Roland Scheller
Pseudo
Die Kieler Punkszene Anfang der 80er aus der Perspektive eines Pseudos
2. überarbeitete Auflage
Copyright © 2017 Roland Scheller
All rights reserved.
Die Handlung und alle Personen in diesem Roman sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.
„Perfektion ist Sache der Götter“
Beton Combo
Sitzblockade Lerchenstraße ('81 oder '82)
Räumung der besetzten Häuser Sophienblatt '81
Lerchenstraße, Screenshot "Der Häuserfilm" © Filmgruppe Chaos
Proteste am Sophienblatt, 4. Nov. 1981 © Mathias Muthmann
Ich verbrachte einen Teil meiner Kindheit auf der Mülldeponie Schusterkrug. Die Müllhalde nannten wir liebevoll Ramscher. Dort suchten wir, mit unseren Ramscherhaken im Abfall scharrend, nach brauchbarem Unrat wie Abzeichen, Kokaden und Uniformknöpfen. Wir fanden Nazi-Seekarten, Grabsteine, Patronenhülsen, Gewehrübungsgranaten made in Israel, Panzerfaustumhängetaschen – all den ganzen Dreck – und stocherten in Haushalts-, Militär- und blutigen Krankenhausabfällen, bevor die Müllberge von Planierraupen untergekehrt wurden. Es wimmelte hier von Ratten, Krähen und Möwen, die sich verflüchtigten, wenn wir uns bemerkbar machten. An einer Stelle hing eine tote Krähe an einem Draht kopfüber von einer Metallplanke. Hier und da verreckte Möwen und halbverweste Ratten.
Jedes Mal, wenn wir den Müllplatz betraten, mussten wir die Bahngleise überqueren, über die zu bestimmten Uhrzeiten fabrikneue Panzer von langsam fahrenden Zügen aus Friedrichsort abtransportiert wurden. Die Weinbergschnecken, die wir sammelten und auf die Bahngleise legten, um sie von den Panzertransporten plattwalzen zu lassen, hatten nur geringe Überlebenschancen. Unsere Schrottplatzfundstücke tauschten und verscherbelten wir später an andere Kids aus dem Ort und verheimlichten, dass sie bereits im Dreck lagen. Vermutlich war das Stochern im Müll ein Wegbereiter für meine spätere Leidenschaft zum Punk.
Proteste am Sophienblatt, 4. Nov. 1981 © Mathias Muthmann
Ich erinnere mich noch ganz gut an die kaputten Tage mit 15 im Jahr 1982. Es war ziemlich kalt zu der Jahreszeit, und wir froren uns den Arsch ab. Als meinen Einstieg in die Punkszene betrachte ich meinen ersten Besuch bei den Wiker Punks auf dem kleinen Spielplatz im Düvelsbeker Weg, gleich hinter dem Penny-Markt. Wir wagten uns zu viert dorthin: Franka, Hecker, Steff und ich. Wir wollten demonstrieren, dass wir uns mit den Punks dort identifizieren. Hier trafen sich jeden Samstag Punks aus ganz Kiel, nahmen die kleine Holzhütte zwischen den Spielgeräten in Beschlag und tranken lautstark ihr Bier. Dazu tönte harte Punkmusik aus einem kleinen Kassettenrekorder, den meistens der Wiker Punk Barne mitbrachte.
Die Hütte erwies sich von innen als übersät mit kleinen Punk-Graffitis wie
“Never trust a Hippie!“,
„Wik-Punx '81” oder
„Gott, schaff uns ein Fünftes Reich, das Vierte ist dem Dritten gleich.”
Schräg gegenüber vom Spielplatz am superversifften Toilettenhäuschen Belvedere stand
„Kein Reich, kein Volk, kein Führer“,
was ich fast täglich auf dem Schulweg lesen durfte.
Ich hatte früher schon mal eine kleine Gruppe Punks während der Kieler Woche an der Kiellinie gesichtet und einen vereinzelten Punk mit einer Kiste Bier am Falckensteiner Strand. Ich wusste sofort:
„Das ist genau mein Ding!“
Als wir uns damals zum ersten Mal zu viert bei den Punks auf dem Penny-Spielplatz blicken ließen, stand die kleine Franka die ganze Zeit neben mir. Auch sie war an diesem Tag eine Newcomerin in der Punkszene auf dem Spielplatz. Sie befand sich an unserer Schule einen Jahrgang unter mir, und wir hatten gemeinsam auf dem Raucherschulhof ausgeheckt, den Punks auf dem Spielplatz einen Besuch abzustatten. Obwohl Franka mit ihren langen, blonden Haaren unwahrscheinlich hübsch aussah, wurde sie anfangs von den Punks ebenso ignoriert wie alle anderen in unserer kleinen Traube, bestehend aus tuschelnden Pseudos. Es war uns ein wenig peinlich, dass einer der Punks in der Holzhütte Porno-Bob hieß. Die Punks riefen immer wieder laut seinen Namen:
„Porno-Bob, mach dies! Porno-Bob, mach das!“
Der Mann war volltätowiert und pfiff schon auf dem letzten Loch. Ich weiß nicht, ob er das Jahr ’82 überlebt hat. Wir mussten trotzdem lachen und schauten uns verschämt an. Angetan von der Szene, legte sich auch Franka bald ein Punk-Outfit zu und verschandelte sich ihr langes, blondes Haar. Sie trug fortan auf der einen Seite kurze, auf der anderen Seite lange Haare. Postwendend kam sie mit Mattern von den Wiker-Punks zusammen.
Wir hatten sofort Gefallen gefunden an der harten, kompromisslosen Musik mit den teils rebellischen, teils kaputten Texten und am provokativen Verhalten und Aussehen der Punks. Deshalb wollten wir unbedingt dabei sein. Die Musik und die Sprüche, mit denen wir uns einpeitschten, erzeugten in mir eine skeptische Haltung der Gesellschaft gegenüber und ein gesundes Misstrauen gegen jede Form von Autorität. Bei jedem weiteren Besuch auf dem Penny-Spielplatz versuchte ich mich den Punks weiter anzupassen, denn ich war mir sicher, hier meinen Lebensstil und meine Form des Protests gefunden zu haben.
Ganz groß war das Thema Alk. Oftmals wurde Komasaufen nur deshalb verhindert, weil nicht genügend Geld für Alkoholika zur Verfügung stand. Wir bewegten uns häufig in einem alkoholbedingten Dämmerzustand. Doch es ging auch ohne viel Geld bis zum Äußersten. Wir ahnten noch nicht, was wir unseren Teenager-Gehirnen durch die regelmäßigen Alkoholexzesse antaten. Einige Punks hatten vom Saufen schon entstellte Gesichter oder einen leichten Tick. Wir gingen über unsere Grenzen hinaus – alkoholisch, verbal und praktisch. Es wurde übertrieben gerülpst, gerotzt, die Fresse verzogen und Visage gerissen. Richtige Teenage-Punks wollten kaputt wirken, krank aussehen, laut husten und Rotz hochziehen. Das lernte ich schnell. Das Losziehen mit den Punks vermittelte mir Selbstvertrauen und ein ganz neues Lebensgefühl. Ich konnte bei den Punks alles kompensieren, was ich in der Schule von aggressiven oder rechtsorientierten Mitschülern und in meinem Stadtteil von irgendwelchen Acern einstecken musste. Immer wenn ich mit den Punks auf Tour war, witterte meine Nase einen süßen, parfümähnlichen Duft. Das war extrem komisch. Ich habe keine Erklärung dafür, wie diese Sinneswahrnehmung zu Stande kam. Sie wirkte wie ein Rausch. Vielleicht war es der Geruch von dem Bier und der Seife, die ich mir in die Haare schmierte, den mein Gehirn in bestimmten Momenten immer wieder assoziierte? Diese Momente hatten für mich Suchtpotenzial.
Das Gesprächsthema Punkmusik war für alle auf dem Spielplatz von immenser Bedeutung. Wer zuerst eine angesagte LP, EP oder Single besaß, war ein Vorreiter. Es gab nicht besonders viele Plattenläden, in denen wir gute Punkscheiben kaufen konnten. Einer der Läden hieß Tutti Frutti. Die Besitzerin Tutti und ihr Mann, die beide gemeinsam gut gestylt hinter dem Verkaufstresen standen, führten neben New Wave stets aktuelle Punkscheiben im Programm, die wir uns direkt im Laden anhören konnten. Auf dem Tresen stand eine Box mit Singles lokaler Bandgrößen wie Code 7 oder wie die in der Punkszene zu der Zeit verhassten No More.
Für viele Punks waren Plattenkäufe eine Frage des Portmonees und deshalb mitunter ruinös. Aus diesem Grund waren alle glücklich, dass Tapes existierten, und damit die Möglichkeit, geliehene Platten zu kopieren oder einen eigenen Sampler zusammenzustellen. Einige kopierten sogar Tapes oder Sampler mit Doppelkassentenrekordern, mit zwei Tapedecks oder Doppeltapedecks. Zu der Zeit fing auch der Bootleg-Handel an wegen der brillanten technischen Möglichkeiten zu florieren. Ich verzichtete weitestgehend auf Investitionen wie Klamotten, Kino, Tätowierungen und teure Drinks, um mir hin und wieder mal ein paar gute Punkscheiben kaufen zu können.
Einige Punks bestellten ihre Scheiben im Plattenversand. Ein solcher Versand war Vinyl Boogie in Berlin, der einmal im Monat die Pissgelbe Punkliste rausbrachte, aus der wir regelmäßig bestellten. Zusätzlich bot Vinyl Boogie per Anrufbeantworter, auch Pogophon genannt, das sogenannte Pogophon-zine an, das Infos über aktuelle Ereignisse in der Punkszene verlautbarte. Es war jedes Mal wie ein kleines Weihnachtsfest, wenn ein Paket aus Berlin eintraf. Wir bemühten uns bei der Auswahl aus der Bestellliste, denn wer die interessanteste Plattensammlung besaß, war in der Clique ein kleiner König.
Viele Leute aus der Punkszene wirkten extrem abgedreht. Einige sahen ganz normal aus, hatten jedoch eine Plattensammlung, die nur aus den härtesten Punkscheiben bestand. Andere standen explizit auf Ami-Hardcore. Wieder andere sahen aus wie die härtesten Punks, hatten aber keine Ahnung von Punkmusik. Einige waren richtige Fetischisten, bewunderten eine einzige Band, auf die sie permanent abfuhren, und hörten fast nichts anderes. Zu diesen Bands, die richtig süchtig machen konnten, gehörten die Dead Kennedys aus San Francisco. Du musst Dir das so vorstellen, dass eine LP so oft wieder und wieder gehört wurde, bei Bedarf umgedreht und wieder von vorn gespielt, bis sie irgendwann anfing zu knistern, zu knacken und zu rauschen. Dieser Effekt wurde noch erhöht, indem sie mehrfach verliehen, mit fettigen Fingern angefasst und nahezu kaputt gehört wurde. Hinzu kamen Haare, Staub, Schuppen und andere Teile, die dort nun mal so landen.
Ich hatte damals im Prinzip gleich mit Punk angefangen, war dennoch nur ein Freizeitpunk. Zwar war bis dato mein größter musikalischer Schatz ein selbst zusammengestelltes Tape mit Radio-Aufnahmen von Neue Deutsche Welle-Bands wie Abwärts, Nichts, Ideal, Extrabreit, Fehlfarben und The Wirtschaftswunder. Doch das verlor immer stärker an Bedeutung, je weiter ich auf die Punkrolltreppe geriet. Ich nahm mir anfangs immer mehr Punk-Songs aus dem Radio auf Tape auf, darunter “Homicide“ von 999 oder “War on the Terraces“ von Cockney Rejects. In den Radiosendungen wurde sogar “Accidents never Happen“ von Blondie und Songs der Heavy Metal-Band Holocaust vom Moderator als Punk angekündigt. Bei einem der Songs verstand ich den Namen der Band nicht, und kenne ihn heute immer noch nicht. Ich nahm den Song auf, bei dem eine Frau sang. Der Refrain lautete:
“Nothing really happens at all“.
Er gehörte fortan zu meinen Lieblingssongs. Als ich in meinem Zimmer auf einem kleinen Radio-Wecker zum ersten Mal in meinem Leben “Anarchy in the UK“ von Sex Pistols hörte, knallten mir regelrecht die Sicherungen durch. Ich stand in dem winzigen Verlies mit übergroßem Why?-Poster und einem Konkret-Poster mit einer abgebildeten Folterszene und wurde leicht verhaltensgestört. Ich wollte den Song unbedingt immer wieder hören, hatte ihn aber nicht aufnehmen können.
Mein erstes Sampler-Tape bekam ich damals von Brandy geschenkt. Darauf befanden sich unter anderem Upright Citizens, GBH, Stiff Little Fingers, Anti-Pasti, Kaltwetterfront, OHL, die Krupps, Blitzkrieg und Aristocats. Brandy hatte mich musikalisch richtig angefixt.
Ich erhielt meine allererste Platte, “The Great Rock And Roll Swindle“ von den Sex Pistols, durch ein Tauschgeschäft im Freundeskreis. Zu der Zeit schreckte ich vor Ladendiebstahl nicht zurück, ließ manchmal Zigaretten mitgehen. Ich bekam diese Sex Pistols-LP für eine Packung geklaute Zigaretten. Allerdings war das Cover der LP kaputt, denn der Vorbesitzer hatte die gezeichnete Figur des Sängers Johnny Rotten ausgeschnitten und für eine Kollage verwendet.
An meine zweite Platte, “Punks not Dead“ von The Exploited, gelangte ich durch knallharten Ladendiebstahl. Ich ging mit einem Kumpel in den Plattenladen Membran am Alten Markt. Hier gab es auch die LP der englischen Band The Wall “Personal Troubles And Public Issues“ für 99 Pfennig – nichts Besonderes, aber vom Preis her ein Muss für jeden Punk. Ich schlich mich dort in die äußerste Ecke, in der die Punkscheiben standen, und schob mir “Punks not Dead“ unter die Jacke. Meine Hände steckte ich in die vorderen Hosentaschen, sodass die Platte nicht unten rausrutschen konnte. Mein Komplize ließ sich derweil an der Kasse eine Single vorspielen und verwickelte den Verkäufer, einen Alt-Punk mit blond gefärbten Haaren, der sowohl Nietenarmband als auch einen Nietengürtel trug, in ein Fachgespräch über Punkbands. Unauffällig ging ich am Verkäufer vorbei, der lässig auf einem Barhocker neben der Kasse hockte, von wo aus er den gesamten Laden überblicken konnte. Was ich nicht bemerkte, war die Tatsache, dass der obere Rand der LP-Hülle kurz oberhalb des letzten geschlossenen Knopfes meiner Jacke hervorlugte. Das bemerkte der Kassenpunk zum Glück nicht. Erst draußen informierte mich mein Komplize Steff über diesen Umstand. Wir entfernten uns langsam vom Ort des Diebstahls, und die Platte wurde schnell als Kultplatte erkannt, auch wenn Exploited vielen Punks peinlich war.
Ich bekam eine gezockte Sounds-Zeitschrift in die Hand, in der mehrere Punkplatten besprochen wurden: Anti-Pasti “Caution in the Wind“, Exploited “Troops of Tomorrow“, Chron Gen “Chronic Generation“, Discharge “Hear Nothing, See Nothing, Say Nothing“, Anti-Nowhere League “We are …. the League“ und Bad Brains “Rock for Light“. Als ich von Vielmann die Discharge-LP in die Hände bekam, schrieb ich mir die Lyrics aus dem Klappcover ab. Wörter, die ich nicht kannte, übersetzte ich. Das trug dazu bei, dass mein Englisch in der Schule nicht noch schlechter wurde.
Ich saß in meinem Zimmer auf der Couch und hörte die neue Discharge-LP. Die Boxen standen links und rechts auf Kopfhöhe neben der Zweisitzercouch und waren frontal aufeinander ausgerichtet. Meine neue Billig-Anlage war voll aufgedreht und ich saß genau in der Mitte.
Als der Song “Free Speech For The Dumb“ lief, kam mein Großvater ins Zimmer. Er sah mich an und fragte:
„Bist du aisch?“
und lachte. Als in dem Moment der folgende Song “The End“ mit dem kurzen Piepston am Anfang begann, schüttelte er entsetzt den erhobenen Zeigefinger und schloss die Tür. Ich hörte die Platte mit unverminderter Lautstärke zu Ende.
Ebenfalls bei Membran preiste ich eines Tages heimlich ein paar Platten um, einmal riss ich das 21,95 D-Mark-Preisschild der GBH-LP “City Baby Attacked By Rats“ ab und ersetzte es durch einen anderen Aufkleber in Höhe von 9,95 D-Mark, den ich zuvor unbemerkt und vorsichtig von einer anderen Platte abgelöst hatte. Ich war so gerissen und fragte meine Mutter, als ich mit ihr durch die Stadt zischte, ob sie mir die Platte kaufen könnte. Das Geld bekäme sie später wieder. Sie erfüllte ihrem Schützling den Wunsch, und zum Glück fiel die miese Aktion nicht auf. Es wäre eine unendlich peinliche Situation gewesen. Die Aktion tat mir später leid, wie so manch anderes auch. Gar nicht auszudenken, wenn Membran meiner Mutter Betrug vorgeworfen hätte.
Später stand bei Membran plötzlich ein ganz frischer Batzen der zweiten Chaos U.K.-EP “Loud Political & Uncompromising“ mit den Songs “No Security“, "What about a Future" und “Hypocrite“ im Regal direkt neben der Kasse. Ich ließ sie mir laut im Laden vorspielen. Mir war sofort klar, dass ich die EP haben musste.
Zu dieser Zeit führte an Punkscheiben aus Finnland kein Weg vorbei. Wer hier mitreden konnte, galt als etwas. Barne war der erste, der mir von finnischem Punk erzählte. Barne zählte zu den aufmüpfigsten Punks, die ich je kennengelernt habe. Mit seiner runden Nickelbrille und einer blondierten Punkfrisur, war er ein kleiner Spezialist im Vergeben von treffenden und provokativen Spitznamen und versuchte jeden aus der Reserve zu locken. Andere hatten es schwer, seine Sprüche zu überbieten. Er nannte mir die Bands Tervet Kädet und Riistetyt. Bald lief zum ersten Mal finnischer Punk über Kasi-Rekorder auf dem Spielplatz hinterm Penny-Markt oder in der Waschhalle am Dreiecksplatz, wo wir ebenfalls manchmal abhingen. Solange die Batterien noch einigermaßen Saft hatten und das Tape nicht anfing zu leiern, konnten wir uns und die Anwohner ausreichend mit unserer Musik beschallen. Es war uns ein Rätsel, weshalb Punk aus Finnland dermaßen durchschlug. Die Finnen hatten kapiert, worum es ging. Ich musste nach den ersten Hörproben unbedingt in den Besitz von finnischer Punkmusik gelangen. Deshalb bestellte ich mir bei Vinyl Boogie meine zwei ersten finnischen Punk-Singles. Als ich in die Pissgelbe Punkliste blickte, bemerkte ich diverse finnische Punkplatten: Singles, EPs und LPs. In dieser Kult-Liste, die mir regelmäßig aus Berlin per Post zugestellt wurde, stand hinter jedem Bandnamen in Klammern das Kürzel des Herkunftslandes. Ich stieß auf eine Single von Kaaos (Finn) – „Totalinen Kaaos“ und den Pultii Sampler (Finn). Jeder Punk erkannte sofort, dass es sich um finnischen Punk handeln musste. Ich bestellte ohne zu zögern. Die Kaaos-Single war die reinste Raserei. Der Pultii-Sampler, eine EP, zeigte auf dem Cover einen urinierenden Punk. Jetzt konnte ich schon ein bisschen mehr mitreden. Vielmann mit seiner runden Nickelbrille trieb inzwischen einen Punk-Sampler auf, der Propaganda hieß, auf dem die derzeit wichtigsten finnischen Punkbands vertreten waren. Wir hörten den Sampler bis zum Erbrechen. Diese unbeschreiblichen Glücksgefühle ermöglichten uns die wenigen Plattenläden, die Punk führten, und unser geliebter Plattenversand in Berlin. Es war jedes Mal ein unfassbarer Kick, wenn die Pissgelbe Liste per Post eintraf. Die Liste war mit Trash-Effekt kopiert und von DIN-A4 zu DIN-A5 gefaltet. Manchmal war sie sogar hellgrün oder hellblau.
Wir versuchten, bei einigen der Refrains der finnischen Punk-Songs aus vollem Halse mitzusingen, obwohl uns die Bedeutung der Texte meistens nicht im Geringsten klar war, so auch bei Riistetyts “Painu Helvettiin Natsiäpärä“. Jemand klärte uns auf, dass besagter Refrain auf Deutsch „Hau ab, du altes Nazi-Schwein“ bedeutet. Später kam noch ein zweiter Propaganda-Sampler auf den Markt, den wir uns natürlich ebenso reinzogen. Auf dem Cover, dem Innencover und dem Label-Aufdruck waren Punks in allen möglichen Posen zu sehen: Trinkend, feiernd, urinierend und vögelnd. Die finnische Punkmusik war für uns die Seele des Punk schlechthin. Diese Punkwelle traf uns hart. Von jetzt an durfte diese neuartige Musik auf keiner Party fehlen, egal, ob sie privat stattfand, auf dem Spielplatz hinter dem Penny-Markt oder im Waschsalon. Wir verhielten uns noch derber, noch obszöner und noch frivoler. Und für die Musik, die wir hörten, gab es nur ein Motto: Schneller, lauter, härter! Finnische Punkplatten wurden in der Szene gerne entliehen und nicht zurückgegeben. Finnen-Punk besaß einen hohen Tauschwert und wurde auch bei Wetten aufs Spiel gesetzt, sofern man sich hundertpro sicher war. Doch bald schwappte die nächste Welle zu uns herüber, die einige schon erahnt hatten, diesmal aus Ami-Land. Über eingängige Fanzines und über die Pissgelbe Punkliste erfuhren wir von dem Phänomen Ami-Hardcore. Sampler wie ”This Is Boston, Not L.A.“ und ”Decline of the Western Civilisation“ zeigten uns, wo es in Zukunft langgehen sollte.
Bei Vinyl Boogie mussten wir immer sofort ohne langes Zögern bestellen, wenn die Pissgelbe Liste mit der Post aus Berlin eintraf, sonst waren die besten Scheiben bereits vergriffen. Ich wollte einmal unbedingt EPs von Rudimentary Peni und den Necros ordern. Sie gehörten zu den Bands, deren Singles und EPs übermäßig viele Songs enthielten. Das war meistens ein einziges Geschrei und Geschrammel, das nach nur wenigen Sekunden durch kurze Pausen unterbrochen wurde, als handelte es sich um ein einziges, zerhacktes Stück. Einige EPs mussten sogar auf 33 abgespielt werden, was zusätzlich für Freude sorgte, manchmal aber auch für Verwirrung sobald der Gesang einsetzte. Ich wartete jedoch mit dem Bestellen in diesem Fall zu lange und sah die Scheiben nie, denn in der neuen Liste des Folgemonats waren die EPs schon nicht mehr gelistet. Ausverkauft. Wir versuchten zwar manchmal, Scheiben aus den Vormonaten, die nicht mehr in der neuen Liste standen, später zu erwerben, doch das klappte nie. Was weg war, war weg. Dieser Umstand erzeugte bei uns einen regelrechten Kaufrausch, sodass wir bald jeden Monat unmittelbar nach Eintreffen der Liste eine Bestellung aufgaben, auch wenn es pro Person manchmal nur eine LP oder zwei Singles waren.
Wir mussten uns ständig kurzschließen, um mit mehreren Leuten bestellen zu können, damit wir uns das Porto teilen konnten. Vor Ankunft des Pakets sammelte einer von uns – der Empfänger – das Geld ein, damit sofort per Nachnahme bezahlt werden konnten. Verpassten wir den Paketwagen, lagerte die Post unsere Platten eine Woche lang im Postamt Karlstal in Kiel-Gaarden. Es passierte mehrmals, dass wir das Paket nicht direkt an der Haustür annehmen konnten. Also fuhren wir am Folgetag mit einem kleinen Grüppchen aufs Ostufer, um das Paket in Empfang zu nehmen und zu bezahlen. Der Karton wurde daraufhin unmittelbar noch im Postgebäude aufgerissen und die Platten den Besitzern vor Ort ausgehändigt. Es war wie ein gemeinsames Weihnachtsfest. Beglückt fuhren wir zurück nach Kiel-Nord und begutachteten stolz unsere brandneuen Scheiben im Bus.
Bald nahm ich mir vor, Singles der Labels Riot City Records und No Future zu sammeln, denn trotz der Finnen-Punk- und Ami-Hardcore-Wellen stand ich langfristig eher auf englischen Punk. Deutschpunk hatte bei mir kaum eine Chance. Es musste schon etwas Herausragendes kommen. Da war ich straight. Besonders Berichte auf Cover, Innencover und Poster ließen mich nicht kalt, ebenso Bandinfos, politische Statements oder Gewaltaufrufe. Es war absolut meine Welt, die englischen Punk-Lyrics mitzulesen, während parallel dazu laut die Platte lief.
Mit jeder Bestellung kamen neue Highlights, so auch die erste LP von The Partisans, die mir ein ganz neues Lebensgefühl vermittelte. Ebenso die erste Chaos U.K.-LP, die mir mit ihrem blauroten Cover wegen meiner Rot-Grün-Blindheit schmerzhaft in die Augen stach. Ich war nicht in der Lage, das Cover mit meinem Blick zu fixieren. Meine Pupillen weiteten und verengten sich im Rhythmus meines Pulses – ein unglaublicher Effekt. Immer wenn ich die Maxi-Single “Politicians and Ministers“ von The Threats hörte, wäre ich am liebsten Teenage-RAF-Terrorist geworden. Solche Gefühle vermochte diese rote Hochglanz-Maxi mit dem tanzenden Gerippe vor dem Palace of Westminster auf dem Cover in mir auszulösen.
Obwohl ich mittlerweile eine hochgestellte Punkfrisur, zerschlissene Jeans, Springerstiefel, eine bemalte, mit Nieten besetzte Lederjacke, einen selbstgebastelten Nietengürtel und ein ebenso aufwendig selbsthergestelltes Nietenarmband besaß, fühlte ich mich von den meisten auf dem Spielplatz allenfalls akzeptiert. Allerdings konnte ich diese Aufmachung nicht in meiner damaligen Schule tragen, der Hebbelschule Kiel. An diesem Gymnasium, ganz in der Nähe des Marinestützpunktes, wehte erwiesenermaßen immer noch ein ziemlich militärischer Geist. Das sogenannte „Gymnasium für Jungen und Mädchen" galt als eines der besten der Stadt. Es war ursprünglich ein reines Jungengymnasium, doch seit Ende der 60er-Jahre durften dort auch Mädchen den Unterricht besuchen. Es war ein humanistisches Gymnasium, und gerade die Lateinlehrer galten als besonders streng. Vom Zentrum aus war die Schule mit der Linie 1 schnell zu erreichen, allerdings kamen auch viele Schüler von außerhalb.
Die Kegel- und Pyramidennieten kaufte ich mir in großen Mengen bei türkischen Schneidern irgendwo in der Stadt. Die Springerstiefel besorgte ich mir für einen Appel und ein Ei second-hand an einem Rampenladen in der Werftbahnstraße in Gaarden. Eigenhändig nach Augenmaß übertrug ich den verschnörkelten Conflict-Schriftzug vom Cover der “It's Time to see who is who“ auf die zerschlissene Jeanshose.
Niemand traute sich damals, seine bemalte Lederjacke mit in unsere Schule zu nehmen, denn es gab ein paar Lehrer, die das nicht duldeten. Einige Punks besaßen eine Zweitlederjacke, die unbemalt blieb. Doch selbst die trauten sie sich anfangs nicht in der Schule zu tragen. Nur auf Schulfesten, wenn viel Alk im Spiel war und die wenigen Aufsichtspersonen den Überblick verloren, wurden wir kleidungstechnisch mutig.
Jedes Mal, wenn ich mit meiner Nietenjacke jemandem den Rücken zukehrte, war ich oberstolz, denn ich wusste, dass die Person mit Sicherheit den großen Schriftzug Chaos U.K. lesen würde, den ich dem Originalemblem der ersten beiden Singles nachempfunden hatte. Diese Form von Exhibitionismus besaß wohl jeder Punk, der den Namen seiner Lieblingsband auf dem Rücken trug. Regelmäßig kamen Punks deshalb miteinander ins Gespräch:
„Hast du die LP von Chaos U.K. schon gehört?“,
oder:
„Was ist denn Mayhem?“
Einige Punks bemalten sogar ihre Stiefel mit einem Lackstift oder Tipp-Ex.
Die Gespräche in der Holzhütte auf dem Penny-Spielplatz waren außerhalb der Hütte wegen des Sounds des Kasi-Rekorder schlecht zu verstehen. An den Satzfetzen ließ sich erkennen, dass sich die meisten um Punkmusik oder ums Saufen drehten. Die Punks zeigten viel Situationskomik – auch beim Urinieren und Entsorgen von Leergut. Einzelne Leute wurden provoziert, es wurden szenetypische Songs gesungen. Wenn eine Palette Billigbier zur Verfügung stand, war die Welt in Ordnung. Allerdings bekam nicht jeder etwas davon ab, deshalb tat man gut daran, sich eigenes Bier mitzubringen, das man sich möglichst nicht abnehmen lassen sollte. Wer sich nicht traute, nach einem Bier zu fragen, galt ruckzuck als Pseudo, also als Pseudo-Punk oder sogar als Mitläufer. So hatten auch Punks ihre Eigenart, andere zu schikanieren und zu Außenseitern unter Außenseitern abzustempeln.
Und wenn es bei Fehlverhalten mal wieder ironisch hieß:
„Was ist das überhaupt für eine Einstellung?“
spielte sich daraufhin ein kleines Psycho-Drama unter den Punks ab, das der gegenseitigen Erquickung und Erbauung diente.
Frappierend war der Hang der Punks zur Destruktivität. Nicht nur, dass wir gerne Gegenstände malträtierten, wir litten auch unter einer typischen Form von Autodestruktion, die sich im Suchtverhalten und speziell in der Sprache widerspiegelte. Viele entwickelten einen bösartigen Zynismus und den dazugehörigen Verzweiflungswortschatz. Besonders den Wortschatz der Alkies und Kaputtniks imitierten und parodierten wir in jungen Jahren brillant, obwohl wir selbst schon halbe Alkoholiker waren:
„Meine Leber piert!“
„Der Bierbauch platzt!“
„Was zum Süppeln!“
„Hast mal ’nen Hief!“
„Nur noch den Klapperschluck!“
„Muss den Nachdurst bekämpfen!“
„Mein Kopf platzt gleich!“
„Oben Dose rein und gut!“
Auch runterkippen, Abgabe, Kopp wegsaufen, Birne wegknallen, in den Rachen kippen, wegschmettern und antrinken gehörten dazu. Das klingt zwar alles recht düster, doch der Spaßfaktor war trotzdem ungemein hoch. Außerdem waren kleine Abziehdelikte typisch für die Kieler Punkszene. Es kam nicht selten vor, dass Platten entliehen wurden mit der vollen Absicht, sie zu behalten oder weiterzuverschenken. Darunter hatten besonders junge Punks zu leiden, die noch nicht etabliert waren – auch Töle und Monko-Rolf wurden abgezogen.
Eines Tages kreuzte unser Brandy bei Töle zu Hause auf und lieh sich sage und schreibe 20 bis 30 neuwertige LPs, darunter Scheiben von Vorkriegsphase, Varukers, Chaotic Dischord, F.U.’s, Tervet Kädet, die Riistetyt mit blauem Vinyl und den ersten Propaganda-Sampler. Er versprach hoch und heilig, die Platten schnellstmöglich wieder zurück zu bringen, sobald er sie aufgenommen hatte. Doch stattdessen verlieh er die Platten skrupellos an Leute aus der Wiker Punkszene, die das Gros der Platten nicht mehr rausrückten. Töle schaffte es zwar, von Barne eine einzige LP zurückzubekommen, aber der Rest ging unwiederbringlich verloren.
Deshalb waren viele Punks keine wirklichen Freunde. Viele trafen sich lediglich zum Saufen und Terz machen. Aber vielleicht war das ja auch eine Art von kaputter Freundschaft in Punkzeiten?
Im April ’82 spielten Slime im großen Saal der Pumpe. Ich peilte das gar nicht und war nicht vor Ort, was meinen Pseudo-Status weiter untermauerte. Ich erhielt später einen kurzen Konzertbericht von Brandy. Slime starteten mit A.C.A.B, und es gab gleich einen unglaublichen Pogo-Mob mit Brutal-Pogo. Nach nur wenigen Songs kam es zu handfestem Ärger. Die Konz-Brüder, Krake und Konsorten suchten sich zusammen unter den Konzertbesuchern immer wieder Opfer, auf die sie sich schlagend und prügelnd stürzten. Dabei gingen sie zu dritt oder zu viert auf einen los. Der Slime-Sänger fand das nicht so toll, kam von der Bühne und versuchte lautstark den Stress zu unterbinden. Das gelang ihm schließlich und das Konzert ging weiter.
Auf dem Penny-Spielplatz dauerte es nicht lange, bis eines Samstags zum ersten Mal die Schergen auftauchten und die Punks aufforderten, doch bitte den Spielplatz zu verlassen. Da sich die Punks in der Überzahl befanden, waren anfangs vorsichtige Diskussionen möglich. Aber am Ende mussten die Punks die Segel streichen, um einen anderen Ort zum Feiern aufzusuchen – immer mit der Angst im Rücken, observiert zu werden. Meistens nahmen die verscheuchten Punks in solchen Fällen die Straßenbahn und fuhren in die Innenstadt, wo sich die Gruppe nach und nach desorientiert auflöste. Manchmal trafen wir uns in der Waschhalle wieder, wo wir weiter zechten, manchmal fuhren wir einfach nur mit der Straßenbahn bis zur Endstation oder landeten sinnlos im Schrevenpark oder bei Hertie, wo Kiels beste Spraydosenaktion zu lesen war – eine eindeutige Kapitalismusschelte:
„Gefühl und Hertie“.
Ich fand es superlustig, dass der Punk Smike aus Mettenhof genau wie ich den Bandnamen Blitz auf den Oberarm seiner Lederjacke gesprüht oder gemalt hatte, als hätten wir dieselbe Schablone verwendet. Wahrscheinlich hatte er genauso wie ich den Schriftzug von der LP abgepaust, auf ein Stück Pappe übertragen und ausgeschnitten. Wir unterhielten uns nie über diese Kuriosität. Echt krass. Ich zog mit irgendwelchen Punks aus ganz Kiel los, die für mich Seelenverwandte waren, und wechselte mit einigen nicht ein einziges Wort. Smike tauchte immer mit diesem Bonny auf, ein Punk mit blonden, hochgestellten Haaren, ebenfalls aus Mettenhof, ein ziemlicher Brecher, versehen mit einer bemalten und mit Nieten übersäten Lederjacke, dessen Aknenarben auch den letzten aufrichtigen Bürger in Angst und Schrecken versetzten.
Es ging um nichts. Wir wollten unseren Spaß, und als die Schergen sich immer häufiger auf dem Spielplatz blicken ließen, war dieser Treffpunkt plötzlich passé. Doch wir wollten uns unser Recht zu feiern nicht nehmen lassen.
Bald blieb uns nichts anderes übrig, als unsere Partys in stets wechselnder Gruppenzusammensetzung an anderen Orten, wie Bierautomaten, fortzusetzen. Hier standen wir stundenlang auf dem Bürgersteig und tranken heiter unser Bier. Es kam häufig zu partyähnlichen Treffen und Verbrüderungsszenen. Jedoch fühlten sich auch an diesen Orten viele Anwohner in ihrer Privatheit gestört, besonders, wenn jemand Flaschen zerwarf oder zu laut gekreischt wurde. Und die Schergen mussten wieder nach dem Rechten schauen, wobei sie inzwischen nach Schema X vorgingen. Es blieb nicht aus, dass dabei die Personalien aufgenommen wurden. Das war natürlich ätzend. Gerade bei den Jungbullen hatten wir verstärkt den Eindruck, sie müssten ihre persönlichen Kisten mit den Punks austragen.
Die Kieler Schergen waren leicht zu provozieren, und sie zahlten uns jede noch so geringe provokative Äußerung oder Geste heim – auch irrtümlich für Provokationen gehaltene Missverständnisse. Wer jedoch angetrunken „Herr Wachtmeister“ sagte oder auf Anweisungen mit „Jawoll“ oder sogar mit einem militärischen Gruß und “Yes Sir!“ reagierte, hatte mit leichten Konsequenzen zu rechnen, die meistens im Rahmen des rechtlich Zulässigen blieben. Die Schergen beließen es in den meisten Fällen bei Drohungen und Einschüchterungen. Aber es gab auch Ausnahmen. So konnte es passieren, sofern du auf die berüchtigte Falkwache verfrachtet wurdest, dass jemand dich „aus Versehen“ die Treppe herunterstieß, was meinem Cousin – damals Rocker – passierte. Bekannt war die gängige Drohung auf diesem Revier:
„Pass auf, dass du nicht die Treppe runterfliegst.“
Das entsprach nicht der Idealvorstellung von der Polizei, die wir noch im Kindesalter in unseren Köpfen pflegten. Mit Mr. Correct schlossen wir als Punks in Reihen der Kieler Schergen keine Bekanntschaft. Die meisten Unflätigkeiten versuchten sie uns konsequent und kompromisslos abzugewöhnen. Und wenn wir als Gruppe besoffen und stolpernd wie betäubte Theaterkomparsen einer Endzeittragödie durch die Gegend zogen, hätte sicher so mancher Revierleiter am liebsten irgendeinen Psychisch-Kranken-Gummiparagrafen angewendet, um uns aus dem Verkehr zu ziehen – Verfahren mit denen sonst „gefährliche“ Junkies und andere als „asozial“ Betitelte ausgeschaltet wurden.
Ich fühlte mich damals in der Gruppe wie ein kleiner Punkrebell. War ich jedoch in voller Montur allein auf der Straße, fehlten mir häufig Selbstvertrauen und Mut. Außerdem verspürte ich die konkrete Angst, dass meine Eltern mich in der bemalten Lederjacke sehen könnten. Diese Jacke gehörte meinem Vater und war ursprünglich ein kurzer Mantel, den ich aus dem Schlafzimmerschrank meiner Eltern entwendete und skrupellos auf Hüfthöhe mit einer langen Schere abschnitt.
Immer wenn ich das Haus verließ, um mich mit meinen Punkkumpels zu treffen, zog ich es vor, entweder die Jacke umzudrehen oder abends unbemerkt aus dem Kellerfenster zu fliehen, um nicht die Haustür benutzen zu müssen. Auch die Haare formte ich mir in meiner Anfangsphase erst unterwegs mit Bier, da ich mich in dem Alter noch bei meinen Eltern in der Wohnstube abmelden musste. Beim Hochstellen der Punkfrisur probierte ich fast alles aus. Auch die Haarsprays und Haarlacke meiner Mutter testete ich. Etliche Leute griffen mir in die abstehenden Haare, um zu prüfen, was für Material ich verwendete und wie hart sie waren. Das ließ ich mir nicht von jedem gefallen.
Als ich einmal mit Punkfrisur und Chaos U.K.-T-Shirt im Garten meiner Eltern stand, kam meine Tante zu Besuch und erblickte mich von der Terrasse aus. Sie musterte mich kurz und schrie entsetzt:
„So, jetzt ist er ein Punker!“
Da witterte auch meine Mutter allmählich das sich anbahnende Unheil. Mein schwierigster Lernprozess bestand darin, dass ich mir neben den neu gewonnenen Punkfreunden auch Feinde einhandelte. Die Jugendlichen aus der Rocker-Szene waren mir nicht wohlgesonnen, und sie wurden mitunter gefährlich, wenn sie in Gruppen auftraten. So hieß es häufig:
„Da, ein Punker!“
oder ich wurde zur Rede gestellt:
„Was willst du darstellen, einen Punk oder was?“
Und es gab regelmäßig Schläge. Ich hatte jedoch häufig noch Glück und es erwischte andere, da ich in vielen brenzligen Situationen flüchtete.
Mein erstes Silvester als Punk war schon extrem dramatisch. Es fand eine Party im Jugendtreff Buschblick in Pries-Friedrichsort statt. Die wurde vom Motorradclub Toxavit organisiert, in dem mein Cousin Mitglied war. Ich wagte mich mit meinen Kumpels Vielmann und Wisent am Silvesterabend zum Buschblick. Als ich am Eingang nach meinem Cousin fragte, störten sich schon die ersten Rocker an meinem Punk-Outfit. Ich erhielt keine wirkliche Antwort und ging einfach hinein. Es waren überall nur aggressive, angetrunkene Rocker zu sehen. Plötzlich schrie jemand:
„Da steht ein Punker!“,
und eine Gruppe von Rockern setzte sich in Bewegung und hetzte mir gnadenlos hinterher. Einer von ihnen hatte einen Baseballschläger dabei. Mit meiner Flasche Mischung in der Hand sprintete ich geistesgegenwärtig los und ab nach rechts durch die Reihenhaussiedlung. Nach hundert Metern warf ich die Flasche ins Gebüsch, als die Rocker-Meute schrie:
„Bleib stehen, du Schwein!“
„Tötet ihn!“
und
„Hol' ihn Dir!“
Die Rockerbrut verfolgte mich dermaßen ordinär pöbelnd und fluchend, dass es sogar Zelluloid-Rockern wie Marlon B. und Dennis H. übel aufgestoßen wäre. Jetzt kam ich an einer Stelle vorbei, an der ich mich in die Büsche schlagen konnte. Realisierend, dass auch der letzte Rocker an meinem Versteck vorbeigehechelt war, kauerte ich dort einen Moment wie in Schockstarre. Und als die Luft wieder rein war, verpisste ich mich unbemerkt. Kurze Zeit später traf ich meine beiden Kumpels wieder, die mir aufgebracht erzählten, dass einer der Rocker deren Köpfe nahm und gegeneinanderschlug. Ich stand wegen meines Auftritts im Treff mit Punk-Outfit als Schuldiger da. Es sollte nicht das letzte Silvester sein, an dem ich mit Rockern Probleme bekam. Mein Hass auf diese Spezies hätte größer nicht sein können.
Das gesamte Alltagsleben als Punk war damals total gefährlich. Wir mussten häufig wegen unseres Aussehens leiden, und ich, der in Friedrichsort eine Art Vorreiterrolle abseits der vielen Hard-Rock-Kids einnahm, war wiederholt Leidtragender der Anfeindungen. Wir bewegten uns im Jahr 1982, und die erste große Punkwelle lag bereits fünf Jahre zurück. Dennoch wurden Punks in einigen Regionen gejagt wie Karnickel. Es kam immer häufiger zu Beleidigungen, Drohungen, Angriffen, Schlägen, Benachteiligungen und Diskriminierungen. Du wurdest aus vorbeifahrenden Autos angepöbelt, beim Überqueren der Straße gaben einige Gas und im Vorbeifahren wurde bei kürzester Entfernung grundlos penetrant gehupt. Auch als Radfahrer wurde ich von Autos fies geschnitten. In vielen Situationen glotzten mir besonders Weltkriegsrentner provokativ mit übelster Mine hinterher oder musterten mich. Es gab Hundehalter, die ihren angeleinten Vierbeinern im Vorbeigehen Angriffskommandos gaben, sodass sich die Tiere wild fletschend und kläffend, fast selbststrangulierend beinahe losrissen. Das waren natürlich unvergessliche Schockmomente. Ein Leben als Punk war mitunter lebensgefährlich. Da in Kiel zu der Zeit Skinheads noch keine Rolle spielten, waren für Punks ausschließlich Rocker die natürlichen Feinde.
Das klingt alles recht harmlos, doch als mittlerweile 16-Jähriger empfand ich das einfach nur als krass. Wir mussten mit der ständigen Angst leben, ohne Grund gemaßregelt oder zusammengeschlagen zu werden. Ich erlebte zweimal die Situation, dass Rocker mit der erkennbaren Absicht auf mich losgingen, mich zusammenzuschlagen, und ich mich schlussendlich dadurch rettete, dass ich präventiv als erster zuschlug und wegsprintete.
An meiner Schule kam es zu einem massiven Vorgehen der radikalsten Lehrer gegen unsere kleine Punkszene – mit pierenden Backpfeifen und anderen Bestrafungen. Trug jemand an seiner Jacke etwas Störendes, beispielsweise die Bügel vom Beugelbuddelbier, so wie Monko-Rolf es wagte, wurde er zur Rede gestellt und geohrfeigt, anscheinend um den Teufel auszutreiben, als gelte die Strafprozessordnung nicht in unserer Schule. Nicht nur gegenüber der Subkultur an der Schule war das, was einige Lehrer brachten, purer Psychoterror.
Bald hatten die Schweine auch mich auf dem Kieker. Grausam wurde es spätestens, wenn du wegen irgendwelcher Lappalien angebrüllt und aufs Schärfste gemaßregelt wurdest, bis du am ganzen Körper gezittert hast. Auf diese Weise wurden wir mit längst überwunden geglaubten Umgangsformen konfrontiert. Das war natürlich oberkrass und wirkte schockartig. Auf der einen Seite gab es ein paar Lehrer, die es gezielt auf Punks und punkähnliche Gestalten abgesehen hatten, auf der anderen Seite gab es Leute wie Englischlehrer Bonn, der schon radikal reagierte, wenn ein Schüler mit der englischen Aussprache Probleme bekam. Einigen von uns wurde das Ti-Eitsch im Garderobenraum vor dem Spiegel im wahrsten Sinne des Wortes eingeprügelt. Nur bei den Mädchen waren die radikalen Lehrer vorsichtig, was das Anwenden physischer Gewalt betraf.
Einen Lehrer wegen Körperverletzung anzuzeigen, brachte damals außer Unannehmlichkeiten rein gar nichts. Das musste ich bereits an der Grundschule lernen, als ich zusammen mit meiner Mutter vergeblich den Schulleiter anzeigte, der mir während des Musikunterrichts gewalttätig ins Gesicht geschlagen hatte.
Einer der Schul-Punks, Maxi, sollte bald von der Schule fliegen, da er bei einer Ohrfeige von Lehrer Haberlack reflexartig zurückschlug. Maxi wirkte bis dahin eher zurückhaltend, nach dem Verweis jedoch gebrochen und desolat. Der Schulverweis von der Hebbelschule und die Umstände, die dazu führten, hinterließen deutliche Spuren. Nur wenn er von seinen Punkkumpels freundschaftlich geneckt und aufgebaut wurde, kam er aus sich heraus – oder wenn er auf dem Penny-Spielplatz abfeiern konnte. Das Grausame war, dass der besagte Lehrer Haberlack eine verstümmelte, wahrscheinlich kriegsversehrte Hand besaß. Der Schockeffekt bestand darin, dass später niemand mehr wusste, ob er mit ebendieser Hand oder der unversehrten zuschlug. Sowohl Monko-Rolf, Maxi als auch später ich selbst – und viele weitere Schüler – mussten mit der Ungewissheit leben, ob es tatsächlich die verstümmelte Hand war. Das konnte dich krankmachen.
Zu der Zeit ließen meine Leistungen in der Schule zu wünschen übrig. Es ging immer weiter bergab. Ich tat aus Frustration rein gar nichts mehr für mein schulisches Wohlergehen – ganz im Gegenteil. Wenn ich mal Hausaufgaben erledigte, was selten genug vorkam, hörte ich nebenbei in meinem Zimmer Punk.
Später handelte ich mir zu allem Übel auf einem Schulfest aufgrund von Fehlverhalten ein zweiwöchiges Schulverbot ein. Das bedeutete im Prinzip mit 16 schon mein Karriereende. Als sich mein Schulverbot bei den Punks herumsprach, brachte mir diese Tatsache deutlich mehr Akzeptanz ein. Aber dazu kommen wir später noch.
Punks in Kiel-Gaarden
Als Punks suchten wir ständig neue Aufenthaltsmöglichkeiten. So landeten wir schließlich eines Tages in einem besetzten Haus am Sophienblatt. Bei Punks und Hausbesetzern handelte es sich damals nicht zwangsläufig um einander wohlgesonnene Gruppierungen. Vielleicht gab es zu der Zeit schon irgendwo in Deutschland Hausbesetzer-Punks, jedoch definitiv nicht in Kiel. Wir hassten die Hausbesetzer und die Hausbesetzer hassten uns. Sie waren für uns nichts anderes als Hippies, von denen wir uns deutlich abgrenzen wollten.
Weiter oben an der Ecke befand sich das Movie Intim, ein versifftes Pornokino, in das ich zum Glück nie eingekehrte. Über diesen Laden kursierten die krassesten Geschichten. Was in den benachbarten besetzten Häusern ablief, war mir ebenfalls nicht bewusst.
Der Falklandkrieg tobte gerade – inklusive Schiffeversenken. Dieser Krieg im südlichen Atlantik ging uns total auf die Nerven. Als erst die “General Belgrano“ durch Torpedotreffer und danach die “HMS Sheffield“ durch eine Exocet-Rakete versenkt wurden, ging nicht nur mir der Arsch auf Grundeis. Ich meine mich erinnern zu können, dass der Untergang der Belgrano in den Medien hierzulande noch recht nüchtern betrachtet wurde. Das mit der Sheffield hingegen war pure Empörung. Ich erinnere mich immer noch an die Aufnahmen der rauchenden Schiffswracks. Wir waren froh, als der Spuk vorüber war.
An diesem Nachmittag waren wir mit einer schlagkräftigen Gruppe Punks unterwegs, allen voran Gonnrad, Stidi, Mig und Kammkatz – im Prinzip alles, was in den Augen der Nachwuchspunks Rang und Namen hatte. Wir peilten gezielt das Gebäude in der Nähe von Hertie an, das seit geraumer Zeit von einem größeren Mob von Hausbesetzern unter Beschlag genommen war.
Kammkatz gehörte damals zu den wenigen Kieler Punks, die ständig eine Freundin mitschleppten. Sie durchbohrte alle mit ihren messerscharfen Blicken. Überall hing sie in Kammkatz’ Schlepptau, bloß an diesem Tag befand sie sich seltsamerweise nicht an seiner Seite. Gonnrad und die Konz-Brüder machten gleich den Lauten, als wir das Besetzer-Café betraten. Sie waren wirklich grandios zu der Zeit, straight in ihren Ansichten und duldeten keine Kritik. Bei einer verbalen Attacke hieß es provokativ:
„Willst du mit mir diskutieren?“,
und das Gespräch wurde prompt abgewürgt. Das bekamen diverse Sonderlinge und Fremdlinge zu spüren und jetzt auch die Hausbesetzer. Besonders Mig war da uneingeschränkt krass. Er sagte einfach:
„Ich habe keine Lust, mit dir noch weiter zu diskutieren!“
Sie imitierten damit ein Stück weit das Gehabe der Schergen, mit denen sie auf der Straße im Clinch lagen. Sogar den eigenen Leuten gegenüber war Mig oftmals rigoros:
„Das Bier will ich jetzt aber allein trinken. Darüber müssen wir wirklich nicht diskutieren“,
und das Thema schien erledigt, es sei denn, er behakte sich wieder mal mit seinem Bruder, der ihm gerne Kontra bis zum Äußersten gab. Das war ein Psychodrama ohne Ende.
Ich trug an diesem Tag einen braunen Ledermantel und betrat den Untergrund, wie das Besetzer-Café hieß, mit hellwachen, aufgerissenen Augen. Die Punks gaben von Anfang an ein stressbereites Bild ab. Gonnrad und die Konz-Brüder zählten zu den wenigen älteren Punks, die ausnahmsweise keine Nieten durch ihre Lederjacken gepierct hatten. Gonnrads schwarze, abgeriebene Jacke war an einer Stelle auf dem Rücken etwas mit weißer oder beiger Farbe verschmiert. Wahrscheinlich hatte er sich im Suff gegen eine frisch gestrichene Wand oder einen Heizungskörper gelehnt. Seine Matte – blond und durchweg knapp zehn Zentimeter lang – stand kurzsträhnig ab. Hatte er eine Packung Färbemittel in den Haaren?
Wie viele Leute aus der Punkszene knickte er im Stehen im Suff manchmal seitlich mit den Knien ein. Das sah ulkig und kaputt aus, als könnte er jeden Augenblick die Balance verlieren und umkippen. Durch pure Anwesenheit machte er uns Nachwuchspunks permanent krass klar, was es heißt, ein Punk zu sein. Gonnrad entschied mitunter diktatorisch, wo es langzugehen hatte. Sein ramponiertes Gesicht flößte uns gehörigen Respekt ein. Sollte uns dieser Gesichtsausdruck auch noch blühen?
Stidi trug seine spakige, braune Lederjacke - mit dem Bandnamen GBH auf dem Rücken. Wir rätselten lange, wofür die Abkürzung GBH stehen könnte. Die einen sagten Great Britain Heroes, die anderen Grievous Bodily Harm. Auch von der Frisur her sah er dem Sänger von GBH absolut ähnlich. Echt abgefahren!
Wir nahmen radikal das Hausbesetzer-Café unter Beschlag, was den Besetzern überhaupt nicht passte. Das Besetzer-Café Untergrund war somit partiell von anderen noch einmal besetzt – ein gefundenes Fressen und eine richtig gelungene Aktion, die sich herumsprechen würde – ganz nach unserem Geschmack. Anfangs versteckten sich die Hausbesetzer, während wir Punks konsequent das Café okkupierten. Stidi lokalisierte inzwischen den Kühlschrank mit den alkoholischen Getränken und griff zum ersten Mal zu. Parallel dazu erzeugte Mig mit seinen markigen Sprüchen eine elektrisierende Atmosphäre. Er provozierte die Hausbesetzer, die ja schlecht die Schergen rufen konnten, bis zur Weißglut. Sie standen einer Übermacht an Punks gegenüber. Eine komische Situation.
Einer der Protagonisten der Kieler Hausbesetzerszene, der Lange Jock, verschwand für einen Moment und tauchte mit einer Baseballkeule in der Hand wieder auf. Ich saß derweil mit meinem Kumpel Steff auf einer Couch, von wo wir das Szenario wie Kinobesucher gut überblicken konnten. Nach einer Weile kam Zico, einer der Alt-Punks, zu uns, und wir unterhielten uns über Punkbands. Er gab uns einen absoluten Geheimtipp. Zico empfahl die LP einer Band namens One Way System:
„Das ist eine bahnbrechende Scheibe, total. Die müsst ihr euch so schnell wie möglich besorgen! Die LP heißt ’All Systems Go’!“
Ich wiederholte den Bandnamen noch einmal um ihn mir einzuprägen:
„Wah? One Way System?“
„Ja, One Way System, superhart und geile Texte!“
„Hol’ ich mir!“
Als Nachwuchspunks freuten wir uns über diesen unerwarteten Plattentipp. Es wirkte ein wenig, als wollte der Alt-Punk in der Szene Aufbauhilfe leisten, weil wir zum ersten Mal mit den Großen loszogen. Natürlich besorgten wir uns die Platte schnellstmöglich, und sie wurde als uneingeschränkte Kultplatte erkannt. Darüber brauchten wir nicht zu diskutieren.
Nachdem Zico wieder vom ausgeleierten Sofa aufstand, setzte sich zu unserer Überraschung auch noch Gonnrad zu Steff und mir.
„Lässt ma ziehn?“,
fragte er, und ich reichte ihm meine HB-Filterzigarette, die ich am Vorabend von meinem Vater aus dem Wohnzimmerschrank gezockt hatte. Ich fühlte mich geadelt.
„Der lange Hausbesetzer geht mir auf die Nerven!“,
sagte ich zu Gonnrad.
Er zog daraufhin ein weiteres Mal genüsslich von der Zigarette und sagte:
„Der tut nichts!“
„Der zittert ja schon am ganzen Körper!“,
betonte Steff.
„Egal!“
Gonnrad, ein gelernter Isolierer, war der unumstrittene Oberpunk, darüber gab es kaum Diskussionen, das sah sogar Tutti so. Gonnrads Sprache färbte gleich auf uns ab.
In einer Ecke des Besetzer-Cafés wurde es jetzt tumultartig. Der Lange Jock in seiner Funktion als Oberbesetzer wollte den Tresenbereich mit seiner Keule schützen, als Stidi versuchte, der restlichen Getränke im Kühlschrank habhaft zu werden. Als Stidi es schaffte, die letzten Flaschen an sich zu reißen, die er mit beiden Armen vor dem Brustkorb festklammerte, eskalierte der Streit. Der lange Jock, die männliche Ikone der Kieler Hausbesetzerszene, veranstaltete fürchterliche, horrorshow-mäßige Drohgebärden, bis es zu einem ersten Handgemenge kam. Da entschlossen wir Punks uns schlussendlich zum Rückzug – inklusive der erbeuteten Getränke. Jock, der Zweimeterlackel, war einfach zu unberechenbar. Wahrscheinlich wieder vollgepumpt mit Drogen und stark erregt, wirkte er mit seinem Baseballschläger zum Äußersten bereit. Er zitterte immer noch, wahrscheinlich absichtlich geschauspielert als demonstrative Drohgebärde, und klammerte sich wild fluchend an die Keule. Währenddessen verließen wir erheitert das besetzte Haus. Es stand 1:0 für die Punks. Dieser Kleinkrieg mit den Hausbesetzern trug dazu bei, dass mehrere der Kieler Punks später zum Skinheadtum übertraten. Aber dazu kommen wir noch. Die besetzten Häuser Kiels wurden bald abgerissen und mussten einem hochmodernen Einkaufszentrum weichen. Mit gespaltenen Gefühlen beobachtete ich später – im Juli '83 – den Einsatz des Abrissbaggers, der die Wände eines der alten Häuser einfach kaputt hackte und so Schutt und Staub erzeugte. Die besetzten Häuser waren jetzt Vergangenheit.
Dieses Intermezzo im Besetzer-Café war nur eine von vielen Episoden, in denen Gonnrad, die Konz-Brüder und Kammkatz die Hauptrollen spielten. Nicht zuletzt wegen seiner überzeugenden Punk-Visage vermochte besonders Gonnrad uns Nachwuchspunks mitzureißen. Aber er war nicht unantastbar. Hinter seinem Rücken wurde vereinzelt gelästert. Üble Zungen behaupteten, dass sein Gesicht deshalb so ramponiert wirkte, da seine Mutter während der Schwangerschaft möglicherweise zu viel Alk getrunken hatte. Diese Gerüchte gingen sogar mir nahe. Von einigen Wavern und Mods wurden obendrein die Konzens verächtlich „Die Zwillinge“ genannt. Auch das missfiel mir.
Bei einigen Losziehaktionen wirkte auf mich persönlich Kammkatz als Leader, wenn wir durch die Straßen zogen, da er die Besäufnisse scheinbar protokollarisch abarbeitete. Gonnrad konnte nicht immer ganz weit vorne sein. Vielleicht gab es unterschwellig sogar schon ein Stück weit Rivalität zwischen Gonnrad, den Konz-Brüdern und Kammkatz. Einmal übertrug Kammkatz mir seinen frischen Stempel auf den Handrücken, als wir auf ein Konzert in die Pumpe gingen. Als es beim Kassierer leichte Problemchen gab, behauptete ich:
„Ich hab mir grad die Hände gewaschen, der Stempel ist schon verwischt.“
„Lass mal sehen“,
sagte der Kassierer und betrachtete meinen Handrücken oberhalb des Nietenarmbandes.
„Gib mir mal einen frischen Stempel!“
Anstandslos drückte mir der Kassierer einen neuen Stempel auf. In der Bergstraße war diese Methode nur bedingt hilfreich. Die Türsteher dort erwiesen sich als viel radikaler und drückten den Stempel mit viel Kraft vorne auf die Pulsschlagadern. Von den Bergstraßentürstehern wurde behauptet, dass sie das Dealen wirklich hardcore-mäßig betrieben und permanent aufpassen mussten, nicht dabei erwischt zu werden.
Räumung der besetzten Häuser Sophienblatt '81
Zack. Plötzlich war eine neue Punk-Fashion geboren. Mit einem Mal wollten sich alle Jung-Punks 25-Øre-Stücke besorgen, um sich diese besondere Münze mit dem kleinen Loch in der Mitte mit einem Lederband um den Hals zu hängen. Das war voll abgefahren. Einer fing damit an, die anderen zogen nach. Eine 25-Øre-Münze war ungefähr so groß wie eine DM-Münze oder ein Fünfpesetenstück. Diese dänischen Geldstücke passten eine Zeit lang sogar in einige Zigaretten- und Spielautomaten, besaßen jedoch keinen besonders hohen Wert. Ich besorgte mir davon fast ein halbes Kilo, als ich an einem Wochenende mit meinen Eltern und meiner Schwester mit unserem grünen Passat nach Dänemark fuhr.
Wieder zu Hause organisierte ich mir ein dünnes Lederband, fädelte es durch das Loch einer der Münzen und knotete das Band zusammen. Es musste eng sitzen, sonst kam die Münze nicht zur Geltung. Ich beherrschte keine Seemannsknoten oder vergleichbare Künste und nahm deshalb einen Doppelknoten. Es ist denkbar, dass ich die übrigen Münzen anfangs, als es noch funktionierte, in Zigarettenautomaten steckte und später in Videospielautomaten und Flipper. Bei Geldspielautomaten funktionierte diese Masche leider nicht. Jedenfalls war das 25-Øre-Stück am Hals ein beliebtes Mode-Accessoire. Eine ins Gesicht fallende Strähne war neben dem 25-Øre-Stück ebenfalls für viele der jungen Punks Pflicht, auch wenn sie auf Dauer einen Silberblick erzeugte.
Kieler Punks in Aarhus, Dänemark
Um der langen Weile zu entfliehen, besuchten wir mit kleinen Punkhorden regelmäßig überfallartig irgendwelche mir unbekannten Personen. Dies geschah meistens nachmittags und stets ohne Voranmeldung. Mal wurden wir reingelassen, mal mussten wir draußen bleiben. Kamen wir nicht rein, okkupierten wir mitunter ultralange Zeit den Hauseingang und verhielten uns schräg.
Wir landeten bei diversen Alt-Punks privat. Bei einer der Aktionen fuhren wir nach Gaarden in die Schulstraße. Mit einer kleinen Horde Punks besuchten wir dort jemanden in einem Altbau und okkupierten das Wohnzimmer. Die Plattensammlung des Typen sagte uns nicht wirklich zu. Schließlich fand Gonnrad eine Scheibe von The Cure. Es war die “Seventeen Seconds“. Wir saßen mit dem Rücken an den Wänden und auf dem Boden und hörten diesen Post-Punk-Klassiker. Plötzlich fingen Mig und Gonnrad fürchterlich an zu streiten. Es lief gerade “A Forest“. Mig behauptete, der Song hieße “The Final Sound“. Gonnrad bestand seinerseits darauf, der Song würde “A Forest“ heißen. Sie stritten länger als zwanzig Minuten. Während dieser Stressphase wurde die Nadel des Plattenspielers immer wieder vor dem besagten Song “A Forest“ angesetzt. Der Streit ging immer wieder von vorne los. Mig sagte
„Das ist “The Final Sound“!"
Gonnrad schrie mit Drohgebärden:
„Nein, das ist “A Forest“!"
Daraufhin wieder Mig:
„Nein, “The Final Sound“!"
„Hundertpro “A Forest“!"
“The Final Sound“!"
“A Forest“!"
Sie übertrieben es wirklich, und wir bekamen langsam Angst, dass sie sich schlagen könnten. Der Gastgeber musste die Platte immer wieder an besagter Stelle anspielen, und immer wieder behauptete Mig, es laufe “The Final Sound“. Wir hörten alle skeptisch auf den Text, um Anhaltspunkte zu finden, prüften das Cover und später auch das Schallplatten-Etikett. Das Problem ließ sich nicht lösen, auch der Gastgeber war überfordert und wir hardcore besoffen.
An einem anderen Tag landete ich mit Steff bei einem Punkpärchen in der Holtenauer, gleich in der Nähe des Penny-Marktes. Ich denke mal, das waren Junkies, ich bin mir aber nicht hundertpro sicher. Wir wollten ursprünglich zu den Wiker-Punks auf den Spielplatz, doch der Treffpunkt war verwaist. Ich weiß nicht mehr, wie der Wohnungsbesuch zustande kam. Wir hingen schließlich den halben Nachmittag in der Wohnung und schmetterten. Richtige Gespräche mit den Gastgebern waren nicht möglich. Ich glaube, die gehörten zur Hertie-Gang. Aber die wollten uns nicht irgendwie anfixen oder zu irgendetwas bekehren. Sie waren nur froh, dass sie mal Besuch hatten. Es wurde unbekannter Punk von der Billig-HiFi-Anlage abgespielt. Wir fragten nicht nach, was da aus den rauschenden Boxen dröhnte. Die Wohnung war vergilbt, runtergerockt und versifft. Auch zerknülltes Zeitungspapier lag herum. Vergilbte Wohnungen waren recht typisch für Kiel zu der Zeit. Fast in jeder zweiten Behausung wohnten noch Altnazis, Kriegsteilnehmer, Marineangehörige und diverse Schluckspechte. Es existierten zu der Zeit sogar noch unzählige alte Leute, die den Ersten Weltkrieg miterlebt hatten. Als es nichts mehr zu trinken gab, begaben Steff und ich uns wieder auf den Weg, um Kiel weiter auf eigene Faust zu erkunden.
Punks vor dem Plattenladen Tutti Frutti, Holtenauer Straße 176
Auf meiner alten Schule war es in den unteren Klassen eine Zeit lang in Mode, sich auf dem Schulhof jemanden auszusuchen, an ihn heranzutreten und ihm unverhohlen ins Gesicht zu spucken. Ich weiß nicht, wie viel Goller ich insgesamt abbekam, jedoch versetzte mich das jedes Mal in Raserei. Das Ganze lief meist wie nach einem Drehbuch: Ein Schüler suchte sich ein Opfer aus, verwickelte ihn in ein oberflächliches Gespräch und rotzte ihm schließlich aus heiterem Himmel ins Gesicht. Das ging eine ganze Weile so, bis die Schüler einzuschätzen lernten, wann eine Spuckattacke bevorstand, und sich von bestimmten Spezialisten gar nicht mehr in ein Gespräch verwickeln ließen. Wir lernten, der Spucke auszuweichen, den Kopf wegzudrehen, uns die Hände schützend vors Gesicht zu halten oder dem Gegenüber zuvorzukommen und ihm einen Tick eher ins Gesicht zu rotzen. Die ganze Angelegenheit war aufs Extremste eklig. Meistens lief der Spucker nach dem Anspucken weg und wurde vom Bespuckten gejagt. Das führte in vielen Fällen zu Rangeleien auf dem Schulhof oder sogar zu kleinen Schlägereien. Besonders für die Opfer waren das unvergessliche Momente – quasi die Stecknadel im Elefantenrüssel. Diese Rotzszenarien ereigneten sich zu jener Zeit, als viele von uns Punks wurden.
Ich kann mich daran erinnern, dass es zwischen Maxi, der noch als ordentlicher Schüler galt, und mir eine fiese Hauerei in einer der Klassenzeilen gab. Er befand sich in meiner Parallelklasse, in der sich ausschließlich Stadtkinder befanden. Maxi war einen halben Kopf größer als ich. Wir schlugen uns und wälzten uns wie Ringer auf dem Boden. Er gewann schließlich die Oberhand und hatte den Kampf im Prinzip schon gewonnen, als ein kräftiger Lehrer uns trennte. Vielleicht wäre diese Auseinandersetzung noch weitergegangen, wenn mir ein paar Tricks eingefallen wären, wenn ihm ein Fehler unterlaufen wäre oder andere sich zu meinen Gunsten eingemischt hätten. Ich weiß nicht mehr, was im Vorfeld zu diesem Zweikampf führte. Da zu dieser Zeit das Spucken noch in Mode war, gehe ich verstärkt davon aus, dass er mir oder ich ihm zuvor ins Gesicht gespuckt hatte. Die Lehrerschaft verfolgte diesen Zwischenfall zwischen Maxi und mir nicht weiter. Unsere kleine Keilerei an der Schule war damit beendet und wurde auch in der Folgezeit nicht körperlich fortgesetzt, denn Maxi flog bald von der Schule, als er schlussendlich zum Punk mutiert war. Er ließ es sich nicht gefallen, dass Konrektor Haberlack ihm ins Gesicht drosch und wichste ihm reflexartig eine zurück. Maxi landete daraufhin auf der nahen Realschule und avancierte schnell zum Oberpunk der Wiker-Punks. Als wir uns später auf dem Penny-Spielplatz in der Punkszene wiedertrafen, sprachen wir nie wirklich ein Wort miteinander. Wir hassten uns an, waren wohl auch ein wenig arrogant, – er, weil er bei Lehrer Haberlack zurückzuschlagen wagte, ich, weil ich mich immer noch Gymnasiast nennen durfte, auch wenn ich die Verliererstraße schon lange betreten hatte. Maxi war natürlich tausendmal härter als ich. Er wirkte anfangs depressiv, wegen der Umstände, die zu seinem Schulwechsel führten. Das alles war noch keine Tragödie. Die Tragödie fing erst an, als Barne an einer Überdosis Heroin starb.
Punkband SCAPEGOATS, draußen vorm Übungsraum, Kiel (rechts Bernd Knauer)
In meiner Klasse befand sich ein Schüler, der aus dem rechten Milieu stammte: Gerd war im Bund Heimattreuer Jugend und ebenso in der Wiking-Jugend, die beide später verboten wurden. Es passierte regelmäßig, dass Gerd mit seinem Seitenscheitel einen Mitschüler unter vier Augen sprechen wollte. Er bevorzugte Außenseiter, die aus sozial schwachen Familien kamen und keine guten Schulnoten erzielten, deren Persönlichkeit als nicht besonders stabil galt. Hinter vorgehaltener Hand wurde diesen Schülern von Kameradschaft, Lagerfeuer und ersten Frauenaffären berichtet, die angeblich im Sommerlager des BHJ auf der Tagesordnung standen. Mit fiesen Tricks wurde der zu überredende Schüler bearbeitet. Es hieß wieder und wieder:
„Du wirst wirklich was erleben“,
und
„Das ist echt geil bei uns!“
oder
„Da hast du was fürs Leben. Da herrscht richtige Kameradschaft.“
Das letzte Mittel war schließlich der Spruch
„Komm’ mal mit“,
begleitet von einem Fauststoß in die Magengegend. Gerd scharte bereits eine kleine schlagkräftige Gruppe um sich, die gerne mal andere malträtierte. Aber niemand wurde richtig zusammengeschlagen. Die kleinen Klassen-Faschos hatten sich neben den Schlägen in die Magengegend auf doppeldeutiges, überhartes Schulterklopfen, Anrempeleien und Schläge auf den Rücken spezialisiert und auch auf Hodenkneifen. Es wurde außerdem gerne an den Ohren gezogen und der Arm umgedreht – all das nur, um die widerspenstigen Mitschüler gefügig zu machen oder eventuelle „Verräter“ kleinzukriegen. Das war alles nicht mein Film.
Gerd war der Rädelsführer, der von einigen bald heimlich als „Obernazi“, „Jungnazi“ oder kurz Nazi-Gerd bezeichnet wurde. Besonders in den Pausen, wenn jemand den Klassenraum nicht verließ, kam es alle naslang zu überfallartigen Angriffen auf ausgewählte Mitschüler, bei denen die kleinen Klassen-Faschos um ihr Opfer tänzelten. Gerd wohnte bei seinen Eltern in Molfsee, und sein Vater – ebenfalls rechtsradikal und als Unternehmer tätig – bekleidete zu allem Übel auch noch die Position des Elternsprechers, was vielen Schülern zusätzlich Angst einflößte.
Gerds Vater leitete ein Sicherheitsunternehmen, also eine Art Wachschutz, der seine Mitarbeiter anno 1982 angeblich ausschließlich aus dem rechten Spektrum rekrutierte.
Doch es gab eben keinen richtigen Informationsfluss über diese Tatsachen, der diesen Umstand hätte publik machen können. Es zeichnete sich ab, dass Gerd und seine Klassen-Schergen rechtsradikal waren. Das machten sie in ihren Äußerungen und Diskussionen unzweifelhaft deutlich. Da wir uns in derselben Klasse befanden, mussten wir zwangsläufig immer wieder mit den Leuten eine Symbiose eingehen, auch wenn wir versuchten, sie in den Pausen in der Klasse, in der Klassenzeile und auf dem Schulhof zu meiden. Das Spielchen lief jahrelang fünf Tage in der Woche mehrere Stunden am Tag. Zusätzlich wurden wir von den Lehrern in eine Schablone gepresst, sodass wir miteinander auskommen mussten.
Gerds „Kamerad“ Körtz, der später nach der Schulzeit zur Marine ging und eine Fregatte kommandierte, spezialisierte sich während dieser Phase darauf – sobald Gerd das Kommando gab – den ausgewählten Klassenkameraden erst anzurempeln und ihm später in die Eier zu kneifen. Er war ein wirklich widerlicher Typ. Von diesen Knilchen befanden sich fünf Stück in der Klasse. Aus Provokation und physischer Gewalt wurde bei einigen Opfern bald Manipulation. Meistens wurdest du dabei als Knecht, Penner oder Heckenpenner bezeichnet.
Es fiel häufig der Satz:
„Lieber tot als rot“,
zu dem vereinzelte Schüler Stellung nehmen sollten.
Niemand weiß wirklich, wie viele Mitschüler Gerd zu den Treffen von BHJ und Wiking-Jugend mitschnacken konnte. Die Lehrer schauten durchgehend weg. Einige waren entweder selbst ehemalige Kriegsteilnehmer, Flakhelfer, bei der Hitlerjugend oder als Jugendliche durch die Bombenangriffe und alles andere traumatisiert oder gar versehrt. Ein Lehrer beispielsweise fing mitten im Lateinunterricht an, von Stalingrad zu erzählen:
„Erste Reihe Russen, niedergemäht. Zweite Reihe Russen, niedergemäht. Dritte Reihe Russen, niedergemäht... Irgendwann sind die Russen dann durchgekommen“.
Auch mich versuchten Nazi-Gerd und seine Schergen in der Schule zu bearbeiten, zu malträtieren und zu beeinflussen. Allerdings widersetzte ich mich erfolgreich dem „Schulhof-Terror“. Ätzend wurde es, als zu der Zeit vor dem Eingang zum Gelände der Hebbelschule von einem Scheitelträger ganz offen das Faltblatt der Kieler Liste für Ausländerbegrenzung verteilt oder besser gesagt den Schülern aufgeschwatzt wurde. Der Scheitelträger, der das KLA-Faltblatt verteilte, befand sich an unserer Schule zwei Jahrgänge über uns. Wie sich später herausstellte, war er der beste Freund von Gerd. Diese Faschos besaßen offensichtlich einen Freifahrtschein an der Schule. Auf der anderen Seite wurde den Machern der linksorientierten Schülerzeitung Anders das Verteilen ihres DIN-A5-Heftchens für eine Weile von der Schulleitung untersagt. Irgendwann konnte jedoch dieses Austeilverbot nicht mehr aufrechterhalten werden.
Wiker Punks, Spielplatz Blücherplatz "Blü", Kiel (links); Punk Party (rechts)
Es war schon paradox, dass Maxi und ich eine Zeit lang regelmäßig zusammen in einer Gruppe Punks loszogen, nachdem wir uns in der Schule geschlagen hatten und uns permanent anhassten. Er ignorierte mich nach wie vor. Nur einmal gingen wir zusammen an der Haltestelle Belvedere auf die Straßenbahngleise und legten Pfennige und Zweipfennigstücke auf die Gleiskanten, um sie von den Straßenbahnrädern der nächsten 4 plattwalzen zu lassen. Jemand erzählte, das solle Glück bringen. Die betrunkenen Punks hatten eine ganze Weile diesen Fimmel, unmittelbar bevor die Bahn kam auf die Gleise zu hotten, um dort ihre Münzen zu platzieren. Das wirkte immer extrem chaotisch während des regen Straßenverkehrs auf der Holtenauer am Samstagnachmittag, der zugegebenermaßen deutlich geringer ausfiel als werktags zu den Stoßzeiten. Die Straßenbahnfahrer bimmelten mitunter Sturm, sodass bestimmt so mancher Anwohner aus dem Mittagsschlaf gerissen wurde. Auch an diesem Tag ließen wir unsere Münzen wieder plattwalzen. Das war überhaupt ein toller Tag. Es waren endlich mal ein paar Punketten aus Mettenhof und Gaarden dabei, die mich ständig ignorierten, da ich ihnen zu jung und wahrscheinlich zu pseudohaft erschien. Sie schleppten einen Parfümduft von Patschuli oder irgendeinem Rattendiesel hinter sich her. Wir fuhren gemeinsam mit der 4 in die Stadt, soffen, rissen jede Menge Faxen im hinteren Wagen und belästigten andere Fahrgäste, die vereinzelt das Weite suchten oder nach vorne in den Triebwagen umstiegen. Ich glaube, wir wollten wieder irgendwo bei Hertie saufen, wo sich manchmal die Hertie-Gang rumtrieb. Die Hertie-Gang bestand – wenn ich richtig informiert bin – aus einer Horde stark tätowierter Punks und Outlaws wie Krake, Rotzig, Hotten, Hasteg und Konsorten, die gut und gerne zehn Jahre älter waren als die meisten von uns. Auf mich wirkte die Hertie-Gang zu kaputt, denn die besaßen fast durchweg keine Zukunft und strahlten zudem nur negative Energie aus. Für die waren alle, die sich mit 30 noch nicht totgesoffen oder totgejunkt hatten, Versager. Ihr Image galt bei den jungen Punks als stark anrüchig aufgrund des übermäßigen Drogenkonsums. Die Hertie-Gang war vom Aussterben bedroht. Doch auch wir befanden uns auf einem absteigenden Ast. Auf dem Weg über den Holstenplatz stießen weitere junge Punks zu uns, darunter auch Sabrina, die ich an diesem Tag zum allerersten Mal sah, mit ihrem überdimensionalen Iro, der mich schockierte und faszinierte zugleich, und ihren in den Gesamtschulpausen von Mitschülern gestochenen Tätowierungen. Mir wurde erst im weiteren Verlauf des Tages klar, dass es sich bei diesem kaputten Ding um ein weibliches Wesen handelte. Sie sah von dem übermäßigen Psilocybin-Pilz-Konsum furchtbar ausgelaugt aus und wirkte ein wenig schizophren. Jedes zweite Wort war “Bullshit“. Ich quatschte sie kurz an und versuchte zaghaft mich mit ihr zu unterhalten. Aber sie war schon dicht. Auch wenn sie sonst demoliert aussah, ihr Iro stand wie eine Eins.
Kieler Punks, die Hansa Pils ("Hansaplast") trinken
Für uns galt No Future an allen Ecken und Kanten. Besonders der Umgang mit den ehemaligen Weltkriegsteilnehmern, in erster Linie die ultra-derben NS-Zeitgenossen, war für Punks ein ständiger Lernprozess. Die Altnazis gingen uns tierisch auf die Nerven. Sie übertrieben es mitunter bis zum Äußersten. Viele der Leute vermittelten den Eindruck, als hätte sich in deren Köpfen seit dem Ende des Nazi-Terrors herzlich wenig geändert. Besonders sensibel betrachteten wir den alten Nazi-Jargon, der sich aus den Köpfen der älteren Generationen nicht vollständig entfernen ließ. Unser Verhalten war letztendlich eine Reaktion auf die in vielen Fällen ungebrochene Menschenverachtung der Kriegsgeneration. Wenn wir die Chance erhielten, versuchten wir Kontra zu geben. In der Stadt stießen diese Altnazis deutlich eher auf verbalen Widerstand als außerhalb. Aufgrund der hohen Zahl der männlichen Kriegsopfer waren alte Frauen und speziell Kriegswitwen in der Überzahl. Sie beschränkten sich aufs provokative Hinterherglotzen mit potenziell tötenden Blicken oder standen ewig an den Fenstern und beobachteten wie versteinert das Geschehen, wenn eine Horde Punks vorbeizog, randalierte oder bölkte. Sie schalteten umgehend die Schergen ein, sobald sie nach ihren Maßstäben Sicherheit und Ordnung gefährdet sahen.
Die männlichen Altnazis gingen mitunter deutlich rabiater zur Sache. Sie verfluchten uns auf Teufel komm raus. Punks waren für sie nicht tolerierbar – von den Engländern gesteuert. Diese hasserfüllten menschlichen Relikte der NS-Zeit wandten radikal den menschenverachtenden Wortschatz der Nazis auf uns Jugendliche an. Und es blieb üblicherweise nicht nur bei Ausdrücken wie Gesindel, Abschaum, Asoziale und Parasiten. Das waren noch die harmlosesten Beleidigungen. Die Wortgefechte zwischen Jung und Alt wegen irgendwelcher Lappalien konnten vollkommen entgleisen und eskalieren. Beide Seiten warfen sich die härtesten Klamotten an den Hals, sodass nicht selten der betroffene Punk von einem anderen Punk konsterniert vom Ort des Geschehens weggerissen werden musste. Viele Beleidigungen waren für uns junge Leute schwer verdaulich.
Beeinträchtigt wurde das Zusammenleben von Jung und Alt zu der Zeit in Kiel außerdem durch den Asche-Prozess, der viel Dreck aufwirbelte. Davon zeugte eine Spraydosenaktion an einer Häuserwand im Innenstadtbereich. Die Farbe wurde damals nicht von heut auf morgen entfernt, wie es heutzutage der Fall gewesen wäre. Vielleicht waren die Altnazis deshalb besonders alarmiert und widerwärtig?
Nicht jeder im Dritten Reich war überzeugter Nazi und viele überzeugte Nazis hatten sich nach 45 von ihrem Irrglauben abgwendet. Doch es gab sie noch zuhauf, die überzeugten Nazis, und in Kiel scheinbar mehr als anderswo.
Wir konnten uns der Auseinandersetzung mit diesen Altnazis nicht entziehen. Ich erlebte sogar tätliche Übergriffe auf Jugendliche durch Altnazis, wie an der Bushaltestelle Belvedere, als ein aufgebrachter Anwohner mit den Händen in der Hosentasche laut brüllend wahllos Schüler anrempelte und umrempelte, die auf den Bus warteten. Sie waren ihm zur Mittagszeit zu laut. Es bringt nichts, die Palette an Beleidigungen, die die alten NS-Schergen verwendeten, an dieser Stelle weiter aufzulisten. Auf der anderen Seite mussten Punks sich ständig in Acht nehmen, dass sie sich nicht durch die Provokationen auf das Niveau der Altnazis herabließen, denn das war in der Szene verpönt. Also entwickelten die Punks mit der Zeit ihren eigenen Stil, sich zu wehren, bis hin zum abschließenden Stinkefinger.
Wiker Punks im Park, Kiel-Wik
Leo hatte den größten Iro, den ich jemals zu Gesicht bekam. Nicht zuletzt deshalb stand er im Mittelpunkt jedes Punk-Meetings. Wenn er normalgroße Türrahmen oder Eingänge benutzte, musste er leicht in die Knie gehen, sich nach vorne beugen oder den Kopf zur Seite drehen. Er besaß einen Baseballschläger, der jedoch die meiste Zeit bei ihm zu Hause lag. Wenn er diesen jedoch mit auf Tour nahm, sorgte das zwangsläufig für Unruhe. Er brauchte ihn einfach nur mit sich zu tragen um die Blicke aller Bürger noch stärker auf sich zu ziehen. Er verwendete ihn nie als Waffe, sondern nur als Accessoire, wie ein vorsorglich im Arm getragener Regenschirm. Leo wollte damit noch mehr auffallen, provozieren und schocken. Ihm waren die Reaktionen seiner Mitmenschen wichtig, als sei sein Irokesenschnitt nicht Provokation genug. Wenn wir tagsüber in der Innenstadt tourten, waren wir meistens nicht wirklich auf Randale aus. Dort waren die Cops besonders wachsam. Wir fühlten uns chic in unserem zerschlissenen Outfit und wollten einfach nur gesehen werden und durch unser Äußeres provozieren. Punks fühlten sich halt auf der Straße wohl, und je mehr Punks in einer Gruppe auftraten, desto schöner war es. Jeder in der Meute war begeistert, wenn Leo mit von der Partie war, denn er sah wirklich am furchterregendsten aus. Ich fragte ihn einmal nach der Konsistenz seines Irokesen, als wir auf dem Weg zum Schrevenpark waren:
„Sag mal, was knallst du dir denn in deinen Iro, dass der so fest nach oben steht?“
„Ich schlage mir ein Eiweiß in die Haare“,
gab Leo kurz zur Antwort.
„Zuckerwasser geht aber auch!“,
warf ein Punk eher provozierend ins Gespräch ein, der gerade neben uns ging.
Auf der Strecke durch die Stadt kam es auch diesmal zu Pöbeleien mit Passanten, wieder mit Rentnern, die das Dritte Reich aktiv miterlebt hatten. Die Standardsprüche, die wir hörten, waren:
„Adolf hätte mit euch kurzen Prozess gemacht!“
oder
„Die Nazis hätten mit euch aufgeräumt!“
oder
„Euch müsste man alle an die Wand stellen!“
Wir hörten alle naslang empfindliche Ausdrücke, auf die wir treffsicher reagierten, auch wenn sie auf Dauer an unseren Kräften zehrten. Wir waren nicht bereit, diese ständigen Pöbeleien der Altnazis unbeantwortet zu lassen, die uns auf offener Straße verfluchten. Und das prägte uns. Oder es hieß:
„Ihr seid eine Schande für Deutschland!“,
und es wurde von unserer Seite fleißig zurückgemotzt:
„Geh doch zu deinem Führer“,
und
„Ihr scheiß Nazis!“
Einmal schrie uns auf dem Weg in den Schrevenpark in der Mittelstraße ein Rentner hinterher, der sich auf seinen braunen Krückstock mit halbrundem Griff stützte:
„Adolf Hitler hätte mit euch aufgeräumt!“
Einige pöbelten zurück, andere ignorierten ihn. Wir galten bald als linke Bazillen, ein Begriff, den der bayerische Hassprediger Franz Josef Strauß prägte, und wurden aufs Aggressivste mit Nazi-Jargon tituliert. Das war immer ziemlich krass. Es konnte in solchen Situationen passieren, dass einer der Punks sich nicht beherrschte und seinerseits eine rote Linie überschritt. Manchmal gingen während der Auseinandersetzungen Passanten an uns vorbei, die für eine der Seiten Partei ergriffen. Wurde uns beigepflichtet, hieß es:
„Lasst euch nicht unterkriegen!“
oder
„Ihr seid im Recht!“
Gossen die Passanten Öl ins Feuer, hieß es:
„Der Ton macht die Musik!“
oder
„Ein bisschen mehr Respekt vor der älteren
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Roland Scheller
Cover: H3pro
Lektorat: Christine Freistedt, Zara Zerbe
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2011
ISBN: 978-3-7438-9142-5
Alle Rechte vorbehalten