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Gerüche

Das Leben ist hart und unfair. Täglich tritt es einem erfolgreichen Geschäftsmann zwischen die Beine und lässt ihm im Dreck verrotten. Täglich zerkratzt es das Gesicht einer jungen Frau und zerstört ihre Träume. Täglich lässt es HIV-Tests positiv ausgehen. Täglich, ja wirklich täglich. Ich war weder Geschäftsmann, noch eine junge Frau, und AIDS hatte ich auch nicht, zumindest wusste ich nichts davon. Es würde mich sicher auch für die Arbeit, die ich erledigte, disqualifizieren, also hoffte ich, ich würde es nicht bekommen, oder zumindest nicht jetzt. Nicht so früh.

Jede Frau mit zerkratztem Gesicht, jeder Geschäftsmann mit gefallener Existenz, jedes Individuum, das am Boden ist, Abschaum der Gesellschaft, menschlicher Abfall, sie alle sah man meist irgendwann da, wo ich in diesem Moment saß. Wo ich und er saßen. Er und ich. War es wichtig, in welcher Reihenfolge ich mich oder mich ihn oder ihn mich nannte? Reihenfolgen waren etwas für Leute in Hierarchien. Existierte so eine hier, hier am Boden, wo man nur den stinkenden Dunst einatmete, den die über uns auskotzten?

Nein, unwichtig.

Es war so unwichtig wie das, was wir mal waren, und das, was wir sind. Wir sind unwichtig, ich bin unwichtig. Würde es jemanden kümmern, wenn ich morgen nicht mehr leben würde? Wie lange würde es dauern, bis man mich fand, nachdem ich mir die Handgelenke aufgeschlitzt habe? Wahrscheinlich mindestens eine Woche, doch nicht, weil man mich vermisste, nur, weil ich dann beginnen würde, nach Scheiße zu stinken.

Aller Abschaum landete auf diesem Sofa, einem Sofa aus schwarzem Leder, so weich, dass man darin versank. Kennt ihr dieses Geräusch, welches man hören konnte, wenn man sich in ein Sofa aus Leder setzt? Diesen Geruch, den Leder abgibt? Dieses Sofa hier tat dies nicht, denn es war nur billige Plastikhaut, die als Leder durchging.

Trotz allem vermochte es, den darauf Sitzenden einzulullen. Jeder wurde eingelullt, der hier saß. Das Sofa tat seinen bescheidenen Anteil daran, ebenso wie die mollige Wärme, der süße Duft, die leise Musik, das gedimmte Licht. Alles in diesem Raum war dazu da, jemanden einzulullen. Sogar ich.

Hatte es menschlicher Müll verdient, sich so geborgen zu fühlen? Alle, zu denen das Leben hart war, kamen hier her, ob sie dabei meinen oder seinen, seinen oder meinen Platz einnahmen, war unterschiedlich. Meist war es er, der wechselte. Immer ein anderer er, doch immer das selbe ich. War dies einer der Gründe, warum das Ich mich so ankotzte? Warum es mir so zum Halse heraushing? Was glaubt ihr, wie viele traurige Geschichten ich am Tag hörte? Wie oft Tod, Scheidung, Gewalt, Armut, Missbrauch, Folter, Demütigung, Mobbing oder Krankheit? Sehr oft, so oft, dass ich inzwischen nur noch darüber lachen konnte. War das grausam? Nein, war es nicht, es wäre grausam gewesen, würde ich ihn offen auslachen. Würde ich das tun, so war ich mir sicher, knallte er sich noch hier und jetzt ab. Aber ich lachte nicht offen über ihn, ich war nicht so grausam, ich war feige, armselig, ohne Rückgrat, ohne Gewissen und ohne Moral. Darum lachte ich heimlich.

 

Hier gab es viele Räume wie diesen. Viele Räume, die nur einlullen sollten. Große Räume mit unzählbar vielen dieser Kunstledersofas, kleine Räume, wie der, in dem ich und er oder er und ich saßen, in dem wir saßen, privater, gedrungener, enger. Die kleinen Räume waren teurer, doch kümmern tat mich das nicht, ich war nicht der, der bezahlte.

Er stank. Er stank nach Schweiß und Stress, nach Alkohol und Rauch, er stank wie ein Schwein, ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht kotzen wollen, so sehr stank er, ins unrasierte, schwabbelige, von salzigem Schweiß benetzte Gesicht. Ein Gesicht, das mindestens dreißig Jahre älter war als das meine. Aber habe ich in sein Gesicht gekotzt? Nein, ich habe es abgeleckt. Wisst ihr, wie es ist, jemanden abzulecken, von dem ihr euch so abgestoßen fühlt, der so hässlich, so ungewaschen und so ekelhaft salzig ist? Wenn ja, dann versteht ihr die vergangenen Worte gut, wenn nein, dann solltet ihr glücklich über diese Unwissenheit sein. Abschaum. Er und ich und ich und er. Wir.

Das Leben gab mir vieles, bis es alles einriss. Das einzige, was ich behalten durfte, war das Geschenk, das es mir zur Geburt verlieh. Meinen Körper, meinen schönen, blassen, zierlichen Körper. Mein Gesicht, mein zartes, feminines Gesicht, so weich, so rein. Doch nur wegen diesem Geschenk musste ich nun fette Schweine ablecken, also war es wohl doch keines, war es wohl doch ein Fluch. Die stinkende Sau, die sich über meine Zunge freute, verlangte nach mehr Sekt, und der kam sofort. Die Kellnerin war ebenso wie ich leer. Leerer Blick, leeres Gesicht, schön, schlank und gut anzusehen, wie ich, und wie ich war dies für sie mehr Fluch als Geschenk. Ich kannte sie nicht, sie kannte mich nicht, ich würde sie nicht wiedererkennen, sie würde mich vergessen, und das, obwohl wir uns täglich sahen, täglich so viele Male. Jedes Mal saß ich auf dem Sofa, neben irgendeiner fetten, stinkenden Sau, und jedes Mal kam sie und schenkte ihm ein, ganz das, was er wünschte. Jedes Mal ein anderer er, doch jedes Mal das selbe ich und das selbe sie, doch kein wir. Sie sah mich nicht an, sie sah nur ihn an, mit einem Lächeln schenkte sie ein und ging dann davon, verabschiedete sich von ihm, aber nicht von mir. Ich war Luft für sie und sie war Luft für mich. Wir waren Luft, wir waren zugunsten von ihm Luft, zugunsten dieser fetten, stinkenden Sau.

Ich streichelte ihn, streichelte über seinen Wanst, über die Krawatte, das weiße Hemd, über seine Schenkel, die von der spießigen Anzughose bedeckt wurden. Geschmacklos und altmodisch, doch das war hier ohne Belang. Hier war es egal, wie man aussah. Allein dieser Umstand machte diesen Ort so attraktiv. Ein Ort, an dem man immer geliebt wurde, egal, wie man aussah. Geht in euch und ihr werdet wissen, dass ihr euch auch nach so etwas sehnt. Sein Sakko hatte er über die Lehne gehängt, er war das, was man Geschäftsmann nannte. Er sah so aus wie einer. Geschäftsmänner waren mir lieb, sie waren meist fett, hässlich, alt, doch sie hatten Geld. Und Geld zählte hier mehr als alles, mehr als Leben, Liebe und Glück. Geld war Leben, Liebe und Glück.

Er, dieser er, diese fette Sau, was war seine Geschichte? Vor dem ersten Glas weinte er noch, Scheidung, Kinder weg, der Niedergang der Karriere. Vor dem zweiten Glas trauerte er noch. Das Leben zerstört, keinen Sinn mehr. Vor dem dritten Glas begann er, mit mir zu singen und zu tanzen. Glücklicher, freudiger. Vor dem vierten saß er, wollte nicht mehr singen und tanzen, wollte meine Zunge, meine Hände. Und vor dem siebten, vor diesem verstand ich nicht mehr, was er wollte. Lallen und Taumeln, dieser Zustand war mir am liebsten. Es war leicht, jemanden einzulullen, wenn er lallte und taumelte. Dazu brauchte man keine Zunge mehr, keine Hände, kein schönes Gesicht, kein Arschloch, dazu brauchte man nichts, außer ein Sofa, mollige Wärme, süßen Duft, leise Musik und gedimmtes Licht. Mehr nicht.

Dies war Glas Nummer acht. Er schlief ein. Im Schlaf war man glücklich, wenn man es vor dem Einschlafen war, oder? War er glücklich? Das Sofa machte Glück, doch nur als Illusion. Dies alles hier war Illusion, selbst ich war Illusion, meine Zunge war es, meine Zuneigung war es, meine Komplimente, mein offenes Ohr, mein Flirten und mein Bitten waren es, alles Lüge, alles Betrug, denn die Wahrheit war schlicht, dass ich ihm ins Gesicht kotzen wollte. Doch bezahlte man für diese Wahrheit? Nein, er bezahlte für die Illusion, für eine kurze Zeit, in der ich ihm das Gefühl gab, geliebt zu werden, bevor er wieder ging, in sein dreckiges, verkorkstes Leben, zur Frau, die sich scheiden ließ, zu den Kindern, die ihn nicht mehr als Vater wollten und zu dem Job, der im Niedergang begriffen war. Er wusste, dass es Lüge und Illusion war, ich wusste, dass es Lüge und Illusion war, wir wussten es, doch das war uns beiden egal. Sowohl er, der für diese Illusion bezahlte, als auch ich, der sie bot, wir beide waren wohl Abschaum, und wir beide brauchten die Illusion zum Leben. Nicht nur wir, auch die Kellnerin, auch die anderen, die die anderen Räume und die anderen Sofas besetzten, die an der Bar, die, die hier sauber machten, sie alle lebten von der Illusion.

Und er, er träumte nun, schnarchte wie ich es von einer Sau erwartet hatte, sein Sabber lief und seine Lieder flatterten. Er stank nun nur noch mehr. Ich nahm sein Jackett, das noch immer dort war, wo er es gelassen hatte, und fand das, was Leben, Liebe und Glück versprach, die Brieftasche. Ich öffnete sie und ein sanftes Lächeln zauberte sich auf mein Gesicht, auf mein schönes, zartes, weiches, feminines Gesicht, das durch seine Schwäche und seine Unterlegenheit Geschäftsleute magisch anzog. Sie standen auf so etwas, jemand, der schwächer war als sie, auch wenn es nur Illusion war. Ich fühlte nichts, als ich die leere Brieftasche wegwarf. Er hatte nichts dabei. Das belustigte mich wirklich. Die Karriere im Niedergang, die Scheidung, der Geruch, dies alles waren schon früh Indizien darauf, doch ich ließ mich wieder mal blenden, von teuren Anzügen und dem Image des Geschäftsmannes. Ich war es, der in einer Illusion gefangen war und sich die letzte Stunde um jemanden kümmerte, jemanden eine Illusion bot, die für gewöhnlich zweihundert Piepen wert war. Und jetzt? Nichts. Er besaß nichts. Wo würde er heute schlafen? Er war betrunken, würde er die Nacht überleben? Ich schickte die SMS los und stand auf, sah auf ihn herab, wie er so dasaß und schlief, und sein Gestank haftete an mir wie der einer verwesenden Leiche, so würde ich riechen, wenn ich mir vor einer Woche die Handgelenke aufgeschlitzt hätte. Da war ich mir sicher. Zwei Männer in schwarzen Anzügen betraten den Raum und sahen mich an, hielten ihr Handy hoch, das Handy mit der SMS drauf, die ich an sie versendet hatte, um sie zu rufen. Ich sagte nichts, sie sagten nichts. Wir ließen einige endlose Augenblicke das Schnarchen der fetten Sau und die leise, einlullende Musik die Dominanz übernehmen. Ihre Blicke folgten den meinem auf die leere Brieftasche, die auf dem Boden lag. Sie fragten mich, ob ich eine Niete gezogen hätte.

„Ja, kein Geld …“

Sie sahen mich ernst an, sie waren auch nur Abschaum, auch angestellt, wie die Kellnerin, wie ich, sie hatten es auch nicht besser, doch sie wussten, dass ich in diesem Moment ein Problem hatte. Das Geld … dieses müffelnde Schwein hatte gesoffen und gefressen, wie es für ein Schwein üblich war. Und woher kam das Geld? Es würde von mir kommen müssen, ich, der eigentlich dafür bezahlt werden sollte, musste nun die Last des zahlungsunfähigen Kunden tragen. Scheidung, Kinder weg, Job im Niedergang, betrunken, pleite. Mir scheißegal. Ich gab ihm eine Ohrfeige, sodass er aufwachte und mich entsetzt ansah. Wütend rotzte ich ihm ins Gesicht, er wurde schlagartig nüchterner und sprang auf, die beiden Männer in Schwarz überwältigten ihn jedoch und schleiften ihn raus. Draußen würden sie ihn zusammenschlagen und in einer regnerischen Gasse liegen lassen. Ihn, der geschiedene, kinderlose, arme Geschäftsmann ohne Zukunft und Lebenswillen. Mitleid? Mitleid gab es für mich nicht, für mich zählte nur das, was Leben, Liebe und Glück bestimmte, denn ich hatte keines dieser drei. Er würde heute Nacht sicher noch sterben, überfallen oder ausgeraubt, mir egal. Der Mann, dessen Lebensgeschichte ich in der letzten Stunde gehört und der nun meine Rotze im Gesicht hatte. Sie gab es kostenlos, er konnte sie als Schmiermittel nutzen und sich damit einen runter holen, wenn er wollte. Das gönnte ich ihm. Ich hatte schon vergessen, wie er aussah, namenlos und gesichtslos, eine wandelnde Geldbörse, die man wegwarf, wenn sie leer war. Die letzte Stunde war Verschwendung.

 

Ich verließ den Raum und ging die langen Gänge entlang, mollig warm, duftend und mit Musik unterlegt. Meine blassen, dürren Hände streiften an der roten Tapete entlang, meine schwarzen Lackschuhe verschmolzen mit dem gleichfarbigen Teppich. Dieser ewig gleiche Gang, ekelhaft, er war mit so zuwider, dass ich es kaum beschreiben konnte. Hinter den edlen, dunklen Holztüren links und rechts davon, hinter jeder ein er oder eine sie oder ein ich, so oft ich, dass ich mich selbst anwiderte. Mein Körper, meine Zunge, meine Lippen, meine Hände, mein Arsch, mein Schwanz, meine widerlichen, dunklen Augen, in die sich reiche, alte Geschäftsleute nur zu gern verliebten.

 

Am Ende des Ganges befand sich der große Saal, hier gab es viele Sofas, auf allen konnte ich reges Treiben ausmachen, Leute wie ich lullten Frauen und Männer ein, wie ich es mit ihm getan hatte. Dies war alles Illusion und niemand störte sich daran. Leere Tanzflächen, dunkle Bars, Bühnen, auf denen sich nackte Körper tummelten, Tische, an denen alte Männer Karten spielten, während kleine Mädchen ihnen sagten, wie schön sie doch seien, wie gern sie doch bestraft werden würden. Dies war meine Existenz, dies war einer von vielen Clubs, die sich damit rühmten, „Unterhalter“, wie sie meinesgleichen nannten, zu beschäftigen.

Mein Dasein hatte nur einen Zweck: zu unterhalten, Illusionen von Liebe und Aufmerksamkeit aufzubauen, Geld zu verdienen, alles dafür, dass diese Traumwelt aus Alkohol, Glücksspiel, Drogen, Prostitution und Demütigung weiter aufrechterhalten werden konnte. Doch hatte ich eine Wahl? Wollte ich eine Wahl? Ohne dies hier, wäre ich nichts, ich würde eben so schnell sterben wie die fette Sau, die ich angerotzt hatte, bevor die Aufpasser ihn nach draußen schleiften. Sie würden Geld von ihm bekommen, egal wie, wie genau war nicht meine Angelegenheit, ich hatte versagt, wo ich versagte, begann ihre Arbeit, die fast noch schmutziger war als die meine.

Eine Frau, eine alte, erhabene Frau, die neben der Bar stand und alle, Gäste als auch Angestellte, seien es nun die Unterhalter und Unterhalterinnen, die Kellner und Kellnerinnen, die Tänzer und Tänzerinnen, die Barkeeper und Barkeeperinnen oder die verdammten Fliegen, die um die Kronleuchter flatterten, beobachtete. Alle. Ihr eiskalter Blick durchlöcherte mich, er war so herablassend, so vernichtend. Er war eine Warnung, eine Warnung, dass ich sterben würde, dass ich auf der Straße enden und verhungern würde, wenn ich noch ein einziges Mal eine Niete zog.

Die Frau winkte mich heran und ich gehorchte. Ich folgte ihr in einen Raum jenseits des gedimmten Lichtes, der molligen Wärme, des süßen Duftes und der leisen Musik. Einem kalten Raum. Sie ohrfeigte mich, ich fiel hin. Meine Wange pulsierte schmerzerfüllt, doch der Schmerz war das einzige, was ich fühlte, keine Trauer, keine Wut, nur Schmerz. Sie, meine Herrin, die Herrin aller Unterhalter, ihr gehörte der Club, sie mochte es nicht, wenn man Nieten zog.

Nachdem sie mit mir fertig war, durfte ich gehen. Doch ich musste nicht für immer weg, ich durfte wiederkehren. Zurück an diesen ekelhaften Ort der Lügen, doch ich war froh darüber, er ermöglichte es mir, zu leben.

Ich betrat den Raum mit den Spinden. Gleißende Neonröhren liefen an der Decke entlang, eine Sitzbank befand sich in der Mitte. Müde von einem langen Tag, einem Tag wie jeden anderen, lockerte ich meine schmale, schwarze Krawatte und den Kragen meines engen, weißen Hemdes. Ich sah edel aus, doch ich war nichts als ein Objekt, das man gegen Bezahlung erhielt. Doch das zählte nicht, es zählte nur, dass ich mich machte wie ein preisgekrönter Pudel, der auf Pfiff sprang und mit dem Schwanz wackelte. Ich zog mich aus, das Hemd, die Krawatte, die schwarze Röhrenjeans, die Lackschuhe. Dies war alles, mehr trug ich nicht, nur das war es, was mich edel machte. Das was übrig blieb, als ich es ausgezogen hatte, war ein magerer, blasser, kleiner Mensch. Ich musste dürr und blass bleiben, darauf standen die Kunden, sie standen darauf, jemanden zu haben, der so zerbrechlich aussah. Darauf standen die Frauen, die sich einmal wie Männer fühlen, und die Männer, die noch männlicher sein wollten. Ich legte die Kleider zusammen und packte sie in den Spind. Ich würde sie morgen Abend wieder brauchen.

„Du hast heute eine Niete gezogen?“, fragte eine Stimme, wispernd und schwach. Ich schloss die Schranktür und drehte mich um, eine Person stand da. Ebenso edel gekleidet, wie ich es noch vor einer Minute war.

„Ich hasse es, wenn sich Neuigkeiten so schnell verbreiten“, meinte ich und sah weg. Er ekelte mich ebenso an wie alle anderen.

„Das tun sie nicht,“ sagte er und berührte meinen linken Wangenknochen, fuhr darüber und bewegte mich wieder dazu, ihn anzusehen. Es schmerzte. Nicht, ihn anzusehen, sondern die Berührung.

„Ein blaues Auge, du wurdest geschlagen ... darum wusste ich es, die Chefin mag es nicht, wenn man ohne Geld seine Arbeit beendet.“

Ich schnalzte mit der Zunge und stieß seinen Arm weg.

„Woher willst du das wissen?! Du kommst immer mit Geld zurück!“

Ich war neidisch auf ihn und alle, die mehr Erfolg hatten als ich. Wie konnte es jemand wagen, nie eine Niete zu ziehen, nie Prügel zu kassieren?!

„Ich habe nur Glück ...“

„Du hast kein Glück, du kannst nur verdammt gut blasen, mehr nicht!“, fauchte ich. Ich wusste nicht, ob das wahr war, aber es war wahrscheinlich.

„Was hast du mit der Niete gemacht?“, fragte er und überging das, was ich sagte einfach. Er war wie ich, Abschaum, er lebte wie ich am untersten Ende, er arbeitete hier, wie ich, Abschaum, Abschaum, Abschaum. Trotzdem war er besser, wieso? Womit hatte er das verdient? Warum durfte er übergehen, was ich sagte, warum hatte er mehr Erfolg, warum stand er nicht hier, übersät mit blauen Flecken und Schrammen, so wie ich? Was machte ich falsch? Was machte er richtig? War es seine Größe? War es sein schönes Gesicht, sein sportlicher Körper? Nein, dies wirkte nur bei einer Zielgruppe, die nicht meine war. Reiche fette Säue mochten keine Typen wie ihn, sie mochten Typen wie mich. Typen wie ihn mochten junge Weiber und gelangweilte Ehefrauen.

„Das, was man mit einer Niete macht, wegwerfen!“

„Du bist wirklich eiskalt, Liam“, meinte er, doch es war kein Kompliment. Ich hasste es, wenn er mich bei meinem Namen nannte. So nannte mich hier niemand. Ich war nicht Liam, ich war ein Stück Fleisch. Warum tat er es?

Ich drehte mich weg und begann, mich anzuziehen, mit meinen eigenen Kleidern, den widerlichen Kleidern, ohne Glanz, ohne Illusion, dreckig und kaputt. „Ach fick dich doch ...“

Er fasste mich an den Schultern und drehte mich zurück, er tat es brutal, es tat weh, doch der Schmerz war nichts gegen den, den ich täglich sah und spürte.

„Deine Art kotzt mich an, warum bist du so abweisend?“

Seine hellen Augen waren wirklich schön, doch ich fand sie einfach nur abstoßend, sie sahen mich so an, wie alle mich ansahen, mit Arroganz und Herabwürdigung. Ich riss mich los und streifte den Mantel über.

„Abweisend? Soll ich etwa nett und lieb sein? Das kostet dich fünfundsiebzig die Stunde. Die hast du genau sowenig wie ich, also spiel dich nicht auf, Taylor!“

Ich zuckte zusammen, als sein Name über meine Lippen sprang.

„Du weißt, wie ich heiße?“, fragte er und ich wusste nicht, was ich da sagen sollte. „Ich dachte, das wüsstest du nicht, dir wären andere egal, du bist immer so herablassend.“

Herablassend? Ich? Er war es, der herablassend war. Sie alle waren das! Sie alle sahen doch auf mich herab!

„Nur weil ich weiß, wie deine verfluchten Eltern dich tauften, heißt das nicht, dass du mir nicht egal wärst. Lass mich in Ruhe und geh zurück an die Arbeit!“

Ich ging. Mit schnellem Schritt. Er blieb zurück, doch das war mir tatsächlich egal. Draußen war es eisig kalt. Das war immer so, doch im Winter war es am schlimmsten. Der Mond stand hoch am Himmel und sein schummriges Licht brach in die Gassen und Häuserschluchten dieser verdammten, stinkenden Stadt. Penner lagen an den Seiten der Wege, Hunde bellten. Es stank so sehr, dass ich mich fast übergeben musste. Dem fetten Schwein bin ich nicht begegnet. Dies war, wie das Leben wirklich war. Im Gebäude befand sich eine Blase aus Ignoranz und Dekadenz, hier draußen das Ghetto, hier starben die Leute auf offener Straße, und ich war einer von ihnen. Das einzige, was mich von denen unterschied, war ein schönes Gesicht. Schön genug, um als Unterhalter zu arbeiten.

Je weiter ich ging, desto armseliger wurde es. Häuser verfielen unter dem Gewicht ihrer Besatzer, des Ungeziefers. Mein Schlüssel passte in eines davon, hoch und traurig ragte es dem Sternenhimmel entgegen, eingeengt zwischen den Nachbarblocks, die alle samt das gleiche Bild abgaben. Jede Treppenstufe, die ich bis zum fünften Stockwerk der Ruine nach oben stieg, knarrte der Boden gefährlich nachgiebig. Auf den Stufen lag eine Frau, mit abgeschnürtem Arm genoss sie ihren Schuss. Sie war niemand mit schönem Gesicht, von Crystal gezeichnet.

Als ich ankam, ließ ich mich aufs Bett fallen. Es war sauber, von mir sauber gehalten. Mit aller Mühe tat ich dies. Ich wollte nicht im Dreck schlafen. Ich wohnte im Dreck, im Elend, ich war Dreck und Elend, doch ich wollte schlafen wie ein normaler Mensch. Das Einzimmerappartement war dunkel erleuchtet und verfallen, die Miete so gering, dass sie fast nicht der Rede wert war, und doch für mich unbezahlbar. Ich verdiente fast nichts, ich war nur Fleisch, Fleisch bekam kein Geld, zumindest nicht viel. Und wenn ich eine Niete zog, dann reichte es kaum zum Leben. In diesem Viertel lebten nur Leute wie ich, am Rande der Existenz, zu Füßen der Gesellschaft. Kriminalität, Drogen oder Prostitution. Dies waren die einzigen Wege, das zu bekommen, was Leben, Liebe und Glück sicherte. Ich entschied mich für den letzteren der Wege, denn es war der, für den ich qualifiziert war. Ein so schönes Gesicht wäre verschwendet gewesen. Wie konnte ein Mensch zu dem werden, was ich war? Das Leben ist unfair. Es lässt deinen Vater saufen und die Mutter sterben, es bricht dir den Oberschenkel und wirft dich aus der Laufbahn, die du eingeschlagen hattest, jene als berühmter Tänzer. Es beendet dein Studium der Anglistik wegen familiären Problemen frühzeitig und wirft dich in die Gosse. Es rafft eben jene Familie hin, wegen der du in der Gosse sitzt, und lässt dich allein. Es macht dich zu mir.

Es klopfte und ich hob meinen Kopf. Wer klopfte? Es war spät. Ich schlief jedoch nicht. Schlaf fand ich nur, wenn die Sonne am Himmel stand. Die Nacht war mein Tag und der Tag meine Nacht. Der Zyklus eines Unterhalters. Ich öffnete sie. Ein Mann, dürr und ungepflegt, doppelt so alt wie ich. Er verlangte nach Miete. Der Vermieter. Ich hatte keine. Ich musste sie bei der Chefin lassen, die Niete fraß meinen Lohn auf, nein, mein Lohn reichte nicht, darum zahlte ich mit Schlägen. Keine da, sagte ich, doch er wurde wütend. Ich wollte mein Bett, mein sauberes Bett, behalten. Draußen herrschte Chaos und Elend, doch hier war ich zumindest im Schlaf ein normaler Mensch. Ein Grinsen des Mannes verriet mir, wie ich zahlte. Wie ich immer zahlen musste.

Er war schnell fertig, wie ein alter, ungeübter Mann. Ich musste mich nicht anstrengen. Sein Geruch klebte an mir, als er den Raum wieder verließ. Mein Bett war nun dreckig. Ich zahlte so hart für das, was ich behalten wollte, und trotzdem verlor ich es am Ende. Es war wirklich wie das Leben, es war immer das gleiche. Die Sonne ging auf und meine Augen schlossen sich.

 

Ich träumte nicht.

 

Frauen waren angenehmer zu unterhalten als Männer. Frauen rochen meist besser. Diese hier war ebenso fett und alt wie die gestrige Sau, doch sie roch gut. Ihr rotes Kleid und ihre prunkvolle Ketten ließen es ahnen, doch eine weitere Niete würde ich nicht verkraften. Sie war keine. Sie zahlte im Voraus. Sehr viel. Sie hätte drei Tage damit bedient werden können, doch sie wollte nur wenige Stunden. Das Sofa bog sich unter ihrem Gewicht, das Kunstleder knarzte und wirbelte den synthetischen Blumenduft auf, der sinnlich in der warmen Luft des Clubs lag. Dieser Raum, diese Kleider, dieses falsche ich, es war alles so viel schöner und schlimmer zugleich als mein echtes ich. Sie war bei Glas Nummer zwei, die Kellnerin lächelte. War es die gleiche wie gestern? Ich wusste nicht, ich konnte mich nicht erinnern. Ihr Gesicht verschwamm in meinem Geiste, sobald sie sich wegdrehte. Wir waren Luft.

Die Frau war reich, sie leistete sich das kleine Zimmer, das Einzelzimmer. Sie leistete sich viel Sekt, Essen und Musik. Sie leistete sich mich und einen anderen. Zwei Unterhalter. Der andere war Taylor, doch das erfuhr ich erst, als ich ihn sah. Dies war mir egal, wir waren Luft, er war Luft, er kümmerte mich nicht. Meine Aufmerksamkeit, nein, nicht nur die, meine gesamte Existenz gehörte dieser Frau. Sie war bekannt, sie kam häufiger, sie gab jedes Mal viel aus. Auch dieses Mal hatte sie aus den Unterhaltern einen gewählt, mich. Ich war der jüngste. Sie mochte Knaben, sagte sie. Sie fragte mich, wie alt ich wäre, und ich antwortete, ich sei fünfzehn. Das mochte sie. Ich war nicht fünfzehn, nein, dann hätte ich das hier niemals überlebt, hätte das niemals ausgehalten. So viel Schmerz, so viel Demütigung, so viel Alkohol, so viele Ficks. Die Frau jedoch fand es anziehend, dass ich jung war. Sie musste nicht wissen, dass ich nicht fünfzehn war, was zählte, war einzig, dass ich so aussah. Taylor sah älter aus, erwachsener, doch er war eigentlich so jung wie ich. Das Leben strafte ihn nicht mit einem Knabengesicht ab, einem Gesicht, welchem reiche Geschäftsleute immer verfielen. Die Frau leistete sich uns beide, und nicht nur uns, auch eine Privatkellnerin und einen Barkeeper. Sie mochte es, bedient zu werden. Sie war die typische Art gelangweilte Frau eines reichen, alten Mannes, der keinen mehr hochbekam. Sie umfasste meine Krawatte und zog mich zu sich, sie sagte mir, wie schön ich doch aussehen würde, und ich gab das Kompliment zurück. Ich schmeichelte ihr so stark, wie ich nur konnte, und es gefiel ihr. Taylor flüsterte ihr ins Ohr. Er tat wahrscheinlich das selbe. Wir taten alle das selbe. Die Frau wollte keinen Sex, sie wollte nur bedient werden. Das war angenehm, brachte dabei sogar noch mehr Geld. Ich beobachtete, wie Taylors Hände über ihren fetten, aufgedunsenen Körper fuhren, ein Körper, der von einem viel zu engen Kleid zusammengehalten wurde wie eine Wurst, eine schimmlige Wurst, die mit künstlichen Parfumdüften eingekleistert war.

Er war gut in dem, was er tat. Er lullte sie ein. Sein Blick galt der Frau, er sah mich nicht an. Auch ich war Luft für ihn, ebenso wie er Luft für mich war. Die goldene Regel. Die Frau erbebte unter unseren Komplimenten, dem Lächeln der Kellnerin und dem Alkohol. Doch dann verlangte sie etwas.

 

Kunden waren Herren, ihr Verlangen war Gesetz.

 

Ich beugte mich über sie und streichelte Taylor über die Wange. Er tat das gleiche. Seine Lippen, blass und schmal, waren trotz allem unheimlich weich. Seine Zunge fühlte sich warm an, viel wärmer als mein gesamter Körper. Sie verschmolz mit meiner. Die Frau genoss, wie wir uns vor ihr küssten. Sie mochte dies. Ich wusste nicht warum, aber es gab Frauen einen Reiz, Männer so zu sehen. Speichel lief mir am Kinn entlang. Dies war Absicht, sie mochte diesen Anblick sichtlich. Sie zwang uns, nicht mehr Luft füreinander zu sein. Meine Konzentration lag bei Taylor, als er mir hinters Ohr fasste und mich an sich drückte, Gesicht an Gesicht. Er roch gut. Er roch besser als alle anderen hier, er roch wie ich. Arm, elend, verzweifelt, doch so natürlich und feurig, wie es kein Parfum simulieren könnte. Ich neigte meinen Kopf zur Seite und biss in seine Unterlippe. Taylor stöhnte und tat so, als würde es schmerzen. Die Frau glaubte dies. Er streichelte durch mein schwarzes Haar und schloss seine Augen. Sein Gesicht sah so schön aus, doch das war für mich ohne Belang. Dies hier war Arbeit, dies hier war rational, dies hier bedeutete für mich nichts. Überhaupt nichts. Ich begann, die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen, doch die Frau war fertig. Sie gab viel Trinkgeld, so viel, dass ich nachfragte, ob sie sich verzählt hatte. Das hatte sie nicht. Sie ging mit einem Lächeln, und unser aller Lächeln verschwand. Wieder Luft. Ich blieb noch etwas sitzen, als alle gingen. Mit dem Daumen wischte ich Taylors Speichel von meinem Kinn. Er schimmerte im gedämmten Licht. Ich kostete ihn noch einmal und leckte an meinem Finger, er war kalt geworden. Eiskalt.

 

Mit leerem Blick wanderte ich zurück zum Raum mit den Spinden. Für heute war meine Schicht um. Die Chefin sah mich von ihrem angestammten Platz neben der Bar an, so verachtend ihr Blick auch war, heute war sie trotz allem zufrieden mit meiner Leistung. Mit Taylors und meiner Leistung, mit meiner und Taylors. Die Reihenfolge spielt nur eine Rolle, wenn man einen Wert besaß, an dem man gemessen werden könnte.

Ich öffnete die Tür und blickte auf eben ihn, er zog sich um, ebenfalls bereit, zu gehen. Nebensächlich sah er über seine Schulter auf mich, undeutbar, uninterpretierbar. Ich schloss die Tür.

„Du hast gute Arbeit geleistet.“

Sein Lob war für mich so unbedeutend, wie es überhaupt nur ging. Allein die Tatsache, dass er sich das Recht nahm, mich zu loben, zeigte, dass er sich für etwas Besseres hielt.

„Ach ja?“, meinte ich stoisch, während ich die Krawatte lockerte und mich zu meinem Schrank begab. Ein Schrank, auf dem eine Nummer gedruckt war, kein Name.

„Du kannst gut küssen.“

Er sagte diese Farce mit einem solchen Ernst, dass ich fast lachen musste.

„Es soll nur gut aussehen, wie es sich anfühlt, ist egal!“

„Es fühlte sich gut an.“

Meine Worte blieben mir im Hals stecken. Dieser Mensch war mir so zuwider, warum er und nicht ein anderer, warum musste ich seinen Speichel schmecken, und warum musste mir dieser Geschmack so munden?

„Mach dich nicht lächerlich! Es war Arbeit, nicht mehr. Was du fühlst, ist mir absolut egal ...“

„Ist es das?“

Er schloss seinen Schrank und streifte sich die Jacke über.

„Ja, ist es.“

„Dann sag mir, Liam, wie es sich für dich angefühlt hat.“

Ich warf meine Schuhe in den Schrank und drehte mich zu ihm um, und bemerkte, dass er genau vor mir stand. Seine klaren, blauen Augen starrten genau in meine dunklen. Er war deutlich größer als ich, er sah auf mich herab.

„Wie es sich angefühlt hat?“ Meine Augen waren matt und stumpf, ich wich nicht zurück, warum auch? Wir blickten uns einige endlose Sekunden entgegen. „Es war für mich völlig bedeutungslos, ich fühlte nichts, außer den Wunsch, möglichst viel Geld aus dieser Nummer zu ziehen.“

„Verstehe“, antwortete er ruhig, wandte sich ab und ging dann hinaus in die kalte Nacht. Nach einigen Minuten war ich fertig und folgte ihm.

 

Als der Vermieter auch dieses Mal klopfte, konnte ich ihm Geld geben. Das Geld der Frau. Dieses Geld, das ich dank Taylors Zunge verdient hatte. Diese Nacht blieb mein Bett sauber, doch es stank noch immer. Es stank nach dem heute Tag und nach allen vergangenen. Warum war der Geruch heute so penetrant? Warum fiel er mir heute so stark auf? Wütend fasste ich mir ins Haar und konnte die Stelle fühlen, die Taylor berührt hatte. Sie war glühend heiß. Scheiße. Ich duschte. Die rostigen Rohre knarrten und überschütteten mich mit kaltem Nass, das jedoch so bleiern schwer auf mir lastete. Mein feuchtes Haar hing an meiner Stirn herunter und bedeckte meine Augen, meine stumpfen, leeren Augen. Ich fühlte mich so schmutzig. Tropfend setzte ich mich auf mein Bett und blickte hinaus in die Nacht, hinaus auf die entfernten Hochhäuser und Edelviertel, hinaus auf die nahen Ghettos und Slums, auf die sterbenden Penner und Straßennutten.

Ich hörte diese Menschen atmen, sprechen, schmatzen, vögeln, pissen und schnupfen, ich roch ihre verdammten, vergammelten Körper, ihr stinkendes Parfum, ihr Exkremente, ich fühlte ihre Gegenwart, die ständige Gegenwart von unzählbaren, wertlosen Untermenschen wie ich es war, Abschaum, Abschaum, Abschaum. Ich hielt das nicht mehr aus. Ich halte es noch immer nicht aus! Ich konnte nicht mehr. Tränen flossen über mein Gesicht, mein schönes Gesicht, und landeten schließlich auf meinem Bett, den Ort, den ich so bemüht rein hielt. Doch Tränen rochen nicht. Es war das einzige, was ich nicht riechen konnte. Das einzige, was mich nicht so anekelte, dass ich meinem Leben am liebsten ein Ende setzen würde. Doch alles andere ließ mich zweifeln. Warum lebte ich überhaupt noch weiter? Die Antwort war einfach: Ich war zu feige zum Sterben.

Unter Tränen zog ich mir eine Line auf dem Nachttisch. Das weiße Pulver grinste mich an. Ich wusste, es macht mich zu etwas, was noch wertloser war. Doch es war das einzige, was mich die Allgegenwart der Geräusche und Gerüche dieser Welt aushalten ließ. Ich fiel zurück aufs Bett und betrachtete die Decke. Die Wirkung setzte glücklicherweise schnell ein. Die Welt wurde beschleunigt. Dann war alles weg. Raum, Zeit und Realität rannten an meinem Unterbewusstsein vorbei und warfen mich in einen Eimer Gülle.

 

Bunt.

 

Rosenduft.

 

Stille.

 

Liebe.

 

Glück.

 

Leben.

 

Schluss.

 

Schwarz.

 

Krach.

 

Gestank.

 

Als ich erwachte, ging die Sonne bereits unter. Die Nacht und der darauffolgende Tag waren vergangen und ich lag noch immer hier. Die Nässe meiner Haare war nicht mehr, die Gegenwart der anderen dafür umso stärker.

 

Die Arbeit war hart. Die Worte des Kunden hallten in meinem Kopf wie ein Schlagzeug in einer leeren Halle. Wieder und wieder und wieder. Es war schlimmer als Alkohol. Koks machte dich so glücklich, doch dann schlug es dir mit voller Wucht zum Abschied mitten in die Fresse. So fühlte ich mich. Genau so. Und dieser Typ, einer der gesichtslosen Anzugträger, die so auf das abfuhren, was ich war, redete und redete und redete. Brackwasser quoll aus seinem Mund und ertränkte mich in bedeutungslosen Gefasel. Und ich, ich nickte, lächelte und schenkte ihm nach. Ich tat das, was ich tun musste. Er war einer von den vielen Kunden, die nicht allzu reich waren. Er hatte kein Einzelzimmer gemietet, ich saß mit ihm auf einem der zahlreichen Sofas im offenen Bereich, wo getanzt und getrunken wurde. Andere Unterhalter und Unterhalterinnen gingen neben mir ihrer Arbeit nach. Immer das gleiche Schauspiel, sie alle taten, was ich tat, und ich tat, was sie taten. Musik, Duft und Wärme standen wie dreckiger Dunst in diesem Saal und hüllten alle in eine scheinheilige Stimmung der Zufriedenheit. Ich streichelte den Kunden und er lächelte mich an. Er fragte, wie viel es kosten würde. Ich tat unwissend. Was? Er lächelte und flüsterte, ich würde schon wissen, was er meint. Ich wusste es tatsächlich, aber das gehörte alles zum Spiel. Ich nahm seine Hand und massierte sie sanft. Hundert, schlug ich vor, doch da er so nett war, nur achtzig. Tatsächlich waren es sechzig, mehr war ich nicht wert, aber man setzte weiter oben an. Die Kunden kamen selten auf die Idee, zu feilschen. Tatsächlich würde ich bis zu vierzig runter gehen, ich konnte die Differenz durch Trinkgeld tilgen. Dieser hier verhandelte nicht, er nickte und fragte, ob es einen privateren Ort gebe. Ich scherzte, ob er etwas zu verbergen hätte. Ich konnte das verstehen, mir machte es zwar nichts aus, aber diese fetten, alten, potthässlichen Knacker zeigten sich nicht gern anderen nackt. Das würde ich auch nicht, wenn ich so aussehen würde. Dies tat ich nicht. Und wer arbeitete wie ich arbeitete, verlor schnell jeden Scham.

Lachhaft.

Sieben Minuten und ich hatte seinen Saft im Gesicht. Mehr nicht. Achtzig in sieben Minuten, ein gutes Geschäft, besser als vierzig in sechzig. Das gab es auch, doch selten bei den fetten Alten. Die waren schnell.

Ich setzte mich zurück in den großen Saal. Der nächste Kunde würde erst in einer halben Stunde kommen. Zeit. Freie Zeit. Dies war wirklich selten.

 

Taylor sah mich an.

 

Ich bemerkte es nicht auf Anhieb, aber als ich seinen Blick kreuzte, fiel es mir auf. Er saß noch bei einer Kundin, auf der anderen Seite der Bar dieses Saals, er streichelte sie, küsste sie, schenkte ihr nach, doch sein Blick viel immer auf mich. Er war intensiv. Was wollte er? Er musterte mich nicht, er sah nur in meine Augen. Mit solch einer Gewalt, dass es mich fast nach hinten umwarf. Ich begann dabei zu zittern. Den gesamten Tag lang. Bis alle Kunden weg waren. Die ganze Zeit. Seine Augen waren von einer solchen Entschlossenheit erfüllt, dass ich es einfach nicht beschreiben konnte, selbst wenn ich wollte. An diesem Tag wurde ich von ihm das erste mal geschlagen. Er ohrfeigte mich. Es war kaum Kraft dahinter, die Chefin schlug härter zu, und dennoch brachte mich die Unvorhersehbarkeit dieser Handlung dazu, zurückzuttaumeln und mit dem Rücken gegen die Spinde des Umkleideraumes zu stoßen.

„Bist du völlig bescheuert?“, schrie ich ihn an und berührte die kalte Metalloberfläche der mannshohen Schrankwand hinter mir.

„Ob ich bescheuert bin, fragst du? Das gleiche wollte ich dich fragen!“, fuhr er mich an und fasste meinen Kopf, kam immer näher.

„Deine Augen!“, zischte er zornig. Was war mit meinen Augen? Was ist in ihn gefahren? „Sie sind ... geweitet!“

Mein Atem stockte. Plötzlich trocknete mein Mund aus, wütend schlug ich seinen Griff von mir ab. Darum hatte er mich den ganzen Tag angesehen? Darum? Darum! Darum.

„Du hast Drogen genommen!“, brüllte er und stieß mich zurück gegen den Schrank, hielt mich mit den Händen an den Schultern fixiert. Erst wehrte ich mich, doch das war zwecklos, ich war deutlich schwächer. Kühl und stoisch erwiderte ich seinen Blick.

„Und wenn schon? Was geht dich das an?“, fragte ich und diese Frage war berechtigt, besonders in der Welt, in der wir lebten. Einer Welt, in der es weitaus mehr Menschen mit geweiteten als mit normalen Augen gab. Ich war einer der ersteren.

„Dieses Zeug zerstört dich! Liam, wenn du kokst, dann macht dich das kaputt. Das ist dein Ende! Bitte, hör auf damit! Ich bitte dich!“

„Und? Bist du fertig?“

Wütend ließ er los und trat einen Schritt zurück.

„Ob ich fertig bin?“

„Ja.“

„Tss, du bist ein gefühlloses Arschloch ...“, murmelte er und sah mich eiskalt an. Ich lächelte und warf mir den Mantel über.

„Gut, dass wir uns darin einig sind, wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss ...“

„ … aber ich werde nie mit dir fertig sein!“

Er packte mich und warf mich unsanft zurück an die Wand. Es schmerzte. Dann fühlte ich einen vertrauten Geschmack. Seine Zunge war so weich, so warm und so sanft wie in meiner Erinnerung. Taylor berührte meine Wange und küsste mich. Was tat er? War er völlig übergeschnappt? Was hatte das zu bedeuten?

Ich umschlang ihn und zog ihn an mich. Was tat ich? War ich völlig übergeschnappt? Was hatte das zu bedeuten?

 

Diese Nacht war anders. Ohne Worte. Ohne weitere Blicke. In stummen Einverständnis folgte ich Taylor wie eine willenlose Marionette in seine Wohnung. Nicht schöner als die meine, nicht wohlriechender, nicht sauberer, nicht sicherer, nicht neuer, nicht besser, nicht wärmer, nicht gemütlicher. Arm. Elend. Verzweifelt.

In dieser Nacht schliefen wir miteinander. Das erste Mal. Ich hatte schon mit vielen Menschen geschlafen. Mit Männern und Frauen, mit Älteren und Jüngeren, mit Zärtlichen und Brutalen, mit Geübten und mit Anfängern, mit Schönen und mit Hässlichen, mit Reichen und mit Armen. Doch noch nie mit jemand Wohlriechenden. Taylor. Sein Duft war so berauschend. Er klebte an mir und ich wollte ihn niemals mehr abwaschen. Dieser Geruch. Ich wollte ihn überall hin tragen. Ich wollte, dass meine Kleider, meine Wohnung, mein Bett, mein Körper, ich, er und alle anderen auf ewig danach rochen.

 

Taylor.

 

Sein Gesicht war meinem so nah. Ich konnte seinen Atem hören, sein Stöhnen, wie es auf der einen Seite warm und angenehm, auf der anderen eisig und kühl über meinen verschwitzten Körper fuhr. Gänsehaut bildete sich, die feinen Härchen auf meinen Armen stellten sich bei jedem Atemzug aufs Neue auf. Sein sonst so akkurat hergerichtetes, blondes Haar hing nass und unordentlich an seinem Kopf herab und umspielte die markanten Züge des Gesichtes, in das sich gelangweilte Hausfrauen so gern verliebten. Er sah in diesem Moment so unperfekt aus, wie ich ihn niemals zuvor gesehen hatte. Graublaue Ringe untermalten seine hellen Augen, als hätte er nicht lange genug geschlafen. Sein Gesicht fühlte sich so stoppelig an, als hätte er sich zwei Tage nicht rasiert. Seine gebräunten Hände waren rau und kräftig, als sie über meinen mageren, blassen Körper fuhren und ihn nach unten in die Matratze drückten, als wolle er nicht, dass ich aufstehen und gehen könnte. Doch diesen Willen hatte ich mit ihm gemeinsam. Ich wollte, dass er niemals wieder so perfekt wie sonst aussah, denn diese Unperfektion war der Moment, in dem ich wusste, dass er mir nicht egal war. Mein Stöhnen erstarb unter seinem Kuss und sein Duft erfüllte meine gesamte Existenz, als Stille einkehrte.

Ich konnte sein Herz schlagen hören. Ich fuhr über seinen kräftigen Brustkorb, der nackt neben mir lag und sich im Rhythmus eines langsamen, entspannten Atmens auf und ab bewegte. Es störte mich nicht, dass Taylors Bett ebenso wie meines hart und ungemütlich, dass seine Wände zügig und kühl, die Fenster undicht und dreckig, der Boden modrig und alt war. Es störte mich nichts mehr, solange ich nur so neben ihm liegen bleiben durfte. Sein Blick traf mich erneut, doch anders als vor einigen Stunden war er dieses Mal ganz anders. Warm. Glücklich. Er streichelte mir durchs Haar und küsste meine Schläfe.

„Liam ...“, flüsterte er.

Dieser Name. Wie lange war es her, dass ich mich einmal über das Aussprechen dieses Namens gefreut hatte? Ewigkeiten. Das war noch bevor das Leben kam und mir alles nahm. Doch Taylors Mund formte aus diesen belanglosen vier Buchstaben einen Namen, der eben dies nicht mehr für mich war: belanglos.

Ich antwortete mit Schweigen und schloss meine Augen. Seine Schulter zu fühlen, seinen Herzschlag zu hören, dies war mir so unheimlich angenehm, dass ich zu zittern begann.

„Ich habe dich genau heute vor sieben Monaten das erste Mal gesehen, als du neu in den Club kamst“, begann er und ich erinnerte mich ungenau. Schon sieben Monate. So eine lange Zeit der täglichen Illusion, des täglichen Unterhaltens. Wie lange konnte das ein Mensch aushalten? Nicht lange. Sieben war schon eine hohe Zahl, ich habe viel mehr Männer und Frauen kommen und gehen sehen, aus Verzweiflung gekommen, mit Crystal-Lächeln gegangen. So war es meistens. Ich stand kurz davor, ebenfalls zu gehen. Meine Kräfte waren am Ende, mein wunderschöner Körper, den mir Gott als Fluch auferlegt hatte, würde der Belastung lange nicht mehr standhalten. Taylor. Wie lange war er schon da? Er sagte, er sah mich, als ich neu anfing? Wie lange hatte er schon seinen Körper den Kunden ausgesetzt? Seinen Geist durch die ewigen Düfte, die ewige Musik und das ewige Stöhnen der gelangweilten Hausfrauen vernebelt? War diese Ausdauer erstrebenswert und vorbildhaft, oder einfach nur traurig? Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Ich war Luft und alle anderen waren es auch. In unbrechbarer Stoik lebte ich diesen Scheißdreck von Leben und lutschte jedem die Eier, der mir einen Zwanziger dafür gab. Seit wann nahm ich Taylor wahr? Ich wusste es nicht, doch die Frage ist doch, warum er es wusste?

„Du sahst traurig und niedergeschlagen aus, wie alle, die neu anfangen. Wie alle, die an diese letzte, unterste Station gerieten und ihren Körper verkaufen mussten.“

Ja, daran erinnerte ich mich. Trauer und Verzweiflung. Das Leben.

„Doch nach Monaten wurdest du immer kälter. Jedes Mal, wenn meine Augen deine trafen, waren deine ein weiteres Stückchen blasser und stumpfer geworden. Ich konnte das nicht ertragen.“

Ich drehte mein Gesicht zur Seite und sah ihn an. Warum erschrak ich, als ich sah, dass er das gleiche tat?

„Nicht – ertragen?“, hauchte ich.

Er fasste mich am Kinn und küsste mich auf die Stirn. Sie musste salzig schmecken, doch er leckte sich die Lippen danach.

„Es war wohl so etwas wie Liebe auf den ersten Blick ...“, lächelte er und meine Augen wurden wieder klar.

 

Liebe?

 

Liebe!

 

Liebe.

 

Es ist fast schon lächerlich, wie sich die Wirkung eines Wortes so drastisch ändert, je nachdem, welches Satzzeichen man anhängt. Für mich ... für mich war es der Punkt gewesen.

 

Änderte sich etwas, nachdem man liebt? Ja, alles. Nein, nichts. Vielleicht? Für meine Augen alles, für die Augen der Welt nichts. Schon am nächsten Tag fickte ich zwei Typen und eine Tussi, als wäre nichts passiert, doch als ich das tat, waren meine Gedanken woanders als sonst. Das Stöhnen der Kunden, ihre ungeschickten Griffe und ihre jämmerliche, fast schon witzige Unbedarftheit amüsierten mich nicht mehr. Das Geld, das modrige, ekelhaft stinkende Geld, das sie mir mit ihren wabbeligen Händen überließen, daran dachte ich nicht mehr. Ihr Gestank, der meine Nase erfüllte und meiner vollen Konzentration bedurfte, damit ich ihnen nicht augenblicklich in die potthässliche Fresse kotzte, er interessierte mich nicht mehr. Ich dachte nur an Taylor. Warum? Es war mir völlig unklar. So ging es eine Woche.

 

Eine lange Woche, sieben Tage.

 

Jedes Mal, wenn die Nacht verging und meine Schicht endete, wenn ich die edlen Kleider abstreifte und in meine gewöhnlichen schlüpfte, jedes Mal wenn Taylor auf mich wartete, jedes Mal war ich glücklich.

 

Ich.

 

War.

 

Glücklich.

 

Dieses Gefühl hatte ich völlig verlernt, ich hatte verlernt, zu leben. Doch Taylor lebte mit mir. Wir lebten. Es war ein komisches Gefühl, in einem Restaurant zu sitzen. Wie lange hatte ich das nicht mehr getan? Mit wem auch? Die Kellnerin bediente mich. Sie lächelte mich an. Sie schenkte mir ein. Ich musste mich anstrengen, damit mir nicht die Tränen kamen.

Taylor lächelte, als er sein Glas hob, in dem der Rotwein das schummrige Licht der Kerze mehrfach brach.

„Abschaum wird sonst nie bedient ...“, meinte ich kühl und sah ihn an.

„Ja, Abschaum bedient nur. Sieben Tage die Woche sind wir Abschaum, lass uns den achten einmal keiner sein.“

Ich legte den Kopf schief und betrachtete das Essen, das mir gebracht wurde. Es war so viel, dass ich glatt fürchtete, zuzunehmen. Wenn ich nicht mehr mager war, verlor ich meine Kundschaft. Im Nachhinein könnte ich über einen solchen Gedanken lachen, in diesem Augenblick jedoch pulsierte er prägnant in meinem Kopf, schwieg aber unter dem Genuss dieses Fleisches. Wann hatte ich das letzte Mal etwas Vergleichbares gegessen? Ich schalt mich selbst dafür, mir immer die Frage zu stellen, wann das letzte Mal war. Es war noch nie.

„Die Woche hat nur sieben.“

„Dann lass uns einen achten erfinden.“

Er war so kindisch und doch so ernst, dass ich teilweise zweifelte, ob er mich nicht wie einen Kunden in einer Illusion hielt.

„Das ist sicher teuer. Schon die Miete ist selten zu schaffen, ich kann das kaum bezahlen“, erklärte ich und betrachtete das Stück auf meiner Gabel, aus dem noch blutiger Saft quoll, genauso wie ich es mochte.

„Das musst du nicht, ich bezahle.“

„Doch wenn du eine Niete ziehst, dann ist dein Geld weg und du sitzt auf der Straße ...“

„Vergisst du nicht, was du vor einigen Tagen noch selbst gesagt hattest? Ich ziehe niemals eine Niete.“

Er hatte recht. Vor einigen Tagen war ich auf diesen Umstand noch neidisch, jetzt jedoch kam er mir wie das größte Talent vor, welches ein Mensch nur haben konnte.

„Stimmt, du hast Glück ...“

„Das ist kein Glück!“, lachte er, „Ich kann nur verdammt gut blasen.“

 

Eine zweite Woche verging, und sie lief so schnell an mir vorbei, dass ich dachte, ich wäre im Dauerrausch. Doch tatsächlich hatte ich seit der Nacht mit Taylor keine Drogen mehr genommen. Er war meine Droge. Sein Duft. Sein Gesicht. Sein Lächeln. Eine dritte und eine vierte Woche folgten und in jeder freute ich mich am meisten auf den achten Tag. An dem Tag, an dem ich einmal nicht das war, was ich war. Wir beide arbeiteten regulär weiter. Doch nur sieben Tage die Woche. Nicht alle. Für mich hatte die Woche schon lange keine sieben mehr. Das ironische war, dass wir verdammt selten miteinander vögelten. Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass für uns, für die Sex Arbeit war, wahre Liebe so definiert wurde, dass sie nicht daran festhing, wie lang der Schwanz und wie eng das Loch deines Partners war.

Liebe beflügelt, Liebe macht glücklich. Sie ist das schönste Gefühl, das ich je erleben durfte, doch sie hat einen entscheidenden Nachteil: Liebe macht blind.

 

Ich wusste erst, dass dies stimmte, als Taylor mich in der fünften Woche betrog. Betrug. Was war das? Für einen normalen Menschen war dies wohl Fremdgehen. Für mich jedoch war es etwas ganz anderes. Für mich war es, dass man mich im Stich ließ. Dass man mir zeigte, wie schön das Leben doch sein konnte, nur um mich dann einfach zurück in den Dreck werfen zu können, wie einen lebenslänglich Eingesperrten, den man einmal in die Sonne führte, um ihm zu zeigen, was er verpasst.

 

Taylor hatte einen Selbstmordversuch getätigt. Dies war sein Verrat. Er hatte sich aus seinem Zimmer gestürzt, doch sein Herz schlug weiter. Ich besuchte ihn direkt danach im Krankenhaus. Der klinische Geruch von Desinfektionsmitteln und Arznei brannte in meinen Augen und das ewige Piepen und Rauschen der Geräte, die an ihn angeschlossen waren, trieb mich fast in den Wahnsinn. Ich stellte ihm die Frage, weshalb? Kein Abschiedsbrief. Kein letztes Gespräch. Und selbst jetzt blieb er mir jeder Erklärung schuldig. Er lag im Koma, die Ärzte bezweifelten, dass er mich hören konnte. Würde er wieder erwachen? Würde er mich je wieder zum Lachen bringen? Mit mir je wieder essen gehen? Würde ich auch nur ein mal wieder Imstande sein, in seine wundervollen, klaren Augen zu blicken?

Ich wusste es nicht. Und ich wusste nicht, ob ich dies überhaupt noch wollte. Er hatte mich verraten. Er hatte mein Herz erobert und es gebrochen, indem er sich entschied, aus dieser Welt zu gehen. Und selbst das hatte er nicht hinbekommen. Es lag fast schon ein Hauch an Komik in dieser Tragödie. Ich kicherte unter den Tränen, die mir über die Wangen flossen, und legte meine Stirn auf seine Brust, die sich von Maschinen bewegt auf und ab hob. Er roch … anders. Er roch nach Trauer. War es die Trauer darüber, mich verloren zu haben, oder schlichtweg darüber, dass er noch lebte? Mir wurde klar, dass er mich nur benutzt hatte. Ich war nur ein Mittel, ein Ding, um ihn zu vergnügen. Ihm die letzten Wochen seines Lebens Spaß zu bereiten. Ich ging.

 

Die Woche begann für mich nun wieder sieben Tage zu haben. Der Gestank des Alltages durchlöcherte meinen Geist und hinterließ einen Haufen von Scherben, die nur darauf warteten, von den stählernen Sohlen eines kräftigen Schusses zermahlt zu werden. Die Zeit verrann so langsam wie noch nie. Warum? Warum war er gegangen? Lag es an mir? Nein, das konnte nicht sein. Es lag an ihm! Ich bot ihm alles, was ich bieten konnte. War das genug? Ja, war es. Jemand wie wir, Abschaum, dreckiger Abschaum, durfte sich nicht anmaßen, mehr als nichts zu erwarten. Ich hämmerte mir mit den Fäusten gegen die Schläfen, während ich nachdachte. Mein Bett knarrte unter meinem Gewicht und wirbelte Wolken des Geruchs auf, der mich die letzten Wochen so beflügelt hatte. Was weckte er nun in mir? Sehnsucht? Ekel? Hass? Wohl eine Mischung aus allem. Ich blieb der Arbeit viele Tage fern. Die Chefin würde mich dafür zusammenschlagen lassen, doch das war mir egal. Der strafende Schmerz zeigte mir, dass ich wieder in der Realität war, ausgebrochen aus der Illusion, die Taylor zu seinem widerlichen Vergnügen um mich herum aufgebaut hatte. Warum? Warum verdammt?!

 

Ich saß auf meiner Schlafstädte und blickte aus dem Fenster, welches das Licht schummrig durch Schichten aus Dreck und öligem Beschlag hindurchdringen ließ. Der orange Sonnenuntergang warf einen langen Schatten auf mein Gesicht. Die Dealer und Zuhälter würden bald aus ihren Löchern kriechen und einen Nebel aus Widerwärtigkeit aufbauen, welcher durch alles Glas und allen Beton zu mir dringen und mich umwerfen würde. Taylor war weg. Ich saß hier nun schon seit einem Tag, doch diesen Gedanken konnte ich noch immer nicht realisieren. Ich stützte meine Stirn auf die Hände, die ich vor mir verschränkt hatte, und blickte zu Boden. Kleine, schillernde Tümpel bildeten sich auf den staubigen Holzdielen und ich fühlte die bleischweren Rinnsale auf meinen schneeweißen Wangen. Taylor war weg, alles war wie früher.

 

Der nächste Tag war hart wie jeder andere, der Kunde brauchte lange. Dieses Mal war es ein jüngerer Herr, einer, der seinen geheimen Interessen nachkommen wollte. Diese gab es oft. Freundin, Berufssoldat, BMW-Fahrer, Stammgast in einer lokalen Kneipe. Doch in jedem Mann steckt der Drang, seinen Schwengel einmal in einen anderen hineinzustecken. War man deswegen schwul? Nein, man war nur neugierig. Es blieb meist bei einem Mal, doch dieses eine Mal ließ man sich viel kosten. Dies war mir am liebsten. Er stieß wenige Male zu, dafür jedoch besonders heftig. Sein Hecheln wirkte wie jenes eines fetten, kleinen Hundes, übermütig und sich selbst verherrlichend. Ich richtete mich langsam auf, wobei ich meine Hände als Stützen verwendete und sie in das weiche Bett stieß, welches hier für uns bereit stand. So viel bequemer als jenes, auf welchem ich zuhause schlief, doch ebenso ekelerregend stinkend.

„Du hast schöne Augen, hat dir das schon mal jemand gesagt?“, murmelte er lächelnd und fasste mich noch liegend an meinem Handgelenk. Nein, das hatte mir noch nie jemand gesagt. Der Mensch, den ich liebte, hatte mich sogar wegen meiner Augen geschlagen. Nummer 17, wie ich diesen Kunden hier im Geiste taufte, fand sie schön, obwohl sie so geweitet und trocken, so stumpf und glasig waren?

„Ach ja? Danke, deine sind aber auch niedlich“, log ich und sah ihn warm an, auch wenn hinter diesem Ausdruck, der wie billige Farbe auf die pechschwarze Leinwand meines bröselnden Antlitzes gestrichen war, noch immer die Trauer über meinen Verlust herrschte.

„Ja, warum bleibst du nicht noch etwas länger liegen?“

Ich lächelte ihn an und ließ mich zurück sinken. Freundlich küsste ich seine Wange. „Das Nachspiel kostet aber extra“, flüsterte ich ihm entgegen, doch er antwortete nur mit einem entspannten Stöhnen. „Das geht in Ordnung. Wir haben doch gerade so viel Spaß ...“

 

Spaß, hmh? Was verstand er unter Spaß? Sicher nicht, was ich unter Spaß verstand. Doch was, wenn es mir tatsächlich Spaß bieten würde? Ich war fertig. Ich konnte nicht mehr. Ich brauchte jemanden, irgendjemanden an den ich mich anlehnen konnte, auch wenn dieser jemand ein Kunde war, Nummer 17, zwischen dem und mir nichts weiter als ein Dienstleistungsvertrag bestand. Er bezog Spaß wahrscheinlich darauf, dass ich gekommen war. Doch eine kräftige Hand und etwas Zeit ließen einen immer kommen, egal ob man Spaß dabei hat oder nicht. Probiert es aus.

„Ja, Spaß.“

Nummer 17 rauchte. Ich war froh, nicht in meinem Bett zu sein, so blieb der Geruch wenigstens nicht in meiner Wohnung hängen. Nummer 17 roch ganz anders als Taylor. Er roch nach Beton, Teer, Qualm und Kälte, wie auch immer Kälte roch. „An was denkst du gerade?“, fragte er mich, als wäre ich sein Freund. Dieses Spielchen war sehr beliebt, es machte die Illusion echter, fast wie ein Videospiel, nur teurer.

„An dich natürlich“, meinte ich so ernst ich konnte, ohne in Lachen oder Weinen auszubrechen, vermutlich wäre ich beidem zugleich erlegen.

Und damit begann ein neuer Tag. Nummer 17 war mir zuwider, sein Geruch ekelte mich an, aber er gab sich Mühe. Er lud mich sogar einmal in einen Club ein. Es war zwar ein schäbiger Ort, doch ich schien ihm etwas zu bedeuten. Nummer 17 war drogensüchtig, wie ich es in seinen Augen schon vorher gesehen hatte. War es Liebe, wenn man sich gegenseitig den Arm abband und sich dabei anlachte, weil man so verdammt betrunken war, dass man die Venen selbst unter OP-Bedingungen nicht gefunden hätte? Ja, war es. Nein, war es nicht. Vielleicht? Der Schuss tat gut und ich konnte spüren, wie das Zeug, so warm es auch war, eiskalt durch meine Adern schoss. Die Welt verschwamm vor meinen Augen und Nummer 17 mit ihr.

 

Ich wusste nicht, ob wir es diese Nacht miteinander getrieben hatten oder nicht. Mein Verstand war ein Trümmerhaufen und ich sah alles durch einen schummrigen Wasserfall der Sucht. Wir waren auf jeden Fall beide nackt. Es war das erste Mal, dass ich mit einem Kunden gefickt hatte, ohne dafür etwas zu verlangen. War das Liebe? Wen fragte ich überhaupt?

Die Antwort war nein. Nummer 17 verließ mich so schnell, wie er gekommen war. Immerhin hatte er ein Leben, anders als ich. Irgendwo, mit einem Mädchen, in einem besseren Teil der Stadt. Dies hielt ihn nicht davon ab, mich zum Abschied zu küssen. Seine Lippen waren aufgesprungen und trocken und er stank aus dem Maul, als hätte er ein Nest Ratten geschluckt, die dann in seinem Rachen grausam verendet sind. Ich sah ihn nicht wieder. Allein.

 

War es armselig, wenn man lieber mit einem Typen wie Nummer 17 zusammen war als mit niemandem? War es schon so weit, dass ich mir selbst so zuwider war, dass ich es nicht mit mir allein aushielt? Ich war zu feige zum Sterben. Taylor war zu dumm zum Sterben.

 

Nach zwei Wochen erreichte mich die Nachricht, dass er aus dem Koma erwacht sei, und ich ließ mir Zeit, ihn zu besuchen. Am nächsten Tag erschien ich neben seinem Bett, ohne Geschenke, ohne Blumen, ohne Karte, aber mit einer Frage, die er mir zu beantworten hatte.

„Warum?“

Er saß aufrecht in seinem Krankenbett und starrte aus dem Fenster, sah mich nicht an. Es dauerte lang, bis er antwortete, doch ich wartete geduldig. Meine Zähne waren locker geworden, die Tränensäcke unter meinen Augen dick und schwarz. Mein Haar begann, mir büschelweise auszufallen. Es war lange her, dass ich einen Tag nicht high gewesen war. Der Arbeit blieb ich fern, wahrscheinlich würde man mich nicht einmal wieder hineinlassen. So, wie ich aussah, brachte ich sowieso kein Geld. Und ohne Geld, kein Leben, keine Liebe, kein Glück. Ich war eine wandelnde Leiche, eine leere Hülle, die nur noch existierte, weil sie die Antwort auf diese eine, banale Frage suchte.

„Ich weiß es nicht, Liam.“

 

Dieser Name. Der Klang seiner Stimme. Sein Duft. Alles war anders. Und als ich erkannte, dass er nun roch wie ein jeder, wusste ich, dass ich den Taylor, den ich liebte, nie mehr treffen würde. Ich lief um sein Bett und streichelte dabei die weißen Laken.

Das Fenster des Krankenhauses öffnete sich mit einem rostigen, mahnenden Seufzer, der kalte, unerbittliche Wind ergriff mein Haar und meine Kleider und schmerzte in den Winkeln meiner Augen.

„Ich weiß es auch nicht, Taylor.“

Ich sprang. Und der letzte Geruch, den ich wahrnahm, war …

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.08.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Story mir selbst.

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