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Seriöse Wahrsagerin

 

Ist die Zeit eine gerade Linie auf der wir uns voranbewegen? Wenn dem so wäre, wieso sehen wir nicht, was vor uns liegt? Gehen wir im Nebel oder sind wir nicht fähig unseren Kopf zu heben, nur dazu verdammt, unsere Füße anzustarren, um nicht zu stolpern? Vielleicht ist die Zeit aber auch eine Spirale und wir können gar nicht um die Ecke sehen und erfahren, was uns auf dem Weg erwartet. Dann wäre es aber interessant zu wissen, ob wir uns aus der Spirale raus oder in die Spirale rein bewegen. Ist der Tod die Mitte oder der äußerste Punkt? Aber vielleicht ist die Zeit auch etwas ganz anderes? Eine Kugel auf der wir uns bewegen und nicht wissen … ist Ihnen etwas aufgefallen? Wir wissen nie etwas. Wieso ist das so? Ich werde es Ihnen erklären. Wir wissen nie etwas, weil wir es uns nicht trauen. Ja! Sie sind ein Feigling! Sie schaffen es nicht, der Wahrheit zu begegnen und warten immer nur, bis jemand anderes den ersten Schritt wagt. Sie warten, bis etwas wissenschaftlich belegt ist, erst dann trauen Sie sich ins harte Brot zu beißen. Es muss doch immer die eine richtige Lösung sein, das objektive Weltbild, in dem sich alle Zeiger richtig drehen. Aber es ist auch eine Frage der Masse. – Es geht um die Menge der Menschen, die an etwas glauben oder etwas befürworten. Herdeneffekt nennt man das. Wenn man etwas nur oft genug sagt und genügend Menschen daran glauben, dann wird es wahr. Das weiß jeder und weil es jeder weiß, stimmt es auch (hier beißt sich die Katze in den Schwanz – und er schmeckt ihr). Aber worauf ich hinaus wollte und immer noch will ist die Zeit. Nehmen wir an, ich hätte die Mittel und die Energie, ein Bild der Zeit zu verbreiten, ich würde renommierte Wissenschaftler motivieren (die renommierten kosten immer mehr, aber hier geht es nicht um Geld), berühmte Menschen würden davon in Interviews reden, meine Facebookseite hätte 500 Millonen likes und alles würde darauf hinaus führen, dass man die Zukunft voraussagen kann. Dass ich wüsste wie die Zeit aufgebaut ist und nur genügend Kapital bräuchte, um mein Wissen allen zugänglich zu machen. Ja, sicher, Sie fragen sich, wie ich meine Theorie beweisen könnte. Mit Geld. Schauspieler kaufen, Videos machen – so funktioniert auch Fernsehmagie. Es ist also nur eine Frage der Macht, des Geldes und der Zeit wenn man eine Wahrheit schaffen will. Die Menschen werden folgen und sich nicht fragen, ob es stimmt oder nicht. Je mehr Zeit vergeht, umso wahrer wird meine Wahrheit.

 

Was ist aber, wenn man nicht genug Kapital, aber umso mehr Wahrheit hat? Dann muss man seine Ziele kleiner setzen. Dann muss man auch die Strategie ändern. Wahrsagen ist keine Zauberei, es ist ein Handwerk, das jeder erlernen kann. Was man dazu braucht? Rhetorik, Beobachtungsgabe und Dreistigkeit. Man darf seine Aussagen nie zu konkret werden lassen aber auch etwas riskieren. Es gibt Wahrscheinlichkeiten und Erfahrungswerte, die man sich im Laufe des Ratespiels aneignet. Und so kann man die Zukunft sehen, durch den Nebel oder um die Ecke, das sind alles nur Metaphern einer Kunst, die ich beherrsche. Glauben Sie es mir? Glauben Sie es mir!

 

 

 

„Ich sehe Geld. Sie werden viel Geld bekommen.“

 

„Wann? Wie viel?“

 

„Bald, in einem Jahr. Es wird viel sein. Es wird Ihre Probleme lösen.“

 

„Ja? Gott sei Dank. Und was ist mit der Liebe? Werde ich meinen Traummann treffen?“

 

Die Augen der Frau glänzen. Sie hält beide Hände vor der Brust zusammen und schaut mich erwartungsvoll an. Ich blicke nach unten und konzentriere mich. Was sollte ich ihr sagen? Sie müsste an die 50 Jahre alt sein, das Gewicht dreistellig und ihren Friseur sollte man verhaften. Wie stehen da die Chancen auf einen Partner?

 

„Ja, ich sehe Liebe. Große, wahre Liebe. Aber Sie müssen kämpfen. Es wird problematisch, aber am Ende schaffen Sie es“, brumme ich wie aus einer tiefen Trance.

 

„Ja, wann? Wer wird es sein? Sieht er aus wie Howard Carpendale?“

 

Ich bin Profi genug bei dieser Frage nicht zu lachen. Aber tatsächlich fragt mich jede dritte alleinstehende Frau in ihrem Alter, ob ihre große Liebe wie ein Prominenter aussehen wird. Und was soll ich sagen …

 

„Ja, ich sehe blonde Haare und Kunst, Kreativität. Aber Sie müssen ihn suchen. Gehen Sie unter Leute.“

 

„Oh ja, ich bin sehr kunstvoll müssen Sie wissen. Ich male und schreibe Gedichte in Internetforen“, bekräftigt sie euphorisch, was ich ihr schon im ersten Moment ansehen konnte. Ihre Schminke in Kombination mit dem Outfit erinnerte mich stark an Moderne Poesie. Man sieht und liest sie – aber wieso jemand so etwas tut, verstehen nur die wenigstens. Aber ja, ich führe dieses Beispiel auf, um Ihnen zu zeigen, wie mühsam und beschwerlich mein Weg zur Wahrheit ist. Ich muss mich mit solchen skurrilen Personen über Wasser halten, um irgendwann vielleicht meine große Offenbarung zu verkünden. Und obwohl ich diese Menschen verarsche, schätze ich sie. Ich schätze sie, weil sie nicht im Strom der Massen mitschwimmen. Sie glauben an etwas anderes, an Wunder, sie haben Träume. Ein wenig sind sie wie ich, nur dass ich genau weiß, was und wofür ich etwas machen. Sie dagegen suchen noch ihre Wahrheit, vielleicht ihre Bestimmung, man kann es nennen wie man will.

 

Ich helfe ihnen bei der Suche, ich lasse sie weiter hoffen und glauben, bis sie ihr Ziel finden, vielleicht durch Zufall, vielleicht durch meinen Rat. Wer weiß, was die Zukunft bringt?

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.04.2014

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