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Ich stand am Start und war bereit. Nach wochenlangem Training war ich bereit für das Rennen des Jahres. – 10 km Stadtlauf. Die Strecke verlief mitten durch die Innenstadt, auf einem 2,5 km langem Rundkurs galt es vier Runde zu absolvieren. Neben der Strecke standen zahlreiche Zuschauer, was mich etwas überraschte, da es Sonntagmorgen war und leichter Regen aus bedrohlich dunklen Wolken fiel. Der Asphalt glänzte leicht und kleine Pfützen bildeten sich. Viele der Läufer stampften einfach in sie hinein und das Wasser spritze zu allen Seiten. Der Untergrund würde sehr rutschig sein, wenn es so weiter ginge. Am Start, wenn alle nach vorne drängen, würde es nicht ohne Stürze auskommen. Leider hatte auch ich bereits schmerzliche Erfahrungen damit machen müssen. Als ich in meinem zweiten Rennen, ohne etwas zu ahnen, ganz vorne am Start stand und bei Startschuss wie gewohnt – wenn man vom Gewohnheit nach nur eine Rennen sprechen kann – loslief, und prompt einen Ellbogen von links in die Rippen bekam, das Gleichgewicht verlor und mitten auf der Straße zum Liegen kam, wurde ich mit dem Ausdruck „sportlich ambitioniert“ auf unsanfte Art bekannt gemacht. Die nachfolgenden Läufer machte einen weiten Bogen um mich, keiner half mir auf. So musste ich alleine aufstehen und humpelnd weiterlaufen.
Heute war ich mit meiner Mutter angereist. Sie stand skeptisch am Rand und sah mir beim Aufwärmen zu. Ihr gefiel es nicht, dass ich so intensiv trainierte. Wenn ich am Wochenende bei ihr zu Besuch war und meine langen Lauf am Sonntag absolvierte, kam ich in keinem wirklich guten Zustand nach Hause. Sie schimpfte dann immer, dass es nicht mehr gesund sei, was ich mache, so bleich und ausgemagert wäre nicht einmal ihr Opa im zweiten Weltkrieg gewesen. Ich erwiderte darauf nichts. Ich ließ sie reden. Laufen war mein Talent, meine Stärke. Noch nie war ich in einer Sache so gut. Das durfte ich nicht einfach so aufgeben oder halbherzig verfolgen. Und Mütter machen sich immer Sorgen.
Dieses Jahr war meine Vorbereitung aber extremer als jemals zuvor. Ich lief jede Woche mehr Umfänge und machte die Tempoeinheiten noch schneller. Mein großes Ziel waren 35:00. Diese Marke wollte ich unterbieten und wenn es gelingen würde, hätte ich sogar Chancen auf den Sieg. Unzählige Male hatte ich mir im Training ausgemalt wie ich als erster über die Ziellinie laufen würde, alle jubeln mir zu, alle schreien und klatschen in die Hände. Das war meine Motivation, dafür gab ich alles.
Noch zehn Minuten bis zum Start. Ich dehnte nochmal meine Beine, schüttelte sie aus und sah mir das Starterfeld genauer an. Von Alt bis Jung war alles dabei. Herren in zu engen Kunststoffhosen, Damen mit Schweißbändern und Laufgürteln, die zehn kleine Trinkflaschen enthielten; für jeden Kilometer eine. Ganz junge Läufer, die übermotiviert schon vor dem Start alles gaben und sprinteten, was die Beine hergaben. Kurz gesagt: ein sehr bunter Haufen.
Drei Minuten vor dem Start stellte ich mich an die Startlinie. Dieses mal platzierte ich mich etwas weiter hinten, um dem Gedränge vorne zu entkommen. Wie erwarten häuften sich vorne die Jungen übereifrigen und ein paar Ältere erfahrenen. Eine Dame mittleren Alters stellt sich auch schüchtern an den Rand in die erste Reihe, richtete ihren Trinkgürtel zurecht und begab sich in eine dynamische Startposition.
Der Startschuss fiel.
Ich trabte los, bedacht, nicht zu stürzen. Der Regen ließ zwar nach, aber die Straße war immer noch sehr nass. Ich wartete bis das Feld sich etwas auseinanderzog und begann langsam Platz um Platz gutzumachen. Relativ locker arbeitete ich mich fast nach ganz vorne. Nach drei Kilometer und 10:42 lief ich in einer Gruppe mit zwei älteren Herren und einem jungen Läufer. Wir verfolgten den Führenden, der etwa 30 Meter vor uns lief. Ich fühlte mich sehr gut, die Beine waren frisch und ich lag noch in meiner Zeitvorgabe. Es ist immer schwierig einzuschätzen, wie der Körper im Wettkampf auf die hohen Belastungen reagieren wird. Man kann zwar im Training diese Anstrengung simulieren, aber nicht über die selbe Distanz und Dauer.
In der zweiten Runde sah ich meine Mutter, die mir zuwinkte. Ich meinte etwas Begeisterung in ihrem Gesicht ausmachen zu können. Sie lächelte und sah mich stolz an. In diesem Bruchteil einer Sekunde war unsere Verbindung so stark wie noch nie zuvor. Ich spürte diese Wärme, diese Zufriedenheit und Erfüllung. Ich hatte es endlich geschafft, meiner Mutter etwas zurückzugeben, auch wenn nur ein mickriges, nasses Rennen, an einem kalten, nassen Sonntag, zwischen schwitzenden, nassen Läufern war es mein Geschenk an sie. Ich wusste, dass sie stolz war, dass sie sich freute, ihren Sohn fast ganz vorne zu sehen. Bei einem Wettkampf, zwischen Profis, wie sie vielleicht dachte, ist ihr Sohn dabei und läuft vorne mit. Das alles meinte ich zu erkennen in diesem kurzen Moment, als ich an ihr vorbeilief.
Ich wurde schneller. Nach der Hälfte des Rennens hatte ich die Lücke zum Führenden geschlossen. Meine Uhr zeigte 17:38. Zwar klebte noch ein älterer Herr an meinen Fersen, aber ich war mir sicher, im Endspurt schneller zu sein. – Falls es überhaupt dazu käme. Ich spürte keine Müdigkeit, meine Beine waren federleicht, mein Körper funktionierte einwandfrei.
Bei Kilometer 6 fingen wir an, die letzten zu überrunden. Viele machten sportlich fair Platz und wir konnten problemlos vorbei. Mein Verfolger zeigte keine Ermüdungserscheinungen. Sein Laufstil sah locker und schwungvoll aus. Meist nutzte er meinen Windschatten und vermied es vorne zu laufen. Daran konnte ich seine Erfahrung und List merken. Vielleicht würde es doch nicht so einfach hier zu gewinnen. Meine Beine meldeten sich auch und zwickten und zogen bei jedem Schritt, was aber nichts Ungewohntes für mich war. Ich konzentrierte mich auf meinen Bewegungsablauf und atmete regelmäßig und tief, schloss ab und zu die Augen und verfiel in eine Art Trance. Ich hörte die Schritt meines Gegners hinter mir, spürte die feinen Tropfen auf meinem Gesicht und hörte die Anfeuerungsrufe der Zuschauer, ich würde gewinnen, ich spürte es – das war mein Rennen.
Den achten Kilometer schaffte ich in 3:25. Meine Uhr zeigte eine Gesamtzeit von 28:00 – ich lag genau im Soll. Hinter der nächsten Kurve entschied ich mich, den entscheidenden Angriff zu setzen und meinen Verfolger endgültig abzuhängen. Ich bremste noch einmal kurz ab, um gut in die Kurve gehen zu können, vor mir war noch eine ältere Damen mit einem grünen Trinkgürtel, welchem bereits sieben Flaschen fehlten. –Sie hatte schon mehr Flaschen als Kilometer geschafft. Belustigt von diesem Gedanken ging ich kurz nach ihr in die Kurve und setzte direkt darauf zum Überholen ein. Unglücklicherweise drehte sie sich in diesem Moment um. Ich konnte nicht mehr ausweichen und erwischte sie an der Seite. Sie stolperte und fiel hin. Der Trinkgürtel krachte knackend auf die Straße. Ich konnte mich mit Mühe auf den Beinen halten doch kam aus dem Rhythmus. Mein Verfolger nutzte die Chance und überholte mich. Zwei, drei, fünf Meter – er entfernte sich immer weiter. Ohne nach der Frau zu sehen, rannte ich ihm hinterher. Adrenalin schoss in meinen Körper, ich spürte Wut und Aggression, an die gestürzte Frau dachte ich keine Sekunde. Ich war ein Tier, dass kämpfte, ich lief auf Leben und Tod.
Kilometer 9: 31:48 – mein Gegner hatte gute zehn Meter Vorsprung und lief unbeirrt weiter. Ich versuchte alles, um die Lücke zu schließen, doch meine Beine gaben nach. Egal, was ich versuchte, ich kam nicht näher. Noch 500 Meter. Ich biss auf die Zähne, machte größere Schritte, ignorierte die Schmerzen.
34:25: Ich sah nur noch sein Trikot. Sein verdammtes Trikot. Jedes mal wenn ich die Augen öffnete, sah ich dieses verdammte Trikot.
34:26: Ich nahm den Regen nicht mehr wahr. Ich spürte die Tropfen nicht mehr.
34:27: Alles um mich verschwamm. Die Schreie der Zuschauer wurden leiser. Ich hörte nur noch meinen Atem.
34:28: Ich schloss meine Augen, und lief. Links, rechts. Links, rechts.
34:29: Meine Mutter sprach zu mir: „Mensch, wie siehst du denn aus. Bleich wie die Wand. Mach langsamer, das ist doch nicht mehr gesund.“
Ich öffnete meine Augen, sah das giftige Grün vor mir und wusste, was zu tun war.
34:30: Noch 30 Sekunden.

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Tag der Veröffentlichung: 03.02.2013

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