Großvaters Geschichte
Mein Großvater war ein zäher Mann. Selbst im hohen Alter ging er täglich zum Feld hinaus und trieb dort sein Handwerk. Mond um Mond verging er aber wurde nicht müder, nicht langsamer. Man sagte ihm nach, er habe bei Wettrennen im Dorf viel jüngere Gegner geschlagen und seine Kraft verließ ihn bis zu seinem Tode nicht. Schwere Lasten trug er spielerisch, sein Hammerschwung ließ die Erde erzittern und im Zweikampf gab es weit und breit keinen Gegner, der dem schwungvollen Charme seiner Faust widerstehen konnte.
An kalten Winterabenden, wenn der Schnee unsere Hütte wieder umschlossen hatte und man nicht viel tun konnte, außer die Zeit möglichst gut zu überstehen, erzählte mein Großvater von seinem Leben. Wie er auf hoher See lebte und Piratenschiffe jagte. Unglaubliche Schätze aus Gold und Juwelen hatten die Banditen der Meere erbeutet und kämpften bis zum letzten Holzbein darum, sie zu verteidigen. Stinkende Ungeheuer ohne Erbarmen oder Gefühl; man konnte nur an ihrem aufrechten Gang erkennen, dass es sich um menschliche Wesen handelte. Auf riesigen Schiffen mit Kanonen so groß wie Elefanten schipperten sie, unter schwarzen Fahnen, über die sieben Weltmeere. Dann berichtete er uns von fremden Ländern und Sitten. Afrika, Asien, Amerika – alles hatte er gesehen und erlebt. Bei seinen Ausführungen wussten wir nie, wo die Wahrheit aufhörte und die Zugabe seiner Phantasie die fehlenden Farben der Wirklichkeit auffrischte, aber es störte uns nicht. Solange Großvater mit seiner rauchigen, etwas heiseren Stimme unsere Abende aufwärmte, war es uns egal.
So saßen wir eines Abends, es war kurz vor Weihnachten, im Halbkreis und warteten, bis Großvater seine Vorführung begann. Er wartete, bis alle still waren, räusperte sich noch einmal laut, um auch den letzten Störenfrieden zu bedeuten, dass er anfangen wollte.
„Kinder, heute erzähle ich euch eine wahre Geschichte. Sie begab sich vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ein junger, kräftiger Mann war – ja, das war ich mal, auch wenn ich nicht mehr so aussehe.“ Er lachte ein kurzes, trockenes Lachen, nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort.
„In einem fernen Land, hinter vielen Ozeanen und Meeren, auf einer Insel, deren Landschaften damals zu den schönsten dieser Erde gehörten – fruchtbar und prachtvoll war ihre Natur – spielt meine Geschichte. Milch und Honig flossen zwar nicht dort, weswegen auch jeder laktoseintolerante Diabetiker seine wahre Freude an ihr gehabt hätte. Dort also war ich angestellt als Bauarbeiter für ein seltsames und einzigartiges Gebilde.
Wir bauten kein Haus und keine Brücke – nein. Es war auch keine Straße oder sonst etwas, was man hier oder sonst wo auf der Welt kennt. Ich wusste zuerst auch nicht, was es werden sollte. Erst später, nachdem unser Bauwerk fertig war, erfuhr ich, wofür wir uns so ins Zeug gelegt hatten. Schwere Steinbrocken schleppten wir kilometerweit auf ausgeklügelten Rollen- und Hebelsystemen. Es war aber trotzdem verdammt schwer. Jeden Abend lag ich im Bett und hörte mein Kreuz sein Jammerlied trällern. Nun, wir aber waren eine bunte Truppe und es wurde nie langweilig bei der Arbeit. Die Steinbrocken mussten wir zu einer besonderen Stelle tragen. Ein Schamane deutete uns den Weg. Besondere Energien und ...“ - „Was ist ein Schamane“, unterbrach Sissi, meine kleine Schwester.
„Ein Schamane ist ein Zauberer, der mit Geistern reden kann und bunt geschmückt laute, seltsame Geräusche von sich gibt. Unseren Schamanen hatten wir aus Sibirien eingeflogen - ein besonders lauter wars. Geschrien und getanzt hat er, mit Stöckchen herumgefuchtelt und bunte Perlen auf den Boden geschmissen. Wenn du mich fragst, war das alles Humbug – ich will gar nicht daran denken, wie viel Geld sie diesem Scharlatan in das Lederhöschen gesteckt haben. Es hätte mehr gebracht, wenn sie uns – den Arbeitern – mehr zu essen und zu saufen gegeben hätten. Aber gut, ich schweife wieder ab.“ Großvater richtete sich nochmal im Sessel auf, sein Gesicht trug die unendliche Zufriedenheit von jemandem, der weiß, dass er im unmittelbaren Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Diese Momente gehörten ihm und er kostete sie richtig aus.
„So, wo war ich stehen geblieben? Achja, der Schamane. Besondere Schwingungen und Energien sollte er aufspüren, für eine geeignete Stelle, um die Felsbrocken zu platzieren. Also schleppten wir nach seiner Pfeife zu einer Ebene, tief im Landesinneren, wo weit und breit kein Baum stand und kein Hügel aus dem Boden ragte. Und dann stellten wir diese riesen Dinger auf, senkrecht, mit der Spitze zum Himmel ragend. Dafür mussten wir Gruben ausheben und die Steine rein legen, damit sie nicht wieder umkippten. Und wenn zwei Steine nebeneinander standen, kam erst der scheußlichste Teil der Arbeit. Ein mindestens genauso großer Brocken, wie die zwei, die da schon im rechten Winkel die Wolken streiften, musste waagrecht auf die zwei anderen gehievt werden. Ein scheiß Job war das ...“
Großvater hatte manchmal eine derbe Ausdrucksweise, aber nur bei Dingen, die ihm wirklich ans Herz gingen. Er merkte es aber meistens, da Kinder im Raum waren, und entschuldigte sich für seinen Fauxpas. Er erzählte weiter. „Also haben wir mit Brettern immer höhere Podeste gebildet, auf die wir dann diese Brocken hoben, und so ging das immer höher, bis zur benötigten Höhe. Glaubt mal nicht, dass das alles glatt über die Bühne lief. Einmal, ich glaube es war ein besonders nebliger Tag, da hatten wir einen langen, schweren Stein schon auf zwei Meter Höhe und mussten ihn von einem Podest auf ein anderes ziehen. Dabei riss uns leider ein Seil und Ecki hat\'s erwischt. Platsch, und schon lag der Stein da wo er grade gestanden war. Nur noch ein feuchter Fleck blieb übrig. Irgendein Kasper scherzte laut: Gut, dann klebt das Ding besser und wir brauchen es nicht mehr so einschmieren. Ein böser Scherz, aber er hatte auch recht. Bevor die Steine oben drauf gelegt wurden, schmierte man sie mit einer Mischung aus Lehm, Stroh, Baumharz und noch zwei, drei Bestandteilen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, ein. Jedenfalls klebten die Brocken verdammt gut – tausend Jahre sollten sie oben bleiben, wie unser Schamane das so sagte. So stellten wir Stein um Stein auf, schliefen und schufteten. Es gingen viele Männer, neue kamen und unser Steinhäufchen wurde immer größer. In einem Kreis stellten wir die Dreierpacks auf. In der Mitte standen auch welche, andere lagen einfach flach. Unser Schamane hatte einen seltsamen Stil und eine seltsame Ordnung, wenn man überhaupt von einer Ordnung reden kann. Manche Tage lag er einfach im Schatten, scheinbar besoffen wie ein elender Hund und spielte mit seinen Murmeln. Dann schoss er plötzlich hoch, lief zu einem der Steine und begann, um sie zu hopsen. Beklopfte und betatschte sie, streichelte und schlug auf sie ein. Dann legte er sich wieder hin und ließ seine Kugeln wieder dopsen. So ging das sehr, sehr lange und als dann der letzte Stein obenauf lag und wir unsere Arbeit beendet hatte, schritt der Schamane in die Mitte der Steine und gab uns zu verstehen, dass wir uns entfernen sollten. Alle gingen ein paar Meter zurück und er begann abermals einen seltsam anmutenden Tanz. Murmeln klapperten, er schmiss Stöcke durch die Luft und sein Lederhöschen schwang von links nach rechts. Was drunter ebenfalls von links nach rechts schwang, erzähl ich euch lieber nicht, aber wir waren dieses Theater schon gewöhnt. Er sang und schrie, wippte und wappte, ohne dass etwas passierte. Doch dann leuchtete etwas auf. Ein Stein strahlte ein weißes Licht aus, dann begann der daneben zu scheinen, in einem hellen Grün, dann ein waagerechter in Rot. Einer nach dem anderen entflammte in allen Farben des Regenbogens. Rot, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Blau, Violett. Der Schamane blieb stehen und regte sich nicht. Sein Mund stand weit offen, seine Augen waren weit aufgerissen und man sah nur noch das Weiß der Augäpfel, mit roten Äderchen durchfahren, am unteren Ende gelblich verfärbt. Er brummte leise in einer monotonen, tiefen Tonlage. Der Wind frischte auf. Dunkle Wolken standen am Himmel und alles um uns wurde dunkel, nur die Steine leuchteten immer heller. Viele der Männer bekreuzigten sich und traten weiter zurück. Saja, der Feigling lief gar davon, mit großen Schritten machte er Boden gut und man hörte nur noch sein Angstgeschrei. Doch dann starrten wieder alle auf das Schauspiel der bunten Farben und der vielen Lichter. Nach ein paar Minuten wurde das Leuchten etwas schwächer und wir sahen, wie sich etwas in der Mitte der Steine bewegte. Der Schamane stand da, doch er war nicht allein. Zwei andere Männer waren an seiner Seite, in Kapuzenroben gehüllt. Sie hielten ein Schild in den Händen. In runden, deutlichen Ziffern stand darauf ein Datum geschrieben.“
Großvater beugte sich nach vorne, verengte seine Augen und spitzte seinen Mund. Er schwieg.
„Was stand auf der Tafel“, fragte Sissi ungeduldig. Großvater wartete noch einen Augenblick, räusperte sich abermals und verkündete mit tiefer, düsterer Stimme: „Auf der Tafel stand 21.12.2012.“ Mehr sagte er nicht. Alle waren still, als ob sie überlegen würden, was dieses Datum zu bedeuten hatte. „Aber das ist ja in drei Tagen“, sagte ich unentschlossen. „Was wird an diesem Datum passieren?"
Großvaters Miene regte sich immer noch keinen Millimeter. Er schaute abwechselnd mich, dann wieder Sissi an, bis er sich schließlich in seine Ausgangserzählposition begab und mit ruhiger, etwas belustigter Stimme sagte: „Bis dahin solltet ihr eure Weihnachtsgeschenke gekauft haben, sonst hetzt ihr wieder am letzten Tag durch die Fußgängerzone und kauft mir so einen Unfug wie letztes Jahr.“
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2012
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