(Er):
Mein Rücken schmerzt, meine Augen sind weich und wässrig, schwach und durstig nach Schlaf. Unter meinen Fingern schmiegt sich die kalte Tastatur wie eine hungrige Katze. Sie möchte das wissen, was ich niemandem sage, was ich selbst noch nicht weiß, was ich nur durch sie im Stande zu erfahren bin. Stille. Wenn etwas ungesagt bleibt, verliert es sich im Nichts. Mein Nichts ist voll von ihr. Jeder Gedanke, der zu plastisch wurde, um nur gedacht zu bleiben, wurde zum Wahn, zum Zwang, zum Rausch und verebbte im Nichts. Ich kontrolliere meine Wünsche rigoros. Ich bin mein strengster Gönner und mein mildester Henker. Immer, kurz bevor ich das Beil niederfallen lasse, gebe ich mir einen Ruck und ziehe meinen Kopf vom sauberen Holzklotz, der voller Kerben und ohne einen Tropfen Blut brachliegt.
Ich habe sie niemals getroffen.
Meine letzte Nachricht war kurz. Mangels passender Wörter blieb ich lakonisch und matt. Doch was ich schrieb, brachte alles zum Ausdruck. Drei Worte blieben meine knappe Botschaft an sie. „Ich liebe dich“ war es nicht. Mag sein, dass diese Liebesbekundung, die schon so viele Paare vereinigte, die richtige wäre, um ihr meine Zuneigung anzuvertrauen. Trauen. – Ich traute mich nicht. Außerdem war es keine Liebe, die ich verspürte. Es war undeutlich, ungreifbar, ungelöst und mein Verstand gebot mir Mäßigung, er ließ mich weiter nach einer Lösung zu suchen. Unbestimmte Angst durchfloss meinen Kopf, ohne Ansatz, ohne Grund hatte ich mich geweigert, etwas zu wagen. Ein Feigling mit breiter Brust: ich muss niemandem etwas beweisen, dachte ich. Doch was war es, was da in mir schwebte und strahlte. Zuneigung war es nicht. Er ist zum empathisch, zu eindimensional und unbestimmt. Verallgemeinert und platt. Was ich empfand war ambivalent und zerstörerisch. Es vereinigte alle mir bekannten Gefühle auf einem Schlachtfeld. Ihnen gegenüber stand alles das, was ich nicht kannte, alle Emotionen und Gemütslagen, die ich noch nicht erfahren durfte, erfahren musste. Und sie zogen gegen einander in die Schlacht. Ein Gemetzel, ein Massaker mitten in mir tobte und zerfraß mich von innen, bei Tag wie bei Nacht. Bis es vorbei war und nichts mehr übrig blieb, eine Leere, ein Nichts.
„Ich bin nichts“, war meine Antwort.
Am Anfang: (Sie)
Ich kam von der Arbeit nach Hause und setzte mich an den Computer. Wie jeden Abend gab ich die selbe Adresse in den Browser ein. Eine Single-Kontakt-Börse sollte meinem einsamen Dasein ein Ende bereiten. Zwei neue Nachrichten wurden angezeigt; die erste war von einem älteren Herren, der auf Frischfleischsuche war.
„Hey Süße, du bist wunderschön, ich kann gar nicht genug von dir kriegen. Ich will dich unbedingt sehen, um unsere Beziehung zu vertiefen, wenn du weißt, was ich meine. Ich hab das nötige Kleingeld und Pillchen, um genug Spaß zu haben. Meld dich, ich warte.
Herbert53“
So sahen die meisten Nachrichten aus. War es denn so schwer für eine attraktive Frau im mittleren Alter einen normalen Mann zu finden? Anscheinend schon. Vielleicht war das Internet nicht der richtige Ort für so eine Suche?
Die zweite Nachricht war von einem User namens Hartman von Aue. Wieder so ein Perverser dachte ich und war schon fast im Begriff, die Nachricht zu löschen, als mich doch noch etwas bewog, auf „Lesen“ zu klicken.
„Hallo,
ich heiße Michael und würde dich gerne kennen lernen. Ich bin 42 Jahre alt und
freiberuflicher Schriftsteller, auch wenn dir meine Romane wahrscheinlich unbekannt sind.
In meiner Freizeit gehe ich laufen und schwimmen.
Ich lese und schreibe natürlich gerne. Ich bin wahrscheinlich das, was man ein gescheitertes Genie oder unentdeckten Stern nennt. Ich würde mich freuen, wenn du dich bei mir meldest.
Dein Mike“
Die Nachricht gefiel mir. Michael schien ein netter Typ zu sein, auch wenn mir seine Selbstbeschreibung etwas komisch anmutete. „Unentdeckter Stern“ – diese Formulierung ließ mich ahnen, wieso er als Schriftsteller nicht besonders erfolgreich war. Aber allein schon, dass er Literatur mochte, machte ihn interessant. Wir würden bestimmt ein paar gemeinsame Themen finden, besonders weil ich in meiner Jugend ein paar Semester Literatur studiert hatte und eine kleine Leseratte bin. Ich antwortete ihm und wir vereinbarten ein Treffen.
(Er):
Den ganzen Tag bereitete ich mich auf das erste Treffen mit ihr vor. Ich dachte nie, dass ich so nervös werden könnte. Aber sie löste etwas mir Unbekanntes in mir aus. Ich fühlte mich wieder wie ein Schuljunge vor dem ersten Kuss. Schon eine Stunde vor der vereinbarten Zeit war ich da. Ich setzte mich ein Stück weit weg von der Bank, die wir als Treffpunkt vereinbart hatten, und wartete. Mein Kopf war voller Fragen. Wie wird sie sein? Kann ich cool bleiben, oder mache ich mich wieder zum Hanswurst? Werden wir uns verstehen, oder wird sie mich überhaupt verstehen? Ich schaffte es immer wieder, Frauen mit meinem Vokabular zu vergraulen. Wenn ich Wörter benutze, die sie nicht kennen, schauen sie mich komisch an und fragen sich wahrscheinlich, was mit mir falsch wäre.
In meinen Gedanken versunken, verging die Zeit wie im Fluge. Ich sah wie eine Frau zu unserer Bank kam, sich setzte und wartete. Ich wusste, dass sie es war, doch ich konnte nicht zu ihr gehen. Etwas in mir hinderte mich. Ich war panisch, zitterte. Konnte mich nicht bewegen. Es gipfelte schließlich darin, dass ich verstört weglief, als ich glaubte, sie hätte zu mir rüber geschaut. Ich lief und hasste mich. Hasste mich und lief schneller.
(Sie):
Ich wartete eine ganze Stunde lang, doch er kam nicht. Im Park waren viele Menschen und vielleicht hatte er mich nicht gefunden, aber dieser Gedanke tröstete mich nur kurz. Es war unmöglich, mich zu übersehen. Unser vereinbartes Zeichen, eine blaue Rose auf der Brust, hatte keiner außer mir an. Wer sonst würde so etwas anziehen? Er hatte mich schlichtweg versetzt. Und ich hätte nicht sonderlich überrascht sein dürfen. Im Internet gibt es eh nur Sonderlinge und Perverse. Wie verzweifelt musste ich sein, um mich auf so etwas einzulassen. Ernüchtert fuhr ich nach Hause, dort angekommen, leerte ich eine Flasche Wein und hörte trauriges Liebesgedudel. Ich war am Boden und erstaunlich mitgenommen von diesem Tag. Ironischerweise öffnete ich kurz bevor ich zu Bett ging noch einmal die Singlebörse und sah seine Nachricht.
„Es tut mir unendlich leid, dass ich dich versetzt habe. Ich konnte mich nicht überwinden, auf dich zuzukommen. Als ich dich gesehen hatte, stockte alles in mir und ich war wie gelähmt. Du löst etwas in mir aus, was ich bis jetzt nicht gekannt habe. Es ist schwer zu beschreiben,ich verstehe es selbst kaum.Auch wenn du mich für verrückt halten magst, ich glaube, dass du die Frau meines Lebens bist. Und es macht mir selber Angst, das zu schreiben.Wie verrückt mag das erst für dich klingen. Ein wildfremder Mann gesteht dir seine Zuneigung, ohne dich je getroffen zu haben. Aber das Herz will, was das Herz will, und ich bin sein wehrloser Sklave. Bitte, halte mich nicht für verrückt. Ich bitte dich, mir eine zweite Chance zu geben. Ich will dich treffen und dich kennenlernen. Noch nie war mir ein Anliegen so ernst.
Dein kopfloser, liebeskranker Mike.“
Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag. So ehrlich und direkt hatte mir noch nie jemand seine Liebe gestanden, und mag es an den vielen Liebesromanen oder an den kitschigen Hollywoodfilmen geschuldet sein, ich wollte ihm glauben. Ich glaubte ihm. Ich stimmte einem zweiten Treffen zu.
Es lief alles genauso wie beim ersten „Treffen“ ab. Er kam nicht und ich hatte die Schnauze endgültig voll. Als ich nach Hause kam, löschte ich meinen Singlebörsenaccount und versprach mir, nie wieder so etwas zu versuchen.
(Er):
Beim zweiten Mal schaffte ich es nicht mal in den Park. Ich verließ meine Wohnung nicht, zog die Jalousien herunter und betrank mich besinnungslos. Wie jämmerlich ich doch war. In badete in meinem Rausch und schlief irgendwann ein. Meine Träume waren wirr und verschwommen. Ich lief durch einen Gang und an den Wänden hingen Bilder meiner Großeltern. Sie alle hielten kleine Kinder in ihren Armen und je weiter ich den Gang entlang ging, umso erwachsener wurden die Kinder auf den Bildern. Schließlich waren meine Eltern zu sehen als erwachsene Menschen. Doch sie hielten keiner Kinder in ihren Armen, je weiter ich kam, umso kleine wurden die Bilder und schließlich waren sie nur noch kleine Punkte, die ich nicht mehr erkennen konnte.
Am nächsten Morgen wachte ich auf. Ich erinnerte mich nur noch daran, dass ich nicht zum vereinbarten Treffen gegangen war. Ich setzte mich an den Computer, um ihr wieder eine Nachricht zu schreiben. Ich schrieb, dass sie mir unbedingt noch eine dritte Chance geben sollte, dass ich ein jämmerlicher und bemitleidenswerter Mensch sei und nur noch durch sie auf Erlösung hoffte. Ich schrieb, dass ich von heute an jeden Tag zu der Bank käme, wo wir uns hätten treffen sollen, und dort auf sie warten würde. Ohne große Hoffnung schickte ich die Nachricht ab und ging zum Treffpunkt.
Wie lange sollte man auf jemanden warten? Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Und wie verhält es sich damit, wenn man keine Zusage von dem hätte, auf den man wartete und diesen bereits zwei Mal versetzt hätte? Ich wartet Wochen und Monate, jeden Tag etwas hoffnungsloser, jeden Tag etwas resignierter. Nach drei Monaten und zwei Wochen gab ich auf. Ich schrieb einen letzten Brief und legte ihn auf die Bank. Auf dem Umschlag stand „für Marie, die auf mich wartete“. Anschließend ging ich nach Hause und schrieb ihr noch einmal übers Internet meine letzten drei Worte.
(Sie):
Ich hatte schon längst von Michael vergessen. Als ich eine Sonntags durch den Park spazieren ging, kam ich noch einmal an der Bank vorbei, auf der ich auf ihn gewartet hatte und bemerkte einen Umschlag auf dem mein Name stand. Ich öffnete ihn und las:
„Als ich das letzte Mal auf dieser Bank saß und auf dich wartete, glaubte ich nicht mehr daran, dass du kommst. Es war nur ein verzweifeltes Zweifeln an meiner Rationalität. Mein Herz bat mich darum, es noch einmal zu versuchen, entgegen jedem Vernunftsfunken. Du kamst natürlich nicht. Ich saß alleine und wartete, bis die Sonne unterging, wie jedes Mal. Das war die Grenze meiner Geduld, meines Optimismus. Als es dämmerte und der Park vollkommen leer war, starrte ich blindlings auf den Boden; die Erde erschien mir grauer an diesem Abend. Als ob sie nur aus Staub und Dreck bestünde, unfruchtbar und saatlos, totgetreten, trostlos. Die Laternen gingen an. Ich schaute kurz auf und sah, wie ein paar Motten um das junge Licht buhlten. Euphorisch und liebesblind stießen sie gegen die dreckige Verglasung, immer wieder, immer stärker, und gaben nicht auf. Sie hofften noch. Eigentlich könnte ich auch noch hoffen, aber ich wollte es nicht. Hoffen, glauben, erwarten, warten. Ich dachte an das Theaterstück „Warten auf Godot“. Darin warten zwei Männer auf jemanden, der nie kommt. Sie wissen nach einer Zeit nicht mehr, wieso sie warten, aber sie warten, denn er könnte jeden Moment kommen. Als dann schließlich ein Junge kommt und ihnen sagt, Godot werde heute nicht mehr kommen, warten sie bis morgen. Bist du nun mein Godot oder ich deiner? Es ist nicht mehr von Bedeutung, denn wir warten nicht mehr aufeinander.“
Bildmaterialien: Cover von Seurat, Georges
Tag der Veröffentlichung: 19.05.2013
Alle Rechte vorbehalten