Wenn Kassiererinnen sprinten
Vom Bett aus gesehen sah das Fenster wie ein Tor zu einer anderen Welt aus, einer Welt des Lichtes, des Lebens, der Schönheit. Mein Zimmer war dagegen grau, kahl und nur mit dem Nötigsten ausgestattet - eine Matratze, ein Tisch, ein Stuhl, mehr hatte ich nicht.
Vor zwei Wochen lebte ich noch in meinem Kinderzimmer, hatte täglich drei Mahlzeiten und kümmerte mich um nichts. Das Leben war einfach, einfach und schön. Ich ging aus, bekam Geld, musste keinen Finger krumm machen. Ich führte das Leben eines Kindes. Erwachsenwerden tut weh – wie ich gerade zu spüren bekam -, wie das Wachsen auch. Aber wir wachsen, ob wir wollen oder nicht, wir werden reifer und faltiger, der Geschmack wird immer intensiver, für die, die ihn zu schätzen wissen, und die, die es nicht tun, verzweifeln daran, ihren alten Geschmack wiederzufinden, den alten Geschmack der Jugend, den kein Arzt und kein Lifting wiederbringen kann. Dem Lauf der Zeit kann keiner entkommen, das Leben kommt von vorn, wie Grönemeyer es so treffend sagte, man muss immer die Augen offen halten, immer auf das nahende Glück gefasst sein oder dem drohenden Unglück ausweichen können, je nach dem, was das Schicksal uns, in seiner Laune zu bescheren gewillt ist. Das Blöde ist nur, dass man mit solchen Plattitüden nicht weit kommt. Man kann das Leben nicht mit flotten Sprüchen und Vergleichen beschreiben. Leider nicht. Leben ist… Leben ist nichts, was man in Worte fassen kann, ohne dass es dabei vereinfacht und verfälscht wird. Ich habe mir lange den Kopf zermartert, ich wollte den ultimativen Satz, einen Satz, der alles beinhaltet, der das Leben erklärt.- Ich suche ihn heute noch.
Aber zurück zu meiner Geschichte. Wie gesagt, war mein Leben ein Traum, aus dem ich plötzlich gerissen wurde. Aus dem strahlend weißen Lächeln meines Schicksals wurde ein gelbbraunes, von Karies zerfressenes Rauchergebiss, das mir aus voller Kehle ins Gesicht hauchte.
Die Uhr zeigte 12. Disziplin war nie meine Stärke gewesen, weil ich meistens nicht hinter dem stand, was ich tat. - Es ist eine Frage der Motivation und des Sinnes, den man einer Sache zumisst. Sehe ich keinen Sinn in dem, was ich mache oder machen muss, so bin ich auch nicht motiviert oder diszipliniert. Ich bin wie ein Frettchen, das an einer stark befahrenen Autobahn steht und auf die andere Seite muss, ja, dessen Sinn darin besteht, auf die andere Seite zu kommen. Nur wie? Augen zu und durch? In den möglichen Tod oder warten, bis kein Auto mehr kommt? Aber es kamen immer Autos, es war aussichtslos. Immer mehr Autos… Ich war wie paralysiert von dem nicht enden wollenden Fluss des Verkehrs, paralysiert und leer. Leere Sprüche füllten meinen Kopf. Es war wie ein Fluch.
Ich rappelte mich auf und ging zum Fenster. Der Tag war schon in vollem Gange und das Leben in den Straßen pulsierte. Die Autos schleppten sich über asphaltierte Wege und hupten fröhlich vor sich hin. Menschen beeilten sich. Sie rannten im Gehschritt – verhaltene Eile ist das Motto dieses Jahrhunderts. Beeile dich, sonst verpasst du das Leben. Lauf, Forrest, lauf. Jeder rannte irgendwohin. Jeder hatte Termine, Pflichten, Sorgen; nur Geld, das hatte nicht jeder. - Geld war der Grund für alles. Geld war der Grund zu leben. Was ist der Sinn des Lebens? Geld ist der Sinn des Lebens, zumindest solange man keines hat. Wenn man es hat, kann man sich einen anderen Sinn überlegen, aber solange man jeden Tag raus muss, um seine Rechnungen zu bezahlen, ist Geld Gott, und dein Arbeitgeber Jesus Christus.
Ich bin Atheist und deswegen dauerpleite.
Als ich genug von dem Fensterausblick hatte, ging ich meiner morgendlichen Routine nach.
Einen Kühlschrank hatte ich nicht, also musste ich mir mein Essen irgendwo „besorgen“. Ich zog mir mein verwaschenes T-Shirt an, meine Jeans, die wahrscheinlich älter als ich war - die verblichene Schrift auf dem Label wies zumindest auf eine weitreichende Waschmaschinenvergangenheit hin -, und dazu noch ein paar schicke Turnschuhe, welche einem Sieb in nichts nachstanden. Der Tag war warm und die Sonne schien. An der Ecke spielte ein Straßenmusiker. Er klimperte auf seiner Gitarre und wartete auf den Sinn des Lebens, der aber im Gehschritt rennend an ihm vorbeizog. Die Gitarrentasche vor ihm war fast leer und beinhaltete nur ein paar Moneten, die er, wie ich vermutete, selbst hineingeworfen hatte, um den Passanten klarzumachen, was zu tun war. Seine Musik erfüllte das hektische Treiben der Straße, passte aber nicht dazu – sie war wie ein Hilfeschrei unter Wasser: „When I was younger, blubb blubb, I asked my mother, blubb, what will I blubb… Hey Serra, serra, what ever will blubb, will blubb…“
Eine ältere Dame erbarmte sich und warf eine 50 Cent Münze in die Gitarrentasche.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, das wie durch Magie auch auf das Gesicht des Musikers übersprang. Er nickte ihr freundlich zu und hob seinen Hut als Geste der Dankbarkeit leicht an. Die Leute schauten komisch, aber der Musiker lächelte nur und sie ging weiter. Ich tat es ihr gleich.
Seitdem ich nach Münster gezogen war, frühstückte ich im örtlichen Lidl. Die Croissants schmeckten wunderbar und wenn man es intelligent anstellte, konnte man sich problemlos bedienen. Dazu noch ein Käffchen - kostet ja nichts. War es moralisch vertretbar? Moral kommt nach Hunger und mein Magen war noch nie ein großer Fan ethischer Fragen.
Als ich so schlendernd durch den Laden ging und dabei genüsslich mein Frühstück vertilgte, überlegte ich mir, wie ich an Geld kommen könnte. Arbeiten? Ja, das ist der erste Gedanke, der einem Durchschnittsbürger in den Schädel schießt, wird er gefragt, wie man an Geld kommt. Aber ich war nicht der Durchschnitt, ich war besser.
Ich war für Großes bestimmt, epochale Heldentaten standen noch auf meiner To-Do-Liste, ich würde die Welt verändern, irgendwann, ja, irgendwann werde ich die Nummer 1 sein. Im Grunde war es nur eine Frage der Einstellung und des unerschütterlichen Glaubens an seine Sache. Wille kann Berge versetzen, nur muss man zuerst die Kieselsteine aus dem Weg räumen.
In meinen Gedanken vertieft merkte ich nicht, wie ich an der Kasse vorbeiging, in der Linken zwei Croissants, in der Rechten eine Flasche Kaffee. Die Kassiererin guckte mich an.
„Wollen Sie das nicht bezahlen?“
„Hää?“
„Sie haben da Croissants und Kaffee, dafür müssen Sie bezahlen“
„Ach, das, ja stimmt. Akzeptieren Sie auch selbstgemalte Bilder oder Gedichte, meine goldene Visa Card habe ich leider in meiner Residenz auf Maui vergessen, ich Dussel“
„Maui?“, fragte mich die Kassiererin verdutzt. „Gedichte?“
„Ja, gnädige Frau. Angesichts der horrenden Rohstoffkosten in meinem Metier musste ich meinen Wohnsitz verlagern, und verweile nun die nächste Zeit in Ihrer bescheidenen Gegend. Nun, es war mir eine Freude, mit Ihnen geplaudert zu haben, aber jetzt muss ich wirklich los, mein Morgenlauf läuft sich nicht von alleine.
Nichts für Ungut, vielleicht sieht man sich mal wieder, die Welt ist kleiner als man denkt. Bye Bye“
Mit diesen Worten rannte ich los.
„Hey, stopp, bleiben Sie stehen!“
Durch die Tür, über den Parkplatz und dann immer der Sonne entgegen.
Nach ein paar Minuten drehte ich mich um, um zu sehen, ob ich verfolgt wurde. Was ich sah war mehr als surreal: Eine Frau, Mitte 30, in einem Lidl-Shirt.
Ihre Arme gingen kraftvoll von Seite zu Seite, ihr Schritt war kraftvoll und raumgreifend. Leider war ihr T-Shirt ein wenig zu eng, so dass man nicht umhinkam, ihre Wohlstandspfunde bewundern zu müssen. Es war wie bei Unfällen - man konnte einfach nicht wegschauen. Wie konnte man sich bei Lidl so viel Speck anfressen? Sie bediente sich wohl auch heimlich an der Croissantauslage. Das musste es sein!
Ich legte einen Zahn zu und bog um die nächste Ecke. 200 Meter weiter sah ich meine Chance: Einen Bahnübergang. Und was für ein Zufall - ein Zug kam gerade angerollt. Meine Verfolgerin war noch weit genug weg, sodass ich die Gleise überqueren konnte, sie aber nicht mehr. So hüpfte ich über die Schienen, drehte mich um und schaute ihr beim Rennen zu. Und es war knapp, verdammt knapp. 20 Meter weniger und sie wäre vor dem Zug bei mir gewesen.
Ich winkte ihr zu und schrie: “Gnädige Frau, wenn das Schicksal es so will, werden wir uns wieder sehen, dann lade ich sie auf einen Kaffee ein. Merci et au revoir!“
Der Zug trennte uns und ich lief weiter.
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2012
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