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Vergessenes Lachen

Er:
Mein Gedächtnis ist wie ein weißes Blatt Papier. Ränderlos. Die Kanten abgerundet, Beschaffenheit: dick. Das Weiß des Papiers ist glänzend, blendend, vollkommen. Leer. Auch wenn für viele Weiß die Farbe des Himmels ist, ist es für mich die höllischste Farbe auf Erden. Weiß steht für Fragen, Weiß steht für ein leeres Leben ohne Ursprung und Wurzel, Weiß ist der Nebel, der die letzten 24 Jahre meines Lebens verschluckt. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ein mir unbekanntes Gesicht. Es ist schön, doch nicht das meine, wie ein ausgeliehenes Schmuckstück, dessen Wert man nicht kennt und das einem einfach in die Hand gedrückt wurde: hier, es ist deines, viel Spaß damit. Doch es schmückt mich nicht. Ich weiß, dass es nur geliehen ist und daher fremder Besitz. Ich will keine Geschenke. Ich will mein eigenes Sein selbst erarbeiten. Mein Sein! Was soll das überhaupt sein, das Sein? Die Identität eines Menschen ist seine eigene Erfindung. Max Frisch schrieb: „Jeder Mensch erfindet irgendwann die Geschichte, die er dann sein Leben nennt“. Also erfinde ich mein Leben, fülle das weiße Blatt mit Worten, die schon zusammenpassen werden, bewusst unbewusst von dem geleitet, was ich meine, einmal vertraut genannt zu haben.

 

Er:
Mein Gedächtnis ist wie eine überfüllte Bibliothek. Ränderlos. In jeder Ecke stapeln sich Bücher, die nicht mehr in die vollgestopften Regale passten. Ich kann nicht vergessen. Jedes Detail meines Lebens haftet an mir wie der Spott am Schaden. Und alles klingt wie Spott für mich, denn keiner versteht mein Problem; wo liegt das Problem, wenn man alles weiß? Das ist doch großartig. Ein vollkommenes Gedächtnis. Ist es nicht das, was sich jeder verzweifelte Schüler wünscht, wenn er einen Tag vor einer Arbeit anfängt zu lernen? Natürlich hat es auch seine Vorteile, aber die Nachteile sind immense. Immens wurde im 19. Jahrhundert aus dem französishcen immense oder aus dem lateinischen immensus entlehnt. Letzteres stammt vom lateinischen Verb metiri (messen, abmessen) ab. Sehen Sie, was nützt mir dieses Wissen, wenn ich gleichzeitig keinen einzigen Moment vergessen kann, der meine Kindheit zur Hölle gemacht hat.
Vergessen ist mein einziger Wunsch. Am liebsten würde ich gar nichts mehr wissen, einfach alles vergessen, glücklich und unbeschwert leben. Wie gut haben es doch die Dummen, die sich um nichts sorgen. Ich wäre so gerne leer und glücklich.
Ich sehe jeden Tag vor mir ausgebreitet, alle 20 Stunden, jede Minute, jeden Schlag und jede Erniedrigung. In den restlichen vier Stunden fand ich Schlaf, was das einzig schöne für mich war. Mein Kopf schaltete einfach ab, ich träumte nichts, doch wachte immer exakt nach vier Stunden auf als hätte ich einen inneren Wecker, der meine Lider geräuschlos öffnete. So gewöhnte ich mich an meinen Alltag. Für die Schule musste ich nichts machen. Allein das Zuhören im Unterricht reichte, um alles zu behalten. Mathematik und andere Fächer, bei denen man logisch denken und nicht nur stupide auswendig lernen musste, waren auch kein Problem. Ich beherrschte jedes Gebiet, das in der akademischen Landschaft zur geistigen Überlegenheit berechtigte. Doch sozial war ich alles andere als überlegen. Was machen Kinder mit jemandem, der anders ist? Genau, sie stellen seine Andersartigkeit bloß, grenzen ihn
aus, um ihre Normalität nicht zu gefährden. 
Ich blieb von diesem Phänomen nicht verschont.


Er:
Der Doktor sagte mir, mein Gedächtnis könnte jeder Zeit zurück kommen. Es könnte aber auch sein, dass ich mich nie mehr erinnern werde. Es ist eine Sache des Glücks, des Zufalls, des Willens eines höheren Wesens. Ich weiß nicht einmal, ob ich an Gott glaube. Aber ich denke, wenn ich mir diese Frage stelle, dann bin ich nicht gläubig, denn wenn man glaubt, dann glaubt man immer, egal was passiert.

Er:
Es gibt Gott, aber nicht so, wie ihn die Kirche propagiert. Gott ist ein menschenerfundenes Phänomen, eine Kontrollinstanz für Moral und Tüchtigkeit. Und gäbe es sie nicht, man müsste sie erfinden. Da gebe ich dem guten Voltaire absolut recht. Gott ist etwas Gutes für die menschliche Seele, er ist so etwas wie die Instanthelfer für Einsame und Schwache. Der Mensch braucht ihn. Gott ist ein menschliches Bedürfnis, für menschliche Schwächen und Nöte. Doch wie viel Leid erfuhr die Menschheit bereits durch Religionen? Wie viele Menschen mussten in Gottes Namen sterben? Wieso? Weil Gott auch Macht ist. Weil er so viele Menschen beeinflusst, missbrauchen Menschen seinen Namen für äußerst niedere, menschliche Triebe. Ach, wieso erzähle ich so viel von Gott und der Welt? Kurz: es gibt etwas, das jeder anders nennt, ihr könnt ihn Gott oder Buddha nennen, es ist gleich, solange er euch hilft. Und mir hat er geholfen. In meinen schwersten Stunden betete ich zu Gott und ich ging sogar in die Kirche. Vielleicht wollte ich wenigstens in diesem Punkt den anderen gleichen. Die Kirche war für mich etwas Anziehendes, die Ruhe und der Frieden darin ließen mich mein Unglück vergessen. Es war ein Paradies, aus dem mich niemand vertreiben konnte.

Er:
Ich gehe jetzt oft spazieren. Das soll mir helfen, eventuelle Orte oder Situationen zu erkennen, die meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen sollen. Doch ich habe das Gefühl, dass ich mich in meinem Leben nicht sonderlich viel bewegt habe. Mein Körper mag das Gehen nicht, was er in der Fülle seines beträchtlichen Ausmaßes deutlich zur Schau stellt. Deswegen habe ich auch recht wenig Hoffnung, etwas zu sehen, was ich einmal kannte.

Er:
Ich esse viel. Aus Frust, aus Langeweile, einfach, um zu essen. Ich habe auch keinen Bezug zum Essen; es ist einfach zur Sättigung da. Und wenn man keine Sättigung erfährt, isst man weiter. So verschanze ich mich in meiner Einsamkeit und esse. Zucker und Fett bevorzugt, sie machen glücklich, sie lassen vergessen. Eigentlich sind es Drogen, die man zum Leben braucht und der Entzug ist schwer, weil man ohne die Droge nicht leben kann. Und wie soll man das richtige Maß finden, wenn man Hunger hat?
 


Er:
Ich habe Hunger. Aber was mein Lieblingsessen war, weiß ich nicht. Vielleicht schaffe ich es ja durch essen mein Gedächtnis zu regenerieren. So fett wie ich bin, muss Essen mein größtes Hobby gewesen sein. Also, der Dönerladen da vorne sieht unvergesslich aus. Mal sehen, was dort auf mich wartet.


Er:
Nach der Schule fing ich ein Philosophiestudium an. All die genialen Denker der Geschichte waren für mich das Interessanteste, was ich zwischen dem restlichen Schund der menschlichen Zivilisation anziehend fand. Meine Zeit an der Uni war besser als meine Schulzeit. Ich fand Freunde, die mich für meine Fähigkeiten schätzten und nicht auf mein Äußeres achteten, am Ende wohl auch ihres Äußeren wegen. Das Studium war einfach wie alles für mich. Es war amüsant, die Unzulänglichkeiten der Professoren zu erkennen, wenn sie etwas nicht genau wussten und einfach erzählten, um ihrer Autorität gerecht zu werden. Ich stellte nie jemanden bloß, ich schmunzelte immer nur in mich hinein. „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ – Ob ich das auch von mir behaupten könnte?

Er:
„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“, wie paradox dieser Satz doch ist und wie genau trifft er auf mich zu. Doch nicht im ironische Sinne, wie Platon ihn gemeint hat, sondern ganz buchstäblich. Moment, Platon? Woher weiß ich, wer Platon war? Und dieser Satz – wie komme ich darauf? Der Döner! Es war der Döner! Ich erinnere mich wieder: ich habe etwas mit Philosophie gemacht und dieser Satz war irgendwie wichtig. Ja, endlich, endlich erinnere ich mich etwas. Vielleicht wird es besser, wenn ich noch einen Döner bestelle? „Hallo, noch einen Döner bitte!“

Er:
Der Dönerladen neben der Kirche war mein Lieblingsort zum Lesen. Dort roch es immer so angenehm und die Atmosphäre war sehr warm. Ich hatte einen Stammecke, in die ich mich immer setzte und las. Zuletzt hatte ich Platon gelesen. Sein berühmter Satz beschäftigte mich. Ich suchte nach einer ähnlichen Aussage, die vergleichbare Wirkung erreichen könnte. Seit kurzem hatte ich den Ehrgeiz entwickelt, mein unerschöpfliches Wissen dazu zu nutzen, berühmt zu werden. Wer, wenn nicht ich, könnte der Menschheit die Erleuchtung bescheren? Auch wenn mein Leben eine Hölle war, so wollte ich doch etwas daraus machen. Wenn ich schon nicht vergessen kann, dann will ich auch unvergesslich werden.


Er:
Vergessen, vergessen. Alles vergessen. Es ist ein Jammer. Nach dem Platon Satz – fällt mir nichts mehr ein. Ich gehe aus dem Dönerladen raus. Dicke Wolken lassen den Himmel vergessen. Es sieht nach Regen aus. Doch ich gehe weiter. Ich will nicht wieder in mein Zimmer mit den weißen Wänden und Decken. 
Eine baufällige Kirche steht vor mir. Die Mauern sehen alt und modrig aus. Efeu schlängelt sich an ihnen hoch. Vor dem Eingang sitzt ein alter Mann auf einem Stück Pappe. Er lehnt an der Kirchenmauer und schaut mit wachen Augen in die Gesichter der Passanten. Wie bei einem Tennisspiel huscht sein Blick hin und wieder zurück, sich an neue Gesichter klammernd. Genüsslich fährt er mit der rechten Hand durch seinen langen weißen Bart, der den größten Teil seines Gesichtes verdeckt. Sein brauner Militärmantel hat unzählige Taschen, scheinbar für alle Un- und Zufälle des Lebens. Doch sie sind alle leer.
Als er mich sieht, starrt er mich durchdringlich an. Ich wende meinen Blick automatisch ab, doch dann ruft er plötzlich meinen Namen und winkt mir zu: „Grüß Gott Mani, wie geht es dir heute?“


Er:
Nach dem Dönerladen ging ich oft in die Kirche und verdaute die Eindrücke des Tages. Hier suchte ich Stille und Harmonie. Ich betete nicht, saß nur da und dachte nach. Hier hatte der unendliche Vorrat meiner Gedanken endlich Platz. Hier habe ich auch Henry kennen gelernt. Er setzte sich eines Tages einfach neben mich und schwieg. Als ich rausging, ging er hinter mir her. Am Ausgang stellte er sich vor mich und stellte sich vor: „Hallo, ich bin Henry. Hast du vielleicht Lust zu philosophieren.“ Alles was ich sah, war sein immenser Bart, der den größten Teil seines Gesichts bedeckte. Und dass er philosophieren wollte... was für ein seltsamer Zufall, als ob er wüsste, dass ich mich damit beschäftige. Ich gab ihm meine Hand und meinen Namen von mir und das verrückteste Gespräch meines Lebens begann.

Er:
Ich gehe zu dem bärtigen Unbekannten. „Wer sind Sie?“, frage ich ihn.
„Weißt du es nicht mehr, mein Junge?“, grinst er mich mit einem sonnigen Lächeln an.
„Nein“, antworte ich irritiert, „ich weiß eigentlich kaum noch etwas. Ich hab mein Gedächtnis verloren.“
Er reißt seine Augen weit auf und starrt mich an: „Uiii“, zieht er einen affenartigen Laut in die Länge, „dann hat ja alles funktioniert, wie du es wolltest.“

Er:
„Ich hätte niemals gedacht, dass Sie so viel wissen“, gab ich erstaunt von mir.
„Ja, man sieht es mir nicht an, aber ich kenne mich gut aus mit dieser Welt, bin ja auch lang genug hier.“
„Und was haben Sie aus ihrem Leben gelernt?“, fragte ich.
„Alles und nichts, mein Junge. Humor, das ist alles, was du brauchst, um zu überleben. Jeder meiner Witze hat genauso einen langen Bart wie ich und trotzdem erzähle ich ihn und lache einen Tick lauter als beim letzten Mal. Kennst du einen Witz?“
Ich überlegte. Und überlegte. Nein, ich kannte keinen Witz. Bei all meinem Wissen, fiel mir kein Witz ein. „Nein, ich kenne keine Witze. Ich habe mich noch nie dafür interessiert“, antworte ich.
„Das ist sehr seltsam, mein Junge, bei all dem, was du in deiner Birne so gelagert hast, kein einziger Witz dabei.“
 
„Woher wissen Sie, wie viel ich weiß?“, fragte ich.
„Ich weiß alles. Ich bin Gott; ein alter Mann mit einem weißen Bart. Wie man sich Gott halt vorstellt“, sagte er in einem feinen ironischen Ton und konnte sein Lachen nicht mehr zurückhalten.
 
Der hat sie doch nicht mehr alle, dachte ich. Und als ob er meine Gedanken lesen konnte, sagte er: „Du glaubst mir nicht? Ich kann es dir beweisen. Ich weiß alles über dich und ich kenne deinen größten Wunsch.“
Jetzt schaute ich blöd. Es hielt sich zwar immer noch alles im Rahmen des Erklärbaren, denn er hätte bis jetzt einfach nur geraten haben können, aber es war
alles sehr seltsam.
„Was ist mein größter Wunsch?“, fragte ich.
„Du willst vergessen, mein Junge. Alles vergessen und dumm sein“, sagte er lächelnd.
„Können Sie das machen?“, fragte ich jede Vernunft über Bord werfend. Ich wollte ihm glauben egal wie verrückt es war.
„Yes, we can“, betonte er übertrieben und konnte sich das Grinsen wieder nicht verkneifen. „Ich kann dir helfen. Nur will ich dich nochmal fragen, ob du das sicher willst. Überlege es dir gut, es gibt kein Weg zurück ins Paradies.“
Paradies? Sollte das ein Witz sein? Es war die Hölle, und so antwortete ich mit einem nie dagewesenen Enthusiasmus in meiner Stimme: „Ja, ich will!“

Er:
„Was wollte ich denn?“, frage ich den Bärtigen.
„Du wolltest das Leben nicht mehr so ernst nehmen, mein Junge. Humor, das ist alles, was du brauchst, um zu überleben. Kennst du den schon: Warum summen Bienen?“, fragt er mich und kann sein Lachen kaum zurückhalten. „Na, weil sie ihren Text vergessen haben“, japst er aus voller Kehle und erfüllt die ganze Straße mit seinem Lachen.

 

 

 

 

Impressum

Lektorat: Carola K.
Tag der Veröffentlichung: 20.11.2013

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