Cover

Wiegenfest

Rosalies Wangen waren prall gefüllt.

»Und vergiss nicht, dir etwas zu wünschen!«, erinnerte sie ihre beste Freundin Candela. Deren Stimme zitterte vor Aufregung, obwohl es nicht ihr Geburtstag war, der heute groß gefeiert wurde.

Die gesamte Familie und viele Freunde aus der Nachbarschaft hatten sich um den Tisch versammelt. Auch Duena, Rosalies Lieblingstante, kehrte extra von einer Geschäftsreise aus Südamerika zurück, um diesen geschichtsträchtigen Geburtstag mit ihrer Nichte zu feiern. Sie alle warteten gespannt, ob Rosalie es schaffen würde, den traditionellen Geburtstagskuchen nicht mit Kerzenwachs zu überdecken – und somit die süße Sahne darauf ungenießbar zu machen.

Rosalie schloss die Augen, während sie im Gedanken ihren Wunsch visualisierte. Das Bildnis eines Jungen tauchte auf: Ramiro. Wie gern würde sie ihn für immer an ihrer Seite wissen. Vor Aufregung schlug ihr das Herz bis zum Hals.

Heute war ihr dreizehnter Geburtstag – und sie nun endlich ein Teenager! Sie war vierundzwanzig Tage älter als Candela, die ebenfalls ihrem eigenen Wiegenfest entgegenfieberte. Die beiden Freundinnen standen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie schlugen ein neues Kapitel in ihrem Leben auf.

Rosalies Brustkorb hob sich, gleichzeitig spitzte sie die vollen Lippen. Noch während sie die Luft aus der Lunge blies, riss Rosalie panisch die Augen auf.

Alles geschah blitzschnell.

Das elegant gesteckte rabenschwarze Haar löste sich. Die darin eingearbeiteten Perlen wirkten wie Pistolenkugeln, während sie wie vom Orkan getrieben durch die Gegend schossen. Ihre zarte Gestalt hatte nicht den Hauch einer Chance, als die Druckwelle das Geburtstagskind und die Gäste erfasste. Diverse Körper flogen unkontrolliert an ihr vorbei, als wären sie leicht wie Federn. Sie vermischten sich mit Schreien, Autos, Mülltonnen, Haustüren, Unrat, einem quiekenden Schwein und Staub.

Rosalie ächzte, als sie rücklings gegen einen Baum geschleudert wurde, dessen abstehender Ast sich wie eine Lanze durch ihren zierlichen Oberkörper bohrte.
Den Feuersturm mit seinen alles verschlingenden Flammen bekam Rosalie nicht mehr mit.

Chapter 1

 

Die Verhandlung

»Wie lautet das Urteil?« Der Richter stützte sich mit den Ellenbogen auf dem imposanten vier Meter langen Richtertisch ab, dabei legte er die Fingerspitzen der Hände aneinander. Langsam drehte er den Kopf nach rechts. Sein energischer Ausdruck traf jeden der drei Geschworenen, dabei hielt Richter Oberon den Blick ganze fünf Sekunden jedes einzelnen Augenpaares fest.

Den beiden Männern und der Frau war die Anspannung anzusehen. Keiner von ihnen rührte sich, als wären sie mit Kleister am Platz fixiert worden. Der Jüngste von ihnen senkte das Durchschnittsalter gewaltig: Er war fünfundzwanzig. Der andere Mann zählte um die sechzig. Dynamisch, dennoch voller Ehrfurcht, erhoben sich die beiden Männer. Die Frau folgte ihrem Beispiel, jedoch langsamer als die zwei Beisitzer. Dabei stützte sie die Hand auf dem Knauf ihres Gehstocks ab. Knöchrige Finger sowie eine fast ledrige, mit Altersflecken übersäte Haut, ließen ihr hohes Alter erahnen.

»Schuldig«, sagte der Ältere mit leichtem Bauchansatz bestimmt, sodass ein Raunen durch die Reihen wehte. Der Geschworene Nummer 1 schaute verächtlich zum kleinen viereckigen Tisch hinüber, der sich in der Mitte des Raumes befand, an dem ein Häufchen Elend, gekleidet im gelben Overall, saß.

Die Angeklagte starrte unentwegt auf ihre Hände, die in Handschellen steckten.

»Schuldig!« Die Stimme der zweiten Geschworenen überschlug sich, als sie ihre Entscheidung ausspuckte. Das gummierte Stockende traf mit einem dumpfen Laut auf den Boden. Dabei löste sich eine graue Strähne aus ihrem strengen Dutt.

Eine Pause entstand, sodass der gesamte Saal den Atem anzuhalten schien.

Das Schweigen des Geschworenen Nummer 3 ließ die Angeklagte schüchtern aufsehen. Ihre Blicke trafen sich und sie schluckte. Kurz schien ein Funken Hoffnung in ihren traurigen Augen aufzuleuchten.

Hält er mich für unschuldig? Die Angeklagte wagte es kaum zu atmen, so unwirklich erschien ihr die Situation.

»Nun, Geschworener Nummer 3?« Der Richter mahnte im strengen Tonfall, während er sich gleichzeitig über den Richtertisch vorbeugte. »Wie lautet Ihr Urteil?« Langsam wischte seine rechte Hand über die glatte Oberfläche zum Richterhammer. Während er auf das dritte Urteil wartete, schob er mit einem kratzenden Geräusch den Stift zur Seite, damit der nicht herunterrollte, sobald er das Dienstwerkzeug benutzte.

Der junge Mann räusperte sich.

»Geschworener Nummer 3!« Ungeduld gesellte sich in die Tonlage des Richters, dessen Miene sich zusehends verfinsterte.

Der junge Mann atmete einmal tief ein und hielt den Atem an. Meine Entscheidung würde die Urteilsvollstreckung beschleunigen oder der Angeklagten vielleicht etwas Aufschub bescheren, dachte er. Doch was würde es ihr nützen? Etwas in ihm sträubte sich. Er hatte den beiden anderen Geschworenen zwar versichert, dass das Urteil einstimmig ausfallen würde, dennoch, die innere Stimme sagte ihm, dass es nicht rechtens war, sich ihnen anzuschließen. Geschworener Nummer 3 war bewusst: Er konnte das Unausweichliche nicht verhindern. Nun nicht mehr, seit die beiden anderen Geschworenen ihn mit ihrem Urteil überstimmt hatten.

Aus diesem Grund wohnten einem Prozess immer drei Geschworene bei. Nie mehr, nie weniger. So wurde gewährleistet, dass es stets zu einem Urteil kam.

»Nicht schuldig«, kam es zögernd über seine Lippen.

Verblüfft schaute die Angeklagte zu ihm hinüber. Er wich ihrem Blick aus.

Ihr fiel ein dunkler Fleck unter seinem linken Auge auf. Sie vermutete ein Grübchen, doch sicher war sie sich nicht. Dafür stand er zu weit von ihr entfernt.

Zuerst hörte man nur Gemurmel, doch das währte nicht lang. Der Geräuschpegel im Saal schwoll zu einem Grollen an, wurde so laut, als fegte ein Hurrikan durch die Reihen.

»Er hat recht! Das dürft ihr nicht!«, schrie ein Schaulustiger mutig über den Tumult hinweg. Kurz darauf sprang der Besucher auf die Zuschauerbank. Er war einer der wenigen, dem das Glück bei der Lotterie hold gewesen war. Seine Nummer wurde gezogen, mit der er sich einen Platz für dieses besondere Ereignis sicherte.

Sichtlich erleichtert, dass er mit dieser Meinung nicht allein stand, durchschweifte Geschworener Nummer 3s Blick die Menge, bis er den Zwischenrufer entdeckte.
Aufgeregt hüpfte der schlaksige Mann auf der Bank herum, um sich Gehör zu verschaffen.

»Sie ist jung! Und wie wir wissen, noch rein!«
Zwei der acht Saalwachen bahnten sich ihren Weg zur Quelle der Ruhestörung, packten den Unruhestifter an den Oberarmen. Verwünschungen gemeinsam mit lautstarken Beleidigungen der anderen Zuschauer folgten ihnen, während sie den Mann aus dem Saal schleiften.

Nun herrschte Chaos.

Richter Herald Oberon ließ seinen finsteren Blick durch die Zuschauermenge schweifen.

»R-u-h-e!«, rief der Richter mehrmals. Er dehnte die Buchstaben.

Die Arme der Angeklagten sanken leblos auf den Schoß, während sie ihren Kopf den Zuschauern zuwandte. Ihr schien der Aufruhr eher Angst zu machen. So viele Menschen waren gekommen, um ihrer Verhandlung beizuwohnen. Diese Sensationslust erweckte in ihr Unbehagen. Wie sollte sie darauf reagieren? Und was konnte sie tun, wenn die Meute sich auf sie stürzte? Während der männliche Anteil der Zuschauer sich für sie aussprach, warfen die Frauen ihr eher zornige Blicke zu. Aufmerksamkeit dieser Größenordnung war sie nicht gewohnt. Die Angeklagte hielt es für das Beste, einfach nur da zu sitzen und abzuwarten.

Zwei weitere Wachen, bewaffnet mit Knüppeln und Elektroschockern, standen kaum zwei Meter hinter ihr. Das Durcheinander konnte die Ordnungshüter nicht aus der Ruhe bringen. Darauf waren sie vorbereitet worden. Ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich der Angeklagten.

Die Obrigkeit hatte mit Ausschreitungen gerechnet. Aus diesem Grund war die Verhandlung in einem kleineren Raum abgehalten worden, damit weniger Zuschauer am Verfahren teilnehmen konnten.

Nicht anders erging es den Pressevertretern, die zusätzlich an der kurzen Leine gehalten wurden. Filmaufnahmen waren aufs strengste untersagt. Missachtungen mit einer Freiheitsstrafe geahndet, die ihresgleichen suchte. Was viel Zündstoff barg. Wenn überhaupt, durfte ein Diktiergerät genutzt werden. Immerhin porträtierte ein talentierter Zeichner die Angeklagte, die Geschworenen, den Staatsanwalt und den Richter, damit der Akte etwas Bildmaterial der Verhandlung des Jahrhunderts beigefügt werden konnte.

»Ruhe! Oder ich lasse den Saal sofort räumen!« Eine letzte Warnung des Richters, die er unverzüglich umsetzen würde, sollte die Meute seiner Anordnung nicht direkt Folge leisten.

Verzweifelt schüttelte das Mädchen den Kopf.

Zwei der drei Geschworenen glauben, dass ich eine Mörderin bin, dachte sie. Sie konnte nicht fassen, was hier gerade geschah.
Langsam ebbte das Getöse der Zuschauer ab.

»Angeklagte, erheben Sie sich«, forderte der Richter die junge Frau auf. Seine prägnante Stimme übertönte die Lautstärke im Gerichtssaal fast mühelos. Noch einmal versicherte sich Richter Oberon, ob ihm auch die ungeteilte Aufmerksamkeit zuteilwürde. Er ließ seine Augen durch den Saal schweifen und wartete, bis niemand es mehr wagte, auch nur zu flüstern.

Sie konnte das Zittern ihrer Knie nicht unterbinden, während gleichzeitig alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, stützte sie sich mit den Handflächen auf der Tischplatte ab. Dabei fielen ein paar ihrer braunen Locken über die Schultern.

»Die Angeklagte Addy von Blum ist mit zwei Stimmen zu eins für schuldig befunden worden. Das Urteil lautet wie folgt ...« Der Kiefer des Richters begann zu mahlen, seine Zähne knirschten.

»Addy von Blum! In diesen besonderen Fall, der seinesgleichen sucht, müssen die außergewöhnlichen Umstände abgewogen werden. Ein Mord an unserer drastisch dezimierten Bevölkerung ist ein schwerwiegendes Kapitalverbrechen, das nicht toleriert werden kann. Selbst dann nicht, wenn es von einer jungen Frau verübt wurde. Die Geschworenen haben ihre Meinung kundgetan. Der Staatsanwalt und ich hatten uns bereits zuvor beraten, wie wir nach dem Ergebnis der Geschworenen entscheiden.«

Der Richter räusperte sich.

»Es fällt uns nicht leicht, ein Urteil zu fällen. Zum einen … Sie sind jung. Zum anderen es gibt nur noch wenige Frauen in Yeruda, die keine genetische Veränderung erlitten haben. Daher ist das Gericht gnädig. Es überlässt Ihnen die Wahl. Sie unterwerfen sich und stellen dem Institut Ihren Körper zur Verfügung. Oder Sie unterschreiben das Dokument, das einem Todesurteil gleichkommt.«

Ein dumpfer Knall ertönte, der Addy von Blum zusammenzucken ließ. Der Richter hatte den Hammer auf den Resonanzblock schnellen lassen.

»Wie entscheiden Sie sich?« Die strengen Augen des Richters suchten ihre, doch sie starrte zur Seite.

Geschworener Nummer 3 hatte die Hände so fest vor seinem Körper gefaltet, dass die Knöchel weiß hervortraten. Als ihre Blicke sich erneut trafen, wandte er sich betroffen ab. Obwohl sie schön und jung war, vermied er es, sie anzusehen. Während des Verhandlungsverlaufs konnte ihn niemand von ihrer Schuld überzeugen. Zu viele Indizien, aber keine handfesten Beweise. Und doch hatten die anderen beiden das Mädchen für schuldig gesprochen.

Ob Geschworener Nummer 1 und Geschworene Nummer 2 ebenfalls diese sonderbare Nachricht erhalten haben? Geschworener Nummer 3 wusste es schlichtweg nicht. Um seinen Brustkorb zog sich ein Drahtseil, das ihm die Luft abzuschnüren schien.
Feuchtigkeit trat in Addys große blauen Augen. Geschworener Nummer 3 bereitete ihr Kopfzerbrechen. Addy von Blum wusste, dass seine Stimme nicht gegen die der zwei anderen auftrumpfen konnte.

Er wirkt verlegen. Ob er versucht hat, die anderen von meiner Unschuld zu überzeugen? Aber wenn seine Meinung überstimmt worden war, wieso hat er dann nicht auch auf ›schuldig‹ plädiert? Durch diese gedankenlose Leichtfertigkeit hat er sich um die Entschädigung gebracht. Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr.

Mit einem schmierigen Lächeln schob sich der Staatsanwalt vom Richterpult zu ihr hinüber, um ein Stück Papier sowie einen Stift vor der Verurteilten auf den Tisch zu legen. Er hatte den Prozess gewonnen. Seine gesamte Haltung strotzte vor Stolz.

»Die Menschen verlangen, dass Sie sich ohne persönliche Rechte der Wissenschaft zur Verfügung stellen, oder …« Er machte eine dramatische Pause, wie er es immer gern tat. »… Sie unterschreiben das Dokument.« Staatsanwalt Primus Ohrental rümpfte die Nase. Er schien angewidert. In diesem Saal stank es gewaltig. Nur unter größter Mühe schaffte er es, sich zu beherrschen. Er bedauerte sich selbst, dass er sich nichts anmerken lassen durfte.

Hilfesuchend wanderte Addys Blick nach rechts zum schmalen Tisch, an dem ihr Verteidiger saß.

Als der bemerkte, dass sich alle Aufmerksamkeit auf ihn richtete, unterbrach er seine Notizen, nickte seiner Mandantin kurz zu und widmete sich dann wieder seinen Aufzeichnungen. Sein Desinteresse, für welches Urteil sich seine Mandantin entscheiden würde, lag in seiner Niederlage begründet.

Der Druck auf Richter Oberon durch die Anwesenden war spürbar.

Der Prozess muss schnellstmöglich ein Ende finden, war sein vorherrschender Gedanke. Er wollte nur noch nach Hause zu seiner Frau Elsa, bevor es zu weiteren Ausschreitungen kam. Dort würde er von den zwei Hunden freundlich empfangen werden.

Bestimmt hat Elsa das Essen schon fertig und wartet auf mich. Hoffentlich trifft das Mädchen die richtige Wahl. Wir brauchen sie und ganz besonders ihren jungen Körper. Mehr als ihr wohl bewusst ist. Zudem wäre es töricht von ihr, das Dokument zu unterschreiben. Niemand geht freiwillig in den Tod.

Seine Fingerspitzen trommelten in einem regelmäßigen Rhythmus auf die Tischplatte, um der Verurteilten zu signalisieren, dass sie endlich etwas sagen sollte.

Als der Staatsanwalt ihr den Stift in die Hand drückte, schluckte Addy. Ihre Hände zitterten noch immer. Plump sackte sie auf den harten Stuhl zurück und sah verwundert auf. Ihre Lippen öffneten sich leicht, was ihr einen sinnlichen Ausdruck verlieh, doch kein Ton entsprang aus ihrem Mund.

»Herr Verteidiger, könnten Sie Ihre Mandantin bitte auffordern sich zu äußern, für welche Variante sie sich entscheidet?« Genervt sah der Staatsanwalt zum Verteidiger, der gereizt seinen Stift zur Seite legte.

»Addy. Hör auf deinen Verstand. Triff eine Wahl«, forderte ihr Verteidiger sie frostig auf. Aber entscheide dich bitte nicht für den Tod, fügte er im Gedanken hinterher.

Fortwährend starrte sie auf das Blatt.

»Was steht da?« Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

Der gesamte Saal schien die Luft anzuhalten.

»Sie können nicht lesen?«, rief der Staatsanwalt entsetzt und erneut ertönte ein Zischen aus den Zuschauerreihen. »Vor drei Monaten feierten Sie Ihren achtzehnten Geburtstag. Und Sie können noch immer nicht ...« Der Staatsanwalt schnappte nach Luft.

Energisch wandte der Richter seinen Kopf in ihre Richtung, dabei schaute er sie über den Brillenrand hinweg an.

Schüchtern schüttelte Addy den Kopf. »Ich kann malen und zeichnen und kenne Zahlen, aber lesen ... leider nicht.«

»Das darf doch nicht wahr sein!«

Addy zuckte zusammen, erschrocken über den plötzlichen Ausbruch des Staatsanwaltes, als dessen Handfläche unvermittelt auf die Tischplatte traf.

»Sie kann nicht lesen«, wiederholte er fast resigniert. Der Staatsanwalt schlug die Hände über den Kopf zusammen. »Wieso wurde ich nicht darüber informiert?« Mit schnellen Schritten ging Primus Ohrental zum Richtertisch, lehnte seinen Unterarm stützend darauf ab, während er dem Richter mit einem Ausdruck signalisierte, dass heute wieder Recht gesprochen werden musste. Am besten nach dem Ermessen des Staatsanwaltes, der liebend gern ihre Unterschrift auf dem Dokument sehen würde.

Sowohl der Richter als auch der Staatsanwalt sahen voller Hohn auf Addy herunter, während die beiden älteren Geschworenen ebenfalls Blicke austauschten und einmal nickten. Es war die Bestätigung, dass sie die korrekte Entscheidung getroffen hatten. Ungebildete Individuen neigten zu kriminellen Handlungen. Die Erleichterung stand ihnen in den Gesichtern geschrieben.

»Kein Wunder, dass sie auf die schiefe Bahn geriet«, raunte Geschworene Nummer 2 dem Geschworenen Nummer 1 zu. Mit dem Jüngling hatte sie wenig am Hut. All die heftigen Diskussionen mit Geschworenem Nummer 3 über Indizien hatten die beiden älteren Geschworenen ermüdet. Für sie war der Fall glasklar.

Bis zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, dass Addy weder lesen noch schreiben konnte. Bevor sie es in der sogenannten Unterweisungsanstalt lernen konnte, floh sie. Das war vor drei Jahren. Addy war gerade fünfzehn. Das angeordnete Alter in dem Mädchen auf ihren allgemeinen Gesundheitszustand untersucht wurden. Dabei handelte es sich nicht um eine freiwillige Leistung der Mädchen, die in der hiesigen Zeit von ihnen abverlangt wurde. Sofern die Probandin Anzeichen einer genetischen Veränderung aufwies, bereitete man sie unverzüglich für die Empfängnis vor. Das war notwendig, um das Überleben der Menschheit zu gewährleisten. Rechte für elternlose junge Mädchen gab es keine, nur die Pflicht, ein oder noch besser, gleich mehrere Kinder zu gebären, bevor sie das zwanzigste Lebensjahr erreichten.

Der Spott, der die Gesichter der Menschen im Gerichtssaal überzog, beschleunigte ihren Puls. Addy besaß keine Mittel, einen Verteidiger zu bezahlen, also wurde ihr vom Gesetz her einer gestellt.

 

Es war bereits acht Jahre her, als ihre Eltern Damani und Kadin beim Einschlag ums Leben kamen. Da war Addy gerade zehn Jahre alt. Weitere Familienmitglieder gab es nicht. Zumindest wusste sie von niemanden. Sie hielt sich im Wald versteckt, in dem sie sich bestens auskannte. Ihre Eltern waren Prepper. Gemeinsam verbrachte die kleine Familie viel Zeit in der Natur. Sie lehrten ihrer einzigen Tochter, was man zum Überleben benötigt, sollte sie sich einmal verirren oder eine Katastrophe eintreten. Sie wollten gerade mit dem Alphabet beginnen, als ein Komet die Erde traf.

Fünf Jahre schaffte Addy es, sich allein durchzuschlagen. Als sie eines Tages am Waldrand Brombeeren sammelte, wurde sie von Grenzwächtern entdeckt und in das sogenannte Institut gesteckt: jene staatliche Einrichtung, der ein riesiges Wissenschaftslabor angeschlossen war. Addy sprach dort mit niemanden ein Wort. Anfangs vermutete der Stationsarzt Doktor Brenner, dass seine neue Patientin stumm sei. Vielleicht auch nur traumatisiert, verursacht durch den Verlust ihrer Eltern, verfestigt durch die lange Zeit in der Einsamkeit. Für das Programm, deswegen die jungen Mädchen im Institut gebraucht wurden, musste Addy keiner Sprache mächtig sein. Doktor Brenner reichte ihr Körper. Besser gesagt: ihr Gebärorgan. Addy von Blum war – wie all die anderen sechsundzwanzig Mädchen im Institut – dazu auserkoren, Kinder in die Welt zu setzen. Am besten so viele wie ihr in der kurzen Zeitspanne möglich wären, um die Bevölkerungszahl in Yeruda stabil zu halten oder gar zu vergrößern. Ein Schicksal, dem sie sich nicht kampflos hingeben wollte, sodass sie einen Fluchtplan überlegte. Und den auch in die Tat umsetzte, bevor Doktor Brenner den ersten Eingriff an ihr vornehmen konnte.

Elias Anrecht machte sich nicht die Mühe, die Akten anzusehen, die der Botenjunge Arik ihm damals brachte, mit den Worten: »Herr Verteidiger, Sie sind als Pflichtverteidiger auserwählt worden, den Fall Addy von Blum zu übernehmen. Es handelt sich hierbei um einen Mordfall.«

Elias erinnerte sich noch gut daran, als er den Namen hörte. Er überlegte.

Eddie von Blum. Wieder einer dieser Kerle, der ein Verbrechen verübt hat, um den guten Menschen unserer Gesellschaft zu schaden. Dieser Fall wird mir nur Ärger einbringen, wenn ich versuche, die Anklage zu dessen Gunsten zu biegen.

»Danke, Arik. Leg die Unterlagen dort auf den Tisch. Ich kümmere mich später um den Fall.« Damit war die Angelegenheit für den Pflichtverteidiger vorerst erledigt. Er würde sich die Unterlagen kurz vor dem Prozess ansehen. Elias war sicher, der Staatsapparat hatte zwischenzeitlich seine Untersuchungen abgeschlossen, sodass ein Urteil bereits unumstößlich feststand.
Einen Tag vor der Gerichtsverhandlung stattete Elias Anrecht seinem Klienten einen Besuch in der Zelle ab. Die Überraschung war groß, als er feststellte, dass er eine Frau zu verteidigen hatte. Dazu noch eine sehr junge. Damit hatte der Pflichtverteidiger nicht gerechnet. Nun stand mehr als nur sein Ruf auf dem Spiel. Also reichte er einen Aufschub ein, mit der Begründung, dass man ihm kaum Zeit ließ, sich in den Fall einzulesen, der seinesgleichen suchte. Addy war ein hübsch anzusehendes Mädchen, und nicht, wie er anfangs vermutet hatte: ein Mann – nur wegen ihres Vornamens. Diesen Irrtum verschwieg er jedoch bei seinem Antrag.

Sein Versäumnis, sich vorher darüber informiert zu haben, wer seine Verteidigung benötigte, machte ihm zu schaffen. Er tröstete sich darüber hinweg, indem er sich immer wieder einredete, dass Pflichtverteidigungen weder Geld noch Ruhm brachten. Wozu unnötige Zeit verschwenden? Es war eine ungeliebte Arbeit, die erledigt werden musste. Das schlechte Gewissen war nicht das Einzige, was ihn plagte. Mehr Sorgen bereiteten ihm die unterschwelligen Gefühle, die er Addy gegenüber entwickelte. Schließlich kannten sie sich erst einen Tag. Er tat sich schwer, diese Regungen unterzuordnen.

Egal, was Addy von Blum ihm erzählte, Stolz und Wut über das Versäumnis standen ihm im Weg. Trotz mangelnder Konzentration begriff er, dass seine Mandantin nicht dumm war. Sie handelte intuitiv, aus dem Bauch heraus. Hinzu kam ihr starker Überlebenswille. Immer wieder versicherte sie ihm ihre Unschuld.

Die Gerichtsverhandlung wurde ohne Verzögerung anberaumt. Es war ein Prozess, der auf Indizien beruhte. Eigentlich kaum haltbar. Es gab nur einen Zeugen mit miserablem Leumund, der sie vom Tatort hatte weglaufen sehen. Die Mordwaffe konnte bis zum Verhandlungsbeginn nicht als Beweisstück vorgelegt werden. Und das Wichtigste: Sie hatte kein Motiv.

Seine Gedanken wirbelten durcheinander.

Seit einem Jahr wurde ein Kapitalverbrechen immer in einem Schnellverfahren abgehandelt. Es diente als Abschreckung und schien berechtigt. Seitdem gab es kaum noch Tötungsdelikte, bis zu dem Tag, als man Addy von Blum fasste und anklagte.

 

Die wenigen Menschen, die die Katastrophe überlebt hatten, waren aufgefordert, eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen. Drakonische Maßnahmen wirkten wie Medizin auf den restlichen Teil der kriminell veranlagten Mitbürger. Verurteilte wurden nach Vahrgula geschickt. Ein, hypothetisch gesehen, sicherer Ort zur Verwahrung von Kriminellen. Niemand wusste, was sich hinter dem Oktogon befand, denn bisher hatte es nie jemand geschafft, von der anderen Seite zurückzukehren.

»Gut. Dann lesen Sie der Verurteilten das Dokument vor, Herr Staatsanwalt«, forderte der Richter ihn auf, seiner Tätigkeit unverzüglich nachzukommen.
Primus Ohrental war ein etwas dicklicher Mann mit schütterem Haarkranz. Das Auffälligste an ihm war sein ungewöhnlich spitz zulaufendes Kinn, das seiner Gesichtsform eine dreieckige Form verlieh.

Der Vierzigjährige ging auf die Verurteilte zu. Die Falten auf seinem Nasenrücken vermehrten sich, je mehr er sich Addy von Blum näherte.

Die junge Frau kaute an ihren Fingernägeln, während sie das Papier in ihrer linken Hand anstarrte. Ihre Fingernägel trugen keine Trauerränder. Man gestattete ihr, zu duschen. Da ihre blutverschmierte Kleidung als Beweismittel diente, gab man ihr einen erbärmlich stinkenden Gefängnisoverall.

Seit acht Wochen gestand man ihr weder frische Kleidung noch eine regelmäßige Dusche zu.

Das Volk von Yeruda bekam die Umstände nicht mit, wie sehr die Gefangenen vernachlässigt wurden. Der Öffentlichkeit gaukelte man das Bild vor, dass es den Angeklagten gut ging. Zu gut, und dass jeder Gefangene einer Last für die Gesellschaft gleichkam, was zur Folge hatte, dass die Urteile oftmals härter ausfielen, als es angemessen war. Die meisten, auch kleineren Delikte endeten mit einer Verurteilung in die Verbannung nach Vahrgula, denn für Schnorrer und kleinere Delikte gab es keinen Platz in Yeruda. Dafür setzte sich der Staatsanwalt voller Enthusiasmus - und oftmals mit Erfolg – ein.

Was Addys Fall betraf, brauchten die Geschworenen lange bei ihrer Besprechung. Jedem anderen Mörder hätte sofort die Todesstrafe ereilt, doch der Fall Addy von Blum barg eine Brisanz, die ihresgleichen suchte. Was besonders schwer wog: Addy von Blum war eine junge Frau von achtzehn Jahren. Dazu auch noch gesund, wie es die Untersuchungen zutage gefördert hatten. Sie in den Tod gehen zu lassen, käme eine Verschwendung von wertvollen Ressourcen gleich.

 

Addy wurde aus ihren Gedanken gezerrt, als der Staatsanwalt ihr das Stück Papier entriss. Erschrocken blickte sie in sein schiefes Grinsen, als er das Schriftstück in die Höhe hob.

»Dies, Addy von Blum …« Er sprach sehr langsam und gedehnt, um sicherzugehen, dass sie ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. »… ist eine Einverständniserklärung. Bitte hören Sie mir gut zu. Ich möchte, dass Sie dessen Inhalt genau verstehen.«

Er beugte sich zu ihr herunter und genoss seinen Sieg in vollen Zügen. Mit geschwellter Brust, die es nicht schaffte, über seinen Bauch zu triumphieren, schritt er zur Bank hinüber und reichte dem Geschworenen Nummer 1 das Papier. Die zwei Männer und die Frau saßen nun wieder auf der Bank neben dem Richter. Jeder von ihnen warf einen kurzen Blick auf das Dokument.

Addy hatte das Gefühl, dass keiner von ihnen das Lesen wirklich beherrschte, denn sie reichten das Papier sehr schnell an den Nächsten weiter, ohne es wirklich gelesen zu haben. Schließlich landete das Dokument wieder beim Staatsanwalt. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Sind Sie bereit?«

Die Verurteilte schluckte und die Geschworenen stimmten ebenfalls mit einem Nicken zu.

»Sehr gut.«

Wie ein Politiker hielt er das Papier vor seinem Körper und begann, den Inhalt laut vorzulesen.

»Einverständniserklärung. Ich, Addy von Blum, bestätige hiermit freiwillig und ohne Zwang, dass ich an diesem Ort, genannt Vahrgula, für alle Ewigkeit verbannt werde. Wenn ich von Vahrgula ohne Erlaubnis oder Begnadigung zurückkehre, hat dies unverzüglich meinen Tod zur Folge. Unterschrift.«

Er machte eine schöpferische Pause, um der Dramatik noch mehr Ausdruck zu verleihen, bis er sich der Verurteilten erneut zuwandte.

»Haben Sie den Inhalt verstanden?«

Sie blickte dem Staatsanwalt in sein triumphierendes Gesicht und nickte. Jeder sah, dass sie traurig war, ja beinahe apathisch.

»Sehr gut.« Er schien mit sich selbst sehr zufrieden zu sein.

Wieder einen Fall gewonnen. Egal, wie sie sich entscheidet, dieses ungeliebte Wesen wird abgeschoben, triumphierte er innerlich. Er legte das Papier auf den Tisch und deutete mit dem Finger auf die gepunktete Linie. »Hier müssen Sie unterschreiben«, forderte er sie energisch auf.

Sie starrte auf das Blatt Papier. Es ergab keinen Sinn. Sie war unschuldig.

»Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll«, flüsterte sie und hörte, wie sowohl ihr Verteidiger, der Staatsanwalt, als auch der Richter scharf die Luft einsogen.

Obwohl er es nicht zeigen durfte, wirkte Richter Oberon froh, dass sie Bedenken gegenüber dem Dokument äußerte. Anders verhielt es sich mit dem Staatsanwalt, dessen mürrischer Ausdruck Bände sprach.

Gemurmel überflutete den Saal.

»Addy. Bitte …«, stotterte ihr Verteidiger, »wähle das Institut. Das ist besser als ...« Er verstummte. In seinem Kopf arbeitete es unermüdlich. Es ist schlecht für meinen Ruf, wenn das Mädchen das Dokument unterschreibt und freiwillig den Tod wählt. Männer werden gezwungen, es zu tun. Aber eine Frau? Und dann auch noch so ein junges Ding? Elias Anrecht musste handeln. Unverzüglich; doch ihm kam keine zündende Idee. Der Gedanke daran, dass seine Reputation auf dem Spiel stand, schien seinen Einfallsreichtum eher zu blockieren. Er wusste nur eines: Seine Mandantin durfte nicht sterben!

Der Verteidiger trat nun ebenfalls an ihren Tisch, während der Staatsanwalt einige Schritte zurücktat. Noch immer zog sich der unangenehme Geruch durch seine Nase. Wie er diesen Gestank hasste!

Unvermittelt umfasste die Hand des Verteidigers ihr Kinn und hob es an. Ihre großen blauen Augen glänzten und ließen sowohl den Verteidiger als auch den Staatsanwalt leise aufseufzen.

»Du bist noch jung. Du kannst es schaffen«, er legte alles an Überzeugungskraft in seine Worte. »Sie bieten dir ein Leben an. Zwar im Institut, doch das ist bei weitem besser als ... das hier.« Mit dem Finger deutete er auf das Dokument auf dem Tisch. »Bitte. Sei nicht dumm«, drängte er und schob das Schriftstück zur Seite. Das schlechte Gewissen machte sich bei ihm bemerkbar.

Bist du wirklich unschuldig? Aber warum warst du dann mit dem Blut des Opfers beschmiert? Bist du einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?, rekapitulierte der Anwalt im Kopf, ihre Version. Wenn Addy Vahrgula wählt ... Er wagte es nicht, den Gedanken zu beenden.

Erneut knallte der Hammer des Richters auf den Block.

»Ruhe im Gerichtssaal!«

Weitere zwölf Mal war der donnernde Aufschlag zu hören, bis die Meute endlich wieder Ruhe gab.

Der Staatsanwalt wischte sich die Schweißperlen mit dem Handrücken von der Stirn.

Drei Viertel der Menschheit kam beim Kometeneinschlag ums Leben. Darunter befanden sich auch Addys Eltern. Die Überlebenden litten unter der Verstrahlung, was zur Folge hatte, dass Frauen ab zwanzig Jahre eine genetische Veränderung erfuhren. Männer, die Geschlechtsverkehr mit einer Frau über zwanzig hatten, erlitten kurzerhand einen qualvollen Tod. Es ist kaum ein halbes Jahr her, als Doktor Brenner ein Medikament entwickelte, das Männern und Frauen wieder risikofreien Beischlaf erlaubte. Allerdings blieb der kinderlos, sodass die künstliche Befruchtung in das Zentrum der medizinischen Forschung rückte.

Die Information, dass Addys Körper keinerlei genetische Veränderungen aufwies, verbreitete sich in wissenschaftlichen Kreisen wie ein Lauffeuer. Addy von Blum könnte der Schlüssel für das Überleben der Menschheit sein. Doch der Staatsanwalt hatte sie des Mordes angeklagt. Und für Kapitalverbrechen gab es keine Ausnahme.

Zu ihrem eigenen Schutz sperrten sie Addy in einem besonders gesicherten Gefängnistrakt. Die drei Wochen der Einzelhaft zermürbten die Achtzehnjährige. Es gab nur wenig zu essen. Um den Durst zu stillen, sprach man ihr nur Wasser zu. Kein Ausgang. Keine Gespräche. Nur kahle Wände und Stahlgitter. Während dieser Zeit drohte der Verstand der freiheitsliebenden Addy in tausend Scherben zu zerbersten. Der einzige Besuch, den sie in der Zeit ihrer Gefangenschaft hatte, bekam sie einen Tag vor ihrer Verhandlung. Ihr Herz schien zu zerspringen, als sich endlich jemand bereit erklärte, einige Worte mit ihr zu wechseln. Doch das Gespräch verlief nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Ihr Verteidiger erklärte ihr die Sachlage. Dass es einen Zeugen gab, der sie gesehen hatte, wie sie aus dem Haus rannte. Dazu ihre Kleidung, die mit dem Blut des Opfers besudelt war. Nur die Tatwaffe hatten die Beamten nicht finden können.

Addy kannte das Opfer. Einen Riesen, den sie allein überwältigt haben sollte. Es war absurd zu glauben, dass sie diejenige gewesen sein sollte, die ihn umgebracht hatte. Doch ihr Ausbruch aus der Anstalt sowie die einsamen Jahre in der Wildnis ließen ihr Wesen in keinem guten Licht erscheinen.

Geschworener Nummer 3 schien von ihrer Unschuld überzeugt. Er hatte immer wieder verstohlen zu ihr herübergeschaut, als wollte er sich bei ihr für das Urteil der anderen beiden entschuldigen.

»Geben Sie mir das Dokument.«

Unverzüglich brach Tumult im Saal aus.

Richter Oberon musste sich erst einmal setzen.

Der Staatsanwalt wirbelte herum und starrte Addy an. Der Überraschung wich ein Ausdruck der Zufriedenheit.

»Ruhe!«

Immer wieder donnerte der Hammer auf den Block.

Der Verteidiger kniete sich nun neben seine Mandantin.

»Addy, sei nicht dumm!«

Die Wachen zogen Elektroschocker hervor. Das Knistern brachte die Zuschauer unter Kontrolle.

Die Menge rottete sich zusammen, bis nur noch das leise Winseln einer Frau zu hören war.

»Sind Sie sich wirklich sicher?« Der Richter versuchte, auf die Verurteilte einzuwirken, wollte ihr Gelegenheit geben, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. »Sie wissen, dass es Ihr Todesurteil ist? Und Sie nehmen es aus freien Stücken entgegen.«

»Ich werde unterschreiben.«

Richter Oberon plusterte die Backen auf. Zum ersten Mal, seit er dieses Amt bekleidete, wollte er kein Recht sprechen.

»Ich gebe Ihnen drei Tage Bedenkzeit.«

»Richter Oberon«, meldete sich der Staatsanwalt zu Wort, doch der Richter hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Addy von Blum, wenn Sie bis dahin noch immer zu Ihrer Entscheidung stehen, schicke ich Sie nach Vahrgula.«

Das letzte Wort des Richters war kaum mehr ein Flüstern. In seiner gesamten Karriere hatte er noch nie einen derartigen Ausgang erlebt.

»Wache!«, rief der Richter.

Zwei hochgewachsene, muskulöse Männer in dunkelgrauen Uniformen traten vor, während die anderen Wachen weiterhin die Zuschauer im Zaun hielten. Zusätzlich mit Rauchgranaten, Maschinenpistolen und einem Messer bewaffnet, verwunderte dieser übertriebene martialische Auftritt die Zuschauer. Eine Vorsichtsmaßnahme. Und wie dieser Prozess zeigte, zu Recht.

Der Richter machte eine Handbewegung. Schweigend befolgten die Wachen hinter Addy seinem stummen Befehl.

Im Gleichschritt gingen sie auf Addy zu, nahmen sie in ihre Mitte, packten sie am Oberarm und schleiften das wehrlose Mädchen aus dem Gerichtssaal, gefolgt von den bewaffneten Männern.

Ein Fluchtversuch war zwecklos.

Geschworener Nummer 3 blickte ihr traurig hinterher. Er setzte sich auf die Bank und wartete, bis der Saal sich geleert hatte.

»Ich muss ihr doch irgendwie helfen können?« Er legte die Ellenbogen auf dem Tisch und stützte den Kopf mit den Händen ab. Etwas hinderte ihn daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Ruckartig setzte er sich auf.

»Ohne Hilfe schaffe ich das nicht. Und ich weiß auch schon, wer dafür infrage kommt.«

Unterstützung

Nikolas saß am Tisch, als sein Freund Lugh nur in Unterhose in die Küche schlurfte, sich an der Kaffeemaschine bediente und bei einer ungeschickten Bewegung erst einmal den Zuckertopf umwarf.

»Verdammt!«, fluchte er in sich hinein, während er sich mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte abstützte, um zu überlegen, wie er den Zucker noch retten konnte.

Nikolas beobachtete ihn mit einem Schmunzeln.

»Na, Tiger? Super, dass du den Wasserhahn repariert hast. Mich würde aber interessieren, wo du die Ersatzteile herbekommen hast?«

»Niki?« Lugh wirbelte herum. Die Müdigkeit verflog schlagartig. »Ich hatte dich gar nicht ... was machst du hier?« Er wandte sich wieder dem Zuckerproblem zu. »Sag bloß, du bist schon von der Arbeit zurück«, knurrte er, dabei wischte er die feinen Körner über die Handkante in den Topf zurück.

»Addy«, gab er knapp von sich.

Lugh fuhr sich mit der Hand durch das braune strubbelige Haar, ohne es zu bändigen.

»Eddie? Wer ist das?«

»Nein. Sie.«

»Sie?« Für Lugh war es eindeutig noch zu früh, um philosophische Diskussionen zu führen. Das war ihm anzusehen.

»Sie heißt Addy ... mit einem A ... ach, egal. Das Mädchen, das heute verurteilt wurde.« Nikolas lehnte sich zurück, die Beine übereinandergeschlagen beobachtete er interessiert, wie Lugh mit dem Zeigefinger einzelne Zuckerkrümel von der Arbeitsplatte in den Behälter schob.

»Ein Mädchen mit dem Namen Addy«, brabbelte er unverständlich vor sich her, während er nach etwas suchte. »Ein ungewöhnlicher Name.« Die Stirn runzelnd griff er nach dem Kaffeelöffel auf der Spüle. »Besonders für ein Mädchen. Findest du nicht auch?« Dann ... als er begriff, richtete er sich ruckartig auf. »Verurteilt?« Er glaubte, sich verhört zu haben. »Wieso wurde sie verurteilt? In der heutigen Zeit sollten sie sich überlegen, ob sie Mädchen und Frauen nicht eher in das Institut schicken.«

»Sie selbst wählte den Tod«, verschärfte Nikolas das Thema.

Lugh drehte sich so heftig um, dass diesmal sein Unterarm den Zuckertopf erwischte und ganz von der Arbeitsfläche fegte.

»Scheiße!«, stieß er noch lauter als zuvor aus. Zu seinem Ärger war er nicht schnell genug. Er konnte nur noch zusehen, wie das Porzellantöpfchen auf den Boden zuraste. Er starrte Nikolas an, als das Gefäß zersprang und die braunen Krümel sich wie Millionen kleiner Bernsteine über den Fußboden verteilten. Frustriert über seine Tollpatschigkeit sackten die Schultern herunter.

Nikolas war froh über die unbeabsichtigte Showeinlage seines Freundes. Lenkte sie ihn doch für einen Moment von der Gerichtsverhandlung ab.
»War es letzte Nacht anstrengend?«, neckte er den Freund, der noch immer perplex dastand und das Unglück nicht fassen konnte.

Nikolas erhob sich, reckte sich kurz, bevor er einen Besen aus der kleinen Kammer neben der Tür holte. Als er ansetzte, den Boden zu kehren, straffte Lugh die Schultern und legte die Hände in seine Hüfte.

»Was hast du damit vor?« Energisch deutete er mit dem Kinn auf den Besen, während sein Blick sich verdüsterte.

»Den Zucker zusammenkehren?«, erklärte der Freund mit überraschter Miene.

»Bist du verrückt«, schrie Lugh ihn an, dessen Laune gerade in den Keller abrutschte. »Das Zeug ist wertvoll! Pack das Ding gefälligst weg.« Dabei stellte er sich zwischen Nikolas und den Zucker auf dem Boden.

Nikolas atmete hörbar aus. »Wenn du meinst …« Er stellte den Besen in die Kammer zurück. Dann wandte er sich wieder Lugh zu. »Und was machen wir dagegen?« Er nahm den Becher vom Tisch und trank seinen Tee aus.

»Mir fällt schon was ein, wie ich die Scherben vom Zucker trenne. Doch du fasst hier nichts an. Ist das klar?«

»Das meinte ich nicht«, genervt verdrehte Nikolas die Augen.

Wenn sein Mitbewohner schlecht gelaunt aufstand, gab es keine guten Aussichten auf ein vernünftiges Gespräch.

Lugh wandte sich mit verblüffter Miene dem Freund zu.

»Was dann?«

»Was machen wir mit Addy? Wir können sie nicht einfach sterben lassen. Zudem ...« Er zögerte kurz. »… sie ist hübsch.« Er errötete leicht, sodass ein kaum sichtbares Grinsen über Lughs Miene huschte.

»Aha«, entgegnet er gedehnt. »Daher weht der Wind.« Lugh durchschaute seinen Freund. Sie kannten sich seit dem Einschlag, hatten viel gemeinsam durchgemacht. »Wie alt ist diese ... Addy?«, wollte Lugh wissen.

»Achtzehn.«

Lughs Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ein Grund mehr sie in das Institut zu stecken. Soweit mir bekannt ist, wird jedes Mädchen zwischen fünfzehn und neunzehn Jahre dort untergebracht. Man munkelt, sie sollen dort von diesen alten Säcken deren wertvolles Gamet erhalten.« Kurz hielt er inne. Er war zu weit gegangen. Die alte Wunde seines Kumpels war noch längst nicht verheilt. Vielleicht würde er diesmal erfahren, was Nikolas seit geraumer Zeit so sehr plagte und jedes Mal aus der Fassung brachte, sobald das Institut auch nur erwähnt wurde. »Ich meine ... wurde nicht kürzlich ein Gesetz erlassen, das verbietet, Mädchen unter zwanzig in den Tod zu schicken?«

Nikolas verzog die Mundwinkel. »Ein Baby von solch einem ...« Er brachte es nicht fertig, den Satz zu beenden. »Bist du schon mal dort gewesen?«, fragte er Lugh, da ihm der Gedanke an die Einrichtung sichtbar Unbehagen bereitete.

Lugh schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Das Institut gleicht einem Hochsicherheitsgefängnis, in dessen Zellen junge und hochschwangere Mädchen vor sich hin vegetieren. Kontakt untereinander wird ihnen nur kurzfristig zugestanden. Niemand von diesen Genopologen will das Risiko eingehen, dass sie sich zusammentun. Sie könnten ja einen Fluchtplan schmieden«, spöttelte er.

Lugh lauschte interessiert. Als Nikolas nicht weitersprach, gab er sich einen Ruck.

»Woher hast du die Information? Kaum jemand weiß etwas über diese Einrichtung, geschweige denn, was genau darin vor sich geht.«

Nikolas druckste herum. Es war ihm sichtlich unangenehm, darüber zu sprechen.

»Niki?«, bohrte Lugh nach. »Es gibt etwas, das du mir verheimlichst. Wir hatten damals geschworen, uns alles zu erzählen. Es reicht aus, wenn die Regierung schon kaum mit der Wahrheit herausrückt.«

Nikolas wiegte den Kopf hin und her, als müsse er seine nächsten Worte abwiegen.

»Meine Schwester ... sie hatten meine kleine Lillie dort hingebracht.« Wasser sammelte sich in seinem Augenwinkel. Durch das Muttermal unter dem linken Auge in Form einer Träne wirkte Nikolas noch trauriger. Zügig wischte er sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Lillie floh. Mein Schwesterlein war hochschwanger, Lugh. Dabei war sie erst sechzehn! Mit dem dicken Bauch kam sie nicht weit. Während die Ärzte sie zurück ins Institut zerrten, schrie sie die grauenvollen Dinge, die man ihr angetan hatte, in die Welt hinaus. Menschenversuche. Unfreiwillige Schwangerschaften. Es stand alles in der Zeitung. Ein Reporter wurde aufmerksam, als er ihre Schreie hörte. Obwohl die Berichterstattung über das Institut unter Strafe gestellt ist, veröffentlichte er dennoch einen Artikel. Ich suchte den Reporter auf. Er spielte mir die Tonaufnahmen vor, die er auf der Straße machen konnte.« Er schluckte den Kloß im Hals herunter. »Lillie hatte keine Chance.« Nikolas wandte sich ab.

Auch Lugh musste das erst einmal verdauen. Nun konnte er nachvollziehen, weshalb sein bester Freund nie darüber reden wollte. Lugh war immer der Meinung gewesen, Lillie wäre umgekommen, als während des Einschlags das Dach der Schule einstürzte. Alle acht Klassen, darunter auch Lillies Klassenzimmer, wurden unter Schutt begraben.

»Wie sind sie auf Lillie aufmerksam geworden?« In diesem Moment verfluchte Lugh sich selbst. Er wollte seinen Freund nicht noch tiefer in die Trauer schicken.

»Ich ... äh ... du brauchst nicht ... wenn du nicht willst ...«

Nikolas winkte ab. »Schon gut. Ich hatte es bisher niemandem erzählt, da ich den Gedanken an ihren Verlust nicht ertragen konnte.« Er kramte in seiner Jeans und zog aus der Gesäßtasche einen Zettel heraus. Den reichte er Lugh.

Die Farben hatten in den letzten Jahren an Intensität verloren. Die Falze taten ihr Übriges dazu bei, dass auf dem Foto kaum noch etwas zu erkennen war. Er hielt einen Zeitungsartikel in der Hand, der das eingestürzte Schulgebäude zeigte. Lugh überflog den Artikel.

»In dem Artikel steht, dass es wenige Überlebende gab. Sie waren ins Krankenhaus gebracht worden. Sogar einige Namen werden im Text genannt, damit Verwandte sich melden können.« Er las stumm weiter, als ihm ein Name ins Auge stach. Lillie Sorokin.

»Hast du dich dort gemeldet?«

»Was denkst du denn«, schnaubte Niki. »Sie sagten, dass es sich bei dem Namen um einen Irrtum handelte. Eine Lillie Sorokin wurde nicht eingeliefert. Die Schwester hatte sich verplappert, als sie mir den Tipp gab, dass ich es doch mal im Institut versuchen sollte.«

»Doch du wusstest nicht, wo sich das Institut befindet«, stellte Lugh sachlich fest.

»Ein Arzt bekam mein Nachfragen mit.«

»Du bist schon immer sehr unnachgiebig gewesen. Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, willst du es auf Biegen und Brechen wissen.«

»Das Verhalten der Ärzte sprach nicht gerade für sie. Mir war klar, dass es sich beim Institut um eine geheime Einrichtung handeln musste. Zum damaligen Zeitpunkt tappten diesbezüglich alle im Dunkeln.« Erneut sammelten sich Tränen in Nikolas’ Augenwinkeln. »Ich war ihr letzter Verwandter. Ihr Bruder!«, schluchzte Nikolas, sodass auch Lugh kurz den Atem anhielt. »Eines Tages fasste ich einen Plan. Ich nahm die Stellung auf dem Amt an, um an die Liegenschaftspläne heranzukommen. Ich wurde fündig. Dachte ich damals zumindest. Bis auf das Wachpersonal standen die Sicherheitsvorkehrungen noch am Anfang, waren nicht so ausgeklügelt, wie es jetzt der Fall ist. Doch ich wurde entdeckt, als ich es in den ersten Ring mit den kleineren Baracken schaffte. Ich versteckte mich in der Dusche, der einzige Raum, der nicht verschlossen war. Du erinnerst dich? Es war unsere erste Begegnung. Du suchtest nach etwas Essbarem.«

»Oh ja. Ich erinnere mich noch sehr gut an dieses Ereignis. Nur ist dir damals ein Irrtum unterlaufen. Es war nicht das Institut, sondern ein ausgedientes Lager für Baumaschinen. Darin werden übrigens noch immer die eisernen Reserven an Trockennahrungsmitteln gelagert.« Die Erinnerungen flackerten in Lughs Miene auf, als wäre alles erst gestern passiert. »Und, obwohl wir uns fremd waren, entschieden wir uns dazu, die Flucht gemeinsam fortzusetzen. Das war echtes Teamwork, als wir gezwungen waren, die hohe Mauer zu überwinden.«

Beide Männer erinnerten sich an diese beinahe geschichtsträchtige Begegnung.

»Ich weiß nicht ... natürlich hoffte ich zu diesem Zeitpunkt noch, dass Lillie am Leben ist. Aber …« Nikolas ging zur Spüle, ließ den Wasserhahn an, um sich das Gesicht zu waschen. Er brauchte eine Abkühlung, weil die Wut wieder in ihm aufkochte.

»Aber …?«

»Einige Monate später erfuhr ich per Zufall, dass zwei Mädchen ums Leben gekommen waren. Der Typ in der Bar war total besoffen und prahlte über die Arbeit in dem Institut. Ich setzte mich zu ihm, versuchte, Freundschaft zu schließen. Um an die Informationen zu kommen, spendierte ich ihm noch ein paar Drinks. Es hat mich ein Vermögen gekostet. Als ich ihn bat zu beschreiben, wie die Mädchen denn so aussehen ...« Erneut spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht.

»Verstehe. Die Beschreibung passte auf Lillie«, entgegnet der Freund betroffen.

»Lugh, sie halten die Mädchen dort wie Vieh! Sollte eines versuchen, sich das Leben zu nehmen, um dem katastrophalen Zustand zu entkommen, fixiert man sie ans Bett, bis hin zur Niederkunft!«

»Kein Wunder, dass die Regierung es für besser hält, diesen Umstand geheim zu halten«, sinnierte Lugh. »Was willst du jetzt tun? Das Institut erneut stürmen?«

Niki sah ihn verdutzt an. Wassertropfen liefen ihm über Gesicht, Hals bis hinunter zur Brust, bis sie auf dem Boden auftrafen.

Lugh bemerkte nicht, dass sich bereits eine kleine Lache gebildet hatte, die seinen wertvollen Zucker langsam auflöste.

»Nein. Lillie ... sie ... Er hatte keinen Grund, mich anzulügen.«

»Und was hat das nun mit dieser Addy zu tun?«

»Verweigert Addy doch noch die Unterschrift, wird man sie ins Institut bringen. Ich möchte sie vor beiden Übeln bewahren, Lugh.«

»Hm. Egal, wie sie sich entscheidet, keine der Aussichten ist auch nur annähernd erstrebenswert«, überlegte Lugh laut. »Was hast du also vor?«

 

Seit ihrer gemeinsamen Flucht waren Lugh und Nikolas wie Brüder; sie verband eine tiefe Freundschaft. Jeder konnte sich auf den anderen blind verlassen.

Vor zwei Jahren fanden sie im Außenbezirk die kleine Farm, die an ein Waldstück grenzte. Sie teilten sich seitdem die fünf Zimmer im Haupthaus, von denen jedoch nur noch drei Zimmer, eine Küche sowie ein WC benutzbar waren. Die anderen Räume hatten die Druckwellen des Einschlags zerstört. Zudem verfügte die Farm über zwei Stallungen, die über das Grundstück verteilt lagen und ebenfalls einen beachtlichen Schaden genommen hatten.
Gemeinsam schafften sie das Geröll aus dem Weg. Mit ein wenig Hilfe von außen machten sie das Haupthaus bewohnbar. Seit geraumer Zeit trieben sich jedoch Wohnungsbesetzer in den abgelegenen Gegenden herum.

 

»War die Nacht ruhig?«, erkundigte sich Nikolas, um auf andere Gedanken zu kommen.

»Anfangs schon. Doch die Jungs erzählten, dass nicht weit von uns ein paar Unruhestifter ihr Unwesen treiben.« Er trank seinen Kaffee. Während Nikolas auf die Fortsetzung der Geschichte wartete, verkrampften sich seine Hände an der Teetasse.
»Und? Konntest du sie vertreiben?«, versuchte er seinen Freund dazu zu bewegen weiter zu erzählen.
Lugh schüttelte den Kopf.
»Nein. Doch es hat mich nicht ruhig schlafen lassen.« Er stand auf und legte die Tasse in die Spüle.

Letzte Nacht hatte Lugh Wache geschoben. Bei Anbruch der Dämmerung hatte er die Ersatzteile für den Wasserhahn besorgt und ihn repariert. Sein Zimmer befand sich auf der rückwärtigen Seite zum Wald hin. Ein Geräusch holte ihn aus dem Schlaf. Sobald Lugh einmal wach wurde, konnte er nur noch schwer einschlafen. Oftmals verbrachte er dann ein wenig Zeit in der Küche, um sich ein heißes Getränk zu machen. Für Lugh hatte dieses Ritual etwas Beruhigendes. Oftmals schlief er dann auf dem Stuhl wieder ein.

»Weißt du schon, was du machen willst?«

Niki verneinte. »Nein. Ich hatte auf deinen Ideenreichtum gehofft.«

Nachdem Lugh sich einmal gereckt hatte, wandte er sich wieder Nikolas zu.

»Ich nehm noch kurz eine Mütze voll Schlaf.«

»Du trinkst Kaffee und willst danach ins Bett?«, fragte Nikolas verblüfft.

»Mir macht das nichts aus.«

Lugh war im Begriff zu gehen, doch Nikolas stellte sich vor ihn und versperrte ihm den Weg.

»Moment noch. Ich war ebenfalls nicht untätig. Nach Beendigung der Gerichtsverhandlung bin ich noch einmal zum Tatort gegangen. Irgendetwas erscheint mir seltsam, Lugh. Da passen viele Dinge nicht zusammen. Ich bin von Addys Unschuld überzeugt. Irgendjemand will ihr etwas anhängen.«

Über Lughs Nase bildete sich eine Falte.

»Weshalb sollte jemand etwas gegen eine junge Frau haben? Mädchen sind wertvolle Mangelware.«

»Richtig. Also. Was machen wir mit Addy? Wir müssen sie retten.« Er packte den Freund am Arm, damit er sich nicht an ihm vorbei drängeln konnte.

»Retten. Das ist mein Stichwort. Du rührst den Besen nicht an. Ich werde mir etwas einfallen lassen, was den Zucker auf dem Fußboden betrifft«, gähnt er.

»Der Zucker ist verloren. Zu viele kleine Porzellanscherben. Siehst du?« Er kniete sich hinunter. Mit dem Finger deutete Nikolas auf diverse Kleinteile. »Wenn das in deinen Körper gelangt ... vertrau mir. Da gibt es nichts mehr zu retten.«

Auch wenn es Lugh nicht in den Kram passte, so musste er dem Freund beipflichten: Der Zucker auf dem Boden war eindeutig ungenießbar geworden.

»Woher willst du wissen, dass diese Addy gerettet werden will? Sagtest du nicht …«

»Du bist ein Idiot, Lugh! Es hat einen Grund, weshalb Addy sich für die Unterschrift entschieden hat. Vermutlich weiß sie, was hinter den Toren des Instituts vorgeht. Wer will denn schon vorzeitig sterben?«

»In Ordnung«, gähnte er. »Ich überlege mir ’ne Lösung.« Lugh wollte gehen, doch Nikolas ließ nicht locker.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie haben ihr nur drei Tage Bedenkzeit gegeben. Wenn ich Addy spätestens Übermorgen keinen Plan präsentieren kann ...« Erwartungsvoll sah er seinen Freund an, dessen Augen fielen vor Müdigkeit fast zu.

Lughs Hand wanderte zur Stirn. Mit den Fingern rieb er seine Augen.

»Das Schneewittchenkomplott«, entgegnete er schon fast emotionslos. Er war müde und wollte nur noch schlafen.

»Wie bitte?«

Resigniert schüttelte Lugh den Kopf, dabei legte er die Hand auf Nikolas’ Schulter.

»In Ordnung. Ich erklär es dir.«

Das Dokument

Umgeben vom trostlosen Grau, dazu der beißende Geruch von Ammoniak. Das veranlasste Addy, die Nase zu rümpfen, als sich die Stahltür hinter ihnen schloss. Pfiffe, obszöne Gesten und Schimpfwörter der Häftlinge begleiteten die Gruppe entlang des langen Korridors. Immer wieder schossen Arme durch die Gitter. Hände griffen nach dem Mädchen, versuchten, sie zu berühren, sie zu sich zu zerren. Die zarte Haut einer Frau. Viele von ihnen konnten sich noch nicht einmal daran erinnern, wie sich eine Frau anfühlte.

»Hey, Kleine! Wenn du am Leben bleiben willst, komm zu mir«, grölte einer der Häftlinge mit Tätowierungen im Gesicht.

Addy riskierte einen verstohlenen Blick zur Seite und errötete, als sie sah, dass er sich den Overall ausgezogen hatte und splitternackt dastand. Er streckte ihr sein erigiertes Glied durch das Gitter entgegen.

Einer der bewaffneten Wächter zog seinen Schlagstock und ließ ihn gegen die Streben prallen, sodass Addy zusammenzuckte. Erst erklang ein lautes Brüllen, dem unweigerlich ein Stöhnen folgte.

»Dieser Kerl wird erst einmal keine Kinder mehr zeugen können«, höhnte der Wächter. Es bereitete ihm sichtlich vergnügen, die Inhaftierten zu malträtieren, obwohl ein Großteil von ihnen wegen kleinerer Delikte einsaß.

Endlich erreichten sie das Ende des Korridors. Der zweite Wächter holte den Schlüsselbund hervor, damit sie die Tür passieren konnten. Krachend fiel das Monster aus Stahl hinter ihnen zu.

Addy hörte den Widerhall der Schritte, den die Stiefel der Wächter verursachten. Sie selbst trug keine Schuhe. Es war ein psychologisches Hilfsmittel, das im Gefängnis angewandt wurde. Barfüßige Häftlinge fühlten sich verletzbar, ja fast schon schutzlos.

Dennoch mutete ihren Schritten eine tänzerische Leichtigkeit an, da sie mehr auf den Zehenspitzen ging. Der kalte Boden ließ sie frösteln.

Sie erreichten eine weitere, kleinere Eisentür, welche die Gruppe erneut zwang anzuhalten.

Einer der Wärter klopfte.

»Hey! Ambrosius! Mach auf. Wir sind es«, rief der erste Wärter in die Kamera, die sich außer Reichweite befand. Zur Sicherheit hatte der Techniker sie an der Wand hinter dem Gitter befestigt.

Ein Klacken ertönte. Wie von Geisterhand öffnete sich die Tür einen Spalt, gefolgt von einem lauten Quietschen. Hinter der Tür war es still wie in einem Grab. Hatte man zuvor noch dumpfe Geräusche aus dem Nebentrakt hören können, so waren die nun gänzlich verschwunden. Noch nicht einmal eine Fliege würde sich hierher verfliegen.

Man nahm Addy die Handschellen ab und stieß die junge Frau grob durch eine schmale Tür. Viel fehlte nicht und Addy wäre gestürzt. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich gerade noch an der Pritsche abzufangen.

Es war keine Seltenheit, dass die Häftlinge den Schikanen der Wärter ausgeliefert waren. Dennoch … so heftig wurde sie noch nie gestoßen. Steht diese plötzlich aggressive Reaktion mit meiner Verurteilung in Zusammenhang? Sie wusste es schlichtweg nicht. Warum einen Gefangenen malträtieren, der sowieso nicht mehr lange hier sein würde? Welche Frustration breitet sich in diesen Menschen aus? Und zu was würde es die Wächter noch treiben?

Addy rieb sich über die Oberarme, während die massive Stahltür, die ein kleines Fenster im oberen Drittel beherbergte, mit einem ächzenden Geräusch ins Schloss fiel. Das Letzte, was sie mitbekam, war das grässliche Schaben, als der schwere Riegel von außen vorgeschoben wurde, gefolgt vom Rasseln des Schlüsselbundes, als man sie einschloss.

»Denkt ihr, ich besitze übernatürliche Kräfte?«, rief sie hinterher, doch niemand nahm Notiz. »Eingeschlossen und verbarrikadiert. Mit welcher Art Gefangenen habt ihr es denn sonst zu tun? Der starke Hans ist mir hier noch nicht begegnet«, murmelte sie.

Addy konnte sich dieses Übermaß an Vorsicht nicht erklären. Die Männer im anderen Trakt wirkten eher wie Menschen, deren Wut jeden Einzelnen zum unbezwingbaren Titanen verwandelte. Und wie sich soeben gezeigt hatte, behielten die Wärter die Oberhand.
Addy von Blum sah sich in ihrer neuen Unterkunft um: eine Zelle mit nur einem Fenster, das so klein war, dass selbst ein Lichtstrahl Schwierigkeiten hatte, einen Weg hindurchzufinden.

Sie drehte sich.

»Hallo! Hört mich jemand?« Sie rannte los, trommelte mit den Fäusten gegen die Stahltür. »Bitte! Bitte lasst mich nicht allein hier!«

Das Fenster wurde geöffnet. Kurz erblickte sie eine Hand. Dann schwebte das Dokument langsam auf den Boden, bis es vor ihren Füßen liegenblieb.

»Wenn du unterschreiben willst, schieb die Einverständniserklärung zur Hälfte durch den Spalt im Boden. Dann wissen wir Bescheid und du bekommst den Stift!«

Mit einem heftigen Ruck wurde das Fenster wieder zugeschoben.

Wieder allein.

Addy lehnte sich mit dem Rücken gegen den kalten Stahl und rutschte daran zu Boden. Das Gesicht in den Händen vergraben, wurde ihr Körper vom Schluchzen geschüttelt.

Sie wusste nicht, wie lange sie bereits weinend dasaß, als es an der Tür pochte. Benommen von den vielen Tränen blickte sie sich um. Das kleine Fenster in der Stahltür wurde geöffnet.

»Addy. Ich bin es. Dein Verteidiger. Bitte geh von der Tür weg.«
Wortlos kroch das Mädchen auf allen vieren durch den kleinen Raum auf die andere Seite. Unter Quietschen wurde der Riegel aufgeschoben, während sie sich auf die kahle Pritsche setzte.

Die Tür ging auf und Elias Anrecht betrat die Zelle.

»Rufen Sie uns, wenn Sie fertig sind«, forderte der Wachposten den Besucher emotionslos auf. Ohne auf dessen Bestätigung zu warten, schloss er die Tür.
Der gelbe Overall steht ihr ganz und gar nicht, bemerkte er in Gedanken.

Er hatte recht. Ihre schlanke Statur versank darin, als wolle man sie absichtlich unattraktiv erscheinen lassen.

Die beiden starrten sich an.

Trotz ihres verheulten Gesichts strahlte sie eine natürliche Schönheit aus. Unweigerlich musste der Anwalt schlucken. Das Zucken in seinem Schwanz erhöhte den Puls. Er war allein. Niemand würde ihn hindern ...

Angewidert über diesen Gedanken verzog er die Mundwinkel. Obwohl er zur oberen Gesellschaftsschicht zählte, hatte er bisher noch keine Frau bekommen. Sein Name stand auf der Warteliste. In ein paar Jahren würde es endlich so weit sein. Doch dann wäre er bereits Ende dreißig. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er dazu auserkoren wurde, eine Familie zu gründen. Er legte den Kopf schief, als ihm etwas ins Auge stach. Auf dem Boden erblickte er das Dokument. Er hob es auf und steckte es in die Außentasche seines Jacketts. Dann ging er mit leichten Schritten auf sie zu.

»Addy?« Er wartete, während sie sich mit dem Ärmel das Gesicht trockenwischte. Schließlich schaute sie ihn aus ihren großen smaragdblauen Augen an. Ein ungewohntes Gefühl überkam ihn und er spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete, sodass er sich erst räuspern musste, um ein vernünftiges Wort herauszubringen. »Darf ich mich zu dir setzen?« Er wartete nicht auf ihre Zustimmung, sondern setzte sich einfach neben sie. Die Arme auf den Oberschenkeln abgelegt, faltete er die Hände.

Ihr Atem ging schwer. Er reichte ihr ein Taschentuch, das sie mit zittrigen Fingern ergriff. Bedächtig reinigte sie sich die Nase.

»Besser?« Elias Anrecht klang fast schon besorgt.

Sie tat einen tiefen Atemzug.

Aus dem Augenwinkel vernahm er ein feines Nicken.

»Was wollen Sie?« Vom vielen Weinen klang ihre Stimme kratzig.

»Willst du wirklich sterben?« Er sah sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Kim Rylee - Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches - auch auszugsweise - sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
Bildmaterialien: Illustration Vahrgula: Alina Sawallisch
Cover: © Covergestaltung: Freya Rue-York – www.freya-rue-york-buecher-und-design.com
Lektorat: und Korrektorat: www.worttaten.de
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1141-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /