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Ein merkwürdiger Tag


Mr. und Mrs. O’Hion in der Silverstraße 6 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könnten sich in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken, denn mit solchem Unsinn wollten sie nichts zu tun haben.

Mr. O’Hion war Chef einer Bank namens Opal. Er war klein und schmal und hatte einen langen roten Schnurrbart. Mrs. O’Hion war dick und schwarzhaarig und besaß fast keinen Hals und stand ihrem Ehemann in Sachen Bärte nichts nach.

Die O’Hions hatten eine kleine Tochter namens Kira die sie abgöttisch liebten und beduddelten wie kein anderes Kind in einer Familie bemuttert wurde. Die O’Hions besaßen alles, was sie wollten, doch leider waren sie nicht verschon geblieben und hatten auch ein Geheimnis. Ralf und seine Familie fänden es echt zum Nasenraufen, wenn die Sache mit Mr. O’Hions Bruder rauskommen würde. Julian O’Hion war der Bruder von Ralf, doch die beiden hatten sich schon seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen, was auch gut war, denn Ralf behauptete sogar, dass er gar keinen Bruder hätte.

Denn sein Bruder war schon seit seiner Geburt unnormal gewesen, etwas abstraktes. Und wie es der Zufall so wollte war seine Frau und seine Tochter ebenfalls ein Freak. Was würden bloß die Nachbarn sagen, sollten Julian und Luciana O’Hion eines Tages in ihrer Straße aufkreuzen?
Die O’Hions wussten, dass Kira nie im Gottes Namen mit deren Tochter in Verbindung kommen sollte. Im schlimmsten Falle würde dieser Freak ihre wohlbehütete Tochter mit ihrer Abnormalität anstecken.

Als Mr. und Mrs. O’Hion an dem trüben und grauen Dienstag, an dem meine Geschichte beginnt, die Augen aufschlugen, war an dem Wolkenverhangenen Himmel draußen kein Vorzeichen der merkwürdigen und geheimnisvollen Dinge zu erkennen, die ihr gesamtes bisherigen Leben total auf den Kopf stellen sollte. Mr. O’Hion summte vor sich hin und suchte sich für die Arbeit seine grässlichste Krawatte aus, und Mrs. O’Hion schwatze munter vor sich hin, während sie mit der schreienden Kira rangelte und ihr einen nach dem anderen Löffel voller Haferbrei in den Mund zwängte.

Keiner von ihnen sah den riesigen Falken am Fenster vorbeifliegen.
Um halb neun griff Mr. O’Hion nach der Aktentasche, gab seiner Frau einen Schmatz auf die Wange und versuchte es auch bei Kira, was derart danebenging, und mit einem Wutanfall von Kira endete. „Kleiner Mausebraten“, gluckste Mr. O’Hion, während er nach draußen ging. Er setzte sich in den Wagen und fuhr rückwärts die Einfahrt zu Nummer 6 hinaus.

An der Straßenecke fiel ihm zum ersten Mal etwas Merkwürdiges auf – ein Kaninchen, das mitten auf der Kreuzung saß und ihn nicht aus den Augen entließ. Einen Moment war Mr. O’Hion nicht klar, was er gesehen hatte – dann wandte er rasch den Kopf zurück, um noch einmal hinzuschauen. An der Einbiegung zur Silvertstraße 13 stand ein gestreiftes Kaninchen, jedoch kaute es auf einem Grashalm und schaute nicht mal im geistlichen Sinne zu ihm. Er hatte sich schon überlegt seine Tabletten gegen Halluzinationen auf eine höhere Dosis zu stellen.

Das musste eine Sinnestäuschung gewesen sein. Mr. O’Hion blinzelte und starrte das Kaninchen an. Das Kaninchen starrte nicht mehr zurück. Während Mr. O’Hion um die Ecke bog und die Straße entlangfuhr, beobachtete er das Kaninchen im Rückspiegel. Mr. O’Hion gab sich einen kleinen Ruck und verjagte das Kaninchen aus seinen Gedanken. Während er in Richtung Stadt fuhr, hatte er nur noch den großen Kredit für die Bank im Sinn, der heute hoffentlich fällig würde.

Doch am Stadtrand wurde der Kredit von etwas anderem aus seinen Gedanken verdrängt. Er saß im üblichen morgendlichen Stau auf der A42 fest, sodass ihm eine große Menge seltsam gekleideter Menschen auffielen. Menschen in grünen, blauen, braunen und grauen Gewändern, die so gestickt waren als würden sie der griechischen Mythologie entspringen. Ab und zu war auch ein oder zwei dabei die weiß, rot, orange oder gelb anhatten. Mr. O’Hion fand derarte Kleidungsstücke der Gesellschaft von modernen Leuten unangemessen und konnte sich ein Nasenrümpfen nicht verbeißen.

Das musste wohl irgendeine dumme neue Mode für Teenager sein. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und sein Blick fiel auf eine Ansammlung dieser merkwürdigen Gestalten nicht weit von ihm. Ganz aufgeregt flüsterten sie miteinander. Betroffen musste Mr. O’Hion feststellen das nicht alle dieser merkwürdigen Gestalten im Teenageralter waren. Da war ein Mann direkt neben einer Parkbank der in seinem Alter zu sein schien und ein blaues Gewand mit Sternen trug. Der hatte vielleicht Nerven! Doch dann fiel Mr. O’Hion plötzlich ein, dass dies wohl eine verrückte Verkleidung sein musste –vielleicht war mal wieder irgendwo eine Organisation dabei für eine Spende zu sammeln.

Die Autoschlange bewegte sich, und ein paar Minuten später fuhr Mr. O’Hion auf den Parkplatz seiner Bank, die Gedanken wieder beim Kredit.
In seinem Büro im zehnten Stock saß Mr. O’Hion immer mit dem Rücken zum Fenster. Mr. O’Hion vertrat die Ansicht das ein Blick aus dem Fenster zur Ablenkung führe und dadurch bemerkte Er die Falken nicht, die am helllichten Tage vorbeischossen, wohl aber die Leute unten auf der Straße. Die meisten von ihnen hatten vielleicht einmal einen gesehen, auf einer Adlerwarte oder so. Aber nicht mitten in der Stadt, schon gar nicht so viele auf einmal. Mr. O’Hion jedoch verbrachte einen ganz gewöhnlichen falkenfreien Morgen.

Er machte seine Sekretärin zur Schnecke weil sie ihm das falsche Magazin für die Pause geholt hatte und er führte mehrer wichtige Telefongespräche und schrie dabei noch ein wenig lauter. Bis zur Mittagspause war er glänzender Laune und wollte sich nun ein wenig die Beine vertreten und beim Bäcker über der Straße ein Schokobrötchen holen.
Die Leute in der merkwürdigen Gestalten die für eine Spende sammelten, hatte er schon längst vergessen, doch da begegnete ihm einer auf dem Weg zum Bäcker.

ER wusste nicht, warum, aber sie bereiteten ihm Unbehagen. Auch dieses Pack hier tuschelte ganz aufgeregt, und eine Sammelbüchse war nirgends zu sehen. Auf dem Weg zurück vom Bäcker, eine Tüte mit einem großen Schokoladenkringel in der Hand, schnappte er ein paar Worte von ihnen auf.
„Die O’Hions, das stimmt, das hab ich gehört…“
„…ja, ihre Tochter, Cayenne…“

Mr. O’Hion blieb wie angewurzelt stehen. Etwas ungutes Ahnendes überkam ihn. Er wandte sich nach den Flüsterern um, als ob er ihnen etwas sagen wollte, besann sich dann aber eines Besseren. Hastig überquerte er die Straße, stürmte hoch in sein Büro, fauchte seine Sekretärin an, er wolle nicht gestört werden, dass sie mit einem hochroten Kopf entgegennahm. Er machte sich Sorgen. Hieß seine Nichte Cayenne?

Quatsch, entschied er sich. So viel Zufall an diesem Tage, konnte es gar nicht geben. Das Kaninchen war eine Sinnestäuschung gewesen und seine Nichte hatte wohl eher so einen abnormalen Namen wie Lucianas Schwester Clara oder so. Daher setzte sich Mr. O’Hion wieder hin und versuchte wieder Herr seine Lage zu werden, was ihm nach 2 Stunden später auch gelang.

An diesem Nachmittag fiel es ihm um einiges schwerer, seine Gedanken auf den Kredit zu richten, und als er das Büro um fünf Uhr verließ, war er immer noch so voller Sorge, dass er direkt vor der Ausgangstür mit jemanden zusammenstieß.

„Verzeihung“, murmelte er, als der kleine alte Mann ins Stolpern kam und beinahe hinfiel. Erst nach ein paar Sekunden bemerkte Ralf, dass der Mann einer dieser Gestalten war das ein grünes Gewand trug. Der Mann zeigte auf seinem Gesicht ein breites Lächeln, und sagte: „Heute verzeih ich alles, mein lieber Herr, heute kann mich nichts aus der Bahn werfen! Alle sollten sich freuen dass die Dunkle Elfe endlich kein Chaos mehr errichten kann! Selbst Sterbliche wie Sie sollten diesen Tag feiern!“

Und der alte Mann umarmte Ralf, ungefähr in Bauchhöhe und ging von dannen.
Ralf stand da wie angewurzelt. Ein völlig Fremder hatte ihn umarmt. Auch hatte er ihn wohl einen Sterblichen genannt, was ihn denken ließ, dieser Mann müsse verrückt sein, denn Unsterbliche Menschen gab es wohl auf dieser Erde nicht. So eilte er zu seinem Ford Angelia und fuhr nach Hause in der Hoffnung dass dieser Tag mit seinen komischen Tätigkeiten endlich vorbeigehen möge.

Als er in die Auffahrt von seinem Haus einbog, bemerkte er schon wieder was Ungewöhnliches. Es kam ihm so vor als würde dasselbe Kaninchen wie von heute morgen nun auf seiner Gartenmauer sitzen und ihn anstarren.
„Sch“, zischte Ralf laut.

Das Kaninchen regte sich nicht. Es blickte ihn nur aus ernsten Augen an. Wahrscheinlich tickte das Kaninchen nicht mehr richtig, war vielleicht vor ein Auto gelaufen und hatte nun einen Hirnschaden, mutmaßte Ralf. So schloss er die Haustür auf um endlich den Alltag hinter sich zu lassen.

Seine Frau, Angelina hatte einen netten, gewöhnlichen Tag hinter sich. Beim Abendessen erzählte sie ihm alles über Frau Nachbarin’ s Probleme mit deren Sohn und dass Kira sich heute blendend benommen habe. Ralf brachte Kira zu Bett und ging dann ins Wohnzimmer, wo er sich das Neueste in den Abendnachrichten ansah.

„Und hier noch eine Meldung. Wie die Experten heute bemerkten, flogen heute sehr viele Falken am Himmel vorbei. Fachleute aus der Adlerwarte haben gemeldet das ein bis zwei ihrer Arten fehlen und wohl mit den anderen weit verstreuten Vogelarten am Himmel über unseren Parks kreisen. Die Fachleute können sich nicht erklären, warum die Falken plötzlich überall gesichtet werden. Es sind Greifvögel unter ihnen wie der Weißkopfseeadler und Aasfresser.“ Der Nachrichtensprecher erlaubte sich ein Grinsen. „Sehr mysteriös. Und nun zu John McLarens mit dem Wetter. Wird endlich der Regen kommen den sie uns für unsere ausgedörrten Wiesen versprochen haben?“

„Nun Tom“, meinte der Wetteransager, „ich versichere Ihnen allen das der Regen heute Nacht kommen wird. Ebenfalls braut sich morgen ein kleiner Sturm im Nordosten des Landes an. Ich rate Ihnen also meine Damen und Herren einen Schirm und einen Regenmantel mich sich zu tragen.“

Ralf saß starr wie ein Eiszapfen in seinem Sessel. Falken in der Stadt? Allerorten geheimnisvolle Leute in sonderbarer Kleidung? Und ein Tuscheln, ein Tuscheln über die Familie seines Bruders…

Seine Frau kam mit zwei Tassen Tee ins Wohnzimmer. Nervös räusperte er sich. „Ähh…Angelina, Liebes…du hast in letzter Zeit nicht irgendwelche Post von meinem Bruder bekommen oder?“ Angelina schaute überrascht auf.

„Nein, wieso fragst du auf einmal? Wir tun doch sonst so, als hättest du keinen…“, flüsterte Angelina und Ralf nickte bestätigend. „Aber, ihre Tochter, die müsste doch im selben Alter wie Kira sein oder?“

„Ich denke ja. Aber was soll auf einmal diese Interesse?“ „Nichts, nichts. Ihr Name war doch Cara oder?“ „Cayenne. Ein hässlicher und gewöhnlicher Name, wenn du mich fragst.“ „Oh ja“, sagte Ralf O’Hion und das Herz rutschte ihm in die Hose. „Ja, da bin ich ganz deiner Meinung.“ „Lass uns schlafen gehen. Der Tag war aufregend genug“, schlug Angelina vor und stand auf um aus dem Wohnzimmer zu gehen. Ralf schaltete den Fernseher aus und folgte ihr.

Während Mrs. O’Hion im Bad war, schlich sich Mr. O’Hion zum Schlafzimmerfenster und spähte hinunter in den Vorgarten. Das Kaninchen war immer noch da. Es starrte auf die Straße hinaus, als ob es auf etwas wartete.

Bildete er sich das alles nur ein? Konnte all dies etwas mit seinem Bruder zu tun haben? Wenn es so war…und wenn herauskäme, dass sie verwandt waren mit einem Paar von …nein, das wäre viel zu abwegig.

Die O’Hions gingen zu Bett. Seine Frau schlief rasch ein, doch Ralf lag wach und wälzte alles noch einmal im Kopf hin und her. Bevor er einschlief, kam ihm ein letzter, tröstender Gedanke. Selbst wenn sein Bruder wirklich mit dieser Geschichte zu tun hatte, gab es keinen Grund, warum sie bei ihm und Angelina auftauchen sollten.

Sein Bruder wusste sehr wohl, was er und Angelina von ihnen und ihresgleichen hielten…Er konnte sich nicht denken, wie er und Angelina in irgendetwas hineingeraten sollten, was dort draußen vor sich ging – er gähnte und drehte sich auf die Seite -, damit würden er und seine Frau und seine Tochter niemals im Entferntesten was zu tun haben.
Wie sehr er sich täuschte.


Die letzte magische O'Hion


Während Ralf und seine Frau seelenruhig schliefen saß das Kaninchen draußen immer noch auf der Gartenmauer und schaute auf die weit auf die Straße hinaus ohne je zu blinzeln. Von Müdigkeit bei ihm keine Spur. Auch regte es sich nicht als die Stunden nur so verstrichen und zwei Falken laut über es hinweg flogen. In der Tat war es fast Mitternacht, als das Kaninchen sich zum ersten Mal rührte.

Die Straße, die es beobachtet hatte, erschien eine Frau, sie manifestierte sich aus der Luft heraus. Die Augen des Kaninchens verengten sich und sein Buschel zuckte.
Eine Frau wie diesen hatte man in der Silvertstraße noch nie gesehen.

Sie war groß, dick und sehr alt, jedenfalls der silbernen Farbe ihres kurzen Haares nach zu schließen. Sie trug eine lange Robe, einen silbernen Umhang, der den Boden streifte, und Schnallenstiefel mit hohen Hacken. Ihre grauen Augen leuchteten funkelnd als sie den Blick hob. Der Name dieser Frau war Angel Mavelius.

Angel Mavelius durchstöberte gedankenverloren die Taschen ihres Umhangs. Doch offenbar bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde, denn plötzlich sah sie zu dem Kaninchen hinüber, das ihr vom anderen Ende der Straße her immer noch anstarrte.

Aus irgendeinem Grunde schien sie der Anblick des Kaninchens zu belustigen. Sie gluckste vergnügt und murmelte: „Ich hätte daran denken müssen das sie auch hierher kommen.“
Die Frau im silbernen Umhang hob die Hand und flüsterte etwas. Daraufhin wurde die Straße dunkel, Nebel umwaberte die Bäume so das man nur schwer die Umrisse der Häuser ausmachen konnte.

Selbst der Mond musste sich hinter einer Schleierwolke verstecken. Angel ließ den Kopf sinken und machte sich auf den Weg die Straße entlang zu Nummer 6, wo sie sich auf die Mauer neben das Kaninchen setzte. Sie sah es nicht an, doch nach einer Weile sprach sie mit ihm.

„Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen, Professor Tiberius.“
Mit einem Lächeln wandte sie sich zur Seite, und lächelte einem ziemlich ernst dreinblickenden Mann zu. Auch er trug einen Umhang, einen braunen. Sein schwarzes Haar war streng nach hinten gekämmt. Er sah recht verwirrt aus.

„Woher wussten Sie, dass ich es war?“, fragte er.
„Mein lieber Professor, ich habe noch nie ein Kaninchen so starr dasitzen sehen.“
„Nun was sollte ich den ganzen Tag machen? Rumhüpfen und mich selbst jagen?“ „Den ganzen Tag? Wo Sie doch hätten feiern können? Oder haben sie keinen Falken von Freunden bekommen mit einer Einladung?“

Verärgert schnaubte Professor Tiberius durch die Nase.
„O ja, alle Welt feiert, sehr schön“, sagte er ungeduldig. „Man sollte meinen, sie könnten ein bisschen vorsichtiger sein, aber nein…die Sterblichen haben bemerkt, dass etwas los ist. Sie haben es in den Nachrichten gebracht.“

Mit einem Kopfrucken deutete er auf das dunkle Wohnzimmerfenster der O’Hions. „Ich habe es gehört. Ganze Schwärme von Falken, Geiern und Adlern. Als wäre das nicht zu auffällig!“
„Sie können ihnen keinen Vorwurf machen“, sagte Angel sanft. „Elf Jahre lang haben wir herzlich wenig zu feiern gehabt.“

„Das weiß ich“, sagte Professor Tiberius gereizt. „Die Leute sind einfach unvorsichtig, wenn sie sich am helllichten Tage draußen auf den Straßen herumtreiben und Gerüchte zum Besten geben. Wenigstens können sie Sterblichen Kleidung anziehen.“
Dabei wandte er sich mit scharfem Blick der Frau zu, als hoffte er, sie würde ihm etwas mitteilen. Doch sie schwieg, und er fuhr fort: „Ich nehme an, sie ist wirklich verschwunden, Professor Mavelius?“
„Es sieht ganz danach aus“, sagte Angel. „Wir müssen für vieles dankbar sein! Möchten sie ein Kaugummi?“

„Ein was?“, fragte Prof. Tiberius und zog die Augenbrauen hoch.
„Ein Kaugummi. Eine Nascherei der Sterblichen. Man kaut so lange wie man will auf ihm herum.“ „Nein danke“, sagte der Mann kühl, als sei das der falsche Moment für ein Kaudings bums. „Was meinen Sie wo die Dunkle Elfe hin ist?“

„Professor Tiberius, sie ist weg, warum nennen sie nicht endlich ihren Namen? Der ganze Unsinn mit die Dunkle Elfe…ich meine wie sollen sich die anderen fühlen die ebenfalls von dieser Sorte abstammen. Man verurteilt sie nur weil sie eine Schwester des Bösen herausgebracht haben. Und du weißt sicher von der Frau auf die das überhaupt nicht zutrifft.“ „Natürlich weiß ich das, aber sie nennt man ja auch beim normalen Namen.

Außerdem sind sie mächtiger als ich, sie können es sich erlauben den Zorn der Dunklen Elfe auf sich zu ziehen“. „Sie schmeicheln mir“, sagte Prof. Mavelius leise. „Die Dark Lady hatte Kräfte, die ich nie besitzen werde.“

„Nur weil Sie zu…ja…zu gut sind sich auch die dunkle Magie zur Eigen zu machen.“ „Aber das ist doch gerade der Punkt, Prof. Tiberius. Ich bin nun mal auf der guten Seite. Was würde es mir bringen wenn ich die magische dunkle Magie ebenfalls praktiziere, dann wäre ich nicht besser als die Dark Lady.“ Professor Tiberius sah die Frau scharf an und sagte: „Die Falken und Adler sind nichts gegen die Gerüchte, die umherschwirren. Wissen Sie, was alle sagen? Warum sie endlich verschwunden ist? Was sie jetzt endlich aufgehalten hat?“

Angel wusste das Prof. Tiberius hoffte sie würden nicht stimmen doch leider konnte sie ihm dies nicht bestätigen. Prof. Tiberius setzte wieder an. „Sie sagen, das Sie zu ihrer Familie gegangen ist. Nach Heavenshall. Sie soll die O’Hions ermordet haben, und es auch bei ihrer N…bei ihrem Kind versucht haben. Soll das heißen das Luciana und Julian O’Hion tot sind? Mavelius bitte, sagen sie mir doch endlich etwas dazu? Soll ich den ganzen Quatsch glauben? Ich meine ich kenn die Harry Potter Bücher, es wäre wohl mehr als Zufall wenn diese Geschichte genauso enden würde.“

Angel seufzte. Die Harry Potter Bücher waren eine Erfindung der magischen Gesellschaft gewesen, sie beruhte auf eine Prophezeiung die schon vor Jahrhunderten gemacht worden ist. Alle die von ihr wussten dachte sie in ein Buch zu sperren, die vielen Sterblichen so begeistert hatten dass sie ihn abdrehten, damit sei alles vorbei. Doch Angel konnte ihn nicht belügen daher antwortete sie: „Doch sie sind tot, Prof. Tiberius.“ Dem Mann stockte der Atem. „Luciana und Julian…Ich kann es nicht glauben…Ich will es immer noch nicht glauben…OH Angel…“

Angel Mavelius streckte die Hand aus und klopfte ihm sanft auf die Schultern. „Ich weiß,…wir alle haben gedacht das man die Prophezeiung vergessen könnte, das sie nie Wirklichkeit wird.“ Prof. Tiberius fasste sich wieder. „Was ist mit Cayenne? Sie ist demnach nicht tot? Es hieße, SIE hätte nur ihre Eltern töten können, bei ihr sei sie versagt weil ihr Geist zu schwach war. Sie sei in sich selbst zersplittert.“

Angel nickte mit düsterer Miene.
„Ist das wahr? Dieses Mädchen, ihre…das Kind der O’Hions hat es geschafft. Aber sie ist ein Baby. Und sehr talentierte Zauberer haben schon gegen SIE verloren. Wie um Gottes Namen konnte Cayenne überleben?“

„Sie ist sicher eine Geistbeschwörerin. Davon kann man ausgehen. Aber wie sie überleben konnte, nun das wird wohl für ewig ein Geheimnis bleiben.“
Angel zog ihre Uhr aus der Manteltasche und blickte dann hinauf in den Himmel. „Butterlilie verspätet sich. Übrigens nehme ich an, sie hat Ihnen erzählt das ich hierher kommen würde?“ „Ja“, sagte Professor Tiberius. „Und ich nehme nicht an, dass Sie mir sagen werden, warum Sie ausgerechnet hier sind?“

„Ich bin gekommen um Cayenne zu ihrem Onkel und ihrer Tante zu bringen. Julians Bruder Ralf wohnt hier. Hier wird sie in Sicherheit sein.“ „Sie meinen…hier…NR. 6? Sind sie sicher das es das richtige Haus ist? Ich habe die Familie den Tag über erlebt. Sie können Cayenne doch nicht zu diesen Menschen schicken. Da wäre sie bei uns im Internat noch besser aufgehoben.“ Angel schüttelte den Kopf.

„Ihr Onkel und ihre Tante werden ihr alles erklären, wenn sie älter ist. Ich habe schon vorher einen Brief mit einem Falken zu Ralf geschickt.“ „Einen Brief?“, wiederholte Prof. Tiberius mit erlahmender Stimme und setzte sich wieder auf die Mauer.

„Wirklich, Mavelius, glauben Sie, dass Sie all das in einem Brief erklären können? Diese Sterblichen werden Sie nie verstehen, besonders weil sie nicht älter werden wird.“ „Sie wird älter werden.“ „Ja aber nur innerlich, äußerlich geht sie nur bis 21. Dann ist es vorbei.“
„Außer sie entscheidet sich dafür.“ „Wer tut das schon außer ihnen, Prof. Mavelius?“ Angel lachte. „Sie werden sehen, wie sich alles von alleine regelt, Professor.“
„Sie sagten Butterlilie bringt sie?“
„Ja…ich halte sie für klug, Butterlilie würde ich immer vertrauen.“
„Das habe ich auch gar nicht in Frage gestellt. Ich kenne sie gut genug, das ich auf ihr Wort vertraue.“

Ein Summen ertönte, ein leises Flattern von Goldbesprenkelten Flügeln die zusammenschlugen um die schwere Last eines Babys zu tragen. Angel und Prof. Tiberius sahen in den Himmel hinauf und erkannten Butterlilie die in einem Leinenbündel Cayenne zu ihnen flog. Butterlilie war keine reinblütige Fee, ihre Mutter war eine Veela gewesen während ihr Vater eine Fee gewesen war.

Daher maß sie ganze 1,40m als sie vor ihnen auf der Straße ankam. Sie sah aus wie eine 1 Klässlerin, doch sie sollte man lieber nie verärgern, weil sie sehr frech und listig zurückschlagen konnte. Sie war sehr dünn, ihre Arme so bleich wie das Porzellangeschirr bei Mrs. O’Hion in der Küche und ihre Augen waren goldig, wie ihre Flügel. Ihr Mund hob sich rosarot von ihrem Gesicht ab und sie lächelte leicht als sie das Baby Angel in den Arm legte. „Hier, Angel.“

„Gab es Probleme?“, fragte sie die Fee und diese schüttelte den Kopf. „Nein, Madam. Das Haus war mehr als zerstört, aber ich hab sie gerade noch heraus hohlen können, da kommt meine Größe gerade recht gut weg. Sie ist eingeschlafen als ich los geflogen bin.“ Angel und Professor Tiberius neigten ihre Köpfe über das Leinentuchbündel. Darin steckte, gerade eben zu sehen, ein kleines Mädchen, fast noch ein Baby, in tiefem Schlaf.

Unter einem Büschel goldgelockten Haars, erkannte man das graue Muster dass einer Blüte in einer Ranke ähnelte, die fast schon durchscheinend schimmerte. „Ist das nicht das Zeichen für die Geistbeschwörer?“, fragte Professor Tiberius. „Nein, eigentlich bekommt jeder Beschwörer es auf dem Handgelenk oder der Schulter. Es auf der Stirn zu tragen, bezeugt von unglaublich starker Macht. Weil die Dark Lady sie angegriffen hat mit dem Geist, also verständlich mit Gedankenkontrolle erschien ihr Machtsymbol dort auf ihrer Stirn.“ „Und dort wird es immer bleiben? Für alle sofort sichtbar?“, fragte Prof. Tiberius.

Angel nickte. „Aber sehen sie sich doch ihre Haare an, wenn es nicht noch ausgeprägter mit Farbkonturen wird, überdecken es ihre Haare doch sehr gut.“ „Das stimmt allerdings“, stimmte Angel Butterlilie zu, die sich mit ins Gespräch gemischt hatte. Angel wandte sich zur Tür um und ging mit dem Baby auf dem Arm zur Türmatte. „Warten Sie“, rief Butterlilie und beugte sich schnell über das Kind um es sanft auf die Stirn zu küssen.

„Auf wieder sehen Cayenne. Auf das wir uns bald wieder sehen!“ Damit legte Angel nun endgültig das kleine Baby vor die Tür der O’Hions. Angel kehrte zu den beiden anderen zurück und sagte: „Also, das war’s…Wir haben hier nichts mehr zu suchen. Wir sollten lieber verschwinden und zu den Feiern gehen.“
„Mhh ich gehe zurück nach Haus. Meine Glühwürmchen kann ich nicht so lange alleine lassen“, sagte Butterlilie mit dumpfer Stimme, „Nacht Professor Tiberius – Professor Mavelius, Madam.“

Butterlilie breitete die Arme aus und hob sich meinem Zischen in die Luft und entschwand im Nachthimmel. „Wir werden und bald wieder sehen, vermute ich, Professor Tiberius“, sagte Angel und nickte ihm zu. Zur Antwort schnäuzte sich Professor Tiberius die Nase.

Angel drehte sich um und entfernte sich die Straße entlang. An der Kreuzung blieb sie stehen und flüsterte: „Nebbia“ (italienisch = Nebel)“, worauf sich die Straße wieder lichtete und der Mond wieder auf die Bäume scheinen konnte. Als sie zurück sah konnte sie gerade noch erkennen wie Prof. Tiberius, als Kaninchengestalt am anderen Ende der Straße hinter einem Buchsbaumrondell verschwand.

Auf der Türschwelle von Nummer 6 konnte sie gerade noch das Bündel aus Leinentüchern erkennen. „Viel Glück, Cayenne“, murmelte sie. Sie drehte sich auf dem Absatz um und mit einem Wehen ihres Umhangs war sie verschwunden.
Eine Brise kräuselte die sorgfältig geschnittenen Hecken der Silverstraße, die still und ordentlich dalag unter dem tintenschwarzen Himmel, und nie wäre man auf den Gedanken gekommen, dass hier etwas so Übernatürliches geschehen würde, wie in den Harry Potter Büchern geschrieben worden ist.

In ihren Leinentüchern drehte sich Cayenne O’Hion auf die Seite, ohne aufzuwachen. Ihre kleinen Finger ballten sich zu Fäuste, und sie schlief weiter, nicht wissend, dass sie etwas Besonderes war, nicht wissend, dass sie berühmt war, nicht wissend, dass in ein paar Stunden, wenn der Postbote die Morgenzeitung brachte, ein Schrei sie wecken würde, auch nicht wissend, dass sie ihre Cousine Kira in den nächsten Wochen peinigen und piesacken würde…

Sie konnte nicht wissen, dass in eben diesem Moment überall im Land Versammlungen stattfanden, Gläser erhoben wurden und gedämpfte Stimmen sagten: „Auf Cayenne O’Hion – Das Mädchen das uns den Frieden brachte“.


14 Jahre später


Fast 14 Jahre waren vergangen, seit die O’Hions eines Morgens die Haustür geöffnet und in den Armen eines Postboten ihre Nichte gefunden hatten, die man in der Nacht zuvor auf die Türschwelle gelegt hatte. Doch die Silverstraße hatte sich kaum verändert. Wenn die Sonne aufging, tauchte sie dieselben fein säuberlich gepflegten Vorgärten in ihr Licht und ließ dasselbe Messingschild mit der Nummer 6 über der Tür erglimmen. Schließlich krochen ihre Strahlen ins Wohnzimmer. Dort sah es fast genauso aus wie in jener Nacht, als Mr. O’Hion im Fernsehen den unheilvollen Bericht über die Falken gesehen hatte. Nur die Fotos auf dem Kaminsims führten einem vor Augen, wie viel Zeit verstrichen war. 14 Jahre zuvor hatten dort eine Menge Bilder gestanden, auf denen etwas, das an einen großen Rosahnen Kaubonbon erinnerte, zu sehen war und Puschelpantoffeln in verschiedenen Farben trug – doch Kira O’Hion war nun kein Baby mehr, und jetzt zeigten die Fotos ein großes, braunhaariges Mädchen, mal auf ihrem ersten Einrad, mal auf dem Rummelplatz am Hot Dog Stand, mal beim Puppenspiel mit der Mutter und schließlich, wie der Vater sie knuddelte und küsste. Nichts in dem Zimmer ließ ahnen, dass in diesem Haus auch noch ein weiteres Mädchen lebte.

Doch Cayenne O’Hion war immer noch da, sie schlief gerade, aber nicht mehr lange. Ihr Onkel Ralf war schon wach und seine raue dunkle Stimme durchbrach die morgendliche Stille wie ein Bass der zu laut gedreht wurde.
„Aufstehen, aber dalli“.
Mit einem Schlag war Cayenne hellwach. Noch einmal trommelte ihr Onkel gegen die Tür. „Aufstehen“, brüllte er. Cayenne hörte, wie er in die Küche ging und dort die Pfanne auf den Herd stellte. Sie drehte sich auf den Rücken und versuchte sich an den Traum zu erinnern, den sie gerade noch geträumt hatte. Es war ein guter Traum. Ein Mädchen mit roten langen Haaren und goldenen Augen hatte sie am Himmel getragen. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, den Traum schon einmal geträumt zu haben. Draußen vor der Tür stand jetzt schon wieder ihr Onkel. „Bist du schon auf den Beinen?“, fragte er.
„Fast“, rief Cayenne.
„Beeil dich. Ich möchte, dass du auf die Eier aufpasst. Und lass sie ja nicht anbrennen, an Kiras Geburtstag muss alles tipptopp sein.“
Cayenne stöhnte.
„Was hast du gesagt?“, brüllte ihr Onkel durch die Tür.
„Nichts…nichts..“

Kiras Geburtstag – wie konnte sie den nur vergessen haben? Langsam kletterte Cayenne aus dem Bett und begann nach Socken zu suchen. Unter ihrem Bett fand sie ein Paar und zog sie an. Cayenne schlief in einem normalen Zimmer, etwas klein zwar, es war vorher als Wäschekammer genutzt worden, aber doch relativ schön eingerichtet. Ein Bett, ein kleiner Nachtschrank mit Spiegel drüber und das war’s. Wenn sie Hausaufgaben zu erledigen hatte sollte sie diese unten am Küchentisch tun, unter Argusaugen ihrer Tante Angelina, die als Lehrerin arbeitete. Als sie angezogen war, ging sie den Flur entlang und betrat die Küche. Der ganze Tisch war über und über bedeckt mit Geschenken. Offenbar hatte Kira ihre Karaokestation bekommen die sich gewünscht hatte und bestimmt auch den großen Schminktisch mit Extra Proben. Warum Kira eigentlich eine Karaokestation haben wollte, war Cayenne ein Rätsel, denn Kira sang so gerne wie eine Maus die man zertrat, außer natürlich, wenn es darum ging, dem Jungen von nebenan zu gefallen, aber ob der ihre Stimme als Talent bezeichnen würde, war wohl eine andere Sache. Kira sah viel besser aus als früher. Groß, schlank, braunes langes Haar, hellblaue Augen die wie Eis aus ihrem Gesicht starrten sollte sie mal wieder einen Wutanfall anheim liegen und trug meistens immer schwarz. Cayenne dagegen war blondhaarig, Locken, bleicher Teint und graue Sturmaugen sahen aus ihrem Gesicht. Sie war nicht ganz so groß wie Kira dafür aber ebenso schlank. Das einzige was sie von ihr unterschied war, das Cayenne ein Tattoo ähnliches Abbild einer Ranke mit einer Blüte auf ihrer Stirn hatte. Es schimmerte hell fast durchsichtig unter ihrem Pony durch. Als sie mal Tante und Onkel danach gefragt hatte kam die schnippische Antwort, dass ihre Eltern einer Sekte angehört hatten und ihr Kind mit einem Tattoo segneten wobei sie dachten den Satan von ihm fernzuhalten. Sie seien dann bei einem Anschlag ums leben gekommen. „Tante Angelina kam in die Küche, als Cayenne gerade die Eier wendete.

„Kämm dir deine Haare“, keifte sie als Morgengruß. Etwa einmal die Woche spähte Tante Angelina über ihre Zeitung und rief, Cayenne müsse endlich einmal zum Friseur. Cayenne musste öfter beim Friseur gewesen sein, als alle Mädchen ihrer Klasse zusammen, doch es half nichts. Ihr Haar lockte sich, und zeigte das Tattoo auf ihrer Stirn immer. Cayenne briet gerade Eier, als Kira mit ihrem Vater in die Küche kam. Cayenne stellte die Teller mit Eiern und Schinken auf den Tisch, was schwierig war, denn viel Platz gab es nicht. Kira zählte unterdessen ihre Geschenke. Sie grinste. „78. Da bin ich aber froh, das sind mehr als letztes Jahr. Dann kann ich ja davon ausgehen das ich alles bekomme was ich auf der Liste stehen hatte, oder Mutter?“ Cayenne sah zu den Geschenken. 78, sie fragte sich was Kira mit all den Sachen anfangen wollte, landeten die doch eh eine Woche später auf dem Müll. Kira ließ sich neben Cayenne auf den Stuhl nieder, als in dem Moment das Telefon klingelte. Onkel Ralf ging an den Apparat, während Cayenne und Tante Angelina Kira dabei zusahen, wie sie die Karaokestation, den Schminktisch, ein zweites Einrad, und eine Garnitur neuer Klamotten plus 100 Paar neue Schuhe auspackte. Gerade riss sie das Papier von einem goldenen Diadem, als Onkel Ralf mit zornigem und besorgtem Blick vom Telefon zurückkam. „Schlechte Neuigkeiten, Angelina“, sagte er. „Mrs. Carson muss eine ihrer Hunde zum Tierarzt bringen. Sie kann sie nicht nehmen.“ Unwirsch nickte er mit dem Kopf in Cayennes Richtung. Kira klappte vor Schreck der Mund auf, doch Cayennes Herz begann zu hüpfen. Jedes Jahr an Kiras Geburtstagen machten ihre Eltern mit ihr und einer Freundin einen Ausflug, sie besuchten Abenteuerparks, gingen Hamburger essen oder ins Kino.

Jedes Jahr blieb Cayenne bei Mrs. Carson, einer langweiligen jungen Dame zwei Straßen weiter. Cayenne mag es dort, aber manchmal ging es ihr auf die Nerven sich die Geschichte von ihren Hunden mehr als oft anzuhören. „Und nun?“, sagte Onkel Ralf und sah Cayenne so zornig an, als hätte sie persönlich dafür gesorgt das der Hund krank wurde. „Wir können Onkel Heinrich anrufen“, schlug Tante Angelina vor. „Sei nicht albern, Angelina, er hasst das Mädchen.“ Die O’Hions sprachen oft über Cayenne, als ob sie gar nicht da wäre – oder vielmehr, als ob sie etwas ganz Widerwärtiges wäre, das sie nicht verstehen konnte, eine Heuschrecke vielleicht.
„Was ist mit Wie – heißt – er – noch - mal, dein Freund – Hugo?“ „Macht Ferien auf Malle“, sagte Onkel Ralf barsch. „Ihr könntet mich einfach hier lassen“, schlug Cayenne vor (dann konnte sie endlich mal in der Stadt die Bücherei besuchen und sich so viel Zeit wie möglich nehmen um eins ihrer Lieblingsbücher zu lesen). Onkel Ralf schaute, als hätte er soeben in eine Zitrone gebissen. „Und wenn wir zurückkommen, ist die Haushaltskasse leer und die elektronischen Gegenstände sind längst auf E - Bay versteigert.
„Als ob die Sachen jemand kaufen würde“, flüsterte Cayenne, aber sie hörten ihr nicht zu.
„Ich denke, wir könnten sie mit ins Kino mitnehmen“, sagte Onkel Ralf langsam, …und sie im Warteraum lassen…“
„Sicher, dass sie dann die Fliege macht und hinterher unauffindbar ist…“
Kira begann laut zu Hyperventilieren. Das tat sie immer wenn sie merkte dass etwas aufgrund schief lief. „Meine kleine Kira…beruhig dich. Sie wird nicht deinen Geburtstag kaputtmachen!“, meinte Onkel Ralf und streichelte Kiras Schulter. „Ich…möchte…aber nicht das sie mitkommt….sie macht wieder alles kaputt…Ich brauche die Aufmerksamkeit aller…und sie mit ihrem Tattoo fällt sowieso überall wieder auf…“ Durch die Arme ihres Vaters hindurch warf Kira Cayenne ein gehässiges Grinsen zu.
In diesem Augenblick läutete es an der Tür – „Ach du liebes bisschen, da sind sie!“, rief Onkel Ralf hellauf entsetzt – und schon marschierte Kiras beste Freundin, Penelope Person, in Begleitung ihres Vaters herein. Penelope war ein dickes Mädchen mit einem Gesicht wie ein Clown. Meist war es Penelope, die den anderen Kindern die Köpfe in die Toilettenschüsseln steckte oder sich auf sie setzte, damit sie nicht weglaufen konnten.
Sofort hörte Kira mit dem Hyperventilieren auf.
Eine halbe Stunde später saß Cayenne, die ihr Glück noch nicht fassen konnte, zusammen mit Penelope und Kira hinten im Wagen, auf dem Weg zum ersten Zirkusbesuch ihres Lebens. Onkel und Tante war einfach nichts Besseres eingefallen, doch bevor sie aufgebrochen waren, hatte Tante Angelina Cayenne beiseite genommen.
„Ich warne dich“, hatte sie gesagt und war mit ihrem großen purpurroten Gesicht dem Cayennes ganz nahe gekommen, „ich warne dich jetzt, Mädchen – irgendwelche krummen Dinger, auch nur eine Kleinigkeit – und du hast Hausarrest bis Weinachten vorbei ist.“ „ich mach überhaupt nichts“, sagte Cayenne. „ehrlich…“
Doch Tante Angelina glaubte ihr nicht. Nie glaubte ihr jemand.

Das Problem war, dass oft merkwürdigen Dinge um Cayenne herum geschahen, und es hatte einfach keinen Zweck, ihrer Tante und ihrem Onkel zu sagen, dass sie nichts dafür konnte.
Einmal, als Cayenne wieder einmal nachsitzen musste, hatte sie etwas ausgesprochen was die Lehrerin gar nicht gesagt hatte, sie hatte es gedacht und Cayenne war voll drauf eingestiegen. Sie konnte sich nicht erklären, warum auf einmal so viele Fragen und Anschuldigungen auf sie einprasselten. Die Lehrerin war blass dabei geworden und hatte sie schließlich angeschrieen aus ihrem Kopf raus zu bleiben. Mittlerweile war die Lehrerin zu einer anderen Schule gewechselt. Dennoch hatte der Schulleiter bei ihrem Onkel und ihrer Tante angerufen, was 8 Wochen Hausarrest mit sich gezogen haben. Aber als würde sie auch ohne Hausarrest das Haus verlassen dürfen, was nicht der Fall war, also war die Strafe insofern keine.
Ein andermal hatte ihr Onkel sie geschlagen und eine Vase war hinter ihm zersprungen, dabei war niemand da gewesen die sie hätte runter schlagen können, und sie stand auch mitten auf dem Tisch, nicht am Rande wo sie hätte abrutschen können. Sachen solcher Art waren schon oft passiert, Fenster waren zu Bruch gegangen und einmal hatte sogar ein Fotorahmen mitten in der Luft gehangen auf dem die Familie ihres Onkel drauf zu sehen war, um wenig später gegen den Spiegel zu krachen und einen Haufen von Scherben zu hinterlassen.

Doch heute sollte nichts schief gehen. Um den Tag bloß nicht in der Schule, ihrem Zimmer oder in Mrs. Carsons nach Knoblauch riechendem Wohnzimmer verbringen zu müssen, nahm sie sogar die Gesellschaft von Kira und Penelope in Kauf.

Währen der Fahrt beschwerte sich Tante Angelina bei Onkel Ralf. Sie beklagte sich gerne: die Leute in der Nachbarschaft, Cayenne, der Stadtrat, Cayenne, die Bank und Cayenne waren nur einige ihrer Lieblingsthemen. Heute Morgen waren es die Tauben am Himmel.
„…machen überall Dreck wo es nur geht…diese Mistviecher.“ Als eine Taube direkt auf die Windschutzscheibe kackte.


Der Zirkusbesuch



Es war ein sehr sonniger Sonnabend und am Eingang der Zirkuskasse war viel los. Der bärtige Mann mit der Melone auf dem Kopf der drinnen saß zwirbelte jede Sekunde seinen Bart um seinen Finger und rief solche Sprüche wie: „Herzlich Willkommen im Bartelmäus Zirkus. 2,50 Bitte.“ Als Cayenne vorne stand sah der Mann sie aus seinen glasigen Augen an, als hätte er schon seit Jahren zu viel ins Alkoholglas gesehen. „2,50 die Dame“, sagte er in dem Moment als Onkel Ralf sie zurück zog und sagte: „Zwei Erwachsene und drei Kinder, bitte.“ Der Mann im Kassenhäuschen sah ihn desinteressiert an. „Aha. Das macht dann 19,00!“ Onkel Ralf erbleichte. „Hier“, meinte er und gab ihm die Karte. Der bärtige Mann spuckte aus. „Bares.“ Onkel Ralf steckte die Karte wieder ein. „Ähh, Liebes würdest du?“ Angelina seufzte und trat vor um zu bezahlen. Während die Erwachsenen die Karten holten ging Cayenne nach hinten um die Ecke. Etwas in ihr sagte ihr dass dort etwas auf sie wartete. Und so war es auch. Ein weißer Tiger lief ungeduldig in seinem Käfig umher. Er knurrte durchweg und seine Krallen schlurften laut über den Metallboden. „Du armer“, sagte sie und trat noch näher, als sie dann aber fast vor dem Gitter stand packte sie eine Hand. „Vorsicht Kind. Wenn du zu nah ran gehst verschlingt er dich durch die Gitter.“ Cayenne erkannte einen Jungen, in ihrem Alter. ER hatte einen Glitzer Anzug an und lächelte. „Ich bin Takeo, der Zauberkünstler hier. Und wie heißt du?“ Cayenne schmunzelte. „Cayenne O?Hion.“ „Cayenne? Das ist aber ein sehr schöner Name. Hast du schon mal Zauberer gesehen?“ Cayenne schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt war ich bisher noch nie in einem Zirkus.“ „Echt nicht?“, rief der Junge und schüttelte den Kopf. „Na dann, wünsche ich dir gleich viel Spaß. Meine Nummer kommt als letztes. Vielleicht sprechen wir uns dann noch mal.“ Mit diesem Satz verschwand er in einem Wohnwagen und Cayenne beeilte sich wieder zu Onkel und Tante zukommen. Diese hatten sie aber gar nicht vermisst, denn sie hatten Penelope und Kira einen riesengroßen Lolli gekauft, die jetzt genüsslich daran schleckten. „Kommt, es geht jetzt los“, rief Onkel Ralf und schleppte die Familie in das große Zirkuszelt. Cayenne war überwältigt, so viele Sitzbänke und Menschen. Eine Manege voller Sand. Ringe und seile an der Decke. Und ein Mann mit einer Peitsche stand in der Mitte mit einem Mikrofon. „Herzlich Willkommen meine Damen und Herren und liebe Kinder. Willkommen. Zu aller erst sehen wir die grazile Lady Diana mit ihrer Princess Snake.“ Dann klatschte er und Cayenne tat es ihm gleich wie der Rest der Leute. Sie hatten einen Platz direkt unten an der Manege bekommen. Kira und Penelope starrten wie gebannt auf die schlanke Frau die nun die Manege betrat. Aber wohl mehr die Pythonschlange um ihren Hals und ihrem Körper. Ein großes Wow ging durch die Reihen. Als die Frau an ihnen vorbei kam hatte Cayenne das Gefühl das es der Frau nicht gut ging. Ihre Stirn triefte vor Schweiß und ihre Hände zitterten. Fiel nur ihr es auf? Als sie sich auf das Geschehen wieder konzentrierte musste sie schmunzeln. Sie verbog sich und spielte mit der Schlange als wäre es ein Spielzeug. Aber irgendwas war faul. Doch dann war die Nummer wieder vorbei und Cayenne sah sich noch die Seiltänzer an, die ebenfalls so ein verkniffenes Gesicht machten, als wäre ihnen nicht wohl bei der Sache hier zu sein. Dann die Clowns mit den Pferden, Hunden und Akrobaten. Dann kam der Chef wieder mit einem Tiger. Es war nicht der aus dem Käfig aber dieser hier schien leicht schläfrig, so dass Cayenne sich entschied auf die Toilette zu gehen. Weil Onkel und Tante eingeschlafen waren und Penelope und Kira mit den Jungs neben sich flirteten fiel ihr Verschwinden gar nicht auf. Als sie auf der Suche nach den Toiletten ein Flüstern hörte blieb sie stehen. Dem dicken bärtigen Mann aus dem Kassenhäuschen stand nicht weit entfernt und neben ihm ein großer schlanker Mann im Clownskostüm. „Das kannst du nicht zulassen, Björn. Mein Junge kann das nicht. Er macht nur Tricks. Er ist kein Zauberer. Du kannst den Tiger nicht zu ihm in die Manege lassen. Er wird den Jungen zerfetzen. Du weißt doch was mit Lady Diana passiert ist, letzte Woche. Sie wurde von der Schlange gebissen. Gott sei gedankt dass sie ohne Gift gebissen hat. Aber diesen Tiger, dort reinzuschicken wo Kinder sind. Das ist wahnsinnig.“ Cayenne biss sich auf die Lippe. Was wollte der dicke Mann denn. Die antwort kam sofort. „Der Tiger ist wild. Der Junge wird ihm mit den Gedanken befehlen seinen Worten zu gehorchen. ER schafft das schon.“ Cayenne ging schnell auf das Klo. Was sie gehört hatte war erschütternd. Takeo sollte mit dem Tiger zusammen arbeiten. Würde er das tatsächlich überleben oder draufgehen wie der Clown befürchtete. Schnell lief sie wieder ins Zelt und sah es. Die Katastrophe die bald über sie alle hereinbrechen würde. Der Tiger lief unruhig auf und ab. Nur die Peitsche verhinderte sein totales Ausbrechen. Takeo stand neben ihm und schwang sie. „Meine Damen und Herren, ich werde ihnen heute mit diesem weißen Tiger zeigen was Magie alles bewirken kann“, Cayenne setzte sich wieder auf ihren Platz und stützte die Hände auf die Knie als Penelope sie anstieß und fragte: „Was ist los? Hast du schlecht gekackt?“ Dann lachte sie lauthals und stieß Kira an, die gluckste. „Ja, genau“, murmelte Kira und sie wandten sich dann wieder den Jungen neben sich zu. Cayenne beobachtete Takeo und sah, wie dieser bunte Tücher, aus seinen Ärmel zog und diese um den Hals des Tigers band. „Nun, meine Damen und Herren, liebe Altersgenossen und Kleinkinder kommt der Augenblick auf den sie alle gewartet haben.“ Cayenne drückte ihm die Daumen. Zuerst ging noch alles gut, der Tiger setzte sich auf den Hocker auf den Takeo deutete und stieg hoch auf zwei Pfoten. ER drehte sich im Kreis und sah in die Manege und brüllte laut. Das Publikum klatschte. Der Tiger sprang durch brennende Reifen und kam wieder unten auf dem Sand auf. Als er im Kreis in der Manege an der Wand entlanglief passierte es. Takeo passte nicht auf und drehte sich mit dem Rücken zu ihm. Kira ging an ihr Telefon das lauthals schrillte und der Tiger verdrehte die Augen zum Weißen hin. Er sprang und riss den Mantel von Takeo auf. Der Junge fiel um und der Tiger auf ihn. IN einer Sekunde war die gesamte Menschenmenge am Schreien. Die Statisten rannten wild umher, der Chef versuchte mit der Peitsche das Vieh zu besänftigen aber es sah nicht gut aus für Takeo. Cayenne wusste nicht was sie tun konnte, um den Jungen das Leben zu retten als sie über die Absperrung sprang und zu ihnen lief. Rufe wie: „Holt das Mädchen da weg.“ „Oh mein Gott.“ „Vorsicht Kleine“ hielten sie nicht auf. Sie streckte die Hand aus und dachte ganz fest daran dass der Tiger sie nicht beißen würde. Sie ergriff seinen Schwanz und zog daran. Augenblicklich lies der Tiger den Jungen los. Dieser lag bewusstlos und voller Blut über seinen Beinen und am Rücken auf dem Boden. Als der Tiger sich Cayenne zuwandte gefror ihr das Herz. Dieser Tiger war blind. Er roch nur. Kein wunder das ihn das Geräusch erschreckt hatte. Vielleicht war es nicht gewohnt in der Manege zu sein. Der Chef des Zirkus zog den Jungen aus dem Kreis und brachte ihn nach draußen. „Mädchen, beweg dich nicht“, schrie der Clown von vorhin und kam auf sie zu. „Nein“, bleiben Sie stehen“, rief Cayenne und streckte die Hand aus. Der Clown blieb stehen. „Aber.“ „Nein“, sagte sie. Der Tiger sah sie mit geblähten Nüstern an. „Bleib ruhig.“ Mahnte sie sich selber und sah aus den Augenwinkeln die bösen funkelnden Augen von Kira, und ihrer Tante. In denen schon das Versprechen für den Hausarrest schimmerte. Sie wandte sich wieder an dem Tiger. *Bitte, beruhige dich. Ich tue dir nichts. Niemand tut dir was*. Sie hatte niemals mit einer Antwort gerechnet. Aber diese kam. *Angst. Tierische Angst. Folter. Tod. Nicht sterben. Solche Schmerzen*. Obwohl es nur Unzusammenhängende Worte waren verstand Cayenne. „Hören sie auf ihn zu schlagen.“ Der Clown konnte nicht glauben was er dort sah. Das Mädchen kommunizierte auf mentaler Ebene mit dem Tiger. Sie hatte ihn voll unter Kontrolle. Wie ging das`? Die Menschen waren erstarrt in ihren Bewegungen niemand rührte sich. Cayenne ging noch näher an den Tiger heran. *Beruhige dich,* dachte sie und strich ihm nun über die Nüstern. *Spürst du. Ich tue dir nichts. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Komm mit*, befahl sie ihm liebe voll und führte ihn am Hals entlang streichelnd aus der Manege. Die Leute aus den Publikumsreihen klatschten. „Sie hat es tatsächlich geschafft.“ „Ein kleines Mädchen“. Hörte sie. Die Leute des Zirkus sahen sie mit Schreckensweiten Augen an. „Führ ihn hier herein.“, sagte der Clown und öffnete den Käfig. Als der Tiger wieder sicher ihn ihm verwahrt war lächelte Cayenne und drehte sich zu dem Clown um. „Danke“, sagte er. Sie: „Keine Ursache. Ich weiß nicht mal wie ich das geschafft habe. Es war nur so das der Tiger blind ist und nicht…“ „Er ist blind? Bist du dir sicher?“ „Ja, ich sehe es an seinen Augen. Wusstet ihr das nicht?“, fragte Cayenne und der Clown schüttelte den Kopf. „Er ist noch nicht so lange bei uns:“ „Wie geht es Takeo?“, fragte Cayenne und der Clown wurde weiß. „ER ist auf dem Weg ins Krankenhaus. ER hat schon so viel Blut verloren, die Sanitäter sagen nur ein wunder könnte ihn noch am Leben lassen.“ „Das tut mir leid für ihren Sohn.“ „Woher?“, stockte der Clown und schüttelte dann den Kopf: „Kleine. Versprich mir. Rettest du noch mehr Menschen mit deiner einzigartigen Gabe? Damit könntest du diese Welt um Welten besser machen. Hier, das schenke ich dir.“ Cayenne starrte auf das Armband aus silbernen Clownen als Anhänger. „Dankeschön“, sagte sie. „Das ist zwar um weiten nicht das was du für diese Rettung uns aller verdient hast aber wir haben leider nicht sehr viel wert Bares.“ Cayenne strich über die grazilen Figuren und lächelte. „Sie sollten es behalten. Es ist das einzige was sie von ihr noch haben, oder?“ Sie wusste nicht wie sie darauf kam das dies ein Geschenk seiner Frau war aber sie tat es. Der Clown lachte und drückte ihre Finger um das Armband. „Nein, sie hätte gewollt dass du es bekommst. Du hast Takeo geholfen. Wir sind stolz auf dich.“ In diesem Moment kreischte eine Stimme. „Cayenne du kleines Miststück wo steckst du! Du kommst auf der Stelle hierher, sonst kannst du was erleben.“ Der Clown wurde bleich. „Du musst wohl gehen was?“ „Ja, aber danke für das Armband.“ „Danke dir für dieses Erlebnis.“ Er winkte und verschwand wieder im Zelt. Cayenne beeilte sich wieder zu ihrem Onkel und ihrer Tante zu kommen, das Armband steckte sie in ihre Socke, sonst würde Tante oder Onkel es ihr bestimmt wieder entreißen. Dabei dachte Cayenne, warum passierten immer ihr solche Dinge?

Als sie wieder alle im Wagen saßen, erzählte Kira, der Tiger hätte ihr so bösartig in die Augen gesehen, als verspräche er ihr sie würde als nächstes sterben, während Penelope schwor, sie hätte genau gesehen wie Cayenne mit einem Schnipsen ihrer Finger den Tiger von dem Jungen gelöst hatte. Doch am schlimmsten für Cayenne war, das Penelope, als sie sich ein wenig beruhigt hatte sagte: „Cayenne hat mir ihm gesprochen, nicht wahr, Cayenne?“ Tante Angelina wartete, bis Penelope endgültig aus dem Haus war, bevor sie sich Cayenne vorknöpfte. „Du hast den Tiger auf den Jungen gehext. Und stellst dich dann als Retterin da. So was Niederträchtigeres wie dich habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Geh auf dein Zimmer und wehe du blickst dich unten, dann reiße ich dir deine Ohren ab, so wahr ich hier stehe.“
Cayenne lag noch lange wach in ihrem dunklen Zimmer. Hätte sie doch nur eine Uhr, aber Tante Angelina hatte alles was mit Zeitangaben zu tun hatte aus dem Zimmer entfernt, damit es ewig dauern würde, jedenfalls in der Einstellung. Sie wusste nicht, wie spät es war, und sie war sich nicht sicher, ob die O’Hions, schon schliefen. Bis es so weit war, konnte sie es nicht riskieren, in die Küche zu schleichen und sich etwas zu essen zu holen. Fast 14 Jahre lebte sie nun bei ihrer Tante und ihrem Onkel, solange sie sich erinnern konnte, und es waren 14 elende Jahre gewesen. Schon als Baby war sie zu ihnen gekommen, denn ihre Eltern waren bei einem Anschlag gestorben. Sie konnte sich nicht erinnern, bei dem Anschlag dabei gewesen zu sein, als der Unfall passierte. Manchmal, wenn sie sich während der langen Stunden in ihrem Zimmer ganz angestrengt zu erinnern suchte, tauchte ein unheimliches Bild vor ihrem Auge auf: blutige Augen die sie anstarrten und dann solche Schmerzen in ihrem Kopf als würde ihr jemand die Seele entreißen wollen. Obwohl dies wohl eher das Tattoo auf ihrer Stirn war, das ihr gestochen worden war. Sie konnte sich überhaupt nicht an ihre Eltern erinnern. Onkel und Tante sprachen nie über sie, und natürlich war es ihr verboten, Fragen zu stellen. Im Haus gab es auch keine Fotos von ihnen.
Als Cayenne noch jünger gewesen war, hatte sie immer und immer wieder von einer unbekannten Verwandten geträumt, die kommen und sie mitnehmen würde, aber das war nie Wirklichkeit geworden; die O’Hions waren alles, was sie noch an Familie hatte. Doch manchmal hatte sie den Eindruck (oder vielmehr die Hoffnung), dass Unbekannte auf der Straße sie zu kennen schienen. Sehr merkwürdige Unbekannte waren das übrigens. Einmal, als Onkel Ralf und Kira beim Einkaufen war, hatte sich eine kleine Frau mit einem grünen Gewand vor ihr verneigt. Onkel Ralf fragte Cayenne entsetzt, ob sie die Frau kenne und schubste Kira und sie hastig aus dem Laden, ohne etwas zu kaufen. Und eine große schlanke Frau mit einem langen feuerroten Umhang hatte ihr doch tatsächlich mitten auf der Straße die Hand geschüttelt und war dann ohne ein Wort zu sagen weitergegangen. Das Seltsamste an all diesen Leuten war, dass sie zu verschwinden schienen, wenn Cayenne versuchte sie genauer anzusehen. IN der Schule hatte Cayenne niemanden. Jeder wusste, dass Kiras Clique diese komische Cayenne O’Hion mit ihren grauen Augen und diesem komischen Tattoo, und niemand mochte Kiras Clique in den Weg kommen. So verbrachte Cayenne die Nacht damit mit dem Armbändchen zu spielen und vor sich hin zu summen.


Die Presse - wie nervig sie doch ist



Die Rettung des Jungen vor einem weißen Tiger hatte Cayenne die bisher längste Strafe eingebracht. Als sie ihr Zimmer wieder verlassen durfte, hatten die Sommerferien begonnen. Kira hatte ihre neue Singstar Station schon längst zertrümmert und ihren Schminktisch verdreckt, so dass er nun in allen Farben leuchtete.
Cayenne war froh, dass die Schule zu Ende war, doch Kiras Bande, die das Haus Tag für Tag heimsuchte, konnte sie nicht entkommen. Penelope, Dora, Melanie und Gabi waren allesamt klein und dumm, doch weil Kira die Dümmste von allen war, war sie ihre Anführerin. Die andern schlossen sich mit ausgesprochenen Vergnügen Kiras Lieblingssport an: Cayenne jagen.
Deshalb verbrachte Cayenne möglichst viel Zeit außer Haus und wanderte durch die Straßen. Das baldige Ende der Ferien war ein kleiner Hoffnungsschimmer. Im August würde sie auf die höhere Schule kommen und zum ersten Mal im Leben nicht mehr mit Kira zusammen sein. Kira hatte einen Platz an Tante Angelinas alter Schule, Claudius Froh Schule. Auch Penelope Person ging dorthin. Cayenne dagegen kam in die Sonderschule, die unterste Rubrik an Schulen in der Nachbarschaft. Kira fand das sehr lustig.
„In der Sonderschule stecken sie die Neuen am ersten Tag den Kopf ins Klo“, eröffnete sie Cayenne. „Willst du mit hochkommen und schon mal üben?“
„Nein, danke“, sagte Cayenne. „Das arme Klo hat noch nie etwas so fürchterliches wie deinen Kopf geschluckt – vielleicht wird ihm schlecht davon.“ Dann rannte sie los, bevor sich Kira einen Reim daraus machen konnte.
Eines Tages im Juni nahm Onkel Ralf Kira mit nach Berlin, um dort die Schuluniform für die Claudius Froh Schule zu kaufen, und ließ Cayenne bei Mrs. Cats zurück. Mrs. Cats war nicht mehr so übel wie früher. Cayenne erfuhr, dass sie sich den Arm gebrochen hatte, als sie über eine ihrer Hunde gestolpert war, und inzwischen schien sie von ihnen nicht mehr ganz so angetan zu sein. Sie ließ Cayenne fernsehen und reichte ihr ein Stück Schokoladenkuchen, der schmeckte, als hätte sie zuviel Zucker verwendet.
An diesem Abend stolzierte Kira in ihrer neuen Uniform unter den Augen der Eltern im Wohnzimmer umher. Die Mädchen in der Claudius Froh Schule trugen schwarze Röcke, graue Pullunder und weiße Hemden darunter. Einen Schlips in den Farben schwarz und grau gab es auch. Dazu trug sie eine Strumpfhose und ihr Aussehen war perfekt. Ihre Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengefasst.

Tante Angelina musterte Kira in den neuen Sachen und grummelte etwas vom stolzesten Augenblick ihres Lebens. Onkel Ralf brach in Tränen aus und sagte er könnte es einfach nicht fassen, das dies ihre süße kleine Kira - maus sei, so hübsch und erwachsen wie sie aussehe. Cayenne wagte nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Womöglich hatte sie sich schon zwei Rippen angeknackst vor lauter Anstrengung, nicht loszulachen.

Am nächsten Morgen, als Cayenne zum Frühstück in die Küche kam, schlug ihr ein fürchterlicher Gestank entgegen. Offenbar kam er von einer großen Emailschüssel in der Spüle. Sie trat näher, um sich die Sache anzusehen. In dem grauen Wasser der Schüssel schwamm etwas, das aussah wie ein Bündel schmutziger Lumpen.

„Was ist das denn?“, fragte sie Onkel Ralf. Er kniff die Lippen zusammen, wie immer, wenn sie eine Frage zu stellen wagte.
„Deine neue Schuluniform“, sagte er.
Cayenne warf noch einen Blick in die Schüssel.
„Aha, ich wusste nicht dass sie eingeweicht werden muss.“
„Stell dich nicht so dumm an“, brüllte Onkel Ralf. „Ich färbe ein paar alte Sachen grau für dich. Die sehen dann genauso aus wie die der anderen.“
Cayenne stellte sich die Frage, wieso man die Sachen von Kira denn noch ausbleichen müsste. Sie trug doch eh schon schwarz. Sie setzte sich an den Tisch und versuchte nicht daran zu denken, wie sie an ihrem ersten Schultag in der Sonderschule aussehen würde – vermutlich wie eine, die ein paar Fetzen alter Elefantenhaut trug.

Kira und Tante Angelina kamen herein und beide hielten sich beim Gestank von Cayennes neuer Uniform die Nase zu. Tante Angelina schlug wie immer die Zeitung auf, und Kira pflanzte sich laut auf einen der Küchenstühle. Die Klappe des Briefschlitzes quietschte und die Post klatschte auf die Türmatte. „Hol die Post, Kira“, sagte Tante Angelina hinter ihrer Zeitung hervor. „Soll doch Cayenne sie holen“. „Hol die Post Cayenne“.
Ohne eine Erwiderung zu geben lief Cayenne zur Tür. Hier nutzten keine Ausreden oder Erwiderungen. Wenn sie sagten sie solle die Post holen, sollte sie das auch schleunigst tun. Ansonsten gebe es wieder Hausarrest.

Auf der Türmatte lagen 3 Briefe: ein Postkarte von Tante Angelinas Bruder, der Ferien auf Mallorca machte, wie jedes Jahr, ein brauner Umschlag, der wohl eine Rechnung enthielt, und – ein Brief für Cayenne.
Cayenne hob ihn auf und starrte den Umschlag an. Ihr Herz schwirrte wie ein riesiges Gummiband. Niemand hatte ihr je in ihrem Leben einen Brief geschrieben. Aber als sie den Stempel Abdruck sah seufzte sie. Neuer Ärger war wieder im Anmarsch. Der Post kam von der Zeitungsredaktion. Sie konnte sich denken weshalb. In dem Moment als sie ihn schon öffnen wollte, schrie Tante Angelina: „Beeil dich, Gör!“ „Was machst du da draußen eigentlich, Briefbombenkontrolle?“ Sie gluckste über ihren eigenen Scherz. Cayenne kam in die Küche zurück, den Blick unverwandt auf den Brief gerichtet. Sie reichte Tante Angelina die Rechnung und die Postkarte, setzte sich und begann langsam den Brief von der Zeitungsredaktion zu öffnen. Tante Angelina riss den Brief mit der Rechnung auf, schnaubte vor Abscheu, und überflog die Postkarte.
„Heinrich ist krank“, teile sie Onkel Ralf mit. „Hat eine faule Muschel gegessen.“
„Mum!“, schrie plötzlich Kira. „Mum, Cayenne hat etwas!“ Cayenne war gerade dabei, den Brief zu entfalten, der denselben Stempel trug, als Tante Angelina ihr das Blatt aus der der Hand riss. Cayenne erstarrte. Sie las den Brief und lachte. „Ach ne. Das ist von der Zeitungsredaktion, sie wollen ein Interview mit ihr haben. Nun dass kannst du dir abschminken du lausiges Gör. Hörst du. Hier Schatz“, sagte Tante Angelina zu ihrer Tochter und Kira zerriss den Brief in ihren Händen. „Und wehe du nimmst ohne unsere Erlaubnis Kontakt zu diesen Leuten auf. Diese Leute können ein das leben nur verunstalten. Verstanden?“, brüllte Tante Angelina und Cayenne konnte nur nicken. Das war’s dann wohl, dachte Cayenne und trollte sich aus der Küche hinaus.

Als Onkel Ralf an diesem Abend vom Büro zurückkam, tat er etwas, was er nie zuvor getan hatte: er besuchte Cayenne in ihrem Zimmer.
„Also, du wirst nun folgende Regeln einhalten verstanden:
1. du gehst nicht mehr zum Postboten um die Post für uns abzugeben
2. du brauchst die Post nicht mehr von unserer Türmatte holen
3. verstößt du gegen diese Regeln und solltest dennoch bei der Post oder der Zeitung auflaufen, wirst du deinen Hausarrest des Lebens erleben.
Haben wir uns verstanden?“ Cayenne konnte fast nicht glauben dass er wirklich nur wegen den Regeln die Treppen zu ihrem Zimmer hinauf gestakst kam. „In Ordnung.“, flüsterte Cayenne und wusste, dieses Thema war hiermit beendet. Und so verließ er ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Am nächsten Morgen beim Frühstück waren alle recht schweigsam. Onkel und Tante sahen Cayenne böse an. Dabei hatte diese diesen Tag noch nicht mal den Mund aufgemacht, geschweige denn sie irgendwie schief angesehen. Aber sie wusste für diese bösen Blicke brauchte sie nur hier sitzen und existieren. Die Post kam und Tante Angelina, die offenbar versuchte nett zu Cayenne zu sein, ließ Kira aufstehen und sie holen. Sie konnten sie hören, wie sie den ganzen Flur entlang meckerte. Dann rief sie: „Scheiß Presse. Ist schon wieder ein Brief dabei.“ Mit einem erstickten Schrei sprang Tante Angelina von ihrem Stuhl hoch und rannte in den Flur. Kira sah sie überrascht an und übergab den Brief. „Das darf wohl nicht wahr sein. Cayenne du hast Hausarrest. Du hast gegen die Regeln die wir dir gegeben haben verstoßen. Marsch nach oben. Frühstück ist verboten.“ Cayenne sah traurig aus als sie mit hängenden Schultern an ihnen vorbei lief. Sie hatte nichts dergleichen getan, aber schon seit langer Zeit hatte sie aufgeben, je fair behandelt zu werden. Diese Zeit war vorbei, seit die unheimlichen dinge passierten.

Am Freitag kamen nicht weniger als 12 Briefe für Cayenne. DA sie nicht in den Briefschlitz passten, waren sie unter der Tür durchgeschoben, zwischen Tür und Rahmen geklemmt oder durch das kleine Fenster der Toilette im Erdgeschoss gezwängt worden. Diesmal landeten die Briefe im Kamin.

Am Sonntagabend gerieten die Dinge außer Kontrolle. 24 Briefe für Cayenne fanden den Weg ins Haus, zusammengerollt im Innern der zwei Dutzend Eier versteckt, die der völlig verdatterte Milchmann Onkel Ralf durch das Wohnzimmerfenster hineingereicht hatte. Während Tante Angelina wütend beim Postamt und bei der Molkerei anrief und versuhcte jemanden aufzutreiben, bei dem sie sich beschweren konnte, zerschnitzelte Onkel Ralf die Briefe in seinem Küchemixer.
„Wer zum Teufel von der Zeitung ist so hartnäckig um mit dir Gör ein Interview zu führen. Ich spüre was, irgendwas ist an der Sache faul“, sagte Kira zu Cayenne.

Als sich Tante Angelina am Sonntagmorgen an den Frühstückstisch setzte, sah sie müde und ziemlich erschöpft, aber glücklich aus.
„Keine Post am Sonntagen“, gemahnte sie sie fröhlich, währen sie ihre Zeitung mit Marmelade bestrich, „keine verfluchten Briefe heute ..“
Während sie sprach, kam etwas pfeifend den Küchenkamin heruntergesaust und knallte gegen ihren Hinterkopf. Einen Augenblick später kamen 30 oder 40 Briefe wie Kugeln aus dem Kamins geschossen. Cayenne wurde nun klar, das diese Briefe niemals von der Zeitungsredaktion kommen konnten. Und sie wusste auch das sie für diesen Schlamassel eine Strafe erwarten konnte. Es kam aber anders:

Tante Angelina schrie schließlich: „Es reicht. Ich möchte, dass ihr euch alle in 5 Minuten hier einfindet, bereit zur Abreise. Wir gehen. Packt ein paar Sachen ein. Und keine Widerrede!“
Mit nur einen halben Schnurrbart, den sie sich vorhin vor lauter Ärger ausgerissen hatte sah sie so gefährlich aus, dass niemand ein Wort zu sagen wagte. 10 Minuten später hatten sie sich durch die Tür gezwängt, saßen im Wagen und sausten in Richtung Autobahn davon. Auf dem Rücksitz wimmerte Kira vor sich in, ihre Mutter hatte ihr links und rechts eine geknallt, weil sie sie aufgehalten hatte mit dem Versuch ihren Laptop, ihre Stereoanlage und ihr I Pad in ihre Sporttasche zu packen.
Sie fuhren. Und sie fuhren. Selbst Onkel Ralf wagte nicht zu fragen, wo sie denn hinfuhren. Hin und wieder machte Tante Angelina scharf kehrt und fuhr dann eine Weile in die Entgegengesetzte Richtung.
„Schüttele sie ab…schüttele sie ab“, murmelte sie immer dann, wenn sie umkehrte.
Den ganzen Tag über hielten sie nicht einmal an, um etwas zu essen oder zu trinken. Als die Nacht hereinbrach, war Kira am Brüllen. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so einen schlechten Tag gehabt. Sie war hungrig, sie hatte 5 ihrer Lieblingssendungen verpasst, und sie hatte noch nie so lange Zeit verbracht, ohne am Laptop mit Jungs zu schreiben. Endlich machte Tante Angelina vor einem düster aussehenden Hotel am Rande einer großen Stadt Halt. Kira und Cayenne teilten sich ein Zimmer mit Doppelbett und feuchten, modrigen Decken. Kira schnarchte, aber Cayenne blieb wach. Sie saß an der Fensterbank, blickte hinunter auf die Lichter der vorbeifahrenden Autos und dachte lange nach wer die Briefe verschickte, denn eins war ihr nun eindeutig klar geworden. Tante und Onkel wussten dass die Briefe nicht mehr von der Zeitungsredaktion kamen. Jemand versuchte in Kontakt mit Cayenne zu treten. Nur wer? Ihre Frage sollte bald beantwortet werden.


Butterlilie explodiert


Als Cayenne auf die große Uhr an der Wand blickte sah sie wie spät es schließlich war. In 10 Minuten würde Cayenne 15 werden. Sie saß immer noch auf der Fensterbank und sah zu wie ihr Geburtstag tickend näher rückte. Ob Onkel und Tante überhaupt an sie denken würden, fragte sie sich. Wo der Briefschreiber jetzt wohl war?
Noch 5 Minuten. Cayenne hörte draußen etwas knacken, direkt unterm Fenster.
Noch 4 Minuten. Vielleicht war das Haus an der Silvertstraße, wenn sie zurückkamen so voll gestopft mit Briefen, dass sie auf die eine oder andere Weise einen davon stibitzen konnte.
Noch 3 Minuten. War es der Himmel, der so verärgert war das er die Regentropfen mit Gewalt gegen das Fenster schlug? War jemand vielleicht oben böse auf die Welt?
Noch eine Minute und sie war 15.
30 Sekunden…20…10…9… vielleicht sollte sie Kira aufwecken, einfach um sie zu ärgern…3…2…1…
Sie schrie. Ein Gesicht mit goldenen Augen starrte sie von der gegenüberliegenden Seite des Fensters an. Cayenne hielt geschockt den Atem an. Kira war aus dem Bett gesprungen und hatte sich wie eine Maus hinter es versteckt. „Was ist denn los?“, keuchte sie und starrte auf das Fenster. Das Gesicht mit den goldenen Augen lächelte und nun schob sich der Riegel vor dem Fenster auf. Cayenne wich zurück. Eine kleine Frau betrat ihr Zimmer, mit goldenen Flügeln, goldenen Augen und so bleicher Haut das sie aussah wie eine Porzellanpuppe. Ihr rosaroter Mund öffnete sich: „Ich habe dich lange nicht mehr gesehen, Cayenne.“
In dem Moment öffnete sich die Tür und Onkel und Tante traten hinein. „Wer ist da?“, schrie Tante Angelina und kam keuchend und stampfend auf das Wesen mit den Flügeln zu. „Sie kennen mich nicht, aber ich war diejenige die Cayenne bei ihnen hinterlassen hat.“ Tante Angelina verzog den Mund. „Sie mit ihren bescheuerten Briefen.“ Cayenne erstarrte. Das Wesen mit den Flügeln und der bleichen Haut hatte ihr geschrieben? Wieso?
Das Wesen sah zu Cayenne und sagte: „Letztes Mal als ich dich gesehen habe, warst du noch ein Baby. Du siehst deiner Mutter mächtig ähnlich, aber die Augen hast du von deinem Vater.“ Tante Angelina gab ein merkwürdig rasselndes Geräusch von sich. „Ich verlange, dass sie auf der Stelle verschwinden.“
„Ach, halten sie den Mund, Angelina mit dem Damenbart.“ Sie streckte die Hand nach Cayennes Tante aus und fuhr über ihre Gestalt. Es schien als leuchtete Angelina kurz und würde dann erstarren. Sie stand nun mit offenem Mund vor ihnen, die Augen glänzend wie eine Statue. Onkel Ralf war wie erstarrt. Seine Frau stand da wie ein Eisklotz. „Dir jedenfalls Cayenne“ sagte sie und kehrte Onkel und Tante den Rücken zu, „einen sehr herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Hab hier etwas für dich – vielleicht ist es ein wenig zu süß aber ich hoffe du nimmst mir meine Backkenntnisse nicht so übel.“ Aus einem Leinensack an ihrer Hüfte zog sie eine etwas kleine verpackte Schachtel hervor. Cayenne öffnete sie mit zitternden Fingern. Ein kleiner, klebriger Schokoladenkuchen kam zum Vorschein, auf dem mit rosa Zuckerguss Herzlichen Glückwunsch Cayenne geschrieben stand.

Cayenne sah zu dem Flügelwesen hinunter. Sie wollte eigentlich danke sagen, aber auf dem Weg zum Mund gingen ihr die Worte verloren, und stattdessen sagte sie: „Wer bist du?“
Das Flügelwesen gluckste.
„Wohl wahr, hab mich nicht vorgestellt. Butterlilie, Feenelfe am Rande des Waldes von Heavenshall.“
Sie streckte die kleine zierliche Hand aus und schüttelte Cayennes. Die Feenelfe ging auf das Bett zu und ließ sich nieder. „Oh tut gut mal wieder zu sitzen. Du weißt gar nicht wie anstrengend das Fliegen immerzu ist.“ Kira stand auf und lief zu ihrem Dad. „Dad, was ist das?“, deutete sie mit ihren Finger auf Butterlilie und schluchzte. Butterlilie betrachtete sie. „Wenn du etwas netter wärst, würde es dir auf keinen Fall schaden.“ Damit sah sie wieder lächelnd zu Cayenne hinüber. „Ich bin sicher du weißt warum ich hier bin. Und sicher weißt du auch schon alles über Heavenshall.“
„Ähh…nein“, sagte Cayenne, der diese Namen echt nichts sagten.
Butterlilie sah schockiert aus.
„tut mir Leid“, sagte Cayenne rasch.
„Tut dir leid?“, fauchte Butterlilie und wandte sich zu Onkel und Tante um mit einem Blick, der Onkel Ralf und Kira in die schatten zurückweichen ließ. „Denen sollte es leid tun. Ich wusste, dass du deine Briefe nicht kriegst, aber ich hätte nie gedacht, dass du nicht mal von Heavenshall weißt, das is ja zum Heulen! Hast du dich nie gefragt, wo deine Eltern ihre Gaben erlernt und kontrolliert haben?“
„Alles was?“, fragte Cayenne und hatte ein ungutes Gefühl, das diese Feenelfe gleich durchdrehen würde.
„Alles was?“, donnerte sie nun auch schon. „Nun mal langsam!“ sie war aufgesprungen und flatterte nun einige Meter über ihren Köpfen. „Wollt ihr mir etwa sagen, dass dieses Mädchen…dieses Mädchen! Nichts von…von nichts weiß?
Cayenne schluckte. Hatte es einen Grund weshalb all diese merkwürdigen Dinge geschahen.
Onkel Ralf kauerte sich an die Wand, neben ihm Kira gut erkennbar.

„Wollt ihr mir sagen, sie weiß nichts über unsere Welt. Ihre Welt. Meine Welt. Die Welt ihrer Eltern.“
„Welche Welt?“, fragte Cayenne verunsichert. Gab es noch andere?
Butterlilie sah aus, als würde sie gleich explodieren. Ihre bleiche Haut warf rote Flecken, und ihr Mund war fauchend verzogen, dabei zeigten sich an den Ecken ihrer Mundwinkel spitze Zähne. Wie es schien war sie sehr wütend.
„Ralf Olaf O’Hion“, dröhnte sie.
Onkel Ralf, der ganz blass geworden war, flüsterte etwas, das sich anhörte wie „Nix gewusst“. Butterlilie starrte Cayenne mit wildem Blick an.
„Aber du musst doch von Mum und Dad wissen“, sagte sie. „Ich meine, sie sind berühmt. Du bist berühmt.“
„Was? Mum und Dad waren doch nicht berühmt, das hätte ich gewusst…“
„Du weißt es nicht…du weißt es nicht…“ Butterlilie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und fixierte Cayenne mit einem bestürzten Blick.
„Du weißt nicht, was du bist?“, sagte sie schließlich.
Onkel Ralf fand plötzlich seine stimme wieder.
„Aufhören!“, befahl er, „hören Sie sofort auf Madam! Ich verbiete Ihnen, dem Gör irgendetwas zu sagen!“
Auch ein mutigerer Mann als Ralf O’Hion wäre unter dem zornigen Blick Butterlilies zusammengebrochen; als Butterlilie sprach, zitterte jede Silbe vor Entrüstung.
„Du hast es ihr nie gesagt? Ihr nie gesagt, was in den Brief stand, den Dr. Angel Mavelius für sie dagelassen hat? Ich war auch dabei! Ich hab gesehen, wie Dr. Mavelius sie dort hingelegt hat, O’Hion! Und du hast ihn Cayenne all die Jahre vorenthalten?“
„Was vorenthalten?“, fragte Cayenne begierig.
„AUFHÖREN! ICH VERBIETE ES IHNEN!, schrie Onkel Ralf in Panik.
Kira schnappte vor Schreck nach Luft.
„Ach, ich verschwende meinen Sternenstaub doch nicht mehr an euch, Blitzbirnen.“, sagte Butterlilie. „Cayenne du bist ein Medium.“

In der Hütte herrschte mit einem Mal Stille. Nur der Sturm draußen vor dem Fenster war noch zu hören.
„Ich bin ein was?“
„Ein Medium, natürlich“, sagte Butterlilie und setzte sich wieder auf das Bett, das kaum nachgab unter ihrem Gewicht. „Und eine verdammt gute noch dazu, würde ich sagen, sobald du mal ein bisschen Übung hast. Was solltest du auch anders sein, mit solchen Eltern wie deinen`? Und ich denk, es ist an der Zeit das du deinen Brief liest.“
Cayenne streckte die Hand aus und nahm endlich den Brief in die Hand. Dieser war ganz anders als der von der Zeitungsredaktion, der gar nicht von ihnen war. Er war in blassblauer Schrift adressiert an:

Mrs. Cayenne O’Hion
Die Fensterbank
Hotel
Am Rande der Stadt

Sie zog den Brief aus dem Umschlag und las:

Heavenshall Schule für Elementbeschwörer und Mediums
Schulleiterin: Dr. Dr. Mavelius

Sehr geehrte Mrs. O’Hion,
wir freuen uns, Ihnen mitzuteilen, dass Sie an der
Heavenshall Schule für Elementbeschwörer und Geistbeschwörer (Mediums) aufgenommen sind. Beigelegt finden Sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände.
Das Schuljahr beginnt am 1. September. Wir erwarten Ihren Falken
Spätestens am 31. Juli.

Mit freundlichen Grüßen

Professor Tiberius
Stellvertretender Schulleiter

Wie ein Feuerwerk explodierten Fragen in Cayennes Kopf, und sie konnte sich nicht entscheiden, welche sie zuerst stellen sollte. Nach ein paar Minuten stammelte sie: „Was soll das heißen, sie erwarten meinen Falken?“
„Ach du Scheiße, da fällt mir doch ein…“, sagte Butterlilie und schlug mit ihrer kleinen Hand gegen ihre Stirn. Aus dem kleinen Leinensack holte sie eine Pfeife hervor. Als sie sie blies, kam mit einem lauten Vogelschrei ein kleiner brauner Falke durch das offene Fenster geschossen. Ein echter, lebender, recht zerzaust aussehender Falke – sowie die Pfeife zog sie einen langen Federkiel und eine Pergamentrolle aus dem Sack. Mit der Zunge zwischen den Lippen kritzelte sie eine Notiz. Für Cayenne standen die Buchstaben zwar auf dem Kopf, dennoch konnte sie sie lesen:

Sehr geehrte Dr. Mavelius,
ich habe Cayenne ihren Brief überreicht. Nehme sie morgen mit,
um ihre Sachen einzukaufen.
Wetter ist fürchterlich. Hoffe, Sie sind wohlauf.
Butterlilie

Butterlilie rollte die Nachricht zusammen, übergab sie dem Falken, der sich ihn in den Schnabel steckte, ging zum Fenster und schleuderte den Falken hinaus in den Sturm. Dann kam sie zurück und setzte sich, als hätte sie nur mal kurz telefoniert.
Cayenne bemerkte, dass ihr der Mund offen stand, und klappte ihn rasch wieder zu.

„Wo war ich gerade?“, sagte Butterlilie, doch in diesem Augenblick trat Onkel Ralf, immer noch aschfahl, doch sehr zornig aussehend, in das Licht des Kaminfeuers.
„Sie bleibt hier“, sagte er.
Butterlilie gluckste.
„Das möchte ich sehen, wie ein großer Sterblicher wie du sie aufhalten will“, sagte sie.
„Ein was?“, fragte Cayenne, sie hatte sich wahrscheinlich verhört, dass Butterlilie sagte „Sterblicher“.
„Einen Sterblichen“, sagte Butterlilie, „so nennen wir Leute wie ihn, die nicht zu den Beschwörern gehören. Und es ist dein Pech, dass du in einer Familie der größten Sterblichen aufgewachsen bist, die ich je gesehen habe.“
„Als wir sie aufnahmen, haben wir geschworen, diesem Blödsinn ein Ende zu setzen“, sagte Onkel Ralf, „geschworen, es ihr auszubläuen! Beschwörer, in der Tat!“
„Ihr habt es gewusst?“, schrie Cayenne der nun die Hutschnur riss, „ihr habt gewusst, dass ich ein…eine Beschwörerin bin?“
„Gewusst!“, schrie Onkel Ralf zurück. „Gewusst! Natürlich haben wir es gewusst! Wie denn auch nicht, wenn mein vermaledeiter Bruder so einer war? ER hat nämlich genau den gleichen Brief bekommen und ist dann in diese—diese Schule verschwunden und kam in den Ferien jedes Mal mit den Taschen voller Goldstaub wieder. Hat uns geängstigt in dem er die Erde aufrief, Pflanzen hinter uns her warf. Ich war der Einzige, der klar erkannt hat, was er wirklich war … eine Mistgeburt. Aber bei Mutter und Vater, o nein, da hieß es Julian hier und Julian da, sie waren stolz, einen Beschwörer in der Familie zu haben!“
Er hielt inne, um tief Luft zu holen, und fing dann erneut an zu schimpfen. Es schien, als ob er das schon all die Jahre hatte loswerden wollen.
„Dann hat er diese Elfe an der Schule getroffen, und sie sind weggegangen und haben geheiratet und haben dich bekommen, und natürlich wusste ich, dass du genauso eine sein würdest, genauso seltsam, genauso unnormal, und dann, bitte schön, hat er es geschafft, sich töten zu lassen, und wir mussten plötzlich mit dir fertig werden!“
„Getötet? Ihr sagtet es war ein Anschlag gewesen. Ein Unfall.“
Es ertönte ein lautes klirrendes Geräusch, die Vase auf dem Nachtschränkchen war zersprungen. Die Deckenlampe schwang von einer Seite auf die anderen. „Ein Unfall“, keuchte Butterlilie gepresst, weil kaum Platz war für Worte, ihr Mund war gefletscht, die goldenen Augen zu Schlitzen verzerrt, Ihre Flügel glühten schwarz gold. Und ihre Fingernägel waren um das doppelte gewachsen. Es war das eingetreten wovon Cayenne Angst gehabt hatte. Sie war explodiert.


Ein Stück Vergangenheit


Butterlilie sprang auf, so dass Onkel und Kira sich in ihre Ecke verdrückten. „Wie könnten Julian und Luciana O’Hion bei einem simplen Unfall ums Leben kommen? Das ist eine Schande! Ein Skandal! Cayenne O’Hion kennt nicht mal ihre eigene Geschichte, wo doch jedes Kind in unserer Welt ihren Namen weiß!“
„Warum eigentlich? Was ist passiert?“, konnte Cayenne sich nicht verkneifen.
Doch komischerweise schien diese Butterlilie wieder zu besänftigen. Ihr Zorn wich aus dem Gesicht und ihre Zähne wuchsen wieder auf die normale Größe. Ihre Fingernägel waren wieder normal und ihre Augen sahen sie aus ernsten Gründen an. „Das hätte ich nie erwartet“, sagte sie mit leiser, besorgter Stimme. „Als Mavelius sagte, du könntest in Schwierigkeiten geraten, hatte ich keine Ahnung, wie wenig du weißt. Ach, Cayenne, vielleicht bin ich nicht die Richtige, um es dir zu sagen…aber einer muss es tun…und du kannst nicht nach Heavenshall gehen, ohne es zu wissen.“
Sie warf Onkel und Kira einen finsteren Blick zu.
„Nun, es ist am besten, wenn du so viel weißt, wie ich dir sagen kann … aber natürlich kann ich dir nicht alles sagen, es ist ein großes Geheimnis, manches davon jedenfalls…“
Sie setzte sich, starrte einige Augenblicke lang ins Feuer und sagte dann: „Es fängt glaube ich mit…mit einer Frau namens … aber es ist unglaublich dass du ihren Namen nicht kennst, ins unserer Welt kennen sie alle…“
„Wen?“
„Nun ja, ich nenn den Namen lieber nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss. Keiner tut es.“
„Warum nicht?“
„Pfeifende Einhörner, Cayenne, die Leute haben immer noch Angst. Verflucht, ist das schwierig. Sieh mal, da war diese Elfe, die …böse geworden ist. So böse, wie es nur geht. Schlimmer noch. Schlimmer als schlimm. Ihr Name war…“
Butterlilie würgte, aber kein Wort kam hervor.
„Könntest du es aufschreiben?“, schlug Cayenne vor. „Nah...kann nicht buchstabieren. Na gut … Dark Lady.“ Butterlilie erschauerte. „Zwing mich nicht, das noch mal zu sagen. Jedenfalls, diese…diese Elfe hat vor etwa 24 Jahren begonnen, sich Anhänger zu suchen. Und die hat sie auch bekommen…manche hatten Angst, manche wollten einfach ein wenig von ihrer Macht, denn sie verschaffte sich viel Macht, dass muss man sagen. Dunkle Zeiten, Cayenne. Wussten nicht, wem wir trauen konnten, wagten nicht, uns mit fremden Beschwörern anzufreunden…Schreckliche Dinge sind passiert. Sie hat die Macht übernommen. Klar haben sich einige gewehrt…und sie hat sie umgebracht. Furchtbar. Einer der wenigen sicheren Orte, die es noch gab war Heavenshall. Vermute, Mavelius war die Einzige, vor der die Dunkle Elfe Angst hatte. Hat es nicht gewagt, die Schule einzusacken, damals jedenfalls nicht.
Nun waren dein Dad und deine Mum als Beschwörer so gut, wie ich noch niemanden gekannt habe. Zu ihrer Zeit die Klassenbesten in Heavenshall! Für mich ist es ein großes Rätsel, warum die Dunkle Elfe nie versucht hat, sie auf ihre Seite zu bringen … Hat wohl gewusst, dass sie Mavelius zu nahe waren, um etwas mit der dunklen Seite zu tun haben zu wollen.

Vielleicht hat sie geglaubt, sie könne sie überreden…
Vielleicht hat sie sie auch nur aus dem Weg haben wollen.
Alles, was man weiß, ist, das sie in dem Dorf unter Heavenshall auftauchte, wo ihr alle gelebt habt, an Halloween vor 14 Jahren. Du warst gerade mal ein Jahr alt. Sie kam in euer Haus und…und…“
Butterlilie zog plötzlich ein sehr kleines weißes Taschentuch hervor und schnäuzte sich die Nase. „Tut mir Leid“, sagte sie. „Aber es ist so traurig…hab deine Mum und deinen Dad gekannt, und nettere Menschen hast du einfach nicht finden können, jedenfalls…die dunkle Elfe hat sie getötet. Und dann … und das ist das eigentlich Geheimnisvolle daran…hat sie versucht, auch dich zu töten. Wollte reinen Tisch machen, denk ich, oder hatte inzwischen Spaß am Töten. Aber sie konnte es nicht. Hast du dich nie gefragt, wie du zu diesem Tattoo auf der Stirn gekommen bist? Das war kein gewöhnliches Tattoo. Das kriegst du, wenn du bereit bist aufgenommen zu werden jedoch nicht an der Stirn. Es lässt darauf hinweisen das der Fluch dich genau da traf. Und deine Macht die freigesetzt worden ist, bildete das Zeichen was alle anderen Kinder am Arm oder dem Handgelenk tragen. Keiner hat es überlebt, keiner außer dir, und sie hatte einige der besten Beschwörer der Zeit getötet…die Coulters, die Beckers, die Pazonsys … und du warst nur ein Baby, aber du hast überlebt.“

In Cayennes Kopf spielte sich etwas sehr Schmerzhaftes ab. Als Butterlilie mit der Geschichte ans Ende kam, sah sie noch einmal die blutroten Augen die sie ansahen und den gewaltigen Schmerz in ihrem Geist, als verlöre sie ihre Seele. Und zum ersten Mal erinnerte sie sich an einen Schrei, der von dem blutroten Mund der zu den blutroten Augen gehörte ausgestoßen worden ist.
Butterlilie betrachtete sie traurig.
„Hab dich selbst aus dem zerstörten Haus geholt, auf Mavelius Befehl hin. Hab dich zu diesem Pack hier gebracht…“
„Lauter dummes Zeug“, sagte Onkel Ralf. Cayenne schreckte auf, sie hatte fast vergessen, dass Onkel und Kira auch noch da waren. Onkel Ralf hatte offenbar seine Courage wieder gewonnen. Die Fäuste geballt, sah er Cayenne mit finsterem Blick an.
„Jetzt hörst du mir mal zu, Kleine“, schnauzte er. „Mag sein, dass etwas Seltsames mit dir auf sich hat, vermutlich nichts, was nicht durch ein paar saftige Ohrfeigen hätte kuriert werden können…und was diese Geschichte mit deinen Eltern angeht, nun, sie waren eben ziemlich verrückt, und die Welt ist meiner Meinung nach besser dran ohne sie. Haben es ja nicht anders gewollt, wenn sie sich mit diesem Beschwörerpack eingelassen haben…genau was ich erwartet hab, ich hab immer gewusst, dass es mit ihnen kein gutes Ende nehmen würde…“
Doch in diesem Augenblick sprang Butterlilie vom Bett und streckte die Faust nach ihm aus. „Ich warne dich Ralf Olaf O’Hion…ich warne dich…noch ein Wort…“
Nun, da Onkel Ralf Gefahr lief so zu enden wie seine Frau, erstarrt mit offenem Mund, verließ ihn der Mut wieder; er drückte sich gegen die Wand und verstummte.
„Schon besser so“, sagte Butterlilie schwer atmend und setzte sich auf das Bett zurück, das sich auch diesmal kaum beugte. Cayenne lagen unterdessen immer noch Fragen auf der Zunge, hunderte von Fragen.
„Aber was geschah mit der Dark Lad, tschuldigung…ich meine der dunklen Elfe?“
„Gute Frage, Cayenne. Sie ist verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Noch in der Nacht, als sie versucht hat, dich zu töten. Macht dich noch berühmter. Das ist das größte Geheimnis, weißt du … Sie wurde immer mächtiger…warum hätte sie gehen sollen?
Manche sagen, sie sei gestorben. Stuss, wenn du mich fragst. Weiß nicht, ob sie noch genug Menschliches in sich hatte, um sterben zu können. Manche sagen, sie sei immer noch irgendwo dort draußen und warte nur auf den rechten Augenblick, aber das glaub ich nicht. Leute, die auf ihrer Seite waren, sind zu uns zurückgekehrt. Manche sind aus einer Art Trance erwacht. Glaub nicht, dass sie es geschafft hätten, wenn sie vorgehabt hätte zurückzukommen.

Die meisten von uns denken, dass sie immer noch irgendwo da draußen ist, aber ihre Macht verloren hat. Zu schwach, um weiterzumachen. Denn etwas an dir, Cayenne, hat ihr den Garaus gemacht. In jener Nacht geschah etwas, mit der sie nicht gerechnet hatte…weiß nicht, was es war, keiner weiß es …, aber etwas an dir hat sie nicht gepackt, und das war es.“
Butterlilie betrachtete Cayenne voller Wärme und Hochachtung, doch Cayenne fühlte sich nicht froh und stolz deswegen, sondern war sich sicher, dass es sich hier um einen fürchterlichen Irrtum handeln musste. Ein Medium? Sie? Wie sollte das möglich sein? Ihr Leben lang hatte sie unter den Schlägen Kiras gelitten und war von Tante Angelina und Onkel Ralf schikaniert worden; wenn sie wirklich eine Beschwörerin, ein Medium war, warum hatten sie sich nicht jedes Mal, wenn sie versucht hatten, sie in ihr Zimmer einzuschließen, in Luft aufgelöst? Wenn sie einst die größte Beschwörerin der Welt besiegt hatte, wie konnte sie dann Kira immer herumkicken wie einen Fußball?
„Butterlilie“, sagte sie leise, „du musst einen Fehler gemacht haben. Ich kann unmöglich ein Medium sein.“
Zu ihrer Überraschung lachte Butterlilie.
„Kein Medium, keine Beschwörerin ,was? Nie Dinge geschehen lassen, wenn du Angst hattest oder wütend warst? Hast auch keine Gedanken ausgetauscht mit Tieren?“

Cayenne blickte ins Feuer. Nun, da sie darüber nachdachte… Alle seltsamen Dinge, die Onkel und Tante auf die Palme gebracht hatten, waren geschehen, als sie, Cayenne, aufgebracht oder zornig gewesen war…Auf der Flucht vor Kiras Bande war sie manchmal einfach nicht zu fassen gewesen…oder die Gedankenleserei bei ihrer Klassenlehrerin…und das im Zirkus. Ja sie wusste, da war etwas dran. Wie sonst hätte sie den Tiger davon abhalten können, Takeo zu verschlingen?
Cayenne wandte sich erneut Butterlilie zu und lächelte, und sie sah, dass Butterlilie sie geradezu anstrahlte.
„Siehst du?“, sagte Butterlilie. „Cayenne O’Hion und keine Beschwörerin…warte nur ab, und du wirst noch ganz berühmt in Heavenshall.“
Doch Onkel Ralf würde nicht kampflos aufgeben.
„Hab ich Ihnen nicht gesagt, das Mädel bleibt hier?“, zischte er. „Sie wird auf diese Sonderschule gehen, und wird dafür dankbar sein. Ich habe diese Briefe gelesen, und sie braucht allen möglichen Nonsens…und Beschwörungsfibeln und Goldstaub und…“
„Wenn sie gehen will, wird sie ein großer Sterblicher wie du nicht aufhalten können“, knurrte Butterlilie. „Luciana und Julian O’Hions Tochter von Heavenshall fernhalten! Du bist ja verrückt. Ihr Name ist vorgemerkt, schon seit ihrer Geburt. Sie geht bald auf die beste Schule für Beschwörerinnen und Beschwörer auf der ganzen Welt. Nach 7 Jahren dort wird sie sich nicht mehr wieder erkennen. Sie wird dort mit jungen Leuten ihresgleichen zusammen sein, zur Abwechslung mal, und sie wird unter der größten Schulleiterin lernen, die Heavenshall je gesehen hat, Angel Mavelius…“

„ICH BEZAHLE KEINE HIRNRISSIGE ALTE FRAU; DAMIT SIE IHR ZAUBERTRICKS BEIBRINGT“; schrie Onkel Ralf.
Doch nun war er endgültig zu weit gegangen. Butterlilie packte seine Hand und zog ihn zu sich heran. „BELEIDIGE NIEMALS ANGEL MAVELIUS IN MEINER GEGENWART!“
Pfeifend sauste etwas auf Kira zu, die immer noch wie erstarrt hinter ihrem Daddy saß. Sie fing an zu kreischen, als ihre Haare zu Ästen wurden und ihre Haut hölzrig braun. Blätter wuchsen ihr und sie ähnelte mehr und mehr einem Baum. Ihre Augen wurden nussbraun und nun stand sie da. Braun gebrannt, Äste als Fingernägel, Blätterpracht als Haare. Die Augen tränenfeucht ihrem Dad zugewandt. „Daddy“, weinte sie.
Onkel Ralf tobte. Er zog Kira und seine Frau, die immer noch erstarrt war in den anderen Raum, warf Butterlilie einen letzten, angsterfüllten Blick zu und schlug die Tür hinter sich zu.
Butterlilie stand erschüttert da und ließ das letzte bisschen Goldstaub in ihren Beutel rieseln. „Hätte die Beherrschung nicht verlieren dürfen“, sagte sie reuevoll. „aber es hat ohnehin nicht geklappt. Wollte sie in einen richtigen Baum verwandeln, aber ich denke, sie wird auch so einem ähnlich sehen.“ Unter ihren goldenen Augebrauen hervor blickte sie Cayenne von der Seite an.
„Wäre dir dankbar, wenn du das niemanden in Heavenshall erzählst“, sagte sie. „Ich …äh…soll eigentlich nichts dergleichen machen, um es genau zu nehmen. Ich durfte ein wenig, um dir zu folgen und um dir die Briefe zu bringen und…einer der Gründe, warum ich so scharf auf diesen Job war…“
„Warum sollst du das nicht tun?“
„Nun ja…ich war selbst in Heavenshall, doch ich… äh…man hat mich rausgeworfen, um dir die Wahrheit zu sagen. Im dritten Jahr. Sie haben meinen Goldstaub genommen und mir damit mein Zeichen der Macht genommen, daher trage ich auch kein Tattoo mehr. Ihr könnt auch ohne Staub beschwören, aber ich kann es ohne das Tattoo nur noch mit dem Staub.“
„Warum hat man dich rausgeworfen?“
„Es wird spät und wir haben morgen viel zu erledigen“, sagte Butterlilie laut. „Müssen hoch in die Stadt und dir alle Bücher und Sachen besorgen.“
Sie nahm ihren Beutel ab und warf ihn Cayenne zu.
„Da ist noch etwas zu essen drin, wenn du hungrig bist.“
„Wo gehen wir einkaufen? Doch nicht in der Stadt wo alle andern sind?“
Butterlilie lächelte. „Nein, wir steigen in ein Portal. Um zur Sternenstraße zu gelangen. Dort werden wir einkaufen.“ Damit legte sie sich hin und klopfte neben sich. Cayenne ging zu ihr und legte sich neben sie. Ihre Flügel waren fest in ihren Rücken geschrumpft und ihr Körper erholte sich von der Anstrengung der Reise. Während des Einschlafens beobachtete Cayenne diese Frau, die ihr jetzt schon sehr viel bedeutete.


In der Sternenallee


Am nächsten Morgen wachte Cayenne auf. Sie wusste zwar, dass es draußen schon hell war, doch sie hielt die Augen fest geschlossen.
„Es war ein Traum“, sagte sie sich entschlossen. „Ich habe von einer Fee namens Butterlilie geträumt, die mir erzählt hat, von nun an werde ich eine Schule für Beschwörer besuchen. Wenn ich aufwache, bin ich zu Hause in meinem Zimmer.“
Plötzlich hörte sie ein lautes, tappendes Geräusch.
„Und das ist Onkel Ralf, der an die Tür klopft“, dachte Cayenne und das Herz wurde ihr schwer. Doch die Augen hielt sie weiter geschlossen. Ein schöner Traum war es gewesen.
Tapp. Tapp. Tapp.
„Schon gut“, murmelte Cayenne. „Ich steh ja schon auf.“
Sie richtete sich auf und spürte eine federleichte Wärme eines anderen Körpers neben ihr. Sonnenlicht durchflutete die Fenster, der Sturm hatte sich gelegt. Butterlilie selbst schlief noch immer neben ihr, und ein wunderschöner weiß brauner Falke, eine Zeitung in den Schnabel geklemmt, tappte mit der Kralle gegen das Fenster.
Cayenne rappelte sich auf. Sie war so glücklich, dass es ihr vorkam, als würde in ihrem Innern ein großer Ballon anschwellen. Schnurstracks lief sie zum Fenster und riss es auf. Der Falke schwebte herein und ließ die Zeitung auf Butterlilies Bauch fallen. Sie schlief jedoch munter weiter. Der Falke flatterte auf den Boden und begann auf das Seidenbündel der Fee herumzupicken.
„Lass das.“
Cayenne versuchte den Falken wegzuscheuchen, doch er hackte wütend nach ihr und fuhr fort, die Tasche zu zerfetzen.
„Butterlilie!“, sagte Cayenne laut. „Da ist ein Falke…“
„Bezahl ihn“, murmelte Butterlilie in das Kissen.
„Was?“
„Er will seinen Lohn fürs Zeitungausfliegen. Schau in meiner Tasche nach.“
Butterlilies Tasche war aufgeräumt und sehr ordentlich. Sie fand schnell den Geldbeutel mit merkwürdig aussehenden Münzen. Sie hatten die Form eines Sternes mit kleinen Diamanten drin. „Gib ihr fünf blaue“, sagte Butterlilie schläfrig.
„Blaue“, sprach Cayenne ihr nach und suchte fünf der Münzen mit den blauen Diamanten raus.
Der Falke streckte ein Bein aus, und sie steckte das Geld in ein Lederbeutelchen, das daran festgebunden war. Dann flatterte er durch das offene Fenster davon.
Butterlilie gähnt laut, richtete sich auf und reckte genüsslich die Glieder.
„Wir brechen am besten gleich auf, Cayenne, haben heute `ne Menge zu erledigen. Müssen hoch nach der Sternenallee und dir alles für die Schule besorgen.“
Cayenne drehte die Münzen nachdenklich hin und her. Eben war ihr ein Gedanken gekommen der dem Glücksballon in ihrem Inneren einen Pikser versetzt hatte.
„Ähh…Butterlilie?“
„Mhh?“ Butterlilie zog gerade ihre Schlappen aus dünner Seide an. „Ich hab kein Geld – und du hast ja gestern Nacht Onkel Ralf gehört – er wird nicht dafür bezahlen, dass ich fortgehe und Beschwören lerne.“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte Butterlilie. Sie stand auf und strich sich eine Strähne aus den Augen. „Glaubst du etwa, deine Eltern hätten dir nichts hinterlassen?“
„Aber wenn doch ihr Haus…“
„Sie haben ihre Drachmen doch nicht im Haus aufbewahrt, mein Kind! Nee, wir machen als Erstes bei Fleeneys Halt. Beschwörerbank. Nimm dir ein Brot, in meiner Tasche ist noch eins mit Blätterteig – und zu einem Stück von deinem Kuchen solltest du dir auch was nehmen.“
„Beschwörer haben Banken?“
„Nur die eine. Fleeneys. Wird von reinblütigen Feenelfen geführt.“
Cayenne ließ das Brot fast fallen.
„Reinblütige Feenelfen?“
„Ja. Musst also ganz schön bescheuert sein, wenn du versuchst, sie auszurauben. Die passen nämlich auf die Drachmen noch besser auf als auf ihre eigenen Kinder, Cayenne. Fleeneys ist der sicherste Ort der Welt für alles, was du aufbewahren willst – mit Ausnahme vielleicht von Heavenshall. Muss übrigens sowieso bei Fleeneys vorbeischauen. Auftrag von Mavelius. Geschäftliches für Heavenshall.“ Butterlilie richtete sich stolz auf. „Meist nimmt sie mich, wenn es Wichtiges zu erledigen gibt. Dich abholen, etwas von Fleeneys besorgen, weiß, das sie mir vertrauen kann, verstehst du. Alles klar? Na dann los.“
Cayenne folgte Butterlilie hinaus auf die Wiese vor dem schäbigen Hotel. Der Himmel war jetzt klar und das Meer schimmerte im Sonnenlicht. Das Auto, von ihrem Onkel und ihrer Tante lag noch da. „Wie bist du hergekommen?“, fragte Cayenne und sah sich nach einem zweiten Auto um.
„Geflogen“, sagte Butterlilie.
„Geflogen?“
„Ja, aber zurück nehmen wir das Ding hier. Jetzt, wo du dabei bist, darf ich nicht mehr zaubern.“
Sie setzten sich in das Auto. Cayenne starrte Butterlilie unverwandt an und versuchte sich vorzustellen, wie so eine hübsche junge Fee mit goldenen Flügeln nicht am Himmel auffallen konnte.
„Schande allerdings, dass man das Auto bedienen muss“, sagte Butterlilie und sah Cayenne wieder mit einem ihrer Blicke von der Seite her an. „Wenn ich…Ähh…die Sache etwas beschleunigen würde, wärst du so freundlich und würdest in Heavenshall nichts davon sagen?“
„Klar“, sagte Cayenne, gespannt darauf, mehr von Butterlilies Zauberkünsten zu sehen. Butterlilie zog den Goldstaub aus ihrer Tasche und pustete ihn auf das Lenkrad, und schon erwachte das Auto zum Leben und rauschte in Richtung Stadt davon.
„Warum wäre es verrückt, wenn man Fleeneys ausrauben wollte?“, fragte Cayenne.
„Magische Banne, Zauberflüche“, sagte Butterlilie und öffnete ihre Zeitung. „Es heißt, die Hochsicherheitsverliese werden von Engeln bewacht. Und dann musst du erst einmal hinfinden – Fleeneys liegt nämlich hunderte von Meilen oberhalb von Stuttgart. Hoch über den Wolken. Du stirbst vor Hunger, bevor du wieder auf dem Erdboden kommst, auch wenn du dir was unter den Nagel gerissen hast.“
Cayenne saß da und dachte darüber nach, während Butterlilie ihre Zeitung, die WELF Zeitung, las. Cayenne wusste von Tante Angelina, das die Erwachsenen beim Zeitungslesen in Ruhe gelassen werden wollten, auch wenn es ihr jetzt schwer fiel, denn noch nie hatte sie so viele Fragen auf dem Herzen gehabt.
„Der Hohe Rat vermasselt mal wieder alles, wie üblich“, brummte Butterlilie und blätterte um. „Es gibt einen Hohen Rat für Beschwörer?“, platzte Cayenne los.

„Klar“, sagte Butterlilie. „Wollten natürlich Mavelius als Rats Anführerin haben, aber die würde nie von Heavenshall weggehen. Deshalb hat Cylinda Ferres die Stelle bekommen. Gibt keine größere Tratschtante. Schickt also Mavelius jeden Morgen ein Dutzend Falken und fragt sie um Rat.“
„Aber was tut ein Hoher Rat?“
„Nun, seine Hauptaufgabe ist, vor den Sterblichen geheim zu halten, dass es landauf, landab immer noch Beschwörer und Medien gibt.“
„Warum?“
„Warum? Meine Güte, Cayenne, die wären doch ganz scharf darauf, dass wir ihre Schwierigkeiten mit magischen Kräften lösen. Nö, die sollten uns mal in Ruhe lassen.“
In diesem Augenblick hielt das Auto auf einem Parkplatz. Butterlilie faltete die Zeitung zusammen und sie stiegen die Steintreppen zur Straße empor. Die Menschen auf den Straßen der großen Stadt starrten Butterlilie mit großen Augen an. Cayenne konnte es ihnen nicht verübeln. Butterlilie sah nicht aus wie ein Mensch. Eine Mischung halt zwischen Fee und Engel, zudem zeigte sie auch auf ganz gewöhnliche Dinge wie Parkuhren und rief dabei laut: „Schau dir das an Cayenne. Solche Sachen lassen sich die Sterblichen einfallen, nicht zu fassen!“
„Butterlilie“, sagte Cayenne ein wenig außer Atem, weil sie rennen musste, um Schritt zu halten. „Hast du gesagt, bei Fleeneys gebe es Engel?“ „Ja, so heißt es“, sagte Butterlilie. „Mann, ich würde gerne mal mit einem Engel reden.“
„Wieso tust du es nicht?“
„Sie weilen nicht mehr unter uns. Nicht mehr viele…seit…hier lang.“
Sie waren am Bahnhof angekommen. In fünf Minuten ging ein Zug nach Stuttgart. Butterlilie, die mit „Sterblichengeld“, wie sie es nannte, nicht zurechtkam, reichte Cayenne ein paar Scheine, mit denen sie die Fahrkarten kaufte.

Im Zug glotzten die Leute noch mehr. Butterlilie, die nicht mal einen Sitzplatz ausfüllte, strickte während der Fahrt an etwas, das aussah wie ein kanariengelbes Zipfelhütchen.
„hast deinen Brief noch, Cayenne?“, fragte sie, während sie die Maschen zählte.
Cayenne zog den Pergamentumschlag aus der Tasche.
„Gut“, sagte Butterlilie. „Da ist eine Liste drin mit allem, was du brauchst.“
Cayenne entfaltete einen zweiten Bogen Papier, den sie in der Nacht zuvor nicht bemerkt hatte, und las:

Heavenshall – Schule für Beschwörer und Medien

Uniform
Im ersten Jahr benötigen die Schüler:
1. 6 Garnituren einfache Arbeitskleidung (weiß)
2. eine Ledertasche
3. Ein Paar Schutzhandschuhe (Drachenhaut)
4. Einen Winterumhang (weiß, mit goldenen Schnallen)

Bitte beachten Sie, dass alle Kleidungsstücke der Schüler mit Namensetiketten versehen sein müssen.

Lehrbücher
Alle Schüler sollten jeweils ein Exemplar der folgenden Werke besitzen:
- Mike Hand : Lehrbuch der Zauberformel, Band 1
- Ben Bohren: Geschichte der Medien
- Annika Schweig: Theorie der Beschwörung
- Phil Spart: Tausend Beschwörungskräuter und –pilze
- Alina Bennett: Tränke und Bräue
- Lena Sullivan: Phantastische Fabelwesen und wo sie zu finden sind
- Quinn Summers: Dunkle Magie. Ein Kurs zur Selbstverteidigung

Ferner werden benötigt:
- ein Beutel Sternstaub
- 1 Kessel ( Eisen)
- 1 Sortiment Glasfläschen
- 1 Teleskop
- 1 Waage aus Messing
- Ein Halfter für ihr Tier

Es ist den Schülern zudem freigestellt, einen Falken ODER eine Eule ODER einen Papagei mitzubringen.

DIE ELTERN SEIEN DARAN ERINNERT, DASS DIE ERSTE KLASSE KEINE EIGENEN ZAUBERFIBELN BESITZEN DÜRFEN

„Und das alles können wir in Stuttgart kaufen?“, fragte sich Cayenne laut.
„Ja. Wenn du weißt, wo“, sagte Butterlilie.

Cayenne war noch nie in Stuttgart gewesen. Butterlilie schien zwar zu wissen, wo sie hinwollte, doch offensichtlich war sie es nicht gewohnt, auf normalen Weg dorthin zu gelangen. Sie verhedderte sich wo immer sie auch langging. „Keine Ahnung wie die Sterblichen zurechtkommen ohne Magie“, meinte sie, als sie eine kaputte Rolltreppe empor kletterten, die auf eine belebte, mit Läden gesäumte Straße führte.
Butterlilie war eine so grazile Gestalt, dass sie ohne Mühe jeder Menschenmenge auswich, und Cayenne brauchte sich nur dicht hinter ihr zu halten. Sie gingen an Buchhandlungen und Musikläden vorbei, an Schnellimbissen und Kinos, doch nirgends sah es danach aus, als ob es Goldstaub zu kaufen gäbe. Dies war eine ganz gewöhnliche Straße voll ganz gewöhnlicher Menschen. Konnte es wirklich sein, dass viele Meilen über ihnen haufenweise Magiergeld versteckt wurden? War all dies vielleicht nur ein gewaltiger Jux, den die O’Hions ausgeheckt hatten? Das hätte Cayenne vielleicht geglaubt, wenn sie nicht gewusst hätte, dass die O’Hions keinerlei Sinn für Humor besaßen. Doch obwohl alles, was Butterlilie ihr bisher erzählt hatte, schlicht unfassbar war, konnte sie einfach nicht anders, als ihr zu vertrauen.
„Hier ist es“, sagte Butterlilie und blieb stehen. „Hotel Royal. Das Restaurant kennt jeder.“
Es war ein großes, stilvoll eingerichtetes Restaurant. Cayenne hätte sich nie in so ein luxuriöses Restaurant gewagt. Die vorbeieilenden Menschen beachten es nicht. Ihre Blicke wanderten von dem „Sundayopen Kleidergeschäft“ bis zum anderen Haus, als könnten sie große lange Gebäude überhaupt nicht sehen. Tatsächlich hatte Cayenne das ganz eigentümliche Gefühl, dass nur sie und Butterlilie es sahen. Doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, schob sie Butterlilie zur Tür hinein.

Für einen berühmten Ort war es hier sehr hell und luxuriös. In einer Ecke saßen ein paar junge Frauen und tranken Champagner aus großen Gläsern. Eine von ihnen rauchte eine Zigarette. Ein großer Mann mit Zylinder sprach mit der Rezeptionssprecherin, die vollkommen aussah und einem Gemälde glich. Als sie eintraten, verstummte das große Geträllere der Gespräche. Butterlilie schienen alle zu kenenn; sie winkten und lächelten ihr zu, und der Rezeptionssprecherin griff nach einem Schlüssel: „Wieder das übliche, Butterlilie?“
„Heute nicht Tina, bin im Auftrag von Heavenshall unterwegs“, sagte Butterlilie und versetzte Cayenne mit ihrer ebengleichen Hand einen Klaps auf die Schulter, die sie kaum spürte. „Meine Güte“, sagte die Frau hinterm Tresen und spähte zu Cayenne hinüber. „Ist das…kann dass…?“
Im Hotel Royal war es mit einem Schlag mucksmäuschenstill geworden. „Grundgütiger“, flüsterte die Frau. „Cayenne O’Hion…welch eine Ehre.“
Sie eilte hinter dem Tresen hervor, trat raschen Schrittes auf Cayenne zu und ergriff mit Tränen in den Augen ihre Hand. „Willkommen zu Hause, Mrs. O’Hion, willkommen zu Hause.“
Cayenne wusste nicht, was sie sagen sollte. Aller augen waren auf sie gerichtet. Die junge Frau zog an ihrer Zigarette ohne zu bemerken, dass sie ausgegangen war. Butterlilie strahlte.
Nun ging im Hotel Royal ein großes Stühlerücken los, und die Gäste schüttelten Cayenne einer nach dem anderen die Hand.
„Dieter Collins, Mrs. O’Hion, ich kann es einfach nicht fassen, Sie endlich zu sehen.“
„Ich bin stolz, Sie zu treffen, Mrs. O’Hion, so stolz.“
„Wollte Ihnen schon immer die Hand schütteln – mir ist ganz schwindelig.“
„Erfreut, Mrs. O’Hion, mir fehlen die Worte. Duggin ist mein Name, Donald Duggin.“
„Sie hab ich schon mal gesehen“, rief Cayenne, als Donald Duggin vor Aufregung seinen Zylinder verlor. „Sie haben sich einmal in einem Laden vor mir verneigt.“
„Sie weiß es noch!“, rief Donald Duggin und blickte in die Runde. „Habt ihr das gehört? Sie erinnert sich an mich!“ Cayenne schüttelte Hände hier und Hände dort – Dieter Collins konnte gar nicht genug kriegen.

Ein brauner junger Mann bahnte sich dem Weg nach vorne. Er wirkte sehr fahrig; sein rechtes Auge zuckte. „Professor Octuran“, sagte Butterlilie. „Cayenne, Professor Ocutran ist einer deiner Lehrer in Heavenshall.“
„O’Hion“, flüsterte Professor Ocutran und ergriff Cayennes Hand, „ich kann Ihnen nicht sagen, wie sich mich freue, Sie zu treffen.“
„Welche Art von Magie lehren Sie, Professor Ocutran?“
„Verteidigung gegen die dunkle Magie“, murmelte er, als ob er lieber nicht daran denken wollte. „Nicht, dass Sie es nötig hätten, oder O’Hion?“ Er lachte falsch. „Sie besorgen sich ihre Ausrüstung, nehme ich an? Ich muss auch noch ein neues Buch über Elfen abholen.“ Schon bei dem Gedanken daran sah er furchtbar verängstigt drein.
Doch die anderen ließen nicht zu, dass Professor Ocutran Cayenne allein in Beschlag nahm. Es dauerte fast 10 Minuten, bis sie von allen losgekommen war. Endlich konnte sich Butterlilie in der allgemeinen Aufregung Gehör verschaffen.
„Wir müssen weiter…haben eine Menge einzukaufen. Komm, Cayenne.“
Dieter Collins schüttelte Cayenne ein letztes Mal die Hand. Butterlilie führte sie durch das Restaurant auf einen Fahrstuhl zu. Butterlilie grinste als sie einstiegen.
„Hab’s dir doch gesagt, oder? Hab dir doch gesagt, dass du berühmt bist. Sogar Professor Ocutran hat gezittert, als er dich sah…nun ja, er zittert fast ständig.“
„Ist er immer so?“
„O ja. Armer Kerl. Genialer Kopf. Ging ihm gut, als er nur die Bücher studierte, doch dann hat er sich ein Jahr frei genommen, um ein wenig Erfahrung zu sammeln…Es heißt, er habe im Schwarzwald Dunkle Elfen getroffen und er soll ein übles großes Problem mit einem Vampir gehabt haben …ist seitdem jedenfalls nicht mehr der Alte. Hat Angst vor den Schülern, Angst vor dem eigenen Unterrichtsstoff…wo ist eigentlich mein Goldstaub abgeblieben?“
Dunkle Elfen? Vampire? Cayenne war leicht schwindelig. Unterdessen zählte Butterlilie ein paar Krümel Goldstaub zusammen ging zu dem Drücker an der Wand und drückte drauf. Eine Klappe öffnete sich und sie kräuselte den Staub hinein. daraufhin ging es wieder zu. „Du könntest das Portal leichter öffnen, aber du darfst noch nicht außerhalb der Schule deine Fähigkeiten einsetzten. Du müsstest deine Hand auf die Fläche legen und dich scannen lassen.“ Direkt nach Butterlilies Satz glitt der Fahrstuhl auf der gegenüberliegenden Seite auf.
Der Weg der sich ihnen nun offenbarte führte hinaus auf eine gepflasterte Straße die in einer Biegung sich verlor.
„Willkommen in der Sternenallee“, sagte Butterlilie.
Cayennes verblüffter Blick ließ sie verschmitzt lächeln. Sie traten in die Gasse. Cayenne blickte rasch über die Schulter und konnte gerade noch sehen, wie sich die Fahrstuhltür wieder schloss.
Die Sonne erleuchtete einen Stapel Kessel vor der Tür eines Ladens. Kessel – Alle Größen – Kupfer, Eisen, Messing, Zinn, Gold, Silber - Selbst umrührend – Faltbar, hieß es auf einem Schild über ihren Köpfen.
„Jaow, du brauchst einen“, sagte Butterlilie, „aber erst müssen wir dein Geld holen.“
Cayenne wünschte sich mindestens vier Augenpaare mehr. Sie drehte den Kopf in alle Himmelsrichtungen, während sie die Straße entlanggingen, und versuchte, alles auf einmal zu sehen: die Läden, die Auslagen vor den Türen, die Menschen, die hier einkauften. Vor einer Apotheke stand eine schlanke Frau, und als sie vorbeigingen, sagte sie kopfschüttelnd: „Drachenleber, 17 Drachmen die müssen verrückt sein…“
Gedämpftes Falkengeschrei drang aus einem dunklen Laden. Auf einem Schild über dem Eingang stand: Freddies Falkenkaufhaus – Falken, Adler, Fischreiher was das Herz begehrt. Einige Mädchen ins Cayennes Alter drückten ihre Nase gegen ein Schaufenster mit goldenen Bällen. „Schau mal“, hörte Cayenne eine von ihnen sagen, „die haben nun auch Gedankenbälle für längere Nachrichten…“ Manche Läden verkauften nur Umhänge, andere Teleskope und merkwürdige silberne Instrumente, die Cayenne noch nie gesehen hatte. Es gab Schaufenster, die voll gestopft waren mit Fässern voller Kräuter, Katzenaugen, wacklig gestapelten Beschwörerfilbeln, Pergamentrollen, Trankfläschchen, Mondgloben…
„Feenleys“, sagte Butterlilie.
Sie waren vor einem goldenen Haus angelangt, das hoch über die kleinen Läden hinausragte. Neben dem blank polierten Goldtor, in einer weißen und goldbestickten Uniform stand ein-
„Tja, das ist eine Feenelfe“, sagte Butterlilie leise, als sie die steinernen Stufen zu ihr hochstiegen. Die Feenelfe war etwa ein Kopf kleiner als Cayenne. Sie hatte ein hellhäutiges, kluges Gesicht, spitze Ohren und wie Cayenne auffiel, sehr lange Fingernägel. Mit einer Verbeugung wies sie sie hinein. Wieder standen sie vor einer Doppeltür, einer weißen diesmal, in die folgende Worte eingraviert waren:

Unsterbliche Seele, nimm dich in acht,
Daß du nicht Schaden leidest,
Wenn du aus dem Irdischen scheidest;
Es geht der Weg durch Tod und Nacht.

Am goldnen Tore der Hauptstadt des Lichts,
Da stehen die Gottessoldaten;
Sie fragen nach Werken und Taten,
Nach Namen und Amt fragt man hier nichts.

Am Eingang läßt der Pilger zurück
Die stäubigen, drückenden Schuhe -
Kehr ein, hier findest du Ruhe,
Und weiche Pantoffeln und schöne Musik.

„Wie ich gesagt hab, du musst verrückt sein, wenn du den Laden knacken willst“, sagte Butterlilie. Ein Paar Feenelfen verbeugten sich, als sie durch die weiße Tür in eine riesige Marmorhalle schritten. Um die hundert Feenelfen saßen auf kleinen Schemeln hinter einem langen Schalter, kritzelten Zahlen in große Folianten, wogen auf Messingwaagen Münzen ab und prüften Edelsteine mit unter die Brauen geklemmten Uhrmacherlupen. Unzählige Türen führten in anschließende Räume, und andere Feenelfen geleiteten Leute herein und hinaus. Butterlilie und Cayenne traten vor den Schalter.


Bei Fleeneys - Das Geburtstagsgeschenk


„Moin“, sagte Butterlilie. „Wir sind hier, um ein wenig Geld aus Ms. Cayenne O’Hions Safe zu entnehmen.“
„Sie haben ihren Schlüssel, Madame?“, fragte die Feenelfe.
„Hab ihn irgendwo“, sagte Butterlilie und begann ihre Tasche zu entleeren und ihren Inhalt auf dem Schalter auszubreiten, wobei sie eine Hand voll Bonbons über das Kassenbuch der Feenelfe verstreute. Diese rümpfte die Nase. Cayenne sah der Feenelfe zu ihrer Rechten dabei zu, wie sie einen Haufen Rubine wog, die so groß waren wie Eier.
„Hab ihn“, sagte Butterlilie endlich und hielt der Feenelfe einen winzigen weißen Schlüssel vor die Nase.
Die Feenelfe nahm ihn genau in Augenschein.
„Das scheint in Ordnung zu sein.“
„Und ich habe außerdem einen Brief von Professor Mavelius“, sagte Butterlilie, sich mit gewichtiger Miene in die Brust werfend. „Es geht um das …Sie…wissen…schon…was in Verlies …sie wissen…welches.“
Die Feenelfe las den Brief sorgfältig durch.
„Sehr gut“, sagte sie und gab ihn Butterlilie zurück. „Ich werde veranlassen, dass man Sie in beide Verliese führt. Galadriel!“
Auch Galadriel war eine Feenelfe. Sobald Butterlilie alle ihre Bonbons in die Tasche zurückgestopft hatte, folgten sie und Cayenne Galadriel zu einer der Türen, die aus der Halle hinausführten.
„Was ist das Sie…wissen…schon…was in Verlies sie wissen...welches?“, fragte Cayenne.
„Darf ich nicht sagen“, meinte Butterlilie geheimnistuerisch. „Streng geheim. Hat mit Heavenshall zu tun. Mavelius vertraut mir. Lohnt sich nicht, meinen Job zu riskieren und es dir zu sagen.“
Galadriel hielt die Tür für sie auf. Cayenne, die noch mehr Marmor erwartet hatte, war überrascht. Sie waren nun in einem engen, steinernen Gang, den helle Lichter schwebend erleuchteten. Vom Boden aus schlängelten sich viele Wendeltreppen hinauf in die Höhe. Ein Lift war an den Treppen befestigt. Galadriel öffnete eine der Lieftüren und sie traten hinein. Dann legte die Feenelfen einen Schalter um und der Lift schoss nach oben. Cayenne versuchte sich zu merken wie lange sie nach oben schossen, verlor aber bald jegliches Zeitgefühl. Cayennes Augen schmerzten in der kalten Luft, durch die sie sausten, doch sie hielt sie weit geöffnet. Einmal meine sie am Ende eines Durchgangs einen weißen Flügel zu erkennen und wandte sich rasch um, denn vielleicht war es ein Engel – aber zu spät. Sie drangen weiter in die Höhe vor und passierten mehrere verzierte Symbole in den Wänden.
Als sie kurz zu Butterlilie sah bemerkte sie, ihre grüne Gesichtsfarbe. Und als der Lift endlich neben einer großen Tür in der Wand des überhöhen Ganges hielt, stieg Butterlilie aus und musste sich gegen die Wand lehnen, um ihre zitternde Knie zu beruhigen.
Galadriel schloss die Tür auf. Ein Schwall weißen Rauchs drang heraus, und als er sich verzogen hatte, stockte Cayenne der Atem. Im Innern lagen Hügelweise Goldmünzen. Stapelweise kleine mit grünen Steinen, große mit roten Steinen und welche mit blauen Steinen.
„Alles dein“, sagte Butterlilie lächelnd.
Alles gehörte Cayenne…das war unglaublich. Die O’Hions konnten davon nichts gewusst haben, oder sie hätten es ihr schneller abgenommen, als sie blinzeln konnte. Wie oft hatten sie sich darüber beschwert, wie viel es sie kostetet, für Cayenne zu sorgen? Und die ganze Zeit über war ein kleines Vermögen, das ihr gehörte, hoch über Stuttgarts Straßen versteckt gewesen.
Butterlilie half Cayenne dabei, einen Teil der Schätze in eine Tüte zu packen.

„Die großen mit den roten Steinen sind Terra Drachmen“, erklärte sie. „17 kleine grüne sind ein blauer und 29 blaue sind ein roter. Nichts einfacher als das. Gut, das sollte für ein paar Schuljahre riechen, wir bewahren den Rest für dich auf.“ Sie wandte sich Galadriel zu. „Verließ 9012 jetzt, bitte, und können wir etwas langsamer fahren?“
„Nur eine Geschwindigkeit“, sagte Galadriel.
Sie fuhren nun noch höher hinauf und wurden allmählich schneller. Während sie durch scharfe Kurven rasten, wurde die Luft immer kälter. Sie ratterten die ganze Zeit über bodenlosen Abgrund hinauf und der Anblick war schon längst weit mehr als erschreckend. Als Cayenne sich über das Gatter beugte um einmal einen Blick nach unten zu riskieren zog Butterlilie sie an ihrem Kragen wieder weg.
Verließ 9012 hatte kein Schlüsselloch.
„Zurücktreten“, sagte Galadriel mit Achtungsheischender Stimme. Mit einem ihrer langen Fingernägel streichelte sie sanft die Tür … die einfach wegschmolz.
„Sollte jemand dies versuchen, der keine Feenelfe von Feenleys bist, dann wird er durch die Tür gesogen und sitzt dort drin in der falle“, sagte Galadriel.
„Wie oft schaust du nach, ob jemand dort ist?“, fragte Cayenne.
„Einmal in 10 Jahren vielleicht“, sagte Galadriel mit einem ziemlich gemeinen Grinsen.
In diesem Hochsicherheitsverlies musste etwas ganz Besonderes aufbewahrt sein, da war sich Cayenne sicher, und sie steckte ihre Nase begierig hinein, um zumindest ein paar sagenhafte Juwelen zu sehen…doch auf den ersten Blick schien alles leer. Dann bemerkte sie auf dem Boden ein helles, mit goldenem Papier umwickeltes Päckchen das spitz zu allen Seiten zulief. Butterlilie hob es auf und verstaute es irgendwo in den Tiefen ihrer Tasche. Cayenne hätte zu gern gewusst, was es war, aber ihr war klar, dass sie besser nicht danach fragte.
„Los komm, zurück auf diesen Höllenlift, und red auf dem Rückweg nicht. Es ist besser, wenn ich den Mund geschlossen halte“, sagte Butterlilie.

Nach einer weiteren haarsträubenden Fahrt in dem Lift standen sie endlich wieder draußen vor Fleeneys und blinzelten in das Sonnenlicht. Nun, da Cayenne einen Beutel voll Drachmen besaß, wusste sie nicht, wo sie zuerst hinlaufen sollte. Sie musste nicht wissen, wie viel Terra Drachmen ein deutschen Euro ausmachten, um sich bewusst zu sein, dass sie noch nie im Leben so viel Geld besessen hatte…mehr Geld, als selbst Kira jemals gehabt hatte.
„Könnten jetzt eigentlich mal deine Uniform kaufen“, sagte Butterlilie und nickte zu Monsieur Maurices Uniformen für jede Zwecke hinüber. „Hör mal, Cayenne, würde es dir was ausmachen, wenn ich mir einen Gold Age im Hotel Royal genehmige? Ich hasse die Lifts bei Fleeneys.“ Sie sah immer noch etwas grün aus. Und so betrat die ein wenig nervöse Cayenne allein Monsieur Maurices Laden.
Monsieur Maurice war ein schlanker, lächelnder Mann, der von Kopf bis Fuß rot gekleidet war. „Heavenshall, meine Liebe?“, sagte er, kaum hatte Cayenne den Mund aufgemacht. „Hab die Sachen hier…übrigens wird hier gerade noch eine junge Frau ausgestattet.“
Hinten im Laden stand auf einem Schemel ein Mädchen mit braunen, schmalen Gesicht, und ein zweiter Mann steckte ihren langen weißen Umhang mit Nadeln ab. Monsieur Maurice stellte Cayenne auf einen Stuhl daneben, ließ einen kurzen Umhang über ihren Kopf gleiten und steckte mit Nadeln die Breite ab.

„Hallo“, sagte das Mädchen. „Auch Heavenshall?“
„Ja“, sagte Cayenne.
„Meine Mutter ist nebenan und kauft die Bücher, und Vater ist ein paar Läden weiter und sucht nach Goldstaub“, sagte das Mädchen. Sie sprach mit aufmüpfiger, scharfer Stimme. „Danach wird ich sie mitschleifen und mir eine Zauberfibel aussuchen. Ich sehe nicht ein, warum die erste Klasse keine eigene haben dürfen. Ich glaub, ich geh meiner Mutter so lange auf die Nerven, bis sie mir eine kauft, und schmuggel sie dann irgendwie rein.“
Das Mädchen erinnerte Cayenne stark an Kira.
„Hast du denn eine eigenen Zauberfibel?“, fuhr sie fort.
„Nein“, sagte Cayenne.
„Erfindest du überhaupt eigene Sprüche?“
„Nein“, sagte Cayenne erneut und fragte sich, wie man zum Teufel denn eigene Sprüche erfinden könnte.
„Aber ich – Mutter sagt, es wäre eine Schande, wenn ich nicht ausgewählt werde, um für mein Haus anzutreten, und ich muss sagen, sie hat Recht. Weißt du schon, in welches Haus du kommst?“
„Nein“, sagte Cayenne und fühlte sich mit jeder Minute dümmer.
„Na ja, eigentlich weiß es keiner, bevor er hinkommt, aber ich weiß, dass ich im Feuerstamm sein werde, unsere ganze Familie war da. …Stell dir vor, du kommst in den Wasserstamm, ich glaub, ich würde abhauen, du nicht?“
„Mmm“, sagte Cayenne und wünschte, sie könnte etwas Interessanteres sagen.
„Ach herrje, schau dir mal diese Frau an!“, sagte das Mädchen plötzlich und deutete auf das Schaufenster. Draußen stand Butterlilie, grinste Cayenne zu und hielt zwei große Tüten mit Eiskrem hoch, um zu zeigen, dass sie nicht hereinkommen konnte.

„Das ist Butterlilie“, sagte Cayenne, froh, dass sie etwas wusste, was das Mädchen nicht wusste. „Sie arbeitet in Heavenshall.“
„Oh“, sagte das Mädchen. „Ich hab von ihr gehört. Sie ist ein Dienstmädchen oder so was, nicht wahr?“
„Sie ist die Wächterin“, sagte Cayenne. Sie konnte das Mädchen mit jeder Sekunde weniger ausstehen.
„Ja, genau. Ich hab gehört, dass sie eine Art Verräterin ist – lebt in einem Baum auf dem Schulgelände, spricht mit Glühwürmchen und versucht zu zaubern ohne irgendein Tattoo.“
„Ich halte sie für brillant“, sagte Cayenne kühl.
„Tatsächlich?“, sagte das Mädchen mit einer Spur Arrogant. „Warum ist sie mit dir zusammen? Wo sind deine Eltern?“
„Sie sind tot“, sagte Cayenne knapp. Sie hatte keine große Lust, mit diesem Mädchen darüber zu sprechen.
„Oh, tut mir Leid“, sagte die andere, wobei es gar nicht danach klang. „Aber sie gehörten doch zu uns, oder?“
„Sie war eine Beschwörerin und er auch, falls du das meinst.“
„Ich halte überhaupt nichts davon, die andern aufzunehmen, du etwa? Die sind einfach anders erzogen worden als wir und gehören eben nicht dazu. Stell dir vor, manche von ihnen wissen nicht mal von Heavenshall, bis sie ihren Brief bekommen. Ich meine, die alten Beschwörerfamilien sollten unter sich bleiben. Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?“
Doch bevor Cayenne antworten konnte, sagte Monsieur Maurice: „So, das wäre es, meine Liebe“, und Cayenne, froh über die Gelegenheit, von dem Mädchen loszukommen, sprang von ihrem Schemel herunter.
„Gut, wir sehen uns in Heavenshall, nehme ich an“, sagte das Mädchen mit herablassender Stimme.

Recht wordkarg schlechte Cayenne das Eis, das Butterlilie ihr gekauft hatte (Erdbeer und Vanille mit bunten Smarties).
„Was ist los?“, fragte Butterlilie.
„Nichts“, log Cayenne. Sie traten in einen Laden, um Pergament und Federkiele zu kaufen. Cayennes Laune besserte sich etwas, als sie eine Flasche Tinte kauften, die auf dem Papier ihre Sprach änderte. Als sie wieder draußen waren, sagte sie: „Butterlilie, was macht man mit eigenen Zauberfibeln?“
„Mein Gott, Cayenne, ich vergesse immer, wie wenig du weißt…kennst nicht mal die Wettbewerbe!“
„Machs nicht noch schlimmer“, sagte Cayenne. Sie erzählte Butterlilie von dem rothaarigen Mädchen bei Monsieur Maurice.
„…und sie sagte, Leute aus Sterblichenfamilien sollten gar nicht aufgenommen werden…“
„Du bist nicht aus einer Sterblichenfamilie. Wenn sie wüsste, wer du bist …wenn ihre Eltern Beschwörer sind, dann hat sie deinen Namen mit der Muttermilch eingezogen…du hast die beiden übrigens im Hotel Royal gesehen. Und außerdem, was weiß sie schon, manche von den Besten waren die einzigen in einer langen Linie von Sterblichen, die das zeug zum Beschwören hatten…denk an deinen Vater! Denk mal daran, was er für einen Bruder hatte!“
„Also was sind jetzt diese Wettbewerbe mit den eigenen Zauberfibeln?“
„Das ist ein traditioneller Wettbewerb. Beschwörersport. Es ist wie…wie Hausaufgaben machen und diese dann praktisch an Gegner ausprobieren. Die Regeln dabei sind nicht ganz einfach zu erklären.“
„Und was ist der Feuerstamm und der Wasserstamm?“
„Schulhäuser. Es gibt vier davon. Alle sagen, im Wasserstamm sind’ ne Menge Loser, aber…“
„Ich wette, ich komme in den Wasserstamm“, sagte Cayenne bedrückt.

„Besser im Wasserstamm als im Feuerstamm“, sagte Butterlilie mit düsterer Stimme. „Die Beschwörerinnen und Beschwörer, die böse wurden, waren allesamt aus dem Feuerstamm. Die dunkle Elfe war eine davon.“
„Die Dark La…tschuldigung…Die dunkle Elfe war in Heavenshall?“
„Das ist ewig lange her“, sagte Butterlilie.
Sie kauften die Schulbücher für Cayenne in einem Laden namens Bernds ausradierte Bücher, wo die Regale aus der Wand schälten und alles einfach nur aus Holz war. Es schien als hätte jemand aus einem Baum einen Laden mit Regalen gezimmert. Und die Bücher waren alle unterschiedlich. Es gab feuerrote, blaue, weiße, goldene, schwarze, grüne, aber auch welchen mit einem Hängeschloss und komplizierten Symbolen drauf. Selbst Kira die nie las, wäre ganz scharf auf manche davon gewesen. Butterlilie musste Cayenne beinahe wegziehen von Werken wie Geisterbeschwörung und Totenauferweckungen (Lassen Sie ehemalige Helden aus ihren Gräbern entsteigen, erwecken sie ihre Liebsten, und vieles mehr) von Professor Valerie Volterra.
„Ich möchte rausfinden, wie ich Kira einen Geist auf den Hals hetzen kann.“
„Keine schlechte Idee, würde ich meinen, aber du sollst in der Sterblichenwelt nicht beschwören, außer wenn es brenzlig wird“, sagte Butterlilie. „Und du könntest mit diesen Beschwörungen ohnehin noch nicht umgehen, du musst noch sehr viel lernen, bis du das kannst.“
Butterlilie wollte Cayenne auch keinen Kessel aus purem Gold kaufen lassen (*auf der Liste steht Eisen), aber sie fanden eine praktische kleine Waage, um die Zutaten für die Tränke abzumessen, und ein zusammenschiebbares Messingteleskop. Danach schauten sie in der Apotheke vorbei. Hier roch es so süßlich das Cayenne dachte sie wäre in einen Honigtopf mit Aromen jeder Art gefallen, doch es gab viele interessante Dinge zu sehen. Auf dem Boden standen Fässer, die mit einer Art Blütenpampe gefüllt waren; die Regale an den Wänden waren voll gestellt mit Gläsern, die Flüssigkeiten jeder schimmernder Farbe besaßen und hell leuchtende Kristallgläser die ein perlendes Geräusch von sich gaben. Während Butterlilie die Frau hinter der Theke um eine Auswahl wichtiger Beschwörungszutaten für Cayenne bat, untersuchte Cayenne selbst die goldenen Steine zu 21 Terra Drachmen pro Stück und die großen leuchtenden schwarzen Kugeln (5 grüne Drachmen pro Kugel).

Draußen vor der Apotheke warf Butterlilie noch einmal einen Blick auf Cayennes Liste.
„Nur dein Goldstaub fehlt noch – ach ja, und ich hab immer noch kein Geburtstagsgeschenk für dich.“
Cayenne spürte wie sie rot wurde.
„Du musst mir kein…“
„Ich weiß, ich muss nicht. Weißt du was, ich kauf dir das Tier. Keinen Eule, Eulen sind schon seit Jahre nicht mehr angesagt, man würde dich auslachen…und ich mag keine Adler, von denen muss ich mich in Acht nehmen. Ich kauf dir einen Falken. Alle Kinder wollen Falken, die sind unglaublich klug und nützlich, besorgen deine Post und so weiter.“
20 Minuten später verließen sie Fredricks Falkenhaus. Dunkel war es dort gewesen, aus der einen oder andern Ecke hatten sie ein Flattern gehört, und gelegentlich waren diamenthelle Augenpaare aufgeblitzt. Cayenne trug jetzt einen Handschuh mit Schlaufe auf dem ein wunderschöner Gerfalke saß. http://img.fotocommunity.com/images/Eulen-Greifvoegel/Greifvoegel/Gerfalke-2-a24159923.jpg
Unablässig stammelte sie ihren Dank und klang dabei genau wie Professor Ocutran.
„Nicht der Rede wert“, sagte Butterlilie schroff. „Kann mir denken, dass du von deiner Tante und deinem Onkel nicht allzu viele Geschenke bekommen hast. Müssen jetzt nur noch zu Oliriel, einem Laden für Goldstaub, und du brauchst den besten.“
Goldstaub, darauf war Cayenne am meisten gespannt.
Der Laden war groß und räumig. Über der Tür hieß es in goldener Inschrift: Oliriel Goldstaub aus direkter Quelle. Auf einem rotgoldenen Kissen im Schaufenster lag ein Kätschen Goldstaub.
Sie traten ein und von irgendwo ganz hinten im Laden kam das helle Läuten einer Glocke. Der Raum war groß und voll mit Ausnahme eines einzigen kleinen Makels, dem Dreck auf dem Boden. Cayenne fühlte sich so fremd hier, als ob sie eine Bibliothek mit sehr strenger Aufsicht betreten hätte. Sie schluckte eine Menge neuer Fragen hinunter, die ihr gerade eingefallen waren, und betrachtete stattdessen tausende von quadratischen Kästchen, die fein säuberlich auf Kissen und Decken platziert waren. Aus irgendeinem Grund kribbelte es ihr im Nacken. Allein das Licht und die Stille hier schienen ihn mit einem geheimen Zauber zu kitzeln.
„Guten Tag“, sagte eine weiche Stimme. Cayenne schreckte auf. Eine noch fast jugendliche Frau stand vor ihnen, ihre weit geöffneten blauen Augen leuchten wie Kristalle im Wasser durch das Licht des Ladens.
„Hallo“, sagte Cayenne verlegen.
„Ah ja“, sagte die Frau. „ja, ja. Hab mir gedacht, dass Sie bald vorbeikommen. Cayenne O’Hion.“ Das war keine Frage. „Sie haben die Augen ihres Vaters. Mir kommt es vor, als wäre es erst heute Morgen gewesen als er seinen Magus gekauft hat. 12linge alle 3 5cm groß. Hübsche und schlaue Magus.“
Mrs. Oliriel trat näher. Cayenne wünschte, sie würde einmal blinzeln. Diese blauen Augen waren etwas gruselig. „Ihre Mutter hingegen wollte lieber frechere. 11linge. Intelligente. Nun ja, ich sage, Ihre Mutter wollte sie…im Grunde sind es aber die Magus, die sich den Beschwörer aussuchen.“
Mrs. Oliriel war Cayenne so nahe gekommen, dass sich beide Nasenspitzen fast berührten. Cayenne konnte in diesen Augen ihr Spiegelbild sehen.
„Und hier hat…“
Mrs. Oliriel berühte die blütenförmige Ranke auf Cayennes Stirn mit einem langen bleichen Finger.
„Leider muss ich sagen, dass ich selbst die Magus verkauft habe die ihrer Widersacherin die Telekinese vereinfacht haben“, sagte sie sanft. „13 Magus, kräftig, fabellos einsetzbar für Mediums…“
Sie schüttelte den Kopf und bemerkte dann zu Cayennes Erleichterung Butterlilie.
„Butterlilie! Wie schön Sie wieder zu sehen. 16 Magus, stets freundlich und zuvorkommend, nicht wahr?“
„Ja, Madam, das waren sie“, sagte Butterlilie.
„Gute Helfer, muss ich sagen. Aber ich fürchte, man hat sie mitgenommen, als Sie ausgestoßen wurden?“, sagte Mrs. Oliriel plötzlich mit ernster Stimme.
„Äh…ja, das haben sie, ja“, sagte Butterlilie und scharrte mit den Füßen. „Hab aber immer noch die Kästchen“, fügte sie strahlend hinzu.
„Gut“, sprach Oliriel und drehte sich zu Cayenne um. „Kommen Sie mit“, befahl sie ihr und beide liefen in den hinteren Ladenteil. Dort standen Brutkästen, die Cayenne schon mal in Krankenhäuser gesehen hatte. „Ich dachte ich kaufe Goldstaub ein.“ „Dass stimmt auch. Aber sie müssen doch Magus kaufen. Das sind kleine Elfchen die ihren Goldstaub jedweder Qualität produzieren. Kein Unsterblicher kann den Goldstaub von alleine produzieren müssen Sie wissen. Nun halten sie ihre Hand in jeden Kasten.“ Als Cayenne der Aufforderung nachging passierte nichts und sie wurde von Oliriel schon dreimal in einen anderen Raum geführt und hatte bemerkt wie die Haut der Frau immer bleicher wurde. „Gut, das ist der letzte Kasten“, und sie sah sehr nervös aus. Cayenne steckte die Hand hinein und wollte sie schon wieder hinausziehen als auf einmal ein Haufen weißgoldener Punkte auf ihre Hand zuschnellte. Sie klebten überall an ihrer Hand und gaben ein klirrendes Geräusch von sich. Plötzlich hörte sie kleine zierliche Stimme die kaum an ihre Ohren reichten. Da merkte sie dass sie in Gedanken hörte. „Ah, bravo. Ja, in der Tat, oh, sehr gut. Gut, gut, gut… Wie seltsam…Ganz seltsam…“
Sie holte ein Kästchen heraus und murmelte immer wieder: „Seltsam…seltsam..“
„Verzeihung“, sagte Cayenne, „aber was ist seltsam?“

Mrs. Oliriel sah Cayenne mit blassen blauen Augen fest an. „Ich erinnere mich an jeden Maguwurf, den ich je verkauft habe, Mrs. O’Hion. An jeden einzelnen. Es trifft sich nun, dass das Elchen, dessen Magus hier in ihrem Kästchen sind noch einen anderen Wurf hatte. Nur einen noch. Es ist schon sehr seltsam, dass Sie für diesen Wurf Magus bestimmt sind, während doch die Geschwister des anderen Wurfs…nun ja, die Geschwister Ihnen diese Narbe beigebracht hat.“
Cayenne schluckte.
„Ja, 13 Magus. Wirklich merkwürdig, wie die Dinge zusammentreffen. Die Magus suchen sich den Beschwörer, erinnern Sie sich…Ich denke, wir haben Großartiges von Ihnen zu erwarten, Mrs. O’Hion…Schließlich hat auch die Dunkle Elfe Großartiges getan…Schreckliches, ja, aber Großartiges.“
Cayenne schauderte. Sie war sich nicht sicher, ob sie Mrs. Oliriel besonders gut leiden mochte. Sie zahlte 7 goldene Terra Drachmen für ihren Magus und Mrs. Oliriel geleitete sie mit einer Verbeugung aus der Tür.

Die späte Nachmittagssonne stand tief am Himmel, als sich Cayenne und Butterlilie auf den Rückweg durch die Sternenallee machen, zurück durch den Fahrstuhl, zurück durch das Hotel Royal, das nun menschenleer war. Cayenne schwieg, während sie die Straße entlanggingen; sie bemerkte nicht einmal, wie viele Menschen in der Straßenbahn sie mit offenem Mund anstarrten, beladen wie sie waren mit ihren merkwürdigen Päckchen und mit dem schlafenden Falken auf Cayennes Schulter. Wieder fuhren sie eine Rolltreppe hoch, und hinaus ging es auf dem Bahnhof. Cayenne erkannte erst, wo sie waren, als Butterlilie ihr auf die Schulter klopfte.
„Haben noch Zeit für einen Imbiss, bevor dein Zug geht“, sagte sie.
Sie kaufte für sich und Cayenne zwei Hamburger und sie setzten sich auf die Plastiksitze, um sie zu verspeisen. Cayenne sah sich unablässig um. Alles kam ihr irgendwie fremd vor.
„Alles in Ordnung mit dir, Cayenne? Du bist ja ganz still“, sagte Butterlilie.
Cayenne wusste nicht recht, wie sie es erklären konnte. Gerade hatte sie noch den schönsten Geburtstag ihres Lebens verbracht. Und doch, sie kaute auf ihrem Hamburger und versuchte die richtigen Worte zu finden.
„Alle denken, ich sei etwas Besonderes“, sagte sie endlich. „All diese Leute im Hotel Royal, Professor Ocutran, Mrs. Oliriel…Aber ich weiß überhaupt nichts von Beschwören. Wie können sie großartige Dinge von mir erwarten? Ich bin berühmt und ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wofür ich berühmt bin. Ich weiß nicht, was passiert ist., als die Dark…tut mir Leid…ich meine, in der Nacht, als meine Eltern starben.“
Butterlilie beugte sich über den Tisch. Du wirst alles noch schnell genug lernen. In Heavenshall fangen sie alle ganz von vorne an, es wird dir sicher gut gehen. Sei einfach du selbst. Ich weiß es ist schwer. Du bist auserwählt worden und das ist immer schwer. Aber du wirst eine tolle Zeit in Heavenshall verbringen…wie ich damals…und heute noch, um genau zu sein.“
Butterlilie half Cayenne in den Zug, der sie zurück zu Onkel und Tante zurückbringen würde, und reichte ihm dann einen Umschlag.

„Deine Fahrkarte nach Heavenshall“, sagte sie. „Am 1 September Bahnhof hier in Stuttgart…steht alles drauf. Wenn du irgendwelche Schwierigkeiten mit deinem Onkel und deiner Tante hast, schick mir deinen Falken, er weiß, wo er mich findet…Bis bald, Cayenne.“
Der Zug fuhr aus dem Bahnhof hinaus. Cayenne wollte Butterlilie beobachten, bis sie außer Sicht war; sie setzte sich auf und drückte die Nase gegen das Fenster. Doch sie blinzelte und schon war Butterlilie verschwunden.


Abreise von Gleis 0



Cayennes letzter Monat bei Tante und Onkel war nicht besonders lustig. Gewiss, Kira hatte nun so viel Angst vor Cayenne, dass sie nicht im selben Zimmer mit ihr bleiben wollte, und Onkel Ralf und Tante Angelina schlossen Cayenne nicht mehr in ihrem Zimmer ein, zwangen sie zu nichts und schrieen sie auch nicht an…in Wahrheit sprachen sie kein Wort mit ihr. Halb entsetzt, halb wütend taten sie, als ob der Stuhl, auf dem Cayenne saß, leer wäre. So ging es ihr in mancher Hinsicht besser als zuvor, doch mit der Zeit wurde sie ein wenig niedergeschlagen.
Cayenne blieb gerne in ihrem Zimmer in Gesellschaft ihres Falken. Sie hatte beschlossen, ihn Fridolin zu nennen, ein Name, den sie in einer Serie gesehen hatte. Ihre Schulbücher waren sehr interessant. Sie lag auf dem Bett und las bis spät in die Nacht, während Fridolin durchs offene Fenster hinaus- oder hereinflatterte, wie es ihm gerade passte. Ein Glück, dass Onkel Ralf nicht mehr mit dem Staubsauger hereinkam, denn andauernd brachte Fridolin tote Ratten, Mäuse sogar manchmal Kaninchen mit. Cayenne hatte einen Monatskalender an die Wand geheftet, und jede Nacht, bevor sie einschlief, hakte sie einen weiteren Tag ab.
Am letzten Augusttag fiel ihr ein, dass sie wohl mit Tante und Onkel darüber reden müsse, wie sie am nächsten Tag zum Bahnhof kommen sollte. Sie ging hinunter ins Wohnzimmer, wo sie sich ein Fernsehquiz ansahen. Als sie sich räusperte, um auf sich aufmerksam zu machen, schrie Kira auf und rannte davon.
„Ähh…Tante Angelina?“
Tante Angelina grunzte zum Zeichen, dass sie hörte.
„Ähh…ich muss morgen zum Stuttgarter Bahnhof, um…um nach Heavenshall zu fahren.“
Tante Angelina grunzte erneut.
„Würde es dir was ausmachen, mich hinzufahren?“
Ein Brummen. Cayenne nahm an, dass es JA hieß.
„Danke.“
Sie war schon auf dem Weg zur Treppe, als Tante Angelina tatsächlich den Mund aufmachte.
„Komische Art, zu einer Magieschule zu kommen, mit dem Zug. Die fliegenden Teppiche haben wohl alle Löcher, was?“
Cayenne schwieg.
„Wo ist diese Schule überhaupt?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Cayenne, selbst davon überrascht. Sie zog die Fahrkarte, die Butterlilie ihr gegeben hatte, aus der Tasche.
„Ich nehme einfach den Zug um 8 Uhr von Gleis 0“, las sie laut.
Onkel und Tante starrten sie an.
„Gleis wie viel?“
„Null“.
„Red keinen Stuss“, sagte Tante Angelina, „es gibt kein Gleis Null.“
„Es steht auf meiner Fahrkarte.“
„Total verrückt“, sagte Tante Angelina, „vollkommen übergeschnappt, das ganze Pack. Du wirst sehen. Warte es nur ab. Gut, wir fahren dich nach Stuttgart. Wir müssen morgen ohnehin hin, sonst würde ich mir die Mühe ja nicht machen.“
„Warum fahrt ihr nach Stuttgart?“, fragte Cayenne, um das Gespräch ein wenig freundlich zu gestalten.
„Wir bringen Kira ins Krankenhaus“, knurrte Tante Angelina. „Bevor sie zur Schule geht, müssen diese Äste aus ihren Haaren raus.“

Am nächsten Morgen wachte Cayenne um 2 Uhr auf, viel zu aufgeregt und nervös, um wieder einschlafen zu können. Sie stieg aus dem Bett und zog ihre Jeans an, weil sie nicht in ihrem weißen Umhang auf dem Bahnhof erscheinen wollte…da sie sich dann im Zug umziehen würde.

Noch einmal ging sie die Liste für Heavenshall durch, um sich zu vergewissern, dass sie alles Nötige dabeihatte, und hob Fridolin auf ihre Schulter. Dann ging sie im Zimmer auf und ab, darauf wartend, dass Tante und Onkel aufstanden. Zwei Stunden später war Cayennes kleiner, leichter Koffer im Wagen verstaut, Onkel Ralf hatte Kira überredet, sich neben Cayenne zu setzen, und los ging die Fahrt.
Sie erreichten den Bahnhof um halb 8. Tante Angelina packte Cayennes Koffer und eilte mit ihr in den Bahnhof. Cayenne fand dies ungewöhnlich freundlich von ihr, bis Tante Angelina mit einem hässlichen Grinsen auf dem Gesicht vor den Bahnsteigen Halt machte.
„Nun, das war es, Mädchen. Gleis 1 und 2. Dein Gleis sollte vor 1 sein, aber sie haben es wohl noch nicht gebaut was?“
Natürlich hatte sie vollkommen Recht. Über dem Bahnsteig hing auf der einen Seite die große Plastikziffer 1, über der anderen die große Ziffer 2, und davor war nichts.
„Na dann, ein gutes Schuljahr“, sagte Tante Angelina mit einem noch hässlichen Grinsen. Sie verschwand ohne ein weiteres Wort zu sagen. Cayenne wandte sich um und sah Tante und Onkel wegfahren. Alle drei lachten. Cayennes Mund wurde ganze trocken. Was um Himmels willen sollte sie tun? Schon richteten sich viele erstaunte Blicke auf ihr…wegen Fridolin. Sie musste jemanden fragen.
Sie sprach einen vorbeigehenden Wachmann an, wagte es aber nicht, Gleis Null zu erwähnen. Der Wachmann hatte nie von Heavenshall gehört, und als Cayenne ihm nicht einmal sagen konnte, in welchem Teil des Landes die Schule lag, wurde er zusehends ärgerlich, als ob Cayenne sich absichtlich dumm anstellen würde. Schon ganz verzweifelt fragte Cayenne nach dem Zug, der um 8 Uhr ging, doch der Wachmann meinte, es gebe keinen. Eine mürrische Bemerkung über Zeitverschwender auf den Lippen ging er schließlich davon. Cayenne versuchte mit aller Macht, ruhig blut zu bewahren. Der großen Uhr über der Ankunftstafel nach hatte sie noch 10 Minuten, um in den Zug nach Heavenshall zu steigen, und sie hatte keine Ahnung wie sie das anstellen sollte. Da stand sie nun, verloren mitten auf einem Bahnhof, mit einem Koffer, den sie kaum vom Boden heben konnte, einer Tasche voller Drachmen und einem großen Falken.
Butterlilie musste vergessen haben, ihr zu sagen, dass sie etwas Bestimmtes tun sollte, so wie man auf den Knopf im Hotel Royal des Fahrstuhls gedrückt hatte, um auf die Sternenallee zu kommen. Sollte sie vielleicht ihre Magus herausholen und auf den Fahrkartenschalter zwischen Gleis 2 und 1 streichen?
In diesem Augenblick ging eine Gruppe von Menschen dicht hinter ihr vorbei und sie schnappte ein paar Worte ihrer Unterhaltung auf.
„…voller Sterblicher, natürlich…“
Cayenne wandte sich rasch um. Gesprochen hatte ein kugelrunder Mann, um ihn herum vier Mädchen, allesamt blondhaarig. Jede der vier schob einen Koffer, so groß wie der Cayennes, vor sich her…und sie hatten einen Falken dabei.

Mit klopfenden Herzen schob Cayenne Koffer hinter ihnen her. Sie hielten an, und auch Cayenne blieb stehen, dicht genug hinter ihnen, um sie zu hören.
„So, welches Gleis war es noch mal?“, fragte der Vater der Mädchen.
„Null“, murmelte ein kleiner Junge an seiner Hand, der ebenfalls blonde Haare hatte. „Vati, kann ich nicht mitgehen…“
„Du bist noch zu klein, Gus, und jetzt sei still. Penelope, du gehst zuerst.“
Das offenbar älteste Mädchen machte sich auf den Weg in Richtung Plakat das auf der Wand zwischen Bahnsteig 1 und 2 war. Cayenne beobachtete sie, angestrengt darauf achtend, nicht zu blinzeln, damit ihr nichts entginge…doch gerade als das Mädchen das Plakat zwischen den Gleisen erreichte, schwärmte eine große Gruppe Touristen an ihr vorbei, und als der letzte Rucksack sich verzogen hatte, war das Mädchen verschwunden.
„Fenja, du bist dran“, sagte der rundliche Mann.
„Ich bin nicht Fenja, ich bin Gloria“, sagte das Mädchen.
„Ehrlich mal, guter Mann, du nennst dich unser Vater? Kannst du nicht sehen, dass ich Gloria bin?“
„Tut mir leid Gloria, mein Liebling.“
„War nur ein Witz, ich bin Fenja“, sagte das Mädchen, und fort war sie. Ihre Zwillingsschwester rief ihr nach, sie solle sich beeilen, und das musste sie getan haben, denn eine Sekunde später war sie verschwunden…doch wie hatte sie es geschafft? Nun schritt die dritte Schwester zügig auf das Plakat zu…sie war schon fast dort…, und dann, ganz plötzlich, war sie nicht mehr zu sehen.

Sie war spurlos verschwunden.
„Entschuldigen Sie“, sagte Cayenne zu dem rundlichen Mann. „Hallo mein Mädchen“, sagte er. „Das erste Mal nach Heavenshall? Rosalie ist auch neu.“
Er deutete auf die letzte und jüngste seiner Töchter. Sie war hoch gewachsen, schlank und wohl proportioniert, hatte ein Muttermal unter dem linken Auge, kleine Hände und Füße und eine schmale Nase. „Ja“, sagte Cayenne. „Die Sache ist die…ist nämlich die, ich weiß nicht, wie ich…“
„Wie du zum Gleis kommen sollst?“, sagte er freundlich, und Cayenne nickte.
„Keine Sorge“, sagte er. „Du läufst einfach schnurgerade auf das Plakat zu. Halt nicht an und hab keine Angst, du könntest gegen die Wand laufen, das ist sehr wichtig. Konzentriere dich auf das Bild des Plakates. Wenn du nervös bist, dann renn lieber ein bisschen. Nun geh, noch vor Rosalie.“
„Ähh…ja“, sagte Cayenne.
Sie drehte ihren Koffer herum und blickte auf das Plakat. Das Plakat zeigte eine weißgoldene Halle mit einer Bank und einem Gleis. Das sie nicht gleich darauf aufmerksam geworden war. Menschen auf dem Weg zwischen den Gleisen zwei und eins rempelten sie an. Cayenne beschleunigte ihre Schritte Sie würde direkt in diese Wand laufen, und dann säße sie in der Patsche. Sie war kurz davor als sie etwas an ihrem Bauch spürte. Einen Sog wie von einer lauten Lüftung die sie anzog. Einen Augenblick später machte sie die Augen erstaunt auf und wieder zu. Eine weißgoldene Dampflok stand an einem Bahnsteig bereit, die Waggons voller Menschen. Auf einem Schild über der Lok stand „Heavenshall Zug, 8 Uhr.“ Cayenne war einen Blick über die Schulter und sah an der Stelle, wo die Wand war ein weiteres Plakat. Diesmal sah sie einen dunklen Bahnhof mit ein paar Rucksacktouristen und einer normalen Dampflok. Über dem Plakat war das Schild für den Gleis angegeben: Gleis null. Sie hatte es geschafft.

Die Lok blies Dampf über die Köpfe der schnatternden Menge hinweg, während sich hie und da Eulen in allen Farben über den Köpfen der Leute hindurch zogen. Durch das Geschnatter der Wartenden und das Kratzen der schweren Koffer schrieen sich Falken gegenseitig etwas mürrisch an.
Die ersten Waggons waren schon dicht mit Schülern besetzt. Einige lehnten sich aus den Fenstern und sprachen mit ihren Eltern und Geschwistern, andere stritten sich um Sitzplätze. Auf der Suche nach einem freien Platz, schob Cayenne ihren Koffer weiter den Bahnsteig hinunter. Sie kam an einem Mädchen mit schmalen Gesicht vorbei und hörte sie klagen: „Opa, ich hab schon wieder meine Eule verloren.“
„Ach, Natalie“, hörte sie den alten Mann seufzen.
Ein kleiner Auflauf hatte sich um ein Mädchen mit Locken gebildet.
„Lass uns nur einmal gucken, Lena, komm schon!“
Das Mädchen schlug ihre Jacke zurück und man konnte eine Kobra erkennen die ihren Kopf zischelnd den Kindern zustreckte.
Cayenne schob sich weiter durch die Menge, bis sie fast am Ende des Zuges ein leeres Abteil fand. Dort stellte sie erst einmal Fridolin ab, dann begann sie ihren Koffer in Richtung Waggontür zu wuchten. Sie versuchte ihn die Stufen Hochzuhieven, doch sie konnte den Koffer kaum auch nur an einer Seite hochheben. Zweimal fiel er ihr auf die Füße und das tat weh.

„Brauchst du Hilfe?“ Das war eine der blondhaarigen Zwillinge, die sie durch das Plakat gefolgt war.
„Ja, bitte“, keuchte Cayenne.
„Hallo, Fenja! Pack mal mit an!“
Mit Hilfe der Zwillinge verstaute sie ihren Koffer schließlich in einer Ecke des Abteils.
„Danke“, sagte Cayenne und wischte sich die schweißnassen Haare aus der Stirn.
„Was ist denn das?“, rief eine der Zwillinge plötzlich und deutete auf Cayennes Blumenmahl auf der Stirn.
„Mensch!“, sagte der andere Zwilling. „Bist du…?“
„Sie ist es“, sagte der erste Zwilling. „Oder etwa nicht?“, fügte sie an Cayenne gewand hinzu.
„Wer?“, sagte Cayenne.
„Cayenne O’Hion“, riefen die Zwillinge im Chor.
„Oh, die“, sagte Cayenne. „Ja, allerdings, die bin ich.“
Die beiden Mädchen starrten sie mit offenen Mündern an, und Cayenne spürte, wie sie rot wurde. Dann kam, zu ihrer Erleichterung, eine Stimme durch die offene Waggontür hereingeschwebt.
„Fenja? Gloria? Seid ihr darin?“
„Wir kommen, Dad.“
Mit einem letzten Blick auf Cayenne sprangen die Zwillinge aus dem Zug.
Cayenne setzte sich ans Fenster, wo sie, halb verdeckt, die blondhaarige Familie auf dem Bahnsteig beobachten und ihrem Gespräch lauschen konnte. Der Vater hatte soeben ein Taschentuch hervorgezogen.
„Rosalie, du hast was an der Nase.“
Die Jüngste versuchte sich loszureißen, doch er packte sie und fing an ihre Nase zu putzen.
„Dad…hör auf“ Sie wand sich los.

„Ahh, hat Rosalieschätzchen etwas an der Nase?“, sagte eine der Zwillinge.
„Halt den Mund“, sagte Rosalie.
„Wo ist Penelope?“, fragte der Vater.
„Da kommst sie.“
Das älteste Mädchen kam abgeschritten. Sie hatte bereits ihren wogenden hellgrünen Umhang angezogen, und Cayenne bemerkte ein schimmerndes Goldabzeichen mit den Buchstaben Frühling auf ihrer Brust.
„Kann nicht lange bleiben, Vater“, sagte sie. „Ich bin ganz vorn, die Jahreszeitenbeschwörer haben zwei Abteile für sich.“
„Oh, du bist der Frühling, Penelope?“, sagte eine der Zwillinge und tat ganz überrascht. „Hättest du doch etwas gesagt, wir wussten ja gar nichts davon.“
„Warte, mir ist, als hätte sie es mal erwähnt“, sagte der andere Zwilling. Einmal…“
„Oder auch zweimal…“
„So nebenbei…“
„Den ganzen Sommer über…“
„Ach hört auf“, sagte Penelope der Frühling. „Warum hat Penelope eigentlich einen neuen Umhang?“, fragte eine der Zwillinge.
„Weil sie nun der Frühling ist“, sagte der Vater ernst. „Nun gut, mein Schatz, ich wünsch dir ein gutes Schuljahr…und schick mir einen Falken, wenn du angekommen bist.“
Er umarmte Penelope und verabschiedete sich. Dann wandte er sich den Zwillingen zu.
„Und jetzt zu euch beiden. Dieses Jahr benehmt ihr euch. Wenn ich noch mal einen Falken bekomme, der mir sagt, dass ihr…dass ihr einen Mitschüler des Feuerstammes im Baum eingeschlossen habt oder…“
„Einen Mitschüler aus dem Feuerstamm im Baum eingeschlossen? Wir haben noch nie einen Mitschüler des Feuerstammes im Baum eingeschlossen.“
„Ist aber eine klasse Idee, danke, Dad.“
„Das ist nicht lustig. Und passt auf Rosalie auf.“
„Keine Sorge, Rosalieschätzchen ist sicher mit uns.“
„Haltet den Mund“, sagte Rosalie erneut. Sie war schon fast so groß wie die Zwillinge, und ihre Nase war dort, wo der Vater sie geputzt hatte, immer noch rosa.
„He, Dad, weißt du was? Rate mal, wen wir im Zug getroffen haben!“
Cayenne lehnte sich rasch zurück, damit sie nicht sehen konnten, dass sie sie beobachtete.
„Weißt du noch, dieses blondhaarige Mädchen, die im Bahnhof neben uns stand? Weißt du, wer das ist?“
„Wer?“
„Cayenne O’Hion.“
Cayenne hörte die Stimme des kleinen Jungen.
„Oh, Dad, kann ich in den Zug gehen und sie sehen? Dad, bitte…“
„Du hast sie doch schon gesehen, Gus, und das arme Mädchen ist kein Tier, das man sich anguckt wie im Zoo. Ist sie es wirklich, Fenja? Woher weißt du das?“
„Hab sie gefragt. Hab ihr Blumenmahl auf der Stirn gesehen anstatt auf dem Handgelenk. Es gibt sie wirklich…mitten auf der Stirn in einer hellblauweißen Farbe…“
„Die Arme…kein Wunder, dass sie allein war. Sie hat ja so höflich gefragt, wie sie auf dem Bahnsteig kommen soll.“
„Schon gut, aber glaubst du, sie erinnert sich daran, wie die Dunkle Elfe aussieht?“
Ihr Vater wurde plötzlich sehr ernst.
„Ich verbiete dir, sie danach zu fragen, Fenja. Wag es ja nicht. Das hat ihr gerade noch gefehlt, dass sie an ihrem ersten Schultag daran erinnert wird.“
„Schon gut, reg dich ab.“

Ein Pfiff gellte über den Bahnsteig.
„Beeilt euch!“, sagte der Vater und die drei Mädchen stiegen in den Zug. Sie lehnten sich aus dem Fenster für einen Abschiedskuss, und ihr kleiner Bruder begann zu weinen.
„Nicht doch, Gus, wir senden dir kistenweise Falken.“
„wir schicken dir einen Mitschüler aus Heavenshall.“
„Gloria!“
„War nur ein Witz, Dad.“
Mit einem Ruck fuhr der Zug an. Cayenne sah den Vater der Mädchen und den kleinen Bruder halb lachend, halb weinend zum Abschied winken. Sie rannten mit, bis der Zug zu schnell wurde, dann blieben sie stehen und winkten.
Der Zug ging in eine Kurve und Cayenne verlor den Jungen und seinen Vater aus den Augen. Vor dem Fenster zogen Häuser vorbei. Plötzlich war Cayenne ganz aufgeregt. Sie wusste nicht, was sie erwartete…doch besser als das, was sie zurückließ, musste es allemal sein.
Die Abteiltür glitt auf und die jüngste der Blondhaarigen kam herein.
„Sitzt da jemand?“, fragte sie und deutete auf den Sitz gegenüber von Cayenne. „Der ganze Zug ist nämlich voll.“
Cayenne schüttelte den Kopf und das Mädchen setzte sich. Sie warf Cayenne einen schnellen Blick zu und sah dann schweigend aus dem Fenster. Cayenne sah, dass sie immer noch einen schwarzen Fleck auf der Nase hatte.
„He, Rosalie.“
Da waren die Zwillinge wieder.
„Hör mal, wir gehen weiter in die Mitte. Lena Johnson hat eine Kobra.“
„Macht nur“, murmelte Rosalie.
„Cayenne“, sagte der andere Zwilling, „haben wir uns eigentlich schon vorgestellt? Fenja und Gloria Green. Und das hier ist Rosalie, unsere Schwester. Bis später dann.“
„Tschau“, sagten Cayenne und Rosalie. Die Zwillinge schoben die Abteiltür hinter sich zu.
„Bist du wirklich Cayenne O’Hion?“, kam es aus Rosalie hervorgesprudelt.
Cayenne nickte.
„Ahh, gut, ich dachte, es wäre vielleicht wieder so ein Scherz von Fenja und Gloria“, sagte Rosalie. „Und hast du wirklich…du weißt schon..:“ Sie deutete auf Cayennes Stirn. Cayenne strich sich die Haare aus dem Gesicht und zeigte ihr das Blumenmahl. Rosalie machte große Augen.
„Also hier hat die Dunkle Elfe…“
„Ja“, sagte Cayenne, „aber ich kann mich nicht erinnern.“
„An nichts?“, fragte Rosalie neugierig.
„Na ja, ich erinnere mich noch an den reißenden hellen Schmerz in meinem Kopf und an eine Stimme und blutrote Augen die mich angesehen haben, aber an sonst nichts.“
„Mensch“, sagte Rosalie. Sie saß da, starrte Cayenne einige Zeit lang an und dann, als sei ihr plötzlich klar geworden, was sie da tat, wandte sie ihre Augen rasch wieder aus dem Fenster.
„Sind alle in eurer Familie Beschwörer?“, fragte Cayenne, die Rosalie genauso interessant fand wie Rosalie sie.
„Ähh…ja, ich denke schon“, sagte Rosalie. „Ich glaube, Dad hat noch eine zweite Cousine, die Buchhalterin ist, aber wir reden nie über sie.“
„Dann musst du schon viel vom Beschwören verstehen.“
Die Greens waren offensichtlich eine dieser alten Beschwörerfamilien, von denen das braunhäutige Mädchen in der Sternenallee gesprochen hatte.
„Ich hab gehört, dass du bei den Sterblichen gelebt hast“, sagte Rosalie. „Wie sind die?“

„Fürchterlich…na ja, nicht alle. Mein Onkel, meine Tante und meine Cousine jedenfalls. Ich wünschte, ich hätte auch drei Beschwörerschwestern.“
„Fünf“, sagte Rosalie. Aus irgendeinem Grund verdüsterte sich ihre Miene. „Ich bin die sechste in unserer Familie, die nach Heavenshall geht. Und das heißt, in mich setzt man hohe Erwartungen. Briannah und Cecilia sind schon nicht mehr dort…Briannah war Schulsprecherin und Cecilia war Klassenbeste im Klassenturnier. Und Penelope ist jetzt der Frühling. Fenja und Gloria machen zwar eine Menge Unsinn, aber sie haben trotzdem ganz gute Noten und sind beliebt. Alle erwarten von mir, das ich so gut bin wie die andern, aber wenn ich es schaffe, ist es keine große Sache, weil sie es schon vorgemacht haben. Außerdem kriegst du nie etwas Neues, wenn du fünf Schwestern hast. Ich habe den alten Umhang von Briannah, die alten Magus von Cecilia und die alte Katze von Penelope.“
Rosalie schob die in einen Korb unter ihren Füßen und zog eine dünne, schwarze Katze hervor.
„Sein Name ist Karl und er ist nutzlos, er pennt immer. Penelope hat von meiner Mum einen Falken bekommen, weil sie der Frühling wurde, aber sie konnten sich keinen…ich meine, ich habe stattdessen Karl bekommen.“
Rosalies Ohren färbten sich rosa. Offenbar glaubte sie, sie habe jetzt zu viel gesagt, denn sie sah jetzt wieder aus dem Fenster.
Cayenne fand es überhaupt nicht schlimm, wenn jemand sich keinen Falken leisten konnte. Schließlich hatte sie bis vor einem Monat keinen Cent gehabt, und sie erzählte Rosalie auch, dass sie immer Kiras alte Klamotten tragen musste und nie ein richtiges Geburtstagsgeschenk bekommen hatte. Das schien Rosalie ein wenig aufzumuntern.


Begegnungen im Zug


„…und bis Butterlilie es mir gesagt hat, wusste ich überhaupt nicht, das ich eine Beschwörerin bin, und auch nichts von meinen Eltern und der Dark Lady.“
Rosalie stockte der Atem.
„Was ist?“, fragte Cayenne.
„Du hast die Dunkle Elfe beim Namen genannt!“, sagte Rosalie, entsetzt und beeindruckt zugleich. „Ich hätte nicht gedacht, das ausgerechnet du…“
„Ich möchte nicht so tun, als ob ich besonders mutig wäre, wenn ich den Namen sage“, antwortete Cayenne. „Ich habe einfach nie gewusst, dass man es nicht sollte. Verstehst du`? Ich hab noch eine Menge zu lernen…Ich wette“, fuhr sie fort und redete sich etwas von der Seele, das ihr seit kurzem Sorge bereitete, „ich wette, ich bin die Schlechteste in der Klasse.“
„Das glaub ich nicht. Es gibt eine Menge Leute aus Sterblichenfamilien und sie lernen trotzdem schnell.“
Während sie sich unterhielten, hatte der Zug Stuttgart hinter sich gelassen. Wiesen mit Blumen und Bächen die wie aus dem Märchenland stammten zogen an ihnen schnell vorbei. Eine Weile schwiegen sie und schauten hinaus auf Felder und Wege.
Um halb 12 drang vom Gang ein lautes Geklirre und Geklapper herein, und ein Mann mit Falten im Gesicht schob die Tür auf und sagte murrend: „Hunger?“
Cayenne, die nicht gefrühstückt hatte, sprang auf, doch Rosalies Ohren liefen wieder rosa an. Sie habe Brote dabei, nuschelte sie. Cayenne trat hinaus in den Gang.
Bei Onkel und Tante hatte sie nie Geld für eigenes Essen gehabt, und nun, mit den Taschen voll klimpernder Drachmen, hatte sie große Lust, so viele Schokobrötchen zu kaufen, wie sie nur tragen konnte, doch der Mann hatte keine Schokobrötchen. Es gab in Blätterteig gewickelte Kastanien, jedenfalls sah es danach aus und etwas zu trinken was hellblau schimmerte und Bläschen warf. Dann gab es noch Muffins die in allen Farben leuchteten, und einige seltsame Dinge, die Cayenne noch nie gesehen hatte. Damit ihr nichts entginge, nahm sie von allem etwas und zahlte dem Mann 11 goldene Drachmen mit grünen und 7 mit blauen Steinen in der Mitte.
Rosalie machte große Augen, als Cayenne mit all den Sachen ins Abteil zurückkam und sie auf einen leeren Sitz fallen ließ.
„Bist wohl ziemlich hungrig?“
„Ich verhungere gleich“, sagte Cayenne und nahm einen großen Bissen von einem Muffin der hellgrün schimmerte. Rosalie hatte ein klobiges Papierbündel herausgeholt und es aufgewickelt. Drin waren vier belegte Brote. Sie zog eins davon auseinander und sagte: „Er vergisst immer, das ich Rübenkraut nicht mag.“
„Ich tausch es für einen hiervon“, sagte Cayenne und hielt eine Muffin hoch. „Na los…“
„Das Brot magst du sicher nicht, es ist ganz trocken“, sagte Rosalie. „Er hat nicht viel Zeit“, fügte sie rasch hinzu, „mit gleich fünfen von uns, du weißt ja.“
„Ach, komm schon, nimm dir einen Muffin“, sagte Cayenne, die noch nie etwas zu teilen gehabt hatte oder auch nur jemanden, mit dem sie etwas hätte teilen können. Es war ein gutes Gefühl hier mit Rosalie zu sitzen und sich durch all die Muffins und Kuchen zu futtern (die Brote hatten sie längst vergessen).
„Was ist das?“, fragte Cayenne und hielt die Flasche mit der hellblauen Flüssigkeit hoch die in ihrem Innern schimmerte und Bläschen warf. „Das sind Luftgeister. Wenn du es trinkst dann schwirren sie etwas in deinem Kopf herum und helfen dir dich zu entspannen. Diese Flaschen sind meistens sehr teuer.“
Rosalies Augen wanderten hinüber zu dem Haufen Kastanien im Blätterteig, die nur darauf warteten aufgegessen zu werden. „Bedien dich“, sagte Cayenne. „Aber in der…in der Menschlichenwelt bleiben die Leute immer erschöpft wenn sie Energydrinks zu sich nehmen.“
„Wirklich? Soll das heißen, sie schlafen nur?“ Rosalie klang verblüfft. „Komisch!“
Cayenne machte große Augen, als sie spürte wie etwas sie an ihren Haarspitzen kitzelte. Es war ein Bläschen, und wenn sie genauer hinschaute schwamm im Bläschen ein kleines helles goldenes Licht. Es leuchtete mal auf und dann wieder nicht. „Sag bloß du kannst sie sehen“, sagte Rosalie und erstaunte als Cayenne die Augen auf etwas Kleines wandte was sie niemals entdeckt hätte. „Na ja, ich hab sie gespürt.“ Daraufhin hielt Rosalie den Mund, Gedankenversunken nun.

Die Landschaft, die nun am Fenster vorbei flog, wurde zunehmend heller. Wiesen ähnelten nur noch einem Traum entflohen und die Seen waren so glasklar das man die Fische auf dem Grund erkannte. Der Himmel war nicht länger vorhanden. Es war ganz komisch. Ein weißes helles Licht erstrahlte die gesamte Länge auf der sie mit dem Zug fuhren. Wolken gab es so gut wie keine. Nur weißes goldenes schimmerndes Licht.
An der Abteiltür klopfte es, und das Mädchen mit dem schmalen Gesicht, an dem Cayenne auf dem Bahnsteig vorbeigekommen war, kam herein. Sie sah ganz verweint aus.
„Tut mir Leid“, sagte sie, „aber habt ihr vielleicht eine Eule gesehen?“
Als sie die Köpfe schüttelten, fing sie an zu klagen: „Ich hab sie verloren. Immer haut sie ab!“
„Sie wird schon wieder auftauchen“, sagte Cayenne.
„Ja“, sagte das Mädchen verzweifelt. „Gut, falls ihr sie seht..:“
Sie verschwand wieder.
„Weiß nicht, warum sie sich so aufregt“, sagte Rosalie. „Wenn ich eine Eule mitgebracht hätte, dann wäre ich sie so schnell wie möglich losgeworden. Doch was soll’s, hab ja Kitty mitgebracht, ich sollte also lieber den Mund halten.“
Die Katze döste immer noch auf Rosalies Schoß.
„Sie könnte inzwischen gestorben sein, ohne dass ich es gemerkt hätte“, sagte Rosalie voller Abscheu. „Gestern hab ich versucht sie weiß zu bleichen, damit sie interessanter aussieht, aber die Beschwörungsformel hat nicht gewirkt.“
In dem Moment als sie den Satz beendete wurde die Abteiltür erneut aufgeschobene. Wieder war es das eulenlose Mädchen, doch diesmal war ein Junge bei ihr. Er trug schon jetzt seinen neuen Heavenshall Umhang.
„Hat jemand eine Eule gesehen? Natalie hat ihre verloren“, sagte er mit gebieterischer Stimme. Er hatte einen schwarzen Haarschopf und recht weiße Zähne. „Wir haben ihr schon gesagt, dass wir sie nicht gesehen haben“, erklärte Rosalie. Doch der Junge hörte nicht zu. „Ich bin übrigens Alexander Watson, und wer seid ihr?“
Cayenne überrascht vom schnellen Themenwechsel sah Rosalie an und war erleichtert, in ihrem verblüfften Gesicht ablesen zu können, dass auch sie nicht den Stimmungswechsel einzuordnen wusste.

„Ich bin Rosalie Green“, murmelte Rosalie.
„Cayenne O’Hion“, sagte Cayenne.
„Ach tatsächlich?“, sagte Alexander. „Natürlich weiß ich alles über dich, ich hab noch ein paar andere Bücher, als Hintergrundlektüre, und du stehst in der Geschichte der modernen Beschwörungen, im Aufstieg und Niedergang der dunklen Magie und in der Großen Chronik der Magie des 20 Jahrhunderts.“
„Nicht zu fassen“, sagte Cayenne, etwas schwurbelig im Kopf.
„Meine Güte, hast du das nicht gewusst, ich jedenfalls hätte alles über mich raus gefunden, wenn ich du gewesen wäre“, sagte Alexander. „Wisst ihr eigentlich schon, in welches Haus ihr kommt? Ich hab herumgefragt und hoffentlich komme ich zu dem Erdstamm ich habe mich schon immer der Erde am nächsten gefühlt. Da hört man auch das Beste, es heißt Dr. Mavelius selber war dort, aber ich denke, der Luftstamm wäre auch nicht schlecht…Gut denn, wir suchen jetzt besser weiter nach Natalies Eule. Übrigens, ihr beide solltet euch lieber umziehen, ich glaube, wir sind bald da.“
Das eulenlose Mädchen im Schlepptau zog er von dannen.
„Egal, in welchen Stamm oder Haus ich komme, Hauptsache, der ist woanders“, sagte Rosalie. „Aber wahrscheinlich sollte ich zu meinen Schwester in den Stamm.“
„In welchem Stamm sind denn deine Schwestern`“, fragte Cayenne.
„Erdstamm“, sagte Rosalie. Wieder schienen sie düstere Gedanken gefangen zu nehmen. „Mum und Dad waren auch dort. Ich weiß nicht, was sie sagen werden, wenn ich woanders hinkomme. Der Luftstamm wäre sicher nicht allzu schlecht, aber stell dir vor, sie stecken mich in den Feuerstamm.“

„Das ist das Haus, in dem Dark…ich meine, die dunkle Elfe war?“
„Ja“, sagte Rosalie. Sie ließ sich mit trübseliger Miene in ihren Sitz zurückfallen.
„Und was machen jetzt eigentlich deine älteren Schwestern, wo sie aus der Schule raus sind?“
Cayenne war neugierig, was eine Beschwörerin wohl nach der Schule anstellen mochte.
„Cecilia ist in Ägypten und erforscht die Pyramiden und Briannah ist in Rom und macht sonst was.“, sagte Rosalie. „Hast du schon von Fleeneys Beschwörerbank gehört? Es kam ganz groß in der WELF Zeitung, aber den kriegst du wohl nicht bei den Sterblichen: Jemand hat versucht ein Hochsicherheitsverlies auszurauben.“
Cayenne starrte sie an. „Wirklich? Und weiter?“
„Nichts, darum hat die Sache ja Schlagzeilen gemacht. Man hat sie nicht erwischt. Meine Mutter sagt, es muss eine mächtige schwarze Beschwörerin gewesen sein, wenn sie bei Fleeneys eindringen konnte, aber sie glauben nicht, dass sie etwas mitgenommen haben, und das ist das Merkwürdige daran. Natürlich kriegen es alle mit der Angst zu tun, wenn so etwas passiert, es könnte ja die Dunkle Elfe dahinter stecken.“

Cayenne dachte über diese Neuigkeit nach. Inzwischen spürte sie immer ein wenig Angst in sich hoch kribbeln wenn der Name von der Dunklen Elfe fiel. Das gehörte wohl dazu, wenn man in die Welt der Beschwörer eintrat, doch es war viel einfacher gewesen, „Dark Lady“ zu sagen, ohne sich deswegen zu beunruhigen.
„Für welche Beschwörtunier – Mannschaft bist du eigentlich?“, fragte Rosalie.
„Äh…ich kenne gar keine“, gestand Cayenne.
„Was?“ Rosalie sah sie verdutzt an. „Ach, warte es nur ab, das ist das beste Spiel der Welt…“ Und dann legte sie los und erklärte alles über die Regeln, die verschiedenen Angriffstechnicken und Verteidigungen, der sieben Spieler, beschrieb berühmte Spiele, die sie mit ihren Schwestern besucht hatte, und die Ausrüstung, die sie gerne kaufen würde, wenn sie das Geld dazu hätte. Gerade war sie dabei, Cayenne in die raffinierteren Züge des Spiels einzuführen, als die Abteiltür wieder aufging. Doch diesmal waren es weder Natalie, das eulenlose Mädchen, noch Alexander Watson. Drei Mädchen traten ein und Cayenne erkannte sofort die mittlere von ihnen: Es war das rothaarige Mädchen aus Monsieur Maurices Laden. Sie musterte Cayenne nun viel interessierter als in der Sternenallee.

„Stimmt es?“, sagt sie. „Im ganzen Zug sagen sie, dass Cayenne O’Hion in diesem Abteil ist. Also du bist es?“
„Ja“, sagte Cayenne. Sie sah die anderen Mädchen an. Beide waren dünn und wirkten ziemlich dumm. Wie sie da zur Rechten und Linken des rothaarigen Mädchens standen, sahen aus wie ihre Dienstmädchen.
„Oh, das ist Caitlin und das ist Georgia“, bemerkte das rothaarige Mädchen lässig, als sie Cayennes Blick folgte. „Und mein Name ist Diana. Diana Riverslide.“
Von Rosalie kam ein leichtes Husten, das sich anhörte wie ein verdruckstes Kichern.
Diana Riverslide sah sie an.
“Meinst wohl, mein Name ist komisch, was? Wer du bist, muss man ja nicht erst fragen. Meine Mutter hat mir gesagt, das alle Greens blond, schlank und mehr Kinder haben, als sie sich leisten können.“
Sie wandte sich wieder Cayenne zu.
„Du wirst bald feststellen, dass einige Familien viel besser sind als andere, O’Hion. Und du wirst dich doch nicht etwa mit der falschen Sorte abgeben. Ich könnte dir behilflich sein.“
Sie streckte die Hand aus, doch Cayenne machte keine Anstalten, ihr die ihre zu reichen.

„Ich denke, ich kann sehr gut selber entscheiden, wer zu falschen Sorte gehört“, sagte sie kühl. Diana Riverslide wurde nicht rot, doch ein Hauch Rosa erschien auf ihren Wangen.
„Ich an deiner Stelle würde mich vorsehen, O’Hion“, sagte sie langsam. „Wenn du nicht ein wenig höflicher bist, wird es dir genauso ergehen wie deinen Eltern. Die wussten auch nicht, was gut für sie war. Wenn du dich mit Gesindel wie den Greens und dieser Butterlilie abgibst, wird das auf dich abfärben.“
Cayenne und Rosalie erhoben sich. Rosalies Gesichts war nun so rot das sie gleich platzen würde. „Sag das noch mal“, sagte sie.
„Oh, ihr wollt euch mit uns schlagen?“, höhnte Riverslide. „Außer ihr verschwindet sofort“, sagte Cayenne, was mutiger lang, als sie sich fühlte, denn Caitlyn und Georgia waren viel kräftiger als sie und Rosalie.

„Aber uns ist überhaupt nicht nach Gehen zumute, oder Mädels? Wir haben alles aufgefuttert , was wir hatten, und bei euch gibt es offenbar noch was.“
Georgia griff nach den Kastanien im Blätterteig neben Rosalie. Rosalie machte einen Sprung nach vorn, doch bevor sie Georgia auch nur berührt hatte, entfuhr dieser ein fürchterlicher Schrei. Kitty, die Katze, baumelte von Georgias Handgelenk herab, ihre scharfen kleinen Zähne tief in ihre Knöchel versenkt…Caitlyn und Riverslide wichen zur Seite, als die jaulende Georgia Kitty weit im Kreis herum schwang. Als Kitty schließlich wegflog und gegen das Fenster klatschte, verschwanden alle drei auf der Stelle. Vielleicht dachten sie, noch mehr Katzen würden zwischen den Süßigkeiten lauern, oder vielleicht hatten sie Schritte gehört, denn einen Augenblick später trat Alexander Watson ein.

„Was war hier los?“, sagte er und blickte auf die Naschereien, die auf dem Boden verstreut lagen. Rosalie packte Kitty am Schwanz und hob sie hoch.
„Ich denke, sie ist k.o gegangen“, sagte Rosalie zu Cayenne gewandt. Sie besah sich Kitty näher. „Nein…doch nicht. Ist wohl wieder eingeschlafen.“
Und so war es.
„Hast du Riverslide schon einmal getroffen?“
Cayenne erzählte von ihrer Begegnung in der Sternenallee. „Ich hab von ihrer Familie gehört“, sagte Rosalie in düsterem Ton. „Sie gehörten zu den Ersten, die auf unsere Seite zurückkehrten, nachdem die Dunkle Elfe verschwunden war. Sagten, sie seien verhext worden. Meine Mutter glaubt nicht daran. Sie sagt, Riverslides Mutter brauchte keine Ausrede, um auf die dunkle Seite zu gehen.“ Sie wandte sich Alexander zu. „Können wir dir behilflich sein?“

„Ich schlage vor, ihr beeilt euch ein wenig und zieht eure Umhänge an. Ich war gerade vorn beim Lokführer, und er sagt, wir sind gleich da. Ihr habt euch nicht geschlagen, oder? Ihr kriegt noch Schwierigkeiten, bevor wir überhaupt da sind!“
„Kitty hat gekämpft, nicht wir“, sagte Rosalie und blickte ihn finster an. „Würdest du bitte gehen, damit wir uns umziehen können?“
„Schon gut. Ich bin nur rein gekommen, weil sich die Leute draußen einfach kindisch aufführen und ständig die Gänge auf und ab rennen“, sagte Alexander hochnäsig. „Und übrigens, du hast Dreck an der Nase, weißt du das?“
Unter dem Zornfunkelnden Blick von Rosalie ging er schließlich hinaus.

Cayenne sah aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel. Unter einem tief goldenen Himmel konnte sie noch Berge und Wälder erkennen. Der Zug schien langsamer zu werden.
Die beiden legten die Jacken ab und zogen ihre langen weißen Umhänge an. Rosalies Umhang war ein wenig zu kurz für sie, man konnte ihre Strümpfe darunter sehen.
Eine Stimme hallte durch den Zug: „In fünf Minuten kommen wir in Heavenshall an. Bitte lassen Sie ihr Gepäck im Zug, es wird für Sie zur Schule gebracht.“
Cayenne spürte ein Ziehen im Magen und Rosalie sah unter ihrem langen Pony ganz blass aus. Sie stopften sich den lezten Rest Süßigkeiten in die Taschen und traten hinaus auf den Gang, der schon voller Schüler war.

Der Zug bremste und kam zum Stillstand. Alles drängelte sich durch die Tür und hinaus auf einen kleinen, hellen Bahnsteig. Cayenne zitterte in der kalten Abendluft. Plötzlich erhoben sich golden Flügel über die Köpfe der anderen und eine Stimme die Cayenne bekannt vorkam rief: „Erste Klasse! Erste Klasse hier rüber! Alles klar, Cayenne?“
Butterlilies kleines zartes Gesicht strahlte sie an.
„Nu mal los, mir nach…noch mehr Erstklässler da? Passt auf, wo ihr hintretet! Erste Klasse mir nach!“
Rutschend und stolpernd folgten sie Butterlilie kleine Steinstufen einen Berg voller Blumen hoch. Um sie her war es so dunkel, dass Cayenne vermutete, zu beiden Seiten müssten dichte Bäume stehen. Kaum jemand sprach ein Wort. Natalie, das Mädchen das immer ihre Eule verlor, schniefte hin und wieder.

„Augenblick noch, und ihr seht zum ersten Mal in eurem Leben WELF“, rief Butterlilie über die Schulter, „nur noch um diese Biegung hier.“
Es gab ein lautes „Ooooohhh!“
Er enge Pfad war plötzlich zu Ende und sie standen am Abgrund einer großen Schlucht, in der sich tief unten das tosende Meerwasser an den Felsen brach. Über ihren Köpfen schwebte eine Seilbahn. Und ganz oben auf den Felsen thronte ein gewaltiges Schloss mit vielen Zinnen und Türmen.
„Nicht mehr als vier in einer Schaukel“, rief Butterlilie und deutete auf die Seilbahn, die auf einer Plattform vorm Abgrund befestig war. Cayenne und Rosalie stiegen in eines der Gondelartigen Dinger und ihnen hinterher Natalie und Alexander.
„Alle drin?“, rief Butterlilie, die ihre Flügel ausgebreitet hatte und in der Luft schwebte. „Nun denn vorwärts“
Die kleinen Schaukeln setzten sich gleichzeitig in Bewegung und glitten über die höher werdenden Tiefen des Abgrunds. Alle schwiegen und starrten hinauf zu dem großen Schloss. Es thronte dort oben, während sie sich dem Felsen näherten, auf dem es gebaut war.
„Köpfe einziehen“, rief Butterlilie als sie in einer Auffangstation ankamen und das Dach der oben liegenden Plattform anfing sich über sie wölben.
Dort stiegen alle aus.

„He, du da! Ist das deine Eule?“, rief Butterlilie, die die Schaukeln musterte, während die Kinder ausstiegen.
„Thalia“, schrie Natalie selig vor Glück und streckte die Hände aus. Dann stiefelten sie hinter Butterlilie einen Felsgang empor und kamen schließlich auf einer weichen feuchten Wiese voller weißer und roter Rosen im Schatten des Schlosses heraus.
Sie gingen eine lange Steintreppe hoch und versammelten sich vor dem riesigen Eichentor des Schlosses. „Alle da? Du da, hast noch deine Eule?“ Butterlilie hob ihre kleine Hand und klopfte dreimal an das Schlosstor.


Impressum

Texte: Die Satzbildung gehört am Anfang hin alles Joanne K. Rowling. Der Rest ist einfach dazuerfunden oder verändert worden.
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch all jenen die es gerne lesen wollen.

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