Cover


Kleine Liebe



Ich traf sie am Sonntag in einem Wagonabteil. Sie las ein Buch und jagte die Strommasten, die am Zugfenster vorbeirauschten, wenn ihre Lektüre zu langweilig wurde. Ich hatte auch ein Buch bei mir, dessen Inhalt ich nie gelesen und es auch nicht vorhatte. Als sie wieder der verschwommenen Landschaft nachsann, fragte ich sie, was sie las. Sie zeigte mir das Cover und ich nickte, ohne den Titel zu lesen. Ich zeigte ihr mein Buch und sein Äußeres erwies sich als nützlich, indem es ihr ein zustimmendes Lächeln entlockte. Sie mochte den Autor und ich bejahte dies mit der Steigerung, den selben zu lieben und alle seine Bücher gelesen zu haben. Wir kamen ins Gespräch und redeten lange, redeten und redeten, auch nachdem wir aus dem Zug ausgestiegen waren. Sie erzählte mir, dass sie durch Europa reiste, ohne Ziel und Zeitplan. Im Leben bindet sie nichts mehr und so frei und losgelassen, bereist sie jede Stadt, in die sie ihr Schicksal führt. Ich berichtete von meinem Studium, dass ich gerade Ferien hatte und auf dem Weg nach Hause war. Wieso ich ausgestiegen war, fragte sie, wo ich doch nach Hause musste. Ich habe Zeit, antwortete ich mit einem Lächeln, so viel Zeit, wie sie mir schenken würde. Sie lachte verlegen und ich sah die tiefen Grübchen, die vor ihren Wangen, wie der Rahmen eines abstrakten Gemäldes oval und dunkel das leichte Rot und Rosa ihrer Haut betonten.
Es war früher Nachmittag und der Frühling hatte seine frostig schüchterne Frühjahrsröte noch nicht abgelegt. Im Park setzten wir uns auf eine Bank und spielten ein Spiel. Jeder durfte den anderen etwas fragen, etwas Intimes oder Albernes, wobei natürlich die Brisanz der Frage den Reiz des Spiels ausmachte. Ich begann und fragte sie nach ihrer ersten kleinen Liebe. Klein, fragte sie überrascht. Ja, antwortete ich, die große Liebe ist doch langweilig, da jeder über sie reden, aber keiner sie kennen würde, die kleinen Dinge machen das Leben aus, genau wie die Liebe. Sie lachte und überlegte kurz. Erzählte mir dann von einem Jungen aus ihrer Klasse, in den sie verliebt war, aber die Liebe war groß, ergänzte sie. Das gilt nicht, sagte ich und forderte sie auf, ein anderes Beispiel zu finden. Aber jede Liebe ist groß, wenn sie da ist, sagte sie trotzig, eine kleine Liebe sei nicht der Erinnerung wert und würde sofort vergessen werden. Ich schmunzelte und sah sie an, sah sie eindringlich an, und fragte sie, ob sie kleine Liebe nicht besser als große fände. Kleine Liebe ist einfach und gut, sie bleibt nicht lange und schneidet nicht so tief wie große. Und doch ist es Liebe, eben nur eine kleine, aber Liebe. Sie drehte sich weg, schaute in den Himmel und schloss die Augen. Ja, sagte sie. Ich stand auf und nahm ihre Hand, wir gingen weiter. Der Tag stand noch in seiner vollen Blüte.
In einem Schallplattenladen stöberten wir nach alten, verstaubten Schätzen. Sie griff nach einer Platte und schrie laut auf. Es war eine französische Sängerin, eine alte, zu sehr geschminkte Dame, ich kannte sie nicht. Aber sie freute sich und erzählte mir, dass das die Musik ihrer Jugend war, ihre Oma hörte immer diese Musik, dies war ihre Lieblingssängerin. Sie schaute das Bild ein paar Sekunden an und legte die Platte wieder zurück. Kauf sie doch, forderte ich sie energisch auf, aber sie schüttelte den Kopf und ging zum Ausgang. Es ist vorbei, ihre Oma ist schon lange tot und Musik würde sie nur traurig machen, das wollte sie nicht. Ich verstand es nicht, da ich noch niemandem aus meiner Familie verloren hatte, aber ich fragte nicht weiter nach. Ihr Gesicht verbot mir jede Frage. Ich nahm wieder ihre Hand und wir gingen weiter durch die Straßen. Die Sonne war wieder im Begriff zu sinken, nachdem sie ihr Zenit ohne jeden Wolkenschleier überschritten hatte.
Auf dem Rummelplatz fuhren wir Riesenrad. Verfolgt von verwunderten Blicken stiegen wir in die Gondel und schwebten Richtung Himmel. Ich legte meinen Arm um ihre blanke Schultern und fuhr mit meinem Zeigefinger über ihren Hals, der überraschend kalt war. Ist dir kalt, fragte ich. Sie verneinte, es sei nur die Höhe, sie fühle sich nicht wohl so weit vom Boden entfernt. Darauf hielt ich sie fester und sie lehnte sich an meine Brust. Wir drehten viele Runden, drehten und drehten auch nachdem jeder Aufstieg seinen Reiz verlor. Unten angekommen, versteckten wir uns immer unter der Abdeckung und warteten, bis es wieder hinauf ging. Das Riesenrad war schlecht besucht, alle stürmten zu den schnellen, grellen Fahrgeschäften, nur wenige Senioren wagten die Fahrt auf dem alten Riesen. Schließlich stiegen wir aus. Nach unzähligem Auf und Ab standen wir wacklig auf den Füßen und gewöhnten uns langsam an den festen Boden. Die kleine Liebe, sagte sie, dieser Gedanke geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Er ist wunderschön, wieso ist sie nie selbst darauf gekommen? Ich gab ihr keine Antwort und wartete. Plötzlich kam sie auf mich zu und küsste mich, sie küsste und küsste und küsste und küsste mich. Dann wich sie von mir und begann zu tanzen. In der laternenbeleuchteten Straße war sie unwirklich schön, unwirklich elegant und weich. Ein kleiner Kuss, sang sie, ein kleiner Kuss einer kleinen Liebe.
Es sah amüsant aus; eine weißhaarige Dame drehte und wirbelte wie eine Fee durch die Nacht. Sie kam wieder zum Stehen und schaute tief in meine Augen: „Du hast das Buch nie gelesen, das du mir gezeigt hast.“ Ich nickte. „Du hast keines der Bücher dieses Autors gelesen. Das erste, was du mir gesagt hast, war eine Lüge.“ Ich schwieg. Sie fuhr mit ihrer Hand über meine Wange: „Ach, mein Kleiner, du hast keine Ahnung.“ Sie tätschelte mein Ohr.“Komm mit, unsere kleine Liebe wird noch diese Nacht haben, und morgen verschwindest du, für immer, ich will dich nie wieder sehen.“

So war es auch. Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Zug nach Hause und sah sie nie wieder. Es war unsere kleine Liebe, die ich vielleicht vergessen werde, wie den Inhalt des Buches, das ich nie gelesen hatte und doch aus irgendeinem Grund immer bei mir trage.

Impressum

Bildmaterialien: Jakob Milkowski
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2013

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