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Rosie und Walter

 

Rosie und Walter

 

Aus meiner Zivildienstzeit habe ich nicht viel mitgenommen. Meine Tage waren getränkt in würzigen Uringeruch und endlosen Geschichten nie müder werdender Senioren, die so viel erlebt hatten, dass sie jede günstige wie ungünstige Gelegenheit dazu nutzten, ihr Memoiren den Zivis um die Ohren zu pfeffern. Ich hatte alle Weltkriege aus mehreren Perspektiven miterlebt, die politische und wirtschaftliche Geschichte des 20 Jahrhunderts waren mir ebenfalls geläufig, aber auch von privaten Triumphen wurde berichtet, wie eine Unterschrift von Romy Schneider, die Heidrun, eine äußerst vitale und erzählfreudige Heimbewohnerin, 1954 ergattern konnte.

Besonders in Erinnerung und im Herzen sind mir zwei Einwohner geblieben. Rosmarie und Walter. Sie hoben sich sehr vom Rest der Einwohner ab. Jeden Morgen frühstückten sie ausgiebig und lasen die Zeitung. Dabei ließ es sich Walter nie nehmen, schon bevor Rosie da war, für sie den lokalen Teil auf ihren Platz zu legen und jedes Mal, wenn sie kam, aufzuspringen, um den Stuhl vom Tisch weg zu ziehen, damit Rosie Platz nehmen konnte.

„Ein Engel raubt mir die Sinne, verschone mich vor deiner Schönheit“, rief er theatralisch und unüberhörbar in den Frühstücksraum.

Rosie grinste dann immer verlegen und setzte sich zu ihm.

Auch mit ihrem Kleidungsstil stachen die beiden aus der Masse heraus. Zwischen den Trainingsanzügen und schlabbrigen Strickjäckchen waren ihre aufwändigen, altmodischen Aufmachungen eine wahre Pracht. Walter war ein ehemaliger Seemann, was er auch demonstrativ zur Schau stellte, indem er so oft es ging seine Uniform spazieren trug. Die Mütze mit dem goldenen Rand und die dazu passenden Hemd und Hose glänzten förmlich vor Anmut und Würde. Das Weiß blendete jeden Betrachter und würde man die Spuren der Zeit, die Walters Gesicht mit zahlreichen Falten gesegnet hatten, außer Acht lassen, könnte man denken, ein im Dienst stehender Kapitän stünde vor einem.

Rosie trug immer elegante Kleider, dazu pompösen Schmuck und mächtig viel Farbe im Gesicht – wir Zivis scherzten manchmal, dass sie gut auf youtube Karriere machten könnte, mit Schmink- und Makeuptipps.

Und das Alter schien scheinbar wirklich nur die äußere Hülle der beiden in Mitleidenschaft gezogen zu haben. Im Herzen waren sie jung geblieben: Ein Beispiel dafür konnte ich eines Abends, etwas peinlich berührt, selbst miterleben. Als ich nach dem Essen den Müll raus brachte, erwischte ich die beiden hinter den Müllcontainern beim Knutschen. Als sie mich sahen, kicherten sie wie zwei verliebte Teenager und machten einfach weiter.

„Ich war früher eine große Schauspielerin“, erzählte Rosie voller Stolz. „In Berlin war ich am Theater ein Star! Die Leute haben mich geliebt, wenn ich den großen Rollen Leben einverleibte. Gejubelt und geklatscht haben sie. Applaus ohne Ende, ohne Ende.“

Walter klatschte dann in die Hände und Rosie ließ sich wie zu alten Zeiten feiern.

In ihrem Zimmer stand ein Autogramm-Foto auf dem sie abgebildet war. Auf ihrer Kommode thronte dieses Andenken, das sie jeden Tag persönlich vom Staub befreite, neben dem Glas mit ihren Dritten.

 

Eines Morgens, als ich herein kam, saß Rosie alleine am Tisch. Ich fragte sie, wo Walter sei. Sie antwortete: „Er ist einfach nicht aufgestanden. Einfach nicht aufgewacht ist er.“

Noch nie zuvor hatte ich so eine raumfüllende Leere gesehen, wie sie an diesem Morgen in Rosies Augen lag. Sie saß da und starrte auf die Zeitung, die ungeöffnet vor ihr lag.

In den nächsten Wochen ging es stark bergab mit Rosie. Sie klagte über Schmerzen, wollte dann nichts mehr essen und ging nicht mehr raus. Im Rollstuhl fuhr ich sie um das Heim spazieren. Sie blieb stumm und erwiderte keinen meiner kläglichen Konversationsversuche. Nur manchmal brummelte sie ein Wort vor sich hin, wiederholte es dauernd und schwieg dann wieder.

„Tor“ entglitt es ihren trockenen Lippen, die seit Walter Tod keinen Lippenstift mehr trugen. Sie hauchte dieses Wort immer wieder wie ein Gebet oder einen Wunsch, den sie an jemanden richtete.

Kurze Zeit später starb sie.

Als ihre Familie ihre persönlichen Sachen abholte, fragte ich sie, ob ich das Autogramm-Foto von Rosie für mich haben könnte.

„Autogramm-Foto von meiner Mutter?“, fragte ihr Sohn verwundert.

„Ja, das auf der Kommode stand, in dem silbernen Rahmen“, antwortete ich unsicher mit einem leicht fragenden Unterton.

„Das ist nicht sie auf dem Bild. Meine Mutter war Kartenverkäuferin beim Fussballstadion in Berlin. Aber wenn Sie das Foto haben wollen, bitte schön.“

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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2014

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