Das gelogene Mädchen
Sie war allein, traurig, vom Leben misshandelt, nicht nur metaphorisch, nein, buchstäblich, brutal, böse, wie man es so oft liest und hört, doch so selten glaubt. Vor ihrem Fenster war es dunkel, die Nacht war kalt und glänzend. Es war Vollmond. Hinter dem Hügel lag die Stadt mit ihren bunten Lichtern und schnellen Seelen, konsumgeile Dummheit verbreitete sich in gierigen Blicken, so weit das Auge reichte. Sie wurde auch konsumiert, verbraucht, benutzt und weggeworfen. Immer wieder hob man sie auf und schaute, was noch drin war, wo man noch etwas rausholen, noch etwas Gewinn herausschlagen konnte, mehr Moneten rausquetschen für Konten, die immer zu leer waren, zu viel Platz für Nullen hatten, die immer vor dem Komma und so selten dahinter standen.
Die Uhr zeigte drei Mal eins: 1:11 in der Nacht. Sie mochte Schnapszahlen. Ein kleines Spiel von ihr bestand darin, abzuwarten, bis auf der Uhr alle drei Ziffern gleich waren. Es dauerte immer genau 71 Minuten, 4260 Sekunden, wenn sie Glück hatte und zu Ende zählen durfte. Zu oft ging die Tür auf und die selbe Gestalt kam herein, das selbe Grinsen strahlte gelb im Mondschein des kleinen Fensters. Doch heute schien es ruhig zu bleiben. Vor der Tür waren keine Schritt zu hören und das Telefon klingelte den ganzen Abend lang nicht. Unter dem Bett holte sie ein Buch hervor, das einzige, das sie besaß, und schlug die erste Seite auf. „Es war einmal in einem fernen Land ...“, – so fing die Geschichte an, die sie hundert Mal gelesen hatte und immer wieder las, und immer wieder lachte, wenn der tollpatschige Troll sich zum Affen machte, immer wieder weinte, wenn das Happy End kurz vor der letzten Seite doch noch durch die böse Hexe verhindert wurde. – Sie hatte schon zu viele Happy Ends ertragen müssen. – Es gab wohl eine Fortsetzung der Geschichte, vielleicht auch mehrere Bücher, vielleicht sogar Filme und Hörspiele, aber sie wusste nichts davon, sie hatte nur den Anfang, dieses eine Buch, das sie tröstete, beruhigte, besser machte, als sie war, weil sie sich als Teil von etwas Großem, Magischem fühlte, etwas, das nicht von dieser Welt war. Das Buch hatte keine Ich-Erzähler, keinen allwissenden Helden, nein, der Leser war ein Teil der Geschichte. „Im Wald siehst Du, dass Brotkrümel verstreut liegen und eine Linie ins dunkle Unterholz bilden. Du entschließt dich ihnen zu folgen.“ Und sie folgte, sie entdeckte Wunderwesen und Abenteuer, auf immer gleichen Seiten, immer neu.
Auf der Uhr stand: 2:20. Schon über eine Stunde war sie den Anweisungen des Buchen gefolgt und war in ihrer Phantasie entschwunden. Jetzt legte sie die Lektüre zu Seite und wartete wieder auf den magischen Moment, wenn alle Ziffern gleich, alle 2er vereint waren und die Zeit still zu stehen schien. 2:21. Nur noch 60 Sekunden, eine Kleinigkeit, ein nichts im Vergleich zu all der Zeit, die sie bereits hier sein musste. Wann sie entführt worden war, wusste sie nicht mehr genau. Es war ein normaler Tag gewesen, sie war zur Schule gegangen, langweilte sich, war nach Hause gekommen, sah ihre Lieblingsserien im Fernsehen und war nach draußen gegangen. Vor dem Plattenbau war niemand gewesen, den sie kannte, also entschloss sie sich zur Kneipe zu gehen, um dort vielleicht Freunde zu treffen. Vielleicht war ihre Mutter auch da, die sie schon seit mehreren Tagen nicht gesehen hatte, die immer mal kam und ging, schimpfte und schwieg, doch immer trank, bei Tag und bei Nacht. Sie hatte ihre Mutter noch nie ohne Flasche gesehen. „Wieso trinkst du immer, Mama?“, fragte sie sie manchmal. – „Ich trinke, weil ich muss. Der Mensch muss mindestens zwei Liter Flüssigkeit am Tag zu sich nehmen. Und ich trinke eben härtere Sachen, die den Gaumen kitzeln, haha“, lachte sie und trank einen Schluck darauf.
2:22. Magie, Harmonie, Stille. „Schau mal, Papi, es ist wieder Zauberstunde“, sagte sie in die dunkle Ecke ihres Zimmers. „Heute ist ein guter Tag, niemand kommt heute, heute sind wir ganz allein. Komm, Papi, komm her, ich habe ein Geschenk für dich.“ Sie stieg vom Bett und kniete sich auf den Boden. In der Hand hielt sie ein vertrocknetes Stück Brot, das sie in Richtung der dunklen Ecke, etwa einen Meter vor sich, fallen ließ. Papi war ihr einziger Gesprächspartner. Es war eine Ratte, die sie nach ein paar Wochen in ihrem Zimmer bemerkt hatte. Nach einem Jahr sah sie auch die kleine Familie ihres Freundes und aus irgendeinem Grund hielt sie die Ratte für den Vater der anderen zwei kleineren Ratten. Vielleicht nannte sie die Ratte auch Papi, weil sie sie an ihren Vater erinnerte. Ihr Vater, der genauso schweigsam und nervös war. Seine Haare trug er immer stark gegelt – manchmal auch, weil sie zu fettig war – nach hinten gekämmt, er hatte auch einen Schnurrbart, der in alle Richtungen von seinem Gesicht abstand. Seine kleinen, hastigen Augen schnellten immer hin und her, er hatte immer Angst vor etwas oder jemanden. „Sie kommen mich holen“, flüsterte er manchmal. „Wer kommt dich holen“, fragte sie. – „Na sie, die Männer in Schwarz, in langen Mänteln, die mit den Spritzen.“ Schließlich kamen auch Männer und holten ihn, sie trugen aber kein Schwarz; es waren Pfleger in Weiß aus einer Irrenanstalt, die ihn für immer mit sich nahmen.
Aus der Ecke kam ein leises Piepen. „Na, komm, Papi, das wird dir sicher schmecken. Deine Familie hat sicher Hunger.“ Tapsige, kleine Schritte huschten über den kalten Boden. Barthaare streiften die Luft und eine kleine, findige Nase beschnupperte das Stückchen Brot. Papi schnappte sein Geschenk und verschwand wieder schnell in der Dunkelheit. „Lass es dir schmecken und verteile es ordentlich gerecht.“
Gegen drei Uhr nachts wurde sie etwas müde. Doch sie wollte unbedingt noch die nächste Zauberminute erleben, wenn die Uhr 3:33 zeigte. Es war keine Seltenheit, dass sie so lange wach blieb, meistens wurde sie in der Nacht geholt und musste zwangsläufig lange wach sein – schlafen ging da schlecht. So verschob sich ihr Schlafrhythmus, wenn man überhaupt von einem Rhythmus sprechen konnte. Sie konnte schon lange nicht mehr regelmäßig und normal schlafen. Alpträume quälten sie, ließen sie tagsüber aufwachen, kurz nachdem sie es doch ins Land der Träume geschafft hatte. Sie waren wie böse Geister, die direkt hinter der Pforte des Schlafes wachten und immer, kurz nachdem sie eintrat, hinter ihr her jagten und sie nie in Ruhe ließen.
Jetzt wurden ihre Augen immer schwerer, noch elf Minuten musste sie durchhalten, um die 333 auf der Uhr zu bewundern. Mit jedem Blinzeln blieben die Augen immer länger zu, sie gähnte ausgiebig, drehte sich auf die Seite und machte die Augen nicht mehr auf. Sie wollte sie nur kurz ausruhen, eine Minute nur, denn es waren ja noch ganze elf Minuten bis zum Fest der Ziffern.
Ein Schlag gegen die Tür weckte sie. Sie wusste nicht genau, wie spät es war, ob und wie lange sie geschlafen hatte. Die Tür sprang auf. Jemand kam herein, schnappte sie am Oberarm und schleppte sie nach draußen. Sie war diese Behandlung gewöhnt und gab keinen Ton von sich. Doch dieses Mal war es anders. Dieses Mal war es ein anderer Mann, er hatte eine blauen Uniform an und roch nicht so streng, wie die Männer die sonst kamen. Er sah sogar gepflegt aus und ließ sie los, sobald sie in ein Auto gestiegen waren. „Alles wird gut“, sagte der Mann. Sie bekam eine Decke und eine Wasserflasche. „Geht es dir gut“, fragte er wieder. „Ja, denke schon. Wer bist du?“ – „Ich bin ein Freund, ich helfe dir.“
Sie wurde befragt und musste im Gerichtssaal sitzen, als ihre Kidnapper verurteilt wurden. Kameras glotzten sie an, Reporter schrien ihr Fragen entgegen, keiner wartete ab, bis sie antworten konnte. Alles war hektisch, sensationell, unglaublich. Sie fragte nach ihrem Buch, nach ihrem einzigen Buch, ob sie es bekommen könnte, aber der Mann im Anzug sagte, dass es als Beweisstück gesichert und vorerst nicht zur Freigabe autorisiert wäre. Autorisiert? Was hieß das? Sie wusste es nicht, traute sich aber auch nicht, nachzufragen. Und was wird aus Papi? Wer füttert ihn? Ich muss zurück, ich muss ihm helfen. Seine kleine Familie verhungert sonst, das wäre schrecklich, ich muss ihnen helfen. Sie durfte nicht weg. Ein Richter entschied, dass sie vorerst in einem Heim unterkommen sollte, um dann von einer liebevollen Familie adoptiert zu werden. Er sagte es mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre es das Beste, als wäre es der Traum eines jeden Kindes. Aber sie wusste, wie alles immer endete. Es war nicht ihre erste Adoptivfamilie. Immer gab es Streit und Stress und Schläge, oder Frust und Schweigen. Sie wollte das nicht. Sie protestierte, ohne Erfolg. Keiner hörte sie an, keiner wollte ihr glauben.
„So, was denkst du, ist das dramatisch genug?“
„Ja, du hast alle möglichen Klischees abgeklappert. Ein misshandeltes Kind, Alkoholiker als Eltern, eine Ratte als bester Freund. Das ist worauf die Leute abfahren. Reich es ein, der erste Platz ist dir sicher.“
„Aber das glaubt mir doch keiner. Ist es nicht zu dick aufgetragen?“
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Tag der Veröffentlichung: 23.02.2013
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