Dreißig Zentimeter über dem Boden, stehend auf einem Aluminiumhocker, ruht mein Blick auf dem kreisförmigen Muster meines Teppichs. Ein Strick liegt um meine Kehle, die noch, dem biologischen Ablauf nach korrekt und eifrig, die trockene Staubpartikel meiner Ein-Zimmer-Wohnung einsaugt, bemüht möglichst viel Sauerstoff zu ergattern, angesichts meines hohen Pulses, welcher, ebenfalls biologisch korrekt, meinem endgültigen Vorhaben zuzuschreiben ist.
Ich begehe Selbstmord.
Das Seil über mir besteht aus Hanf. Die Befestigung an der Decke habe ich am Vorabend eigenhändig angebracht, bedacht darauf, jede Eventualität auszuschließen. Es handelt sich um einen Hacken, der von vier dicken Schrauben in vier dicken Dübeln gehalten wird. Mein Körpergewicht beträgt fünfundachtzig Kilogramm, fünfunddreißig Kilogramm unter der maximalen Belastungsgrenze. Meine letze Botschaft ziert die kahle Wand auf einem Fetzen Papier geschrieben. Die Uhr zeigt Fünf vor Zehn, mit Zeigern, die schwarz und gerade über ihren runden, weißen Bauch gleiten. Rund und weiß...
“...es ist so warm und schön, ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sage, aber ich kenne jetzt den Sinn des Lebens. Du bist der Sinn des Lebens, unser Sohn ist der Sinn des Lebens, die Zeit, die wir vor uns haben, das ist Sinn, das ist Leben.“
Melissa lächelte müde: „Danke Schatz, ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch. Und dich auch, mein kleiner Supermann“, hauchte ich leise, während meine Hand über den kugelrunden, weißen Bauch meiner hochschwangeren Frau fuhr. Wir lagen im Bett und genossen die seltenen Stunden zu zweit. Das Licht war auf ein Minimum gedimmt, gerade stark genug, um die Silhouette des anderen genießen zu können und angemessen schwach, um die Harmonie der Zweisamkeit nicht zu stören. Ich hätte nie gedacht, dass ich so glücklich sein könnte, nie, nie ...
„... denk doch mal an die Kinder. Sie leiden unter diesen Umständen. Diese Stadt bringt uns alle um. Es muss sich etwas ändern, Martin, Du musst dich entscheiden; entweder ich oder diese Stadt.“
Tränen benetzten ihre vom Alltag gealterten Wangen, sie weinte, wie man weint, wenn man weiß, dass es eigentlich schon zu spät ist, dass jede Träne nur noch das Zeugnis einer vergangenen Hoffnung ist, aus Augen, die zu viel gesehen und zu wenig geblickt hatten.
Liebe ist wie wir Menschen: endlich. Unendlich ist nur die Dummheit und der Glaube. Mir war es Recht, dass sie ging. Ich liebte sie schon lang nicht mehr und meine Entscheidung stand fest; ich würde auch gehen.
„Melissa, du kannst mich nicht vor diese Entscheidung stellen, dass weißt du genau. Ich liebe diese Stadt zu sehr, dass ich hier weg ziehen könnte.“
Dann kam ihre letzte Frage, das Letzte, was ich aus ihren blassen dünnen, vor langer Zeit so lebensvollen und magnetisch-sinnigen Lippen hörte.
„Liebst du mich?“
Ich schwieg ihr nach, als sie mit dem Zuschlagen der Tür, den letzten Nagel in meinen Sarg schlug.
Mein Herz schlägt laut und schnell. Die Uhr tut ihre gewohnte Akkordarbeit. Das Ticken durchstößt die Stille in meinem Zimmer und in meinem Kopf, immer und immer wieder. Rhythmisches Wachhalten tritt an gegen konfuse Lebensmüdigkeit, wobei der Sieger schon lange feststeht. Um Punkt Zehn wird es vorbei sein. Noch dreißig Sekunden. Zwanzig. Zehn. Neun.
Acht.
Sieben...
...kalter Rauch einer toten Zigarette schwebte noch unsichtbar in der Luft, ihre Seele entwich in mein möbliertes Ein-Zimmer-Grab. Der Fernseher sendete Nichtigkeiten unterbrochen von wichtigen Verbraucherhinweisen. Bunte Farben, schöne Menschen, kleiner Preise, für jeden erschwinglich, zu jeder Zeit, an jedem Ort – das sind die Märchen unserer Gesellschaft, wobei Gesellschaft der falsche Ausdruck ist. Zwangsgemeinschaft trifft es viel eher. Zusammen gehalten von eingetrichterter Höflichkeit und Mangel an Mitteln, um zu fliehen.
Zwanghaftes Lachen wird zu einem müden Lächeln, zu einem krampfhaften Grinsen, zu einem wahnsinnigen Luftausstoßen. Letzteres entweder in der Abgeschiedenheit der so hoch gehaltenen Privatsphäre, welche frei und unantastbar, von den Machthabenden dokumentiert und überwacht wird, oder hinter sicheren Gummiwänden eines Kurhauses für Geistig labile Mitmenschen.
Das Leben ist korrigieren oder akzeptieren, korrigieren und akzeptieren, Korrektur der Akzeptanz und Akzeptanz der Korrektur. Früher habe ich noch geglaubt, dass man alles ändern kann, wenn man will. Stillstand ist der Tod, geht’s voran, bleibt alles anders. Bei mir geht nichts mehr voran und der Stillstand tut schon viel zu lange weh.
Zehn Uhr. Ich stoße mich ab, der Hocker kippt um. Wie berechnet trennen mich zwanzig Zentimeter vom Boden. Langsam geht meinen Lungen das Lebens aus, schwarze Ränder verschmutzen mein Blickfeld, immer größer wird der Rand, immer kleiner das Weiß…
… „Weißt du, was damit gemeint ist, Martin?“, fragte mich Herr Besinger, mein Ethik Lehrer.
„Lies den Satz doch bitte noch ein Mal laut vor.“
"Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte."
„Ja, was könnte uns Gustav Heinemann damit sagen wollen?“
„Hmm“, ich überlegte kurz. Aus der letzten Reihe de Klassenzimmers drang gedrücktes Getuschel und gedämpftes Geschwätz. Herr Besinger ignorierte es routiniert, in der Jahrzehntelangen Gewissheit, nichts daran ändern zu können. Seine Wahrnehmung galt, in 90% des Unterrichts, den ersten zwei Reihen, nur selten quälte er sich und die Hinterbänkler.
„Vielleicht, dass Veränderung Leben ist!?“
„Ja, sehr gut Martin, sehr gut.“
Hinter meinem Fenster geht ein anderer Tag zu Ende, wie ein behindertes Kind in einer Fußgängerzone, wird er kurz die Aufmerksamkeit der Passanten erregen, um dann wieder in Vergessenheit zu geraten, um in den Lauf der Geschichte eingeordnet zu werden, ein Datum im Kalender, ein Blatt in einem Ordner.
Ein staatlich geprüfter Mensch wird auf einem staatlich geprüftem Formular mein Ableben dokumentieren. Einer weniger, einer mehr, was soll die Haarspalterei? Hauptsache es läuft alles wie gewohnt, alles in geordneten Bahnen. Nichts wird sich verändern, wir werden nichts verlieren.
Tag der Veröffentlichung: 07.07.2011
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