie die Kraft überhaupt anwendet beziehungsweise welche Magie in ihr steckt, in den Dienst der Oberen Ebene stellt«, bemerkte Azrael, der keineswegs erfreut über diesen Umstand schien.
Die beiden schwiegen erneut, während Jessy immer wieder nickte, als würde sie erst jetzt das gesamte Ausmaß ihres Dilemmas begreifen.
Der Schutzengel hatte Durst. Sie wollte einen weiteren Schluck nehmen, doch war, wie ihre Bonikarte, auch das Glas leer. Hörbar sog Jessy die Luft ein.
»Ich benödiche wiiiierklisch … deine Hi… Hi… Hilfe«, begann sie zu lallen.
Azrael stützte den Ellenbogen auf dem Tisch ab. Dann hob er den Finger.
Paul, der Barkeeper schaute zu ihnen hinüber. Der Dunkle Engel zeigte auf Jessys leeres Glas.
Der Barkeeper nickte einmal. Er hatte verstanden, worauf der Dunkle Engel hinauswollte.
»Jesajah, ich habe eine Frage an dich.«
Jessy blickte auf. Ihre meerblauen Augen begannen zu leuchten. Azrael sah so gut aus. Es würde sie mehr als nur erfreuen, wenn ihr ehemaliger Schützling Aveline in ihm einen Gefährten finden würde.
Paul brachte die Vollmilch und stellte sie vor Azrael auf den Tisch. Der gefallene Engel zog eine rote Karte aus der Tasche, die er dem Barkeeper entgegenhielt.
Als dieser die Karte in die Hand nahm, um sie genauer zu begutachten, hob er die Augenbrauen. Sie klemmte zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger, während er zuerst die eine Seite betrachtete, die Karte drehte, ihre andere Seite anschaute, um schließlich mit dem Kopf zu schütteln.
»Die kann ich hier nicht verwenden«, entgegnete er bedauernd. »Die Bonipunkte aus der Hölle zu bekommen, gleicht einer Sisyphusarbeit. Die bezahlen nie, da deren Karten grundsätzlich keine Deckung haben. Höllenkarten sind nicht kreditwürdig, daher nehme ich sie gar nicht erst an«, entschuldigte er sich für die Unannehmlichkeiten. Selbst dann nicht, wenn ein Engel mir das Zahlungsmittel überreicht, fügte er in Gedanken hinzu, da er es nicht wagte, diesen Satz laut auszusprechen.
Azrael blickte ihn durchdringend an.
»Ist schon gut«, winkte er verdrossen ab. »Das Glas geht aufs Haus.« Hastig, als hätte sich das unerwünschte Zahlungsmittel in seine Finger gebrannt, warf er die blutrote Karte auf den Tisch zurück. Kopfschüttelnd verschwand der Barkeeper wieder hinter dem Tresen. Die Maschine ratterte, während seine Stirn Falten schlug. Es war ersichtlich, dass er sich gerade darüber ärgerte, ein Glas seiner besten Vollmilch einfach so verschenkt zu haben.
Der Dunkle Engel schob das Glas zu Jessy hinüber, deren Wangen einen zart rosafarbenen Ton annahmen.
»Hast du auch Whiskey, Barkeeper?«, rief der Dunkle Engel durch den Pub.
Paul öffnete seinen Mund. Dann schüttelte er den Kopf.
»Dies ist ein Pub für Schutzengel. Wir haben Vollmilch, Mandelmilch, Reismilch, Kokosmilch, fettarme Milch, Hafermilch …« Weiter kam er mit seiner Aufzählung nicht, da Azrael die Hand hob, um ihn zu unterbrechen.
»Schon gut«, winkte der unerwünschte Gast genervt ab. »Danke, das reicht.«
Der Barkeeper nickte. »Was darf ich dir sonst bringen?« Paul verdrehte die Augen, denn egal, was der Dunkle Engel bestellte, er würde dafür keinen Penny sehen. Dennoch kam er nicht drumherum, diesen speziellen Gast zu bedienen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass jeder höhere Engel in jeder Bar oder jedem Pub, der von einem Schutzengel betrieben wurde, etwas zu trinken bekam. Ganz besonders dann, wenn er sich in Gesellschaft eines Schutzengels befand.
»Auf jeden Fall keine Milch.« Azrael machte keinen Hehl aus seiner Verstimmung.
Kurz überlegte der Barkeeper. »Dann habe ich leider nichts für dich im Angebot.« Er bedauerte es wirklich, dass seine Auswahl an Getränken nicht umfangreicher war. Die Genehmigung für den Ausschank von Säften lag der Oberen Ebene bereits seit drei Jahrhunderten vor. Obwohl er alle einhundert Jahre nachgefragt hatte, wurde er immer wieder vertröstet. Man sagte ihm, dass sich sein Antrag noch im Prüfungsstadium befände. Man würde sich bei ihm melden, sobald eine Entscheidung getroffen wäre. Für Saftausschank bedurfte es einer Sonderlizenz, denn der Nektar von frisch gepressten Früchten konnte einen Schutzengel zu Blindflügen verleiten. Nur gewissenhaften Barkeepern wurde, nach vorheriger intensivster Prüfung, solch eine Lizenz ausgestellt. Bis es so weit war, konnten viele Jahrhunderte verstreichen.
»Ich warte schon sehr lange auf die Saftausschanklizenz.« Paul ließ die Schultern hängen. Ein Zipfel seines blau-weiß karierten Tuchs berührte kurz den Boden. Er schüttelte es aus und klemmte sich das Stück Stoff hinter seine strahlend weiße Schürze. »Leider habe ich sie noch nicht erhalten«, entschuldigte er sich.
»Dann trinke ich nichts. Danke.« Azrael versuchte, höflich zu bleiben, da ihm klar war, dass den Barkeeper keine Schuld traf. Dennoch hätte der Dunkle Engel jetzt liebend gern etwas Starkes zu sich genommen.
Die Tür ging auf.
»Eine Hafermilch, Paul«, quakte eine Stimme laut durch den Pub.
Jessy riss die Augen auf.
»Gooooliath?« Der neue Gast schaute Jessy aus müden Augen an. »Du sssiiiiehst ja sum Füüürchten aus.« Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, bereute sie ihre Worte sogleich. Jessy hielt kurzen Blickkontakt mit Azrael. »Willssst du dich su uns setzen?« Da der Dunkle Engel nicht reagiert hatte, ging sie von dessen Einverständnis aus.
Goliath schaute sie überrascht an.
Jessy entdeckte in seinem Gesicht dunkle Augenringe. Auch die Farbe seiner Haut wirkte blasser als sonst.
Schwerfällig setzte sich der männliche Guardian zu ihnen an den Tisch, legte die Ellenbogen ab, um den Kopf auf den Händen abzustützen, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet.
»Wasss isss passiert?« Jessy hob ihr Glas als Zeichen, dass Paul ihnen eine weitere Vollmilch bringen sollte.
Der Barkeeper schüttelte den Kopf, drehte sich um und spülte ein paar Gläser ab, ohne ihnen weitere Aufmerksamkeit zu schenken.
Sie konnte nicht glauben, was hier gerade vor sich ging. Vorsichtig umschloss ihre Hand Goliaths Handgelenk.
»Ersssähl mir, wasss passiert ist.«
Ein tiefer Seufzer entsprang Goliaths Brust, bevor er den Kopf hob und Jessy ansah.
Noch nie war sie so nett zu ihm gewesen. Immer wieder war er ihren Attacken ausgesetzt, war sogar von ihr umgebracht worden. Bis vor Kurzem hatte er nicht verstanden, weshalb Jessy das getan hatte. Erst im Nachhinein wurde ihm klar, dass sie ihn, und sich selbst, aus einem ewigen Gefängnis befreit hatte. Das Resultat war dennoch niederschmetternd, denn er scheiterte an seinem Auftrag. Er hatte auf der ganzen Linie versagt. Das kam ihm teuer zu stehen.
»Wie hast du das nur all die Jahrhunderte geschafft?« Die Worte kamen ihm nur schwerfällig über die Lippen.
»Wasss gessschafft?« Jessys Stirn legte sich in Falten. Erneut pustete sie die Locke aus ihrem Gesicht. Nach drei Fehlversuchen strich sie die Haarsträhne genervt über ihr Haupt. Dabei verlor sie fast das Gleichgewicht. Die Guardian ruderte heftig mit den Armen, um nicht vom Stuhl zu fallen.
Azrael kam ihr zu Hilfe, indem er seine Hand an ihren Rücken legte.
Jessy grinste schief. »Danke, schöööner Engel«, zwinkerte sie ihm zu.
Trotz seiner Niedergeschlagenheit beobachtete der männliche Schutzengel Jessy aufmerksam. Die letzten Wochen waren für ihn alles andere als ein Zuckerschlecken gewesen.
»Sag schon.« Goliath winkte dem Barkeeper mit der Hand zu, da er noch immer auf die Hafermilch wartete, doch Paul war zu sehr in seiner Arbeit vertieft, um ihn zu beachten. »Wie hast du es gemeistert, auf mehrere Schützlinge gleichzeitig achtzugeben?«
»Wir Mädchen …«, sie wiegte den Oberkörper hin und her, »… haben nun mal ein ausssgeprägtesss Orjanissatschionstalent.« Voller Stolz über diese Tatsache hob sie Brust. Da es keiner ihrer männlichen Begleiter beachtete, sackte ihr Oberkörper wieder in sich zusammen.
Goliath nickte geistesabwesend. Er wirkte geknickt, total am Boden zerstört. So ruhig und in sich gekehrt hatte Jessy ihren selbst ernannten Erzfeind noch nie erlebt. Ihre Neugierde war geweckt, sodass sie vom Stuhl aufstehen musste, um ein paar Schritte zu gehen.
Azrael war der Ansicht, dass er die beiden Schutzengel allein lassen konnte. Als er Anstalten machte, sich von dem kleinen Stuhl zu erheben, torkelte Jessy gegen sein Bein.
»Bidde, Azrael. Geh noch nich.« Ihre Arme umklammerten seinen Unterschenkel.
Goliath blickte auf. Er hatte dem Dunklen Engel noch gar keine Beachtung geschenkt. Zu sehr war er mit sich selbst und seinen Sorgen beschäftigt.
»Du bist … ich meine … bist du wirklich … der …?«
»Natürlich isss er esss«, fuhr Jessy ihm zähneknirschend ins Wort. »Wer sssollte er denn sssonst sssein? Wie ein Schuuutzengel sieht er ja wohl nicht ausss.« Ihr Finger deutete auf den Erzengel, der es vorzog, sich aus der kleinen Auseinandersetzung rauszuhalten.
Die Arbeit zwischen Erzengeln und Schutzengeln war klar definiert. Er würde sich nicht einmischen. Azraels linker Mundwinkel schob sich flüchtig nach oben.
Goliath konnte nicht deuten, ob es ein Lächeln oder Verachtung ausdrücken sollte. Er schluckte kurz, bevor er fortfuhr:
»Und was macht ein Engel in einem Pub für Schutzengel?« Die Situation war so ungewöhnlich, dass nun seine Neugierde siegte und ihn mutig machte.
»Er sssoll …« Weiter kam Jessy nicht, da Azrael sie unterbrach:
»Ich wollte etwas trinken. Doch hier gibt es nichts außer Milch.« Der Dunkle Engel straffte die Schultern. Er hatte bereits genug Zeit im ›Paradise‹ verbracht und wollte gehen.
Goliath hatte eine Idee. Dafür konnte er die Hilfe eines Erzengels gut gebrauchen. Er hob seine kleinen fleischigen Hände und hielt sie wie einen Trichter vor den Mund. Keiner der anderen Anwesenden sollte mitbekommen oder es gar von seinen Lippen ablesen, was er zu sagen hatte.
»Ich habe ein gutes Tröpfchen bei mir zu Hause. Dort können wir ungestört reden«, flüsterte er.
Immer wieder starrte Jessy zwischen Azrael und Goliath hin und her. Es war unfassbar! War dieser Goliath gerade dabei, Azrael für eigene Zwecke einzuspannen?
»Sach mal, schpinnst du?«, keifte sie.
Azrael machte einen Schritt rückwärts, sodass Jessy unerwartet auf ihren Allerwertesten plumpste.
Plötzlich wurde es im Pub ruhig. Alle Augenpaare starrten zur Gruppe hinüber. Sogar Paul hatte das Trocknen der Gläser eingestellt. Der Barkeeper hoffte, dass es keine Schlägerei geben würde. Dann konnte er die Erlaubnis für einen Saftausschank definitiv abschreiben.
Als er sah, wie Azrael einen Schritt tat und dabei den Stuhl umstieß, rannte er sofort auf die Gruppe zu.
»Jessy! Ich habe eine Ausnahme gemacht, als ich dir erlaubte, einen gefallenen Engel mit in meinen Pub zu bringen.« Der Barkeeper war nur schwer aus der Ruhe zu bringen, doch dieses Trio hatte es geschafft, dass seine Nerven zum Zerreißen dünn waren. »Du weißt selbst, dass eigentlich nur Schutzengel im ›Paradise‹ Zutritt haben.« Er war nun bei der Gruppe angekommen. Wie ein Fahnenschwinger wedelte sein Putzlappen durch die Luft. »Erzengel sind hier nur in Ausnahmefällen geduldet.«
»Beruhige dich, Barkeeper«, entgegnete Azrael seelenruhig. »Der Stuhl ist beim Aufstehen nur aus Versehen umgekippt. Das Sitzen darauf wurde mir zu unbequem.« Er hob den niedrigen Stuhl auf und schob ihn lässig unter den Tisch. »Lass uns gehen, Goliath.«
Goliath ging voran. An der niedrigen Tür blieb Azrael stehen und schaute sich noch einmal um.
Jessy hatte sich aufgerafft. Wankend hielt sie sich am Tisch fest, während sie fassungslos den beiden Engeln hinterher gaffte. Ohne es verhindern zu können, sammelten sich Tränen der Wut in ihren Augenwinkeln. Der Dunkle Engel war gerade dabei, sich mit ihrem Erzfeind Goliath zu verbünden. Man ließ sie achtlos wie ein leeres Glas zurück. Dabei war sie die Erste gewesen, die den gefallenen Engel um Hilfe gebeten hatte. Ohne seine Unterstützung würde ihre Seele in der ewigen Verdammnis weilen! Nicht einmal die kleinste Chance auf eine Rettung wäre in Sicht und der Schutzengel Jesajah bald Geschichte. In Gedanken versunken malte sich Jessy ihr Schicksal in den dunkelsten Farben aus.
»Kommst du, Jesajah?«, fragte Azrael, dem nichts lieber war, als endlich diesen Pub zu verlassen.
Paul wollte gerade den leer gewordenen Tisch abwischen, als er, wie durch ein Versehen, Jessy anstupste. Er wollte sie nicht loswerden, dafür mochte er Jessy zu gern. Sie tat immer ihr Bestes, doch oftmals wurde sie vom Pech verfolgt. Paul hatte Mitleid mit ihr. Erleichtert bemerkte er, wie seine Berührung den weiblichen Schutzengel aus der Lethargie holte.
Jessy blinzelte. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich nicht verhört hatte. Als sie in die Gesichter von Azrael und Goliath blickte, wischte sie sich mit dem Unterarm über die Augen.
»Ja. Natüüürlisch!«, rief sie, während sie zum Ausgang torkelte.
Das Gefühl, als würde sie mit dem Arm voran durch einen Flaschenhals gezerrt werden, verursachte einen heftigen Schmerz in ihrem rechten Handgelenk. Etwas hielt sie von ihrem Vorhaben zurück.
Nein!, schrie die Stimme in ihrem Kopf.
Ohne Vorwarnung wurde ihr Körper heftig durchgeschüttelt, sodass Aveline ebenfalls aufschrie. Sie bemerkte noch nicht einmal, wie ihr Körper auf den Steinen aufschlug. Keuchend rappelte sie sich hoch.
»Was tust du da, Samael?«, rief Ames, der ihr zu Hilfe eilte.
Samael wirbelte herum. »Bleib, wo du bist«, knurrte der Dämon. »Bleibt alle, wo ihr seid!«, brüllte er die umstehenden Mondelfen an. »Ihr habt keine Ahnung, wozu dieses Wesen imstande ist. Sie ist gefährlich. Durch sie wurden Engel zu Fall gebracht!«
Die Mondelfen traten einige Schritte zurück. Samaels Ansprache säte Zweifel unter den Anwesenden. Und Angst.
Niemand kannte Aveline besser als die Männer, die mit ihr nach Pentref Mawre gekommen waren.
»Das ist doch Unsinn, Samael«, versuchte Ames, Herr über die Situation zu werden. »Ich war mit Lady Aveline …«
»Du kennst sie nicht so gut wie ich«, wurde er von Samael barsch angefahren. »Und schon gar nicht das Wesen, das Aveline in sich trägt.«
Ein Raunen ging durch die Reihe.
»Sie hat dafür gesorgt«, sein Finger zeigte anklagend auf
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Texte: Kim Rylee - Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches - auch auszugsweise - sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
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Lektorat: Korrektorat: worttaten.de
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2019
ISBN: 978-3-7487-2263-2
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