Das Einschweben
Das Telefon schrillt sich in meine Hand. Manchmal hebe ich den Hörer viel zu schnell. Aber einmal gehoben, kann ich das nicht mehr rückgängig machen. Dann muss ich hinhören und lauschen. Es ist Ivich, die dort schluchzt und schnäuzt und halberstickende Worte raushustet.
‚Er ist tot, Poet, tot…’, sagt sie. Sie ist kaum zu verstehen. Warum ich? Warum bin ich immer erreichbar? Woher wissen die Menschen ständig, wo ich mich aufhalte?
‚Tot! Und vorgestern noch – gerade vorgestern …’, sagt sie.
Ich höre das Rauschen und Knistern im Telefon. Ich fühle die entfernte Trauer. Da bildet sich Schweiß zwischen dem Hörer und meiner Hand. Da bildet sich Schweiß auf meiner Stirn.
‚Vorgestern, sagte er – er sagte – du Ivich, sagte er …’, sagt Ivich. Sie und Mathieu werden kaum mehr unzertrennlich sein. Keiner wird mehr für den anderen reden, aber eigentlich war es mehr sie, die für beide redete. Ich glaube, ich muss das Ohr wechseln. Das tut ja weh, wenn ich den Hörer so dran drücke.
‚Ivich, sagt er, bald wird unser Glück vollkommen sein, wird…’, sagt sie. Typisch Mathieu, stets glaubte er, Vollkommenheit, wenn er nur lange genug danach strebte, erreichen zu können oder gar zu müssen. Der Tod wenigstens ist etwas Endgültiges. Weil ich Dummkopf immer noch Hoffnungen aufrechterhalten will. Eine Trennung nach sieben Ehejahren erscheint mir schmerzlicher und anhaltender als ein schlichter, simpler Tod. Das natürlich ist Unfug. Ich halte Gedankenbriefe aufrecht. Gespickt mit Hoffnungen. Auch mit Aufgeben!
‚Hei, Poet, biste denn überhaupt noch dran?’ sagt Ivich. Dabei schnäuzt sie sich die Nase laut. Mittenrein in die Sprechmuschel und in mein Ohr. ‚Dann sag doch was, bitte, er ist tot, Poet, ich brauch, ich brauch irgendwas, irgendwas, Poet… Poet?’
‚Ja, Ivich, ich bin dran. Was soll ich sagen? Es tut mir weh, so weh für dich, bestimmt! ‚s is sau traurig’, sage ich. Da weint sie leise am Hörer. Ich vernehme keine anderen Geräusche im Hintergrund.
Eine peinliche Pause entsteht, wo ich versuche, mitleidige Gefühle durch das Kabel zu quetschen.
‚Kannste, kannste nicht kommen, Poet?’ sagt sie.
Die Worte fallen mir lästig in die Ohren. Überlaut.
Überbedeutungsvoll. Überdramatisch. Überflüssig.‚Is doch nich weit von dir, Poet, doch nur ‚n paar Kilometer – paar Minuten un schon biste da. Was!? Kannste mir den Gefallen… kannste?’ sagt sie.
Ich bin nicht allein in meinem Wohnzimmer. Da ist Boris. Weil ich auf dem Sofa sitze, wimmert er in der Ecke zwischen Wand und Schrank. Er kniet sich da ganz klein und presst die Fäuste gegen den Mund oder so, jedenfalls ins Gesicht. Die Augenränder glühen mich feurig an.
Wie üblich ist meine Haustür nicht verschlossen gewesen. Boris bimmelte zwar an meine Schiffsglocke, hatte aber nicht auf meine Antwort gewartet und ist die Treppen hoch gestolpert und in mein Wohnzimmer gekommen und in die Ecke geflüchtet.
‚Isser tot?’ Boris faucht mehr als dass er verständlich redet. ‚Sagte doch, er is. Wolltes nich, Poet, wirklich ich nich. Das Zeug war’s, das Zeugs – und er selber hat’s mir gegeben. Hab’s dir schon erzählt, Poet, stimmts?’
Ich habe da nur halb hingehört. Muss ja noch auf Ivich aufpassen. Die schluchzt nun fast hysterisch. Mir fällt nichts zum Sagen ein. Und obwohl ich mitfühle, ärgert mich diese ganze Angelegenheit. Boris, der mich von seiner Ecke aus angafft und Ivich, die herzzerreißend schluchzt und ich, der ich lieber was ganz anderes denken, machen, fühlen will.
‚Du kommst doch, Poet, nich?’ sagt sie.
Die ganze Stimmung drängt auf Antworten. Wobei ich mich überhaupt nicht gerne antreiben lass. Soll mir doch die Zeit geben, die ich zum Entscheiden brauche und nicht andauernd die Frage wiederholen. So was verdirbt die Laune und schreit danach, das Gegenteil vom Erwünschten zu tun. Ein nebelverschleierter Friedhof taucht auf durch meine Vorstellungen. Verschwindet aber gleich wieder. Überlege schnell, oder versuche jedenfalls, mir vorzustellen, was mich bei Ivich erwarten könnte.
Will nicht da sitzen und trösten. So was liegt mir nicht. Dennoch behaupten viele, dass ich darinnen und auch beim Zuhören und so weiter, unschlagbar wäre.
Und nur ich weiß, dass meine Begabung das Zuhören nur in der Nichtbegabung des Redens zu suchen und zu finden ist. So erscheint es also, dass etwas Negatives etwas Positives verursacht. Wenngleich nur für die anderen. Alles das und einiges mehr beruht auf falsche Voraussetzungen.
Und Ivich weint leise.
Boris beißt seine Knöchel, was wie Daumenlutschen aussieht. Einem glühenden Bügeleisen gleich halte ich den Hörer. Und abermals scheint es dort nur die Frage zu geben: ‚Poet, kommste?’
Die Lüge
Allein dort im Wartezimmer sitzen, in dieser bedrückenden Atmosphäre, macht mich ganz mulmig, um nicht krank zu sagen. Obschon ich krank aussehen will – gar muss, wenn ich gegen den Vertrauensarzt bestehen möchte. Was heißt bestehen? Na ja, jedenfalls ist mir mehr schlecht wegen ihm als wegen irgendwas Anderem. Die Sprechstundenhilfe kommt und fragt nach dem ‚Nächsten, bitte’. Der dann sofort aufsteht und ihr folgt. Mich aber macht jedes ‚Der Nächste, bitte’ noch kribbliger und halt alles. Umherschauen kann ich nichts Beruhigendes finden. Meine Augen entdecken keinen sanften Angriffspunkt, an dem sie sich entkrampfen könnten. Und weil ich nervös an die bevorstehende Unterhaltung mit dem Arzt denke, kommen mir die unnötigsten, unmöglichsten Gedanken. Aber eigentlich gibt es nicht so viel mit ihm zu reden.
Dann bin ich der ‚Nächste, bitte’. Was ja irgendwann so kommen musste. Ich erhebe mich ein wenig schwerfällig. Lächle dabei ganz grün und krank der Sprechstundenhilfe ins Gesicht. Als würde mir das nützlich sein. Schließlich stehe ich vor ihm. Da, hinter einem riesigen Schreibtisch, hält er meine Akte vor sich, mit der er wie zufällig spielt. Er ist mehr als dünn oder schlank, hat ein spitzes Gesicht, eine lange Nase und dicke, buschige Augenbrauen. Listige, ungläubige und dunkle Augen schauen hinter den Brillengläsern. Er glaubt mir kein Wort, kein einziges – obwohl ich noch gar nichts gesagt habe. Vielleicht, weil ich ihm nicht in die Augen schauen kann oder so was. Da sitzt er und spielt. Und ich stehe da und verlagere mein Körpergewicht abwechselnd mal auf das linke, dann mal auf das rechte Bein. Der Schreibtisch ansonsten sieht so bedrohlich leer aus. Die Sprechstundenhilfe sitzt an einem anderen Tisch, weiter drüben in einer Ecke, die ich, weil ich auf seinem Schreibtisch nach beruhigenden Gegenständen Ausschau halte, nicht sehe, aufspüren kann. Übrigens prüfe ich mein Gewicht auch mal mit beiden Beinen, wobei ich dann ganz automatisch von den Zehenspitzen auf die Fersen wippe und zurück.
Mittenrein in meine Gedanken streckt er mir nun endlich seinen langen, dürren Arm entgegen, um mir die knochige Hand zu geben. Aber ich reagiere mit der gesunden linken Hand. Die jedoch ignoriert er schlicht und einfach. Ergreift meine rechte und drückt und schüttelt sie herzlich und sagt: ‚Wie geht es uns denn heute?’
Was er damit zu tun hat, weiß ich natürlich nicht. ‚Vorbeugungshalber’ zucke ich erst einmal schmerzhaft zusammen, versuche dabei, es so echt wie nur irgend möglich aussehen zu lassen. Wobei ich den Druck in seiner Hand keineswegs erwidere. Erkennt kein Erbarmen. Wenn ich nun wirklich krank wäre, von wo er ja ausgehen muss oder sollte, wäre sein Drücken und Schütteln und Ziehen der Genesung in keiner Weise behilflich. ’Nich’ so gut’, sage ich. Was er aber überhört, sowieso. Er betrachtet vielmehr meine rechte Hand und sieht den gelben Zeigefinger und den Mittelfinger.
‚Aber rauchen können wir noch, was? Das können wir noch!’ Er blinzelt Gedankenleserisch, weil ich den Arm ja nach eigenen Aussagen nicht bewegen kann. Und so oder so ähnlich geht das alle vier Wochen. Diese Besuche sind nicht nur lästig, sie sind auch, mehr oder weniger, peinlich. Das ist es dann. Mehr kann er mir im Moment nicht antun. So erscheint es mir jedenfalls. Und ich sehe ihm an, wie leid ihm dieser Umstand tut. Er sitzt dort und mustert, weil ich meinen rechten Arm mit dem linken unterstütze. Weil er einatmet, schlägt er mit dem rechten Zeigefinger gegen seine Lippen. Das unterstreicht sein Denken.
Die Sprechstundenhilfe hakt sich bei mir unter und führt mich zur Tür. Für heute habe ich es mal wieder geschafft. Und draußen höre ich, wie das Fenster hinter mir geöffnet wird. Aber ich gehe ganz ruhig weiter. Dabei halte ich den rechten Arm ein wenig angewinkelt und krankhaft steif. So krankhaft wie nur eben möglich. Wobei die Stimme des Vertrauensarztes in mein Gewissen dringt. Er kann es einfach nicht lassen. Noch jetzt, wo ich schon längst auf der Straße bin, muss er mir seine Ungläubigkeit hinterher werfen. Dann endlich bleibe ich stehen und schaue zurück. Dort steht er am Fenster, mit seinem weißen Kittel und ruft mir nach. ‚Den Arm bewegen, immer bewegen, nicht so ängstlich krampfhaft, bewegen, immer bewegen’, meint er höhnisch.
Seine Stimme erscheint mir auch eher zynisch. Kein Wort glaubt er mir. Schon lange nicht mehr. Ich weiß das. Vielleicht hat er mir noch nie geglaubt. Angefangen von dem Tag meines ersten Besuches, vor etwa sieben Monaten. Freundlich nicke ich in seine Richtung und setze langsam Fuß vor Fuß.
Nach zwei Seitenstraßen erreiche ich mein Auto. Erst als ich im Auto sitze, die Tür noch mit links aufgeschlossen, bewege ich mich wieder einigermaßen normal. Ich drehe mir eine Zigarette und ziehe den Rauch tief und genießend ein. Um mich zu beruhigen brauche ich eine Weile. Es dauert mindestens eine Zigarette lang, bis ich das Gefühl, beobachtet zu werden, los bin. Dann bin ich es los und versuche durch den trüben, graufeuchten Tag die Sonne zu sehen. Dunkle Wolken machen das jedoch sehr schwer. Sie sind eher schwärzlich, die Wolken, vielleicht nur von einem Fabrikschornstein. Aber wer weiß das schon? Dieses schwarze Etwas zieht langsam dahin und sich selber immer mehr in die Länge. Irgendwann ist das Etwas aufgelöst oder fortgeweht. Die Zigarette ich auch zu Ende. Ich fahre los. Mache einen großen Umweg um ein gewisses Fenster. Wer da nicht alles dahinter stehen kann…
Die Trennung
Und als Mutter mir öffnet und sagt, dass das Essen bald fertig wäre, habe ich keinen Hunger. Doch wie üblich überhört Mutter mich. ‚Also, ach ja, da war ein Anruf für dich, will zurückrufen.’ Ich habe hier bei Mutter in meinem alten Jugendzimmer ein paar Tage verbracht. Nur so zum Ausruhen und zur Ablenkung. Die Trennung von meiner Frau sitzt noch tief in den Gefühlen. Mutter hat mich gerne hier. Da hat sie mich besser unter Kontrolle, weiß, was ich tue. Oder nimmt an zu wissen, was ich tue. Es ist jedenfalls eine Beruhigung für sie.
Mitten im Essensgespräch ‚ja – nein – ja’, klingelt das Telefon. Sie hebt ab. Obschon sie zu mir schaut und wir beide sofort wissen, dass es für mich ist. Aber sie hebt ab. Macht große Augen und winkt mich mit einer stillen Kopfbewegung herbei und wo ihre Lippen lautlos Worte bilden, mir eine Botschaft mitteilen, die ich dann doch nicht errate.
‚Aye, Poet, bin’s, Bozo’, sagt Bozo.
Er wartet auf eine Erwiderung. Da ist aber nicht sofort eine. ‚Wollt nur wissen, wo Julien is. Hasse nich sufällig oder so gesehen?’ sagt er. Er ist betrunken. Wenigstens angetrunken. Ich bilde mir Pernodgeruch ein. Bozo und Pernod, das durfte und konnte keiner trennen. Ein jedes für sich allein würde hilflos in seine Einzelteile zerfallen.
‚Nee, nicht mal zufällig’, sage ich.
Ich beobachte Mutter in der Kochnische. Sie rührt und macht und probiert von heißen Löffeln. Nach ein paar Worten ist auf der anderen Seite eine Weile Ruhe.
‚Ehrlich?’ sagt er.
‚Sicher’, sage ich.
‚Dacht…’ sagt er.
‚Falsch’, sage ich.
‚Weise, warte schon n ganzen Tag un te ganse lesse Nacht’, sagt er. Er ist betrunken und nicht nur an.
‚Tut mir leid, aber da kann ich nichts machen’, sage ich. Ich höre ihn trinken. Das Glas stößt an seinen Hörer. Er atmet tief und schnalzt mit der Zunge. Dann meint er, dass Julien so oft mit mir wäre und es von daher doch nur natürlich sei, gerade in letzter Zeit, dass er sich an mich wende – oder? Und dass er ja nicht böse sei, könnte ruhig sagen, wenn ich was wüsste. Wenn es auch seine Frau wäre, so dachten sie seit langer Zeit schon an Scheidung und so und würden sich, jedenfalls sie, schon wieder wie Alleinstehende benehmen.
‚Habse wirklich nich gesehen. Nur Boris uns Ivich und Mathieu. Waren stehen geblieben mit ‘m Auto’, sage ich.
‚Hatten Streit, gessern Abend’, sagt Bozo.
Ich bleibe ruhig.
‚War’n schlimmer. Jess kommse sicher nich wieda’, sagt er.
‚Ach was’, sage ich, ‚die kommt immer wieder.’
Das ist keinesfalls sehr nett gesagt. Habe mir abgewöhnt, manchmal jedenfalls, vor allem wenn es mir egal erscheint in einigen Situationen, so wie jetzt, vorsichtig und nicht verletzend zu sein.
Bozo ist eh nicht für sehr lange zu verletzen. Er kommt auch immer wieder. Ihre Streitereien kommen und kamen immer wieder. Ihre Scheidung, ihre Gespräche darüber, ihre was immer – kam und kommt immer wieder. Da gibt es keine Überraschungen, nichts Neues, das was ändern tät.
Habe beiden schon stundenlang zugehört, versucht nett zu sein, zu helfen, mit Rat und Tat. Das Ergebnis blieb stets das gleiche. Streit und mich überhören, aber ständig fragen. Und seit ich kühler bin ist das Ergebnis immer noch das gleiche – nur für mich ist es besser, einfacherer. Mutter lässt einen Löffel fallen, hebt ihn aber sogleich wieder auf. Wischt ihn an der Schürze – sucht nach dem Putzlumpen.
‚Schuldige, Poet, bin nur so inner Stimmung’, sagt Bozo.
Mutter wischt den Fußboden. Und dann schaut sie zu mir, weil ich so ruhig bin. Sieht aber den Hörer in meiner Hand und öffnet einen Wandschrank, um die Teller rauszuholen.
‚Is ok, Bozo, sobald ich was höre, rufe ich dich an’, sage ich.
‚Weisse ja, wo ich bin, was? Und wenn ich sehe, dasse wieda in deinem Haus bist, komm ich vorbei, hei?’ sagt Bozo.
‚Ok, mach du das mal’, sage ich.
Ich lege auf. Mutter bringt die Teller zum Tisch und geht wieder in die Nische. Ich sitze auf der Eckbank, wo ich aus dem Fenster schauen kann. Ich denke. Obschon ich zu Mutter kam, weil ich dachte, das gäbe mir genug Abwechslung, damit ich nicht zu deprimiert herumhänge. Trennungen kommen nur für die anderen plötzlich, denke ich, die dann nicht verstehen wollen, schließlich haben wir ihnen monatelang eine gut funktionierende Ehe glaubhaft vorspielen können. Wie leicht man sie täuschen kann, was sonst? Und nun erscheint es ihnen fremd mich alleine zu sehen. Sie sind gewöhnt von mir und meiner Frau zu reden, unsere Namen in einem Atemzug zu nennen, so untrennbar zusammen geschmiedet, dass ihnen nun schwer fällt nur noch von mir zu sprechen und das UND nach meinem Namen, das sie als blutige Wunde ansehen, zu verschlucken. Manchmal tun sie mir schon leid und überhaupt. Wenn sie dastehen und herumdrucksen und Angst haben zu viel zu sagen oder gar zu wenig! Ach, die Armen! Oft fühle ich mich schlecht, weil ich sie in so eine Zwickmühle bringe.
Wer aber ist auf der unangenehmeren Seite?
Lautloses Sterben
Wenn Mathieu etwas sagt, sieht das meist so aus, als würde er noch an die Worte denken, die er gerade spricht, als wäre er selber neugierig, was wohl das nächste Wort sein wird. Ich meine, eigentlich sitzt man da und denkt und grübelt, mahlt sich aus, formuliert schon ein wenig in Gedanken und spricht dann. Mathieu hingegen tut alles gleichzeitig und manchmal spricht er schneller als er denkt. Was er dann oft wahrnimmt, das Gesagte korrigiert, wobei er mit dem, was er sagen wollte wieder ganz von vorne anfängt oder aber nicht wahrnimmt oder seine Zuhörer im Unklaren lässt, einfach weiter spricht. In gewissen Abständen macht er kürzere oder längere Pausen nach seinen Aussagen. Oft, um den Hörenden Gelegenheit zum Nachdenken zu geben, oft aber auch, um dem Gesagten den verdienten Nachdruck zu verleihen.
Dabei zieht er die Luft kurz aber geräuschvoll durch die Nase – untermauert durch den Zeigefinger, der flach an den Nasenlöchern hoch streicht. Das passiert so oft, dass ich schon lange aufgehört habe, mich daran zu stören.
Seine Bewegungen, ob er redet oder nicht, sind langsam und bedächtig. Selbst spontane, unkontrollierte Bewegungen wie etwa, wenn man einen Teller fallen lässt oder ähnliches und ganz automatisch versucht ihn aufzufangen, bevor dieser am Boden zerschellt, gibt es kaum bei ihm. Teller haben eine schlechte Chance mit Mathieu. Er reagiert so sanft, dass schon alles vorüber ist, ehe man seine Reaktion wahrnehmen kann.
Lässt er eine Zigarette fallen, so brennt diese erst ein großes Loch in den Teppichboden, bevor sie wieder von ihm aufgehoben wird oder werden kann. Aber hier in seiner Bude, die er behält, obschon er mit Ivich wohnt, gibt es keinen Teppichboden. Da sind nur die paar Matratzen an den Wänden entlang. Da ist ein Bierkasten auf den Kopf gestellt als Tisch dienend. Darauf stehen brennend drei dicke, Duft versprühende Kerzen, um den Gestank, der aus den Matratzen kriecht zu überduften. Ein Sarong verdunkelt das kleine Fenster. Aber es ist eh Nacht. Es ist immer verdunkelt – Tag oder Nacht. Zu jeder Stunde des einzelnen Tages.
Er sitzt mir gegenüber. Oder liegt. Oder besser – sitzliegt. So auch ich. Ich sitzliege, wobei der Kopf erhöht und unbequem an der Wand lehnt. Ein Glas Wein auf dem Brustkorb balancierend.
Im Gegensatz zu den anderen, mag Mathieu die Musik leise. Er mag Bach, Mozart und Beethoven und hört selten etwas anderes. Es kommt so sanft und beruhigend aus dem Hintergrund, dass mir dazu nur das Wartezimmer unseres Zahnarztes einfällt.
Mathieus Augenhöhlen und Wangen werden vom Kerzenlicht als schwarze Löcher wiedergegeben. Da flackert der ganze Raum. Ein Docht fällt um, brennt aber weiter. Mathieu, das linke Bein überm rechten liegend, wechselt dies nun so, dass das rechte überm linken liegt. Wenn ich jetzt huste, würde ich den Wein verschütten.
Fangen Mathieus Sätze mit einem kurzen Auflachen an, weiß ich sofort, dass das Folgende nicht gerade ernsthaft gemeint ist oder aber sarkastisch. Ein langes Hhmmm kündigt tiefgehende Überlegungen an. Ein Äähm hingegen zeigt seine Unsicherheit und lässt eine Frage folgen. Selten redet er mit den Händen, nie dagegen mit den Füßen.
Manchmal hört er mitten im Satz auf und beendet ihn, wenn er ihn beendet, häufig mit einem ganz anderen halben Satz. Und immer wieder, wenn es schon lange oder noch lange so aussieht als würde er nachdenken, schläft er schon längst.
Reden - Denken
Ich sitze wieder in der Küche, dort auf der Eckbank, wo ich aus dem Fenster schauen kann und es regnet. Das ist alles was ich sehe. Bin viel zu beschäftigt mit meinen Gedanken, wo ich Briefe schreibe – Gedankenbriefe, die keinen rechten Anfang haben und irgendwie, irgendwo, irgendwann aufhören. Es sind alles Briefe oder eben nur Nachrichten, die meine Exehefrau betreffen. Ich sollte damit aufhören, ich weiß. Ich mache es mir selber unnötig schwer. Warum noch daran denken? Warum noch in Gedanken nach Lösungen suchen, die, selbst wenn ich sie fände, nicht mehr gebraucht werden könnten?
Manchmal schon starten diese Briefe ohne mein Zutun, und oft kann ich kein Ende finden oder will keines finden. Eigentlich bemitleide ich mich nur selber und bringe es so zum Ausdruck, für mich - für wen sonst? Für die lieben Bekannten und Verwandten? Ich verstecke mich vor ihren giftigen Augen. Die netten
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2015
ISBN: 978-3-7368-9951-3
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