»Knie dich hin.« Der unterschwellige Befehlston stand im Widerspruch zu seiner sanften Stimme. Mit wenigen Schritten war er beim Fenster und verdunkelte den Raum, indem er die schweren fliederfarbenen Vorhänge zuzog.
Ohne Widerworte sank Aveline auf die Knie. Die innere Anspannung wollte sie auffressen, als sie aufsah und den hochgewachsenen Mann vor sich beobachtete. Eine kleine Lampe mit mattem Schein war die einzige Lichtquelle. Während sich ihre Augen an die dunklen Lichtverhältnisse gewöhnten, versteifte sich ihr Körper spürbar.
Die Temperatur im Zimmer schien kontinuierlich anzusteigen. Die dicken Vorhänge konnten die Hitze von draußen nicht gänzlich verbannen. Er zog sein schwarzes T-Shirt aus, warf es lässig auf den opulenten Sessel neben sich, bevor er sich umdrehte und sie anschaute.
Zum ersten Mal konnte Aveline seinen Oberkörper genauer betrachten und spürte plötzlich Hitze in sich aufsteigen. Ihre kleinen Flügel entfalteten sich. So sehr sie auch versuchte, es zu unterbinden, es gelang ihr nicht. Sie streckte ihre Brust heraus. Als wollten sie ihr Luft zufächeln, bewegten sich die Schwingen mit leichten Schlägen. Mit gebanntem Blick starrte sie ihn an und musste unweigerlich schlucken. Ein leichter Schweißfilm legte sich über ihre Stirn.
Jeder Muskel seines durchtrainierten Oberkörpers, der von wohlgeformten Armen eingerahmt wurde, zeichnete sich ab. Die Proportionen stimmten bis ins kleinste Detail.
Während er sie umrundete, schaute er sie aus seinen blauen Augen durchdringend an, wie ein Tiger, der seine Beute ins Visier nahm.
Mit wachsamem Blick verfolgte Aveline jede seiner Bewegung. Schließlich war er aus ihrem Sichtfeld verschwunden, als er hinter ihr zum Stehen kam. Ihre kleinen Flügel streckten sich zu den Seiten, dehnten sich aus, bis die Kralle an jedem Ende in bedrohlicher Stellung verharrte. Aveline schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. In dieser Position wartete sie darauf, was passieren würde.
Azrael so nah hinter ihrem Rücken zu wissen, verursachte ihr ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Bilder, die sie eigentlich vergessen wollte, tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Eine Gänsehaut schoss ihre Wirbelsäule hinunter.
In diesem Moment ergriffen seine Hände ihre Flügel, hielten sie kraftvoll fest und drückten sie nach unten.
Aveline erstarrte und keuchte. Ihr Puls begann zu rasen. Die Flügel wehrten sich heftig und wollten der Umklammerung entfliehen. Immer wieder wurde ihr Oberkörper kräftig vor und zurück gerissen. Verzweifelt versuchte sie, die Schwingen zur Ruhe zu zwingen, sie zu bändigen. Sie wollte aufstehen, doch Azrael hielt ihre Flügel fest im Griff, und damit auch sie.
»Atme, Aveline! Ganz ruhig«, hauchte er ihr von hinten ins Ohr.
»Konzentriere dich auf die Schwingen.«
So sehr sie es auch versuchte, es wollte ihr nicht gelingen. Verbissen presste sie die Lippen zusammen.
»Es geht nicht«, keuchte sie hilflos.
»Gib jetzt nicht auf, Aveline«, ermahnte er sie. Seine Stimme wurde forscher, drängender.
Noch immer spürte sie die kräftigen Hände, die verhinderten, dass sie von dem wilden Geflatter ihrer Schwingen durch das Zimmer gezerrt wurde. Schließlich riss sie sich zusammen, schloss die Augen und schaffte es tatsächlich, etwas ruhiger zu werden. Das Schlagen der Flügel ließ allmählich nach, als ein Seufzer der Erleichterung aus ihr herausbrach. Ein Schweißtropfen rann ihre Wange hinunter, während sie sich dazu zwang, weiterhin ruhig zu bleiben. Krampfhaft konzentrierte sie sich auf ihre Atmung. Presste die Lippen zu einem schmalen Streifen zusammen. Versuchte, ihren wild pochenden Herzschlag zu bändigen.
Langsam und ganz sachte strich er mit dem Finger an der äußeren Kante ihres ledrigen Flügels entlang, der sofort erstarrte, bis er schließlich bei der Kralle angelangt war. Das Gefühl, das sich in ihr entwickelte, war unbeschreiblich. Fast erotisch. Diese körperliche Reaktion verwirrte sie. Avelines Wangen erröteten, zugleich stellten sich ihre Nackenhärchen auf. Erneut beschleunigte sich ihr Atem und die Schwingen begannen wieder um sich zu schlagen.
Ohne Vorwarnung bohrte sich eine der Krallen in ihren Oberarm wie der Stachel eines Skorpions, verhakte sich in ihrem Fleisch und riss mit einem Ruck ein Loch in die Haut.
Sie schrie schmerzerfüllt auf. Blut rann an ihrem linken Arm hinab. Reflexartig schnellte ihre Hand zur Wunde und bedeckte sie. Gerade noch konnte sie verhindern, das Gleichgewicht zu verlieren.
Noch immer wollten sich die Flügel nicht beruhigen.
Sie versuchte erneut, sich zu konzentrieren. Tatsächlich hatte sie das Gefühl, dass die Flügel langsamer in ihren Bewegungen wurden, bis sie ausgebreitet verharrten.
»Setz dich auf die Fersen, Engelchen, dann hast du mehr Halt, und atme tief ein und aus.« Behutsam strich er kurz mit der Hand über ihr glattes Haar. Aveline folgte seiner Anweisung, während er ein weiteres Mal zu einer Runde um sie herum ansetzte.
»Das machst du sehr gut.«
Er stellte sich vor sie, mit dem Gesicht zum Fenster.
Verwundert blickte Aveline auf die Tätowierung auf seinem Rücken. Zum ersten Mal nahm sie das Körperbild in seiner Gesamtheit wahr. Noch nie hatte sie Azrael mit freiem Oberkörper gesehen. Sie fragte sich, ob er sich für seine Tätowierung schämte.
Vielleicht eine Jugendsünde? Innerlich schüttelte sie den Kopf, da sie noch nicht einmal wusste, wie alt Azrael tatsächlich war.
»Wieso hast du dir Flügel auf den Rücken tätowieren lassen?«
Als er den Kopf zur Seite drehte, legte sich der Anflug eines Lächelns in seinen Mundwinkel.
Sie genoss den Anblick dieses wunderschönen Profils, seine weichen und doch markanten Gesichtszüge, die sie vor Entzücken dahinschmelzen ließen. Seine Anmut raubte ihr fast den Atem.
Richtig sexy! Besonders bei diesen verruchten Lichtverhältnissen. Ist das etwa ein verlegenes Lächeln, das ich gerade in seinem Ausdruck zu sehen glaube?
Sein Rücken spannte sich und er stemmte die Hände in die Hüften. Die Muskeln begannen miteinander zu tanzen und ließen die Flügeltätowierung lebendig wirken.
Aveline traute ihren Augen nicht. Erstaunt öffnete sie den Mund. Ihre Sinne wollten ihr wohl gerade einen Streich spielen. Die Tätowierung verwandelte sich in richtige Flügel. Und was für Flügel! Riesige, aber wunderschöne schwarz glänzende Federn umgaben Azrael wie eine Aura, als er sich ihr zuwandte. Er schien ihre Verblüffung zu genießen. Als er einen plötzlichen Flügelschlag machte, wehte ihr langes schwarzes Haar dabei über die Schultern auf ihren Rücken. Aveline konnte nicht anders, als zu staunen.
Ihre Flügel wollten sich ebenfalls beweisen und setzten das heftige Flattern fort.
Avelines Miene verzerrte sich.
»Verdammt! Nicht schon wieder«, stöhnte sie und zog sich weitere schmerzhafte Schnittwunden zu. Sie warf sich auf den Boden, um der Attacke zu entfliehen. Doch die Flügel drangsalierten sie immer wieder.
»Aua! Verdammte Dinger! Lasst mich endlich in Ruhe«, rief sie voller Entsetzen und schlug nach ihnen, als würde eine angriffslustige Wespe ihren Körper umkreisen.
Azrael hatte Erbarmen, fing die Schwingen ein und umklammerte sie, sodass sie Aveline nicht weiter verletzen konnten.
»Atme, Aveline! Ganz ruhig. Du musst sie kontrollieren, nicht sie dich«, erklärte er in einem forschen Ton, doch sie hatte keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Die Schwingen machten einfach, was sie wollten. Er lockerte seinen Griff.
»Au!« Erneut schaffte es eine Kralle, sich in ihren Arm zu bohren.
»Ich kann es nicht!« Sie war der Verzweiflung nah. Mit einem heftigen Ruck riss sie sich aus Azraels Umarmung und Schmerz durchbohrte ihre Schultern. Kurz hatte sie Angst, dass einer der Flügel gebrochen sein könnte, doch die Schwingen setzten ihr heftiges Flattern unerbittlich fort.
Sie wollte diese eigenwilligen Dinger, die ihr nur das Leben schwer machten, nicht haben. Andauernd zerrissen ihre T-Shirts. Schützend legte sie die Hände über den Kopf, damit die Krallen sich nicht auch noch an ihrem Gehirn zu schaffen machen konnten.
»Das schaffst du schon. Du darfst nicht verzweifeln; die Flügel spüren das. Auch sie müssen sich erst an dich gewöhnen. Gib ihnen die Möglichkeit.« Zärtlich zog er sie zu sich. Azrael hielt Avelines ungewollte neue Errungenschaft fest, um die Quälgeister daran zu hindern, sie weiterhin zu terrorisieren. Mit dem freien Arm umarmte er sie.
Sie drückte ihre Stirn gegen seine starke Brust.
»Dann sollen diese hässlichen Dinger mir eine Chance geben und damit aufhören, mich umzubringen«, schluchzte sie.
»So einfach geht das nicht. Du bist diejenige, die sie kontrollieren soll und muss.« Er zog seine mächtigen Schwingen ein.
»Daher wird es deine Aufgabe sein, sie davon zu überzeugen, dass sie dir vertrauen können.« Er runzelte die Stirn, während sein Blick für ein paar Sekunden länger auf ihren Flügeln verweilte.
»Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du nicht willst, dass sie dich beherrschen.«
Eine Minute lang schauten sie sich an.
Aveline kaute auf ihrer Unterlippe herum. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Unsicher senkte sie den Blick.
»Ich lasse jetzt los. Okay?«
Wie ein wildes Tier, eingesperrt in einem zu kleinen Käfig, lief sie in dem riesigen Wohnzimmer der Hotelsuite auf und ab. Sie trug ein schwarzes Spaghetti-Top, eines der wenigen Kleidungsstücke, das die Schwingen noch nicht zerfetzt hatten. Gerade legten ihre Flügel eine Pause ein und schlangen sich wie eine Korsage um ihren Oberkörper. Dabei kreuzten sich die beiden Krallen und bildeten eine Art Verschluss vor ihrer Brust. Samaels durchdringender Blick verfolgte sie bei ihrer Wanderung.
»Seit über drei Wochen haltet ihr mich hier schon fest. Ich muss mal wieder raus. Ich brauche frische Luft und …« Aveline überlegte kurz, doch ihr fiel nur etwas typisch Weibliches ein, »... neue Klamotten und Schuhe!«
»Schuhe!« Dem Dämon sackten die Mundwinkel nach unten.
»Echt jetzt, Aveline?«, schnaubte Samael.
»Außer diesen Knobelbechern, die das Ende deiner Beine einleiten, lässt du doch kein anderes Paar Latschen überhaupt in die Nähe deiner Füße.« Genervt rollte er mit den Augen.
»Wie nennst du meine Doc Martens? Knobelbecher?« Demonstrativ stampfte sie auf den Dämon zu. Er wollte gerade etwas erwidern, als Azrael durch die Tür geschlendert kam. Der Erzengel wirkte heiter, fast schon ausgelassen, was bei ihm eher eine Seltenheit war. Er hatte zwei große Einkaufstüten bei sich und reichte sie Aveline.
»Hier, für dich. Ich hoffe, es sagt dir zu.«
Aufgeregt nahm sie die Tüten entgegen und wühlte darin herum. Zwei schwarze Hosen, vier Oberteile sowie ein paar Dessous.
Woher kennt er denn meine Größe? Verwundert hob sie die Augenbrauen, zog einen schwarzen Spitzen-BH heraus und sah ihn an.
»Ist es die richtige Größe?« Unsicherheit spiegelte sich in seinen Augen.
»Kannst du Gedanken lesen?«
Ihre Überraschung verursachte ein Zucken in seinem Mundwinkel.
»Wir brechen bald auf, und da, wo wir hingehen werden, gibt es keine Geschäfte oder Boutiquen, wie du sie kennst. Also dachte ich, du wirst etwas brauchen«, wechselte er das Thema.
»Azrael, der Frauenversteher«, neckte Samael ihn, während er sich eine Zigarette drehte. Falls Erzengel überhaupt erröten konnten, dann hatte Azrael sich gut unter Kontrolle. Auch seine Miene veränderte sich nicht. Zu lange kannte er bereits den Dämon, um sich darüber aufzuregen, wenn der ihn aufzog.
»Wir gehen fort? Wohin?« Aveline schnappte sich die Tüten. Die Aufregung hatte nun vollends von ihr Besitz ergriffen. Endlich kam sie aus dem Hotelzimmer heraus.
»Wir fahren nach Stonehenge«, erklärte Samael ruhig und blies Ringe aus Rauch in die Luft.
Die Geschenke fielen mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.
Aveline runzelte die Stirn.
»Stonehenge? Dort gibt es doch nur ein paar alte Steine. Was wollen wir da?« Ihre Laune erreichte gerade den Keller des Hotels und wollte sich darin verstecken.
Außer der kleinen Ortschaft Amesbury und diesem Steinkreis gab es dort nichts.
Samael bemerkte ihren Unmut.
»Dort gibt es bei Weitem mehr, als du denkst, Aveline.«
An dieses diabolische Grinsen hatte sie sich auch in den letzten Wochen nicht gewöhnen können.
Samael war ein Dämon, direkt der Unterwelt entstiegen. Aveline wusste um seine Kräfte, seine Schwarze Kunst, denn die hätte sie fast am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Sie hatte den Weißen Schatten namens Nagual in sich getragen. An ihrem zwanzigsten Geburtstag wollte Nagual von ihrem Körper Besitz ergreifen, um mit ihrer Schwester Zalmona die Erde zu beherrschen.
Samael und der Dunkle Engel Azrael machten gemeinsame Sache. Sie hatten das Schlimmste verhindern können, ohne Aveline töten zu müssen.
Nagual war in Avelines Träumen erschienen – die einzige Art, in der sie mit ihrem Wirtskörper kommunizieren konnte. Dabei hatte sie ihr gezeigt, zu welchen üblen Taten Azrael und der Dämon fähig waren. Hautnah musste Aveline erleben, wie Azrael und Samael den Weißen Schatten, mit viel Geschick, in die Unterwelt beförderten. Aveline wusste, Samaels Fähigkeiten waren hier, auf der Erde, nicht so stark ausgeprägt, doch sie reichten immer noch aus, um reichlich Chaos und Zerstörung herbeizurufen.
Sie überlegte, ob der Spruch, dass Menschen sich ändern konnten, auch für Dämonen galt. Bis vor kurzem hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass Dämonen und Engel wirklich existierten. Und nun war sie selbst ein Engel geworden. Allerdings mit verstümmelten und, ihrer Ansicht nach, hässlichen Flügeln ohne Federn, die sich so gar nicht zum Fliegen eignen wollten.
In den letzten Wochen hatte Azrael versucht ihr beizubringen, wie man sie unter Kontrolle brachte. Mit mäßigem Erfolg. Entweder war er kein guter Lehrmeister oder sie eine dumme Schülerin, die einfach nichts gebacken bekam. Noch immer hatten die Flügel ein Eigenleben, klappten einfach so aus und zerrissen dabei jedes Mal ihre T-Shirts. Ähnlich wie bei einer Fledermaus befand sich an der Seite der beiden ledrigen Schwingen jeweils eine fiese Kralle von fünf Zentimetern Länge.
Aveline hatte die These aufgestellt, dass Batman auch keine Comicfigur war und es ihn wirklich gab. Doch bisher fehlten ihr die Beweise, die ihre Theorie untermauerten.
»Hast du schon deine Sachen gepackt?«, riss Azrael sie aus ihren Gedanken.
»Äh ... wie?«
»Bis zwölf Uhr müssen wir aus der Suite raus sein«, gnatzte Samael.
»Oh. Nein, noch nicht.« Eilig sammelte sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, hielt plötzlich inne und blickte Samael überrascht an.
»Worin soll ich die Klamotten denn transportieren? Etwa in den Papiertüten? Oder hat jemand von euch auch an einen Koffer für mich gedacht? Schließlich besitze ich nichts mehr, außer dem, was sich hier im Hotelzimmer befindet.«
Wie aufs Stichwort kam Azrael aus dem Schlafzimmer und schob einen riesigen Schrankkoffer vor sich her, in dem bequem ein Mensch Platz gehabt hätte. Um das Ungetüm leichter bewegen zu können, hatte er ihm ein paar Rollen verpasst.
Avelines Augen wurden riesig, als sie das alte Ding erblickte.
»Wow! Wo hast du dieses zarte Teil denn aufgegabelt?« Vorsichtig umrundete sie das Museumsstück, bei dessen Anblick jeder Magier vor Entzücken in die Hände geklatscht hätte. Für eine Zaubershow war der Koffer das ideale Requisit. Ihre Hand befühlte das harte und bereits rissig gewordene Leder, die stumpfen Riemen und die abgenutzten Schlösser. Der Koffer reichte ihr bis zum Hals.
Azrael zog eine Augenbraue hoch.
»Das ist unser Reisekoffer. Ich denke, da wird auch noch Platz für deine Klamotten sein«, erwiderte er trocken. Dann öffnete er die eine Seite der Tür, schließlich die andere.
Aveline war so baff, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Sofort begann sie, ihre Sachen darin zu verstauen. Dazu benötigte sie gerade mal fünf Minuten, denn so viele Kleidungsstücke besaß sie schließlich nicht.
Samael gab den Zimmerschlüssel ab und sie gingen zum Van.
Abrupt blieb Aveline stehen, als Azrael die Tür zur Seite schob. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und die Flügel begannen sich auseinanderzufalten.
Azrael schien ihre Gedanken zu lesen.
»Keine Panik. Diesmal gibt es keine Ketten für dich.« Mit einer knappen Kinnbewegung deutete er ihr an einzusteigen. Es war die Art von Geste, die ihr noch immer die Säure im Magen aufsteigen ließ, als die Erinnerungen der letzten Fahrt im Van in ihr wieder lebendig wurden.
Aveline bewegte sich noch immer nicht.
Der Engel stellte sich hinter sie, damit niemand ihre Flügel sah, und wies mit dem Finger auf den Innenraum.
Nachdem Aveline noch immer keine Regung zeigte, faltete er ihre Flügel zusammen, legte die Hand in ihren Rücken und schob sie in Richtung des Vans. Sie leistete keinen Widerstand.
Zögernd stieg sie in den hinteren Teil des Lieferwagens ein und setzte sich auf die schmale Bank. Sie fröstelte und streifte sich ein T-Shirt über das Spaghetti-Top. Aufmerksam durchforstete ihr Blick den Innenraum. Die eiserne Kette hatte jemand entfernt. Nur der Befestigungsring am Boden war noch vorhanden. Der Schrankkoffer sowie eine große Tasche mit Getränken und einigen Sandwiches hatte der Erzengel bereits zuvor in der hinteren Ecke verstaut. Er kroch ebenfalls in den Van.
Diesmal setzte er sich zu ihr, während Samael sich hinter das Steuer klemmte.
»Was machen wir, wenn wir in Stonehenge angekommen sind?« Noch immer konnte sie sich nicht erklären, was sie dort sollten.
»Wir kennen dort jemanden, der uns helfen wird herauszufinden, ob noch etwas von Naguals Lebensenergie in dir fließt. Wenn dem so sein sollte, müssen wir alles daransetzen, dass du diesen Parasiten endlich loswirst. Sonst besteht die Gefahr, dass der Zirkus wieder von vorn beginnt. Und vertrau mir, Engelchen, wenn ich dir sage, dass du auf diese Erfahrung verzichten kannst.«
Ihr Kiefer klappte nach unten.
»Ihr glaubt, es steckt immer noch etwas von dieser Bestie in mir?« Ein mulmiges Gefühl beschlich Aveline. Die letzten Ereignisse hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Der Plan, den die Dimensionswandlerin mit ihr verfolgt hatte, hätte zur Folge gehabt, dass nur noch Avelines Körper existierte, ihr Geist jedoch unterdrückt würde. Dieses Wesen hatte vorgehabt, sie umzubringen. Ihr die Lebensenergie zu rauben, um selbst zurück ins Leben zu treten. Aveline erschauderte bei dem Gedanken. Es behagte ihr ganz und gar nicht, noch etwas von diesem schrecklichen Parasiten in sich zu tragen. Und sei es auch nur ein kleiner Rückstand.
Azrael zuckte mit den Achseln.
»Das wird sich zeigen.«
»Wieso denkt ihr, dass es so sein könnte?«, hakte sie vorsichtig nach.
»Du besitzt Flügel«, schleuderte Samaels ihr barsch entgegen.
Aveline blickte erschrocken auf und sah im Rückspiegel, wie sich Samaels schmale Augen noch weiter verengten. Innerlich zuckte sie zusammen. Dieser Blick verhieß nichts Gutes. Angst kroch an ihren Beinen empor, umklammerte ihr Herz mit ihren Klauen und drückte kurz zu.
Samael blieb diese Regung nicht verborgen.
»Wir wollen dir helfen, Aveline. Wirklich.« Seine Stimme wurde etwas weicher und Aveline versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen, denn sie spürte die Flügel, die sich erneut ausbreiten wollten. Sie nahm einige tiefe Atemzüge und konnte gerade noch verhindern, dass sie ihr das Oberteil zerrissen.
»Was passiert, wenn mir nicht zu helfen ist?«
Sie überlegte. Unsicher kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Wollte sie wirklich eine Antwort auf diese Frage? Doch sie konnte die Neugierde nicht vertuschen. Sie herrschte über ihr Mundwerk und plapperte einfach darauf los.
Azrael rückte näher an Aveline heran und legte den linken Arm um ihre Schultern. Er war so verdammt stark. Nie könnte sie gegen jemanden wie ihn bestehen. Und gemeinsam mit seinem Freund, der zudem noch ein Dämon war, hatte sie das denkbar mieseste Kartenblatt in der Hand, das man sich vorstellen konnte. Auch wenn sie in den letzten Wochen immer nett zu ihr gewesen waren, so wusste sie, dass keiner von ihnen zögern würde, sich gegen sie zu stellen, sollte tatsächlich noch etwas von dieser Nagual in ihr stecken.
»Wir werden alles versuchen, damit wir sie endgültig loswerden, sofern noch etwas von ihr auf dieser Welt weilen sollte. Und du, Engelchen, solltest dir nicht so viele Gedanken machen. Vertrau uns einfach.« Mit dem Zeigefinger tippte Azrael auf ihre Nasenspitze, während Aveline in seinen blauen Augen versank.
Bilder ihrer ersten Begegnung im Zug kamen ihr in den Sinn. Er war betrunken, seine Kleidung dreckig und kaputt. Damals hatte sie große Abscheu vor ihm empfunden. Dann wurde sie von ihm entführt und schließlich gerettet. Doch auch die Bilder, die Nagual mit ihr teilte, hatte Aveline noch immer im Kopf. Azrael war ein gefallener Engel und alles andere als gutmütig. Der Schein konnte trügen. In seinem langen Dasein hatte er bereits viel erlebt und Leiden verursacht. Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass sie etwas für ihn empfand. Samael hingegen … Ihm traute Aveline nicht von hier bis zu ihrer Nasenspitze.
Der Dämon missbilligte, dass die beiden Engel sich so gut verstanden. Seit David, Avelines damaliger Freund, sie verlassen hatte, kümmerte sich Azrael rührend um sie. Noch immer wurde ihr Herz schwer, wenn sie daran zurückdachte, als David sich von ihr trennte. Er konnte es nicht ertragen, dass sie nun unsterblich war. Oder lag es vielleicht nur an ihren Flügeln? Schließlich war sie ein ganz normaler Mensch gewesen, als sie David im Pub kennenlernte. Sie konnte nachvollziehen, dass David die jüngsten Ereignisse erst einmal verdauen musste. Vielleicht gab es ja doch noch eine Chance für sie beide? Wollte sie es überhaupt? In den letzten Wochen hatte sie sehr viel Zeit mit Azrael verbracht. Nicht, dass sie sich nähergekommen waren, doch etwas schien sie mit ihm zu verbinden. Aveline wusste nicht, was es war, doch sie war dem Erzengel innerlich dankbar. Er brachte ihr vieles bei, hatte sogar einen Verhaltenscodex für Dunkle Engel erstellt. Aveline musste immer schmunzeln, wenn er von ihr verlangte, die Regeln auswendig zu lernen und herunterzubeten.
»Woran denkst du gerade?«, riss er sie in das Hier und Jetzt zurück.
Aveline stieß hörbar die Luft aus der Lunge.
»Es sind so viele Dinge passiert. Ich kann das alles noch gar nicht richtig begreifen. Bin ich wirklich unsterblich? Und habe ich magische Kräfte?«
In Azraels Antlitz leuchtete Verständnis auf. Er konnte nachvollziehen, was gerade in ihr vorging. Schließlich war auch er nicht von Geburt an ein Engel.
»Das werden wir alles noch herausfinden müssen. Es ist schließlich das erste Mal, dass aus der Lebensenergie einer Dimensionswandlerin ein ...«, er schien nach dem passenden Begriff zu suchen und fuhr sich mit dem Zeigefinger über das Kinn, »na ja, halt so etwas wie du entstanden ist. Du wirst die Geschichte neu schreiben, Engelchen.« Er hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel und setzte sich auf die gegenüberliegende Bank.
Aveline war keinen Schritt weitergekommen. Besonders der Gedanke an die Unsterblichkeit machte ihr zu schaffen.
Wie ist es, wenn man ewig lebt?
Samael warf ihnen einen argwöhnischen Blick im Rückspiegel zu. Die Zuneigung, die Azrael der jungen Frau zukommen ließ, behagte ihm nicht.
Am späten Nachmittag passierte der Van mit dem illustren Trio Stonehenge.
Das beliebte Touristenziel war auch diesmal von neugierigen Blicken überhäuft. Hunderte Kameras und Handys versuchten den Steinkreis für die Ewigkeit digital festzuhalten. Drei kreischende Kinder, die auf einen der riesigen Quader zurannten, wurden von ihren Eltern wieder eingefangen. Heute schien es übermäßig viele Besucher zu geben, denn die Sonne zeigte ihr schönstes Gesicht, zudem war es angenehm warm.
Samael parkte den Wagen in einer kleinen Seitenstraße in Amesbury. Die Stadt mit ihren knapp neuntausend Einwohnern lag in der Nähe des Steinkreises.
Schließlich stieg er in den hinteren Teil des Vans zu den beiden.
Interessiert steckte Aveline den Kopf aus der Türöffnung und blickte sich um. Sofort kam Langweile in ihr auf. Amesbury hatte den Charme eines Dorfes.
Es würde hier nicht so viele Häuser geben, wenn es diese Steine nicht gäbe, schoss es ihr durch den Kopf. Hier gab es nichts Aufregendes.
Samael bemerkte ihren desinteressierten Ausdruck.
»Gefällt es dir hier nicht?« Der Sarkasmus triefte aus seinen Mundwinkeln.
Wäre sie in der Lage gewesen, mit ihren Augen Blitze zu schleudern, so hätte Samael, egal ob Dämon oder nicht, in Deckung gehen müssen. Seine blöde Frage trug nicht gerade zur Besserung ihrer Laune bei.
Die beiden Männer begannen sich umzuziehen. Samael trug eine weite, an den Beinen bereits ausgefranste Leinenhose, dazu ein zerschlissenes Hemd aus heller Baumwolle. Er zog ein Paar lederne Schuhe hervor, dessen Spitzen vorne leicht nach oben gebogen waren. Trotz der Wärme warf er sich einen Kapuzenumhang aus rauer Wolle um die Schultern.
Azrael behielt die schwarze Hose an. Er wechselte nur das Hemd und wirkte nun wie ein Edelmann aus dem Mittelalter. Sein Kapuzenumhang sowie seine Stiefel waren ebenfalls schwarz.
Aveline behielt ihre schwarze Bondagehose und das weite, langärmelige Shirt an, das ihre Flügel verbarg. Zudem fühlte sie sich in ihren Doc Martens noch immer am wohlsten.
»Nehmen wir den Koffer nicht mit?«, fragte sie, während Azrael den Koffer wieder in der Ecke verstaute.
»Wenn du ihn trägst, darfst du ihn mitnehmen«, stichelte Samael.
Langsam war sie diese ewigen Provokationen leid. In ihren Augen war Samael eine ungehobelte Kreatur, die durch die Kinderstube lediglich geflogen war. Von Anstand keine Spur. Mit einer wegwerfenden Geste tat Aveline seine Bemerkung ab.
Nachdem die beiden Männer sich umgezogen hatten, stiegen sie aus dem Wagen. Azrael schob die Tür zu und Samael betätigte die Fernbedienung. Das Piepsen und dazu ein kurzes Aufflackern der Blinker signalisierten, dass der Wagen verschlossen und die Alarmanlage aktiviert war.
Wer würde hier, in diesem verschlafenen Dorf, etwas stehlen wollen? Und ganz besonders diesen Van? Aveline lächelte innerlich, während sie sich an die Zeit zurückerinnerte, als sie mit ihrer Gang schicke Autos und teure Sportwagen gestohlen hatte. Sie war sehr gut darin gewesen, die neusten Alarmanlagen lahmzulegen.
Denkt dieser Dämon, dass der Van nun nicht mehr gestohlen werden kann? Da irrt er aber gewaltig! Sie schmunzelte in sich hinein.
»Einen Silberdukaten für deine Gedanken, Aveline.« Samael blickte die junge Frau mit schräg gelegtem Kopf an.
»Och, ich habe nur ein wenig in der Vergangenheit geschwelgt.« Ihr war nicht nach einem Plausch zumute. Sie musste wissen, was sie in dieser gottverlassenen Gegend wollten.
»Als du noch kriminelle Machenschaften pflegtest?« Ein geschmeidiges Lächeln huschte über das Gesicht des Dämons, als er das Wort ›kriminelle‹ aussprach. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, verfinsterte sich Avelines Miene.
Weiß er etwas? Und wenn ja, woher?
»Was meinst du?«, fragte sie ihn mit einem gespielt unschuldigen Lächeln.
»Aveline, wir hatten dich schon seit Längerem im Auge. Glaubst du, wir wüssten nicht, was du noch vor zwei Jahren angestellt hast?« Er hob die rechte Hand und ballte sie zur Faust. Nacheinander schnellte ein Finger nach dem anderen hervor, während er die einzelnen Punkte aufzählte.
»Diebstähle, Einbrüche, Autoschieberei ...«
»Ist ja gut! Hör auf!«, unterbrach sie ihn barsch und wurde blass – wenn sie überhaupt noch blasser werden konnte. Seit ihrer Verwandlung hatte Avelines Haut einen elfenbeinfarbenen Ton angenommen, welcher der sprichwörtlichen vornehmen Blässe alle Ehre machte.
»Ihr wisst, was ich ...?« Es verschlug ihr die Sprache und sie senkte traurig den Kopf. Sie hatte so gehofft, dass sie das nun alles hinter sich lassen konnte. Sie wollte ein neues Leben beginnen und dieses dunkle Kapitel in ihrem Buch des Lebens endgültig zuschlagen.
»Komm, Engelchen!« Azrael ging auf sie zu und legte den Arm tröstend um ihre Schulter. Fast wirkten sie wie ein verliebtes Pärchen, während sie gemeinsam die Straße entlanggingen. Mit mürrischer Miene folgte Samael ihnen, bis sie zu einer Wiese kamen. Auf ihr befand sich eine Ansammlung von Bäumen, die einen Kreis bildete. Die beiden Freunde steuerten direkt auf den Hain zu und spazierten in das Dickicht hinein.
»Wollen wir ein Picknick machen?« Widerstrebend folgte sie ihnen, hielt jedoch ausreichend Abstand. Sie wollte sichergehen, dass der Dämon und der Engel nicht wieder etwas ausgeheckt hatten, was sie in Bedrängnis bringen konnte.
Aveline sah nur Bäume und konnte sich nicht erklären, was sie hier wollten. Sie hörte ein Rascheln und drehte den Kopf zu der Seite, aus der sie das Geräusch vernommen hatte. Sie glaubte für einen kurzen Augenblick, ein seltsames Tier vor einem Baum gesehen zu haben. Ohne nachzudenken, lief sie auf die Stelle zu, wo sie das Tier vermutete, und blieb vor einer sehr alten Eiche stehen. Der Stamm hatte bereits einen beachtlichen Umfang erreicht. Vorsichtig lugte sie darum herum.
Da war nichts. Es war ruhig.
Jetzt erst bemerke sie, dass ihre Begleiter nicht mehr da waren. Hastig schaute sie in alle Richtungen, drehte sich mehrmals im Kreis. Doch nirgends waren Azrael und Samael zu sehen. Sie waren wie vom Erdboden verschwunden. Etwas hatte sich schlagartig verändert. Eine unwirkliche Stille umgab sie. Außer den Bäumen und einen riesigen Dornenbusch sah Aveline nichts.
Haben sie sich in Luft aufgelöst?
Verwirrt drehte sie sich erneut in alle Richtungen, um nach ihnen Ausschau zu halten.
Sollte sie nach ihnen rufen?
»Ace?« Sie hielt die Luft an und horchte intensiv.
Nichts.
Totenstille herrschte um sie herum. Noch nicht einmal der Wind zauberte ein Blätterrascheln aus den Baumkronen hervor.
»Sami?«, startete sie einen weiteren Versuch. Das kurze Zwitschern eines Vogels brach die Stille für wenige Sekunden, bis er wieder verstummte.
»Wo seid ihr?«
Konzentriert lauschte sie, als sie den Motor eines Wagens in der Ferne näher kommen hörte. Das Röhren des Auspuffs entfernte sich wieder. Sie waren also nicht weit von der Straße entfernt.
»Azrael! Samael! Das ist nicht lustig!« Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
Was soll ich tun? Hier warten? Weglaufen? Wohin soll ich gehen?
Der Erzengel hatte ihr klargemacht, wie sie sich in der Öffentlichkeit zu verhalten hatte. Die Menschen waren noch längst nicht bereit, ein Wesen wie sie zu akzeptieren. Sobald die Gefahr bestand, dass sie auffällig und entdeckt wurde, stand Azrael ihr stets zur Seite und beschützte sie.
Ist ihnen vielleicht etwas zugestoßen?
Aveline machte sich Sorgen. Sie hatte nichts mehr von ihnen gehört, seit ...
»Wo zur Hölle habt ihr euch versteckt?«, rief sie schon fast panisch, doch noch immer bekam sie keine Antwort. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit und sie schluckte trocken.
Wie aus dem Nichts teilte ein Zischen die Luft. Aveline zuckte zusammen. Um einen Schrei zu unterdrücken, presste sie die Hand auf den Mund, als sich unmittelbar neben ihrem Kopf ein Pfeil mit einem dumpfen Ton im Baumstamm versenkte. Ihr Herz machte einen doppelten Salto. Sie wollte wegrennen, doch die Beine gehorchten ihr nicht. Als hätten ihre Füße Wurzeln geschlagen und sich fest im Boden verankert, blieb sie stehen. Im Augenwinkel sah sie das Ende des Pfeils, der im Baumstamm vibrierte. Die Federn daran leuchteten golden. Aveline schluckte. Das Reißen von Stoff war zu hören. Ihre Flügel brachen heraus. Sie stellten sich in drohender Position auf, bereit, die Krallen in das Fleisch des Angreifers zu versenken, um ihm unsagbare Schmerzen zuzufügen. Avelines Hände tasteten rücklings nach Halt, bis sie die raue Borke des Stamms erfühlte. Sie wusste, er würde ihr keine Sicherheit geben, doch sie brauchte etwas, an dem sie sich festhalten konnte.
»Wer ist da?« Ihre Stimme kam flach und zittrig. Sie wusste, hier stehen zu bleiben war eine dumme Idee, da sie ein gutes Ziel bot. Doch ihre Knie zitterten wie Espenlaub und verhinderten, dass sie auch nur einen Schritt machen konnte.
»Ich besitze keine Wertsachen. Ehrlich!«, versuchte sie es erneut, doch eher, um sich selbst zu beruhigen. Das Blut rauschte durch ihre Adern, als sie ein helles Lachen um sich herum vernahm. Es schien aus allen Richtung zu kommen. Zumindest konnte sie die genaue Herkunft nicht orten.
Aveline biss sich auf die Unterlippe und schaute sich vorsichtig um. Ihre Flügel hatten ihr Eigenleben wiederaufgenommen, und momentan machten sie keine Anstalten sich zu beruhigen. Bedrohlich bewegten sich die Schwingen vor und zurück, als wollten sie einen Versuch starten abzuheben. Dafür waren sie weder groß noch kräftig genug. Stattdessen verhedderten sich die Flügel in ihrem zerfetzten Shirt. Wenigstens war Aveline so geistesgegenwärtig gewesen und hatte unter das Oberteil ein Trägertop angezogen, sodass ihr die Peinlichkeit einer Entblößung erspart blieb.
»Bleibt, wo Ihr seid, und rührt Euch nicht«, rief eine männliche Stimme.
Da sie noch immer nicht ausfindig machen konnte, woher sie kam, bewegte Aveline sich nicht einen Millimeter. Vermutlich gehörte die Stimme zum Bogenschützen. Es erschien ihr ratsam, seiner Aufforderung nachzukommen und einfach am Platz zu verharren. Sie hätte auch nicht gewusst, wohin sie flüchten sollte. Noch immer konnte sie nicht ausmachen, wer den Pfeil auf sie geschossen hatte.
»Was wollen Sie von mir?« Durch die Anspannung überschlug sich ihre Stimme. Ängstlich suchten ihre Augen die Umgebung ab.
Wo hat er sich versteckt?
Sie wandte ihr Augenmerk nach oben. Selbst in den Baumkronen war nichts Außergewöhnliches zu entdecken.
Plötzlich packte jemand ihren Arm. Vor Schreck machte Aveline einen Satz zur Seite. Das Schlagen ihrer Flügel verstärkte sich und sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
»Nein!«, schrie sie voller Entsetzen.
»Beruhige dich, Aveline! Wir sind’s doch nur.«
Jetzt endlich erkannte sie ihn. Es war Azrael.
»Jemand hat auf mich geschossen. Hier. Der Pfeil!« Mit zittrigen Fingern deutete sie auf das im Baum steckende Geschoss, während ihre Stimme wie ein altes Scharnier quietschte, das dringend eine Ölbehandlung benötigte.
»Warst du das?« Wie eine Furie ließ sie ihren Gefühlen nun freien Lauf.
»Oder dieser verfluchte Dämon? Samael traue ich ohne Weiteres diesen schlechten Scherz zu!«
Nachdem sie sich Luft gemacht hatte, blickte sie den Engel fordernd an, der sie nur verständnislos anstarrte. Allmählich begann sich ihr Puls zu beruhigen, und mit ihm die Flügel.
Erleichtert stellte sie fest, dass es Azrael gut ging. Zumindest hatte es den Anschein.
»Beruhige dich, Aveline. Es ist alles in Ordnung. Niemand wird dir etwas antun. Das war nur eine Warnung«, erklärte er beherrscht.
»Eine Warnung?« Große Verblüffung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Eine Warnung?«, schrie sie heraus, sodass einige Vögel aufgeschreckt das Weite suchten. Unbeholfen entledigte sie sich des zerrissenen Shirts, in dem sich ihr linker Flügel verheddert hatte und ihn gefangen hielt. Verärgert warf sie den Stofffetzen auf den Boden.
Samael war ebenfalls zu ihnen gestoßen. Ihn schien Avelines Aufgebrachtheit zu amüsieren.
»Wovor will man mich warnen?« Mit aufgerissenen Augen starrte sie zwischen Azrael und Samael hin und her. Letzterer brach in Gelächter aus und hielt sich den Bauch.
»Ames, du kannst herauskommen«, rief der Dämon noch immer laut lachend in den Wald hinein.
Es raschelte.
Ihre Augen suchten nach dem Ursprung des Geräusches, doch nichts war zu erkennen. Doch dann ... Plötzlich war da etwas. Aveline rieb sich die Augen.
Anfangs war es ein Flimmern, doch je näher das Flimmern kam, desto besser war es zu erkennen. Zuerst eine Silhouette, dann verwandelte sie sich in eine Figur. Die Transparenz wich. Die Gestalt manifestierte sich immer mehr – so wie aus flüssigem Material Glas entstand. Nur dass es in diesem Fall kein Glas war, sondern ein Mann von ungefähr vierzig Jahren. Als er vor ihnen stand, hatte er nichts mehr von einem Geisterwesen.
Er war sehr schlank. Mit seinen fast zwei Metern überragte er sogar Azrael. Dunkles lockiges Haar reichte ihm bis zu den Schultern und wurde durch ein simples Stirnband aus Leder gebändigt. Seine Kleidung bestand aus einer engen Lederhose und einem Ledershirt, dazu trug er weiche Lederschuhe. Ihr fiel auf, dass seine Knie nach hinten abknickten wie bei einem Flamingo. Farblich unterschied er sich kaum von der Umgebung, einzig sein Bogen und die Pfeile. Die Federn. Sie glänzten. In Gold. Bedächtig schritt er um Aveline und den Baum herum, dabei musterte er sie von oben herab. Schließlich blieb er vor ihr stehen.
»Es gab das Gerücht …« Er verschränkte die Arme vor der Brust, während er sie durchdringend ansah, »ein neues magisches Wesen soll geboren worden sein. Seid Ihr dieses Wesen?« Seine dunkelbraunen Augen wurden schmal, während er seine rechte Hand, die nur aus drei Fingern bestand, nach den kleinen Flügeln ausstreckte. Wie eine lästige Fliege, die man ergreifen wollte, wenn sie einem vor der Nase rumflog und in den Wahnsinn trieb, versuchte er eine der Schwingen zu greifen. Kurzum packte Azrael den Bogenschützen an der Schulter. Sofort stoppte er das Unterfangen. Samael amüsierte dieses Schauspiel, während Azrael ihm einen ernsten Seitenblick zuwarf.
»Au!« Wieder hatte sich eine Kralle in ihren Oberarm gebohrt.
Der Fremde zog eine Augenbraue hoch. Nun begannen die Flügel nach ihm zu schlagen, sodass er einen Schritt zurück machte, während Aveline krampfhaft versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Unbeholfen stolperte sie einen Schritt auf ihn zu.
»Hey! Was soll das? Hört auf damit!« Er schützte das Gesicht mit seinen Armen und wich weitere Schritte zurück.
Aveline hatte große Mühe, sich auf den Beinen zu halten, während die Flügel ihren Willen auslebten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte sie, die Hand auf die Wunde zu legen, in der ein Feuer zu brennen schien.
»Sie hat die Flügel noch nicht sehr lange. Sie muss erst lernen, wie man sie beherrscht«, erklärte der Engel ruhig.
»Sie ist noch nicht mal in der Lage, sich selbst zu beherrschen«, frotzelte Samael.
»Dein Kommentar ist jetzt nicht sehr hilfreich, Sami. Du siehst doch, dass es Aveline aufwühlt«, maßregelte er den Dämon. Geistesgegenwärtig zog er den Kopf zurück, als eine der Krallen an seinem Kopf vorbeisauste und ihn nur knapp verfehlte.
»Aveline, atme! So wie ich es dir beigebracht habe«, befahl er.
Der Bogenschütze beobachtete die beiden ungleichen Freunde, schritt jedoch nicht ein. Er kannte sie gut. Wenn es darauf ankam, konnte sich der eine blind auf den anderen verlassen. Das Mädchen schlug noch immer um sich. Versuchte wieder und wieder, die Krallen davon abzuhalten, sich in ihre Arme zu bohren.
Samael amüsierte ihre Fehde, bis Azrael ihre beiden Arme packte und sie festhielt.
Abrupt stellten die Flügel sich auf, sodass Avelines Oberkörper nach hinten gezogen wurde, als würde sie an einem ausgedehnten Gummiband hängen, das nun zurückschnellen wollte. Die Krallen nahmen eine Angriffshaltung ein.
»Aveline. Sieh mich an!«, befahl der Engel. Trotz erhobener Stimme klang er sanft. Er musste ihre Aufmerksamkeit bekommen.
Sie schaute zu ihm auf. Einige Tränen liefen an ihren Wangen hinunter. In Situationen wie dieser veränderte sich ihr Herzschlag, wenn er ihr gegenüberstand und ihr zuredete. Langsam nahmen die Krallen ihre normale Haltung ein, wenn sie sich nicht bedroht fühlten. Die Spitzen richteten sich nun in den Himmel. Es schien, als hätten sie Respekt vor dem Erzengel, wollten ihm aufmerksam lauschen. Erleichtert atmete Aveline aus. Langsam zogen sich die Flügel zusammen, schmiegten sich um ihre Brust und verharrten dort.
»So ist es gut. Ganz ruhig. Dir droht keine Gefahr.«
Der Bogenschütze hob eine Augenbraue, als er bemerkte, dass sich ihre Flügel nicht wie die von Azrael in eine Körperbemalung verwandelten.
»Aveline, das ist Ames, auch bekannt als der König von Amesbury«, stellte Azrael den Bogenschützen vor.
Der König machte eine leichte Verbeugung. Dabei wandte er seinen Blick nicht von ihr ab. Aveline runzelte die Stirn. Von einem König von Amesbury hatte sie noch nie gehört. Es gab nur eine königliche Familie in England, und das waren Elisabeth II., Königin von England, verheiratet mit Prinz Philip und Mutter von Prinz Charles, Prinz Andrew, Prinz Edward und Prinzessin Anne. Prinz William mit seiner Kate und den Kindern sowie Prinz Harry.
Ist dieser Ames vielleicht verrückt? Wo soll denn noch Platz für einen weiteren König sein? Sie überlegte, ob sie diese Scharade mitspielen sollte, denn so kam es ihr gerade vor.
Azrael hätte mich wenigstens vorwarnen können. Wie soll ich mich verhalten?
»Herzlich willkommen, Lady Aveline. Schön Euch kennenzulernen.« Er nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. Verdutzt blickte sie ihn an und seine Mundwinkel begannen sich nach oben zu wölben. Schließlich wandte er sich Samael zu.
»Nun, Ihr habt nach mir geschickt. Wie kann ich Euch helfen?«
Azrael und Samael begrüßten Ames mit einer brüderlichen Umarmung. Aveline wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich bereits seit sehr langer Zeit kannten. Wie sie dann erfuhr, hatte Ames ebenfalls versucht Nagual zu bekämpfen. Warum er aber als König von Amesbury bezeichnet wurde, konnte sie nicht in Erfahrung bringen. Es war nicht der richtige Moment, den Erzengel danach zu fragen. Somit entschied sie, es auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Vorausgesetzt, sie konnte ihre Neugierde in Zaum halten. Weiterhin lauschte sie interessiert der Unterhaltung zwischen Ames und Azrael, der dem Bogenschützen von ihren Kampf gegen die Dimensionswandlerin und schließlich von Avelines Verwandlung erzählte. Nun erfuhr sie auch, was mit ihr geschehen war, nachdem Nagual einige Male ihren Geist komplett übernommen hatte, bis hin zur Trennung von Nagual, verursacht durch Azrael. Augenscheinlich gab es einige Abschnitte, an die Aveline sich nicht erinnerte. Es war, als hätten diese wenigen Momente nie existiert.
In Gedanken versunken, trottete sie der Gruppe hinterher, ohne wahrzunehmen, wohin sie gingen.
Als der Wald dichter wurde, machten sie Halt.
»Wieso gehen wir nicht weiter?« Sie blickte Samael an, der sich zu ihr gesellt hatte, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.
»Das wirst du noch früh genug erfahren«, entgegnete er salopp.
Was hat das nun wieder zu bedeuten?
Immer wieder sprachen sie in Rätseln zu ihr. Die beiden verheimlichten ihr etwas, da war sich Aveline ganz sicher. Auch war ihr klar, dass die zwei Männer ihr nicht vertrauten. Immer wieder stellte sie sich selbst die Frage, ob sie ihnen, trotz ständiger Beteuerung, im Gegenzug vertrauen konnte. Aveline war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht mitbekam, dass sie den Dämon während der ganzen Zeit angestarrt hatte, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen.
»Was ist?«, knurrte er sie an.
Peinlich berührt versuchte Aveline seinen Blick auszuweichen, doch der Dämon ergriff ihr Kinn. Samaels skeptischer Ausdruck veränderte sich in ein kühles Lächeln, als plötzlich die Konversation erstarb.
Mit einem Ruck befreite sie sich von seiner Hand, schaute zur Seite, um seinem durchdringenden Blick auszuweichen.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Samael einige Schritte, bis er nur noch ein paar Meter von einem Gebüsch entfernt stehen blieb.
Argwöhnisch folgte sie ihm und kickte dabei einen kleinen Ast weg, als sie plötzlich in Samael hineinrannte.
»Hey! Pass auf, wo du hintrittst«, blaffte der Dämon sie an.
Erschrocken blickte sie auf, als ihr auffiel, dass sie mit Samael allein war. Azrael und der König von Amesbury hatten sich plötzlich in Luft aufgelöst, ohne dass Aveline davon etwas mitbekommen hatte.
»Wo sind die beiden hin?« Unsicher schaute sie sich um und hoffte, dass sie sie irgendwo entdecken würde. Doch außer dem Dämon war niemand zu sehen. Noch nicht einmal Stimmen oder das Geräusch des Waldes waren zu hören. Eine gespenstische Ruhe umgab sie.
»Was meinst du, Aveline? Wie könnte wohl ein magisches Tor aussehen?« Der Sarkasmus in Samaels Tonfall begann ihr auf die Nerven zu gehen. Die Schadenfreude war ihm förmlich anzusehen. Sie glaubte, einen Funken aus seinen Augen sprühen zu sehen, während Samael sich an ihrem perplexen Gesichtsausdruck zu ergötzen schien.
Angestrengt dachte Aveline nach. Was sollte sie ihm antworten? Bisher wusste sie nur wenig. Trotz ihrer Verwandlung hielten die beiden Freunde sich bedeckt, obwohl sie immer wieder herauszufinden versuchte, was das nun für sie bedeutete. Sie hatte Flügel bekommen. Und das war es auch schon. Hätte sie ihren Lebenslauf als magisches Wesen schreiben müssen, so wäre der sehr kurz ausgefallen.
»Ein magisches Tor?« Sie traute ihren Ohren nicht und zuckte mit den Schultern.
»Du meinst, wie bei ›Harry Potter‹ auf dem Gleis neundreiviertel?«
Er kratzte sich mit dem Finger an der Schläfe.
»Wo ist Gleis neundreiviertel?«, fragte er verblüfft, da ihm dieses Portal gänzlich unbekannt war.
»Kennst du denn nicht die ›Harry Potter‹-Filme?«
Ohne auf ihre Frage zu antworten, ergriff Samael plötzlich Avelines Hand und zog sie mit sich auf das Gebüsch zu. Mit einem Mal hatte er es sehr eilig.
Aveline bremste, riss sich von ihm los und blieb einfach stehen.
»Was ist, Aveline? Komm schon«, forderte er sie barsch auf, doch sie machte keine Anstalten, ihm zu folgen.
»Das ist ein Witz«, stieß sie empört hervor, doch der Ausdruck in Samaels Miene verriet ihr, dass es kein Scherz war.
»Oder? Da soll ich rein? In einen Dornenbusch?« Hektisch blickte sie sich um, hielt angestrengt Ausschau nach Azrael und dem anderen seltsamen Typen. Doch sie konnte sie noch immer nicht entdecken.
»Bist du noch ganz bei Trost?«, entfuhr es ihr mit Entsetzen, während sie die Arme vor der Brust verschränkte und gleichzeitig vehement den Kopf schüttelte. Ihre Flügel spannten sich an, sodass ihr Oberkörper sich versteifte.
Samael lachte laut auf.
»Das ist ein magisches Tor«, erklärte er in einem Ton, als hätte er es mit einem kleinen Kind zu tun.
»Nur keine Angst. Wir gehen da zusammen hinein. Du wirst kaum etwas spüren.«
Das schlug dem Fass den Boden aus.
»Spüren?« Aveline riss die Augen auf.
»Was soll ich spüren? Wovon redest du?« Schlagartig stieg Panik in ihr auf, die sie einige Schritte zurückweichen ließ.
Der Dämon stemmte die Hände in die Hüften und legte den Kopf in den Nacken, während er einmal laut die Luft ausstieß. Es bereitete ihm sichtlich große Mühe, nicht aus der Haut zu fahren.
»Als magisches Wesen wirst du nur ein Kribbeln merken, wenn du durch das Tor schreitest.« Er versuchte noch nicht einmal beruhigend auf sie einzureden. Hinzu kam eine innere Unruhe, die Samael nicht verbergen konnte. Immer wieder wandte er den Kopf zum Busch, als hätte er Angst davor, ein wildes Tier könnte sich darin versteckt haben und sie jeden Augenblick angreifen.
»Ach! Wir wissen ja noch nicht einmal, ob ich ein magisches Wesen bin.« Sie konnte sich nicht mehr bremsen und schrie ihm die Worte ins Gesicht.
»Und was passiert, wenn ich kein magisches Wesen bin? Explodiere ich dann?«
Wie ein Wasserfall rauschte das Blut laut durch ihre Ohren, die sogleich eine rötliche Färbung annahmen. Die Flügel breiteten sich aus. Obwohl Aveline aufgebracht war, begannen sie diesmal nicht wild zu flattern, sondern stellten sich bedrohlich auf. Dabei deuteten die beiden Krallen auf Samael wie ein knöcherner Zeigefinger, der einen Schuldigen identifizierte. Sie waren bereit. Bereit, jederzeit zuzuschlagen.
Samael schenkte dem draufgängerischen Gehabe keine Aufmerksamkeit. Verärgert ging er auf Aveline zu. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und packte sie am Handgelenk, damit sie nicht vor ihm weglaufen konnte.
»Gleich explodiere ich, Aveline! Du dummes Ding redest absoluten Stuss. Schau dich doch an! Wie viele Menschen mit Flügeln kennst du?« Er wartete ihre Antwort nicht ab.
»Komm jetzt endlich. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Dämmerung setzt gleich ein, dann schließt sich das Portal. Deinetwegen können wir nicht noch einen Monat warten.« Entschlossen zog er sie mit sich.
Avelines Linke griff nach seinem Unterarm. Verzweifelt zerrte sie daran, wollte sich aus dem festen Griff winden.
Obwohl der Dämon kleiner als sie war, war er einfach zu stark.
»Du verdammter Dämon! Lass mich gefälligst los!« Sie zerrte weiterhin an seinem Arm, schaffte es aber nicht, sich gegen ihn zu behaupten.
»Das kommt gar nicht infrage. Ich habe Azrael versprochen …« Er drehte sich um und richtete drohend den Zeigefinger auf ihr Gesicht, »dich mitzunehmen.«
Ihre Flügel hatten nun ihre gesamte Spannweite erreicht. An der Spitze der Kralle bildetet sich ein Tropfen.
»Egal, was es kostet. Ich versichere dir, Aveline …« Er tippte mit dem Zeigefinger im Rhythmus seiner Worte auf ihre Brust, »ich kenne keine Skrupel.«
Bei dieser Drohung blieb Aveline der Mund offen stehen. Die Schwingen erstarrten, als kannten sie nur zu gut, zu was der Dämon in der Lage war zu tun.
Samael verheimlichte noch nicht einmal vor ihr, dass er Gefallen daran hatte, ihre Panik auszukosten. Sie konnte es in seinem Ausdruck sehen. Jetzt schienen sich sogar ihre Flügel mit ihm verbündet zu haben. Sie bewegten sich in einen Rhythmus, der Aveline stetig voranschob, begleitet von Samaels höllischem Lachen, der sie gnadenlos hinter sich her zerrte.
»Nein«, schrie Aveline vor Entsetzen auf, als sie vor dem mit fünf Zentimeter langen Dornen gespickten Busch ankamen, der nur noch einen Schritt entfernt war.
Ein Ast ragte ihr entgegen, als wollte er sie warnen, sie davon abhalten, sich ihm auch nur noch einen Schritt zu nähern. Plötzlich starrte Aveline auf einen riesigen Dorn, der nur noch wenige Zentimeter von ihrem rechten Auge entfernt war.
»Doch«, entfuhr es Samael entschlossen, während er sie in den Busch zerrte.
Abrupt drehte sie den Kopf zur Seite und hob die freie Hand vor das Gesicht, damit der Dorn nicht ihr Auge durchbohrte. Bevor sie einen Schrei ausstoßen konnte, hatte der Dornenbusch sie bereits verschluckt.
Mit einem Schlag wurde es dunkel und kalt um sie herum. Dann tauchte ein bernsteinfarbenes Licht in der Ferne auf. Das Licht kam näher, verwandelte sich in ein Türkis. Aveline hatte das Gefühl, dass es Wärme ausstrahlte. Nun begann es um sie herum fürchterlich heiß zu werden. Sie hoffte, dass sie nicht verbrennen würde, sollten sie dem Licht noch näher kommen. Mit einem Mal setzte ein kurzes Kribbeln in ihrem Körper ein, als hätte sie einen Zaun berührt, durch den schwach Elektrizität floss.
Die Reise dauerte zwei Herzschläge lang, dann hatten sie das Portal passiert.
Einige Strähnen ihres langen schwarzen Haares waren durch die statische Aufladung in die Höhe geschossen. Sie sah aus, als hätte sie gerade in eine Steckdose gefasst. Doch das war nun nicht von Belang. Ihre Augen wurden so groß wie Unterteller. Was Aveline sah, faszinierte sie.
Nachdem sie einmal geschluckt hatte, bemerkte sie, dass sie bis zu den Knien im Wasser stand. Es war eine angenehme Abkühlung, die ihr gerade wie gerufen kam. Die Luft war schwül, aber nicht zu stickig. Langsam ließ sie ihren Blick schweifen.
Sie befand sich in einem Brunnen, der den Mittelpunkt eines Marktplatzes bildete. Vier Schritte hinter ihr zierten drei Statuen den Brunnen. Zwei riesige Zentauren, die Zeit ihres Daseins verdammt waren, mit einem Fisch zu kämpfen, der halb so groß war wie sie selbst. Die Zentauren erhoben sich majestätisch und überragten Aveline um fünf Meter. Es war nicht zu erkennen, wer von ihnen den Kampf gewinnen würde. Augenscheinlich gab es den Brunnen mit seinen Statuen bereits seit vielen Jahren, denn dessen grüne Farbe zeugte von Korrosion. Umsäumt wurde der Marktplatz von mehreren kleinen Steinhütten mit spitz zulaufenden Reetdächern. Zu ihrer Linken waren Marktstände aufgebaut. Dort herrschte ein reges Treiben. Seltsame Wesen – teils menschlich, teils tierisch, als wären sie aus einer Fabel entsprungen – handelten wild gestikulierend mit den Verkäufern die niedrigsten Preise für die Waren aus. Die meisten von ihnen waren von derselben Art wie der Bogenschütze. Groß, schlank und mit nach hinten abgeknickten Knie. So etwas hatte Aveline bisher noch nie gesehen. Sprachlos stand sie da, bis ihr Gehirn endlich wieder seine Funktion aufnahm.
Das kann nur der Fantasie eines Comiczeichners entsprungen sein. Zu ihrer Überraschung verstand Aveline, über was die seltsamen Kreaturen redeten. Die meisten der Wesen warfen nur einen kurzen Blick zum Brunnen, als die Neuankömmlinge auftauchten. Da ihnen keine Gefahr drohte, gingen sie ihrer Geschäftigkeit ungestört weiter nach. Alles wirkte friedlich und normal, wie bei ihr zu Hause auf dem Markt. Dennoch verspürte Aveline ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Sie vermutete, dass das Gefühl eine Nebenwirkung war, bedingt durch die Reise durch das magische Portal.
Sie entdeckte Azrael und Ames, die neben einem der Stände auf sie warteten. Samael hatte bereits den Brunnen verlassen. Mit einer Handbewegung forderte er Aveline auf, ihm zu folgen. Sie war noch dabei, alles genauer zu bestaunen, als sich plötzlich eine kalte Dusche über sie ergoss.
»Ieh«, rief sie erschrocken, während sie rasch die Arme zum Schutz über ihren Kopf schlug. Damit hatte sie nicht gerechnet. Eine Dusche von oben! Der riesige Fisch begann sich zu bewegen und spuckte die kalte Flüssigkeit über ihr Haupt. Wie eine begossene Pudeldame stand sie da und war dem höhnischen Gelächter der Marktbeschicker und ihrer drei Begleiter ausgesetzt. Wutschnaubend und mit geballten Fäusten wollte sie gerade aus dem Wasser stapfen, als sie Azraels entsetzten Gesichtsausdruck erblickte.
»Runter!«, rief Azrael, dessen Warnung durch eine unmissverständliche Handbewegung unterstützt wurde.
»Ducken, Lady Aveline!«, rief Ames gleichzeitig mit weit aufgerissenen Augen.
Aveline zögerte keinen Moment, beugte den Oberkörper herunter, als plötzlich etwas über ihren Kopf hinweg surrte. Sie warf einen Blick zurück und entdeckte den Dreizack, der sie nur knapp verfehlt hatte. Ihre Flügel schlugen aus, sodass sie nach vorn stolperte und der Länge nach ins Wasser fiel.
Ames, der näher war, stürzte auf sie zu und streckte den Arm aus, um ihr die Hand zu reichen. Aveline schnaufte und prustete, während sie panisch seine Hand ergriff. Mit einem schnellen Ruck zog er sie aus dem Brunnen heraus. Erneut zischte der Dreizack über ihre Köpfe hinweg, sodass sogar Azrael und Samael dessen Luftzug spürten.
Vor Nässe triefend und mit hochrotem Kopf kam sie vor Samael zum Stehen, der sich vor Lachen den Bauch hielt. In Aveline begann sich Wut aufzubauen.
»Du ... du ...«
»Aveline. Beruhige dich!«, mahnte Azrael.
»Beruhigen?«, schnaubte sie.
»Diese ein Meter fünfzig pure Bosheit trachtet nach meinem Leben!«, blaffte sie, während sie den Finger anklagend auf Samael richtete.
»Ein Meter fünfundfünfzig. Und ich trachte dir nicht nach dem Leben, nur nach deiner Seele.«
»Sami.« Azrael rollte mit den Augen.
»Das ist jetzt nicht sehr hilfreich.«
Am liebsten hätte Aveline den Dämon zum Teufel gejagt, doch der setzte noch einen oben drauf.
»Ich sagte dir doch, das Tor ist heute nur bis zur Dämmerung offen. Danach schließt es sich und öffnet sich erst wieder beim nächsten Vollmond. Tor zu, Wasser fließt.« Feixend wandte er sich Ames zu, der die Kabbelei mit einem Schmunzeln verfolgte.
Idioten! Sie konnte ihren Blick nicht von dem Brunnen abwenden und beobachtete, wie die Figuren kämpften.
Der linke Zentaur versuchte den riesigen Fisch mit einem Netz einzufangen, während der zweite dem Fisch seinen Dreizack in den Leib rammen wollte. Das Wasser spritzte wild umher, doch nie verließ ein Tropfen den Brunnen. Aveline spürte erneut den Luftzug, als die spitzen Enden des Dreizacks an ihr vorbeisausten.
Erschrocken sprang sie zur Seite. Ihr Herz raste, während sie
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Texte: © Kim Rylee - Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches - auch auszugsweise - sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
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Lektorat: Sandra Nyklasz / Korrektorat: worttaten.de
Satz: Kim Rylee
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2017
ISBN: 978-3-7438-4545-9
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