Langsames Finden
Der Wunsch
Der Fremde
Die Erkennung
Mund
Die Vereinigung
Das Bild
Der Wunsch
Er könnte dann einfach dort sitzen und die Blumen anschauen, die manchmal einzeln und manchmal in Gruppen dastehen, die vom Wind berührt ihre Köpfe auf und ab kreiseln. Er würde sich der farbigen Blüten, welche das eintönige Grün des Grases unterbrechen, erfreuen und riechen, was sie an Duft verbreiten.
Er könnte einfach dort sitzen, die Beine lang ausstrecken, beide Arme zum Aufstützen im Rücken und umherschauen. Das Haus könnte er nicht sehen, weil es hinter ihm wäre, und den Fluss am Ende der Wiese würde er, da er säße und einen zu spitzen Sehwinkel hätte, nur als einen hingeworfenen Bindfaden erfassen. Vielleicht nicht einmal das. Vielleicht würde er den Bindfaden nur erfassen, weil er sein Dasein als selbstverständlich hielte.
Aber die Angler könnte er sehen. Die Angler, die entweder am Ufer stehen oder auf ihren kleinen Booten hinausrudern, um in gähnender Unbeweglichkeit dazusitzen. Sitzen und starren bis was, ja, bis was geschieht, was er erst hören und dann sehen würde. Denn sein Blick würde erst ganz woanders verweilen. Während einer der Angler aus seiner Starrheit ausbricht, um entweder vom Ufer aus ein paar Schritte mit den hohen Stiefeln ins Wasser zu tun oder von der Sitzbank im Boot aufzuspringen und an der Angel zu ziehen und nachzulassen, bis das zappelnde Etwas im Netz zuckt. Was dieser dann hoch in die Luft hält, um den anderen seinen Fang stolz bekannt zu geben.
Er könnte die weichen, grünen und braunen Hügel hinter dem Fluss sehen, die sich so sanft heben und senken, dass es eine bequemliche Wohltat ist darüber zu wandern. Von der Höhe aus würde er die Ortschaft erblicken oder jedenfalls die roten und rotbraunen Dächer und den Kirchturm und wenn der Wind günstig stände, auch die Glocken hören. Von hier aus sähe er ebenfalls das Haus auf der anderen Uferseite, das sich geduckt der Landschaft keineswegs aufdrängt. Er könnte auch die Krone des Apfelbaumes sehen, nicht aber die Erdbeeren, vielleicht würde er die Frau erspähen oder beim Wäscheaufhängen beobachten, vielleicht käme sogar Rauch aus dem Schornstein geströmt, um vom Wind aufgelöst zu werden. Von hier wäre es ihm nicht unmöglich, die Schulbimmel zu hören und dann die Schreie und Rufe der Kinder zu erahnen oder sich an einen der wenigen Bäume zu setzen und anzulehnen und in der Sonne zu dösen. Weil freche Mücken sich nicht vertreiben ließen. Weil er mit geschlossenen Augen das Rascheln, Prasseln, Zischen, Knacken, Säuseln, Klatschen und Piepsen ungesehenen Verursachern unterschöbe. Weil er diesen Frieden aufnähme und verbreitete. Weil er nur das wollte!
Auf der Wiese sitzend oder auf dem Bauch liegend, könnte er die schwarzweißbraunrote Katze ausmachen, wie sie einen Käfer mit der Pfote ins Gras drückt und umherschaut, ob er auch gucke. Schließlich wird sie die Pfote wieder heben, der Käfer um sein Leben rennen, sie, die Katze, springt mit steil aufgestelltem Schwanz und allen vier Pfoten gleichzeitig auf und ab und um den Käfer herum, wobei ihre Augen stets auf das Kriechtier gehaftet bleiben. Dann tut sie, verharrt der Käfer unbeweglich, ihn mit der Pfote anstoßen, vielleicht sogar an ihm schnuppern, um ihn sofort, wenn er entfliehen scheint, wieder ins Gras zu drücken. Manchmal bäumt sie sich auch auf, um mit den beiden Vorderpfoten auf den Käfer runterzusausen oder nur einfach auf Sprung vor ihm liegen und gar nichts tun. Irgendwann hebt sie den Kopf, um sich wie verloren umzuschauen und damit dem Käfer, absichtlich oder unabsichtlich, die Chance zum Untertauchen geben, weil das tödliche Spiel für den Käfer, für sie nur Spaß, eben keinen Spaß mehr macht.
Er könnte die Katze dann, weil sie käme, streicheln oder mit einem Finger unter ihrem Kinn kraulen oder sie mit ihrem eigenen Schwanz ärgern, solange, bis sie beide die Teller und Schüsseln klappern hören und warten würden, bis die Frau riefe.
Er könnte auch einfach nur dasitzen und sich so unheimlich frei und wohl fühlen, ließe die Gedanken kommen, die ihm ziemlich klar kämen und die er verstände. Er müsste nicht unbedingt die Geräusche aus der nahen Ortschaft hören, die ihn einen Mist angingen. Er würde keinesfalls den kranken Umgang oder das ihn verwirrende Treiben und Hasten und Stressen brauchen. Er könnte in die friedliche Stille hineinhorchen oder auch nur so tun, die Ruhe empfangen, in sich aufnehmen und sich dem satten Gefühl der Zufriedenheit ergeben.
Nirgends ist der Wunsch größer als in seinem Gehirn, von wo er durch Erinnerungen heraufbeschworen wird und wohin er durch Erinnerungen wieder zurückkehrt.
Der Fremde
Staubig kam ihm, obwohl feucht, die Zunge vor. Fiebrig heiß steckten die brennenden Augen tief in den schwarzen Höhlen. Schweißglitschig zeigte sich alles, was er anfasste, warm und fremdartig pulsierend. Seltsam gelassen nahm er hin, dass das, was er fühlte, sah, hörte, sich nun anders anfühlte, ansah, anhörte.
Nirgends konnte er eine Erlösung des Stumpfsinnes sehen. Aber dann wiederum dachte er, dass das, was er Stumpfsinn nannte, eigentlich gar kein Stumpfsinn war, nicht in dem Sinne jedenfalls. Dieser Stumpfsinn, das war sein Leben. Sein Leben, weniger wie es bereits erschien, als so, wie er es sich gerne erwünschte.
Überall ging es ihm im Kreise. Immer herum und herum. Manchmal wurde ihm schwindelig, manchmal nicht. Seine Gedanken, von ihm abgelenkt, hatten keine Anlehnungspunkte, keinen Raum zum Verweilen oder sich genauer durchzudenken.
Stets prallten sie ihm wieder entgegen, als würde dort eine Mauer sein, ihm verweigern, sich zu verändern, den Einstieg in ein neues und den Ausstieg aus dem alten Leben verhindern. Aber eben auch die Erinnerungen an Vergangenes verhinderten oft ein Handeln für Zukünftiges. Das, worauf er saß, entpuppte sich als eine Bank. Entspannung wollte er und tat alles dafür. Diese Rast erwies sich als richtig gut. Hin und wieder, wenn die Gefühle angenehm waren, sah er eine wirkliche Zukunft! Doch häufig sah er nur das Wenige, was er gar nicht hatte sehen wollen.
Noch verflucht jung, schlüpfte diese Nacht in dunklere Schwärze.
Dort, wo er sich manchmal verstecken mochte, konnten sich ohne weiteres auch andere verstecken. Sehr oft fand er selbst beim Verstecken mehr als beim sturen Suchen. Wer sucht, der übersieht, weil er überall einfach mal schauen kann. Wohingegen der ‚Verstecker’ wählerischer ist und die Situation mit ängstlicheren Augen betrachtet.
Ganz lieblich vertraut knisterte die Zigarette. Ohne zu husten zog er den ersten Zug gleich richtig tief in die Lungen. Nicht unbedingt um eine Krankheit musste es sich bei dem Drücken im Brustkorb handeln.
Wenn er sich jetzt Zeit nahm, würde er später sich beeilen müssen. Zu lang zum Baumeln zeigten sich seine Beine. Mit der einen Ferse stellte er sich auf die Schuhspitze des anderen Fußes. Weil er sich nichts fragte, erübrigten sich irgendwelche Antworten. Sobald er an sein Problem dachte, sah er Kreise. Bis sie knackten, bog er die Finger. Über sein Alleinsein erschrak er immer seltener! Wogegen er nichts tun konnte, tat er nichts.
Stimmungen, die eintrafen, trafen ein. Solange, bis er sie wieder brauchte, verfluchte er seine Gedankengänge. Wenn seine Hände zitterten, vermochte er das sehr gut in seinen Hosentaschen zu verbergen. Manchmal, wenn ihm einfiel, dass das Vergangene schon war und er nur hier im Jetzt war, konnte er lächeln, bis die Zweifel wieder zweifelten. Je angestrengter er nach vorne schaute, desto deutlicher spürte er die Ängste im Nacken. Niemand pfiff oder trällerte ein befreiendes Liedchen im düsteren Wald, der hinter ihm und der Bank sich ausbreitete. Was er wollte, glich ziemlich stark dem, was er hatte. Nur wollte er das, was er hatte, anders. Anders im Sinne von befriedigender. Und dort endete der Gedankenkreis oder, je nachdem das der Einzelne sieht, fing er an. Die fortwährende Erneuerung des Zirkels! Der Knoten im Taschentuch machte ihn keineswegs misstrauisch. Wenn die Bank knarrte, schob er das auf seine Gewichtsverlagerung zurück. Hinter keinem Baum erspähte er den bösen Wolf. Aber das Rascheln machte ihn dann doch mulmig. Wenn er sich jetzt umschaute, so wusste er, würden ihm die Nackenhaare zu Berge stehen.
Obwohl er schon lange daran dachte, stand er nicht auf. Sobald er feste, harte Wörter dachte, zerfielen sie zu Staub. Mit zunehmender Dunkelheit nahm die Helligkeit ab. Meistens waren seine Fragen länger als seine Antworten. Gelegentlich passten seine Antworten erst dann zu den Fragen, wenn er diese dementsprechend änderte. Seit geraumer Zeit erinnerte er sich an vorgelegten Erwiderungen zu späteren Fragen, die ihm unweigerlich gestellt würden. Unweigerlich, weil auch er sich für schuldig hielt! Er hielt sich im dem Sinne schuldig, als wäre es gerade eben erst passiert und nicht etwa schon vor einer Ewigkeit. In Momenten, wo er Mut spürte, fühlte er sich nur bedingt schuldig, weil er schließlich für die Schwimmkünste kleiner Mädchen nicht verantwortlich war. So was steht niemandem im Gesicht geschrieben! Woher sollte er denn wissen? Dabei schien er doch so zart. Manchmal, eben auch nur, wenn er die Frische des Grases roch, bekam er Tränen in die Augen. Nach einer Stimmung suchte er, die in Worte zu fassen, ihm verweigert erschien. Zu diesem Stimmungsgefühl gehörten die langsamen, dicken Schneeflocken im matten Laternenschein ebenso, wie der Kreidegeruch der uralten Schule.
Die Asche, die zu Boden fiel, war zu nichts mehr zu gebrauchen. Um eine Fingerbreite schob sich der Mond höher. Hier fühlte er sich keinesfalls besser oder gar schlechter als sonst irgendwo. In seinen Gedanken hörte er seine Stimme gänzlich anders, als wenn er wirklich redete. Keiner sah, dass seine Augen glitzerten. So wie der Herbstwind das Laub, fegte das dröhnende Auto seine klaren Gedankensätze durcheinander. Er liebte das Gefühl, Gefühle zu lieben. Oft unterbrach er sein Denken, um sich selber nicht zu viel zu verraten. Bewegte er die Zigarettenglut rasend vor seinen Augen, konnte er diesen Kreise und Achter vortäuschen.
Jetzt daran denkend, fiel ihm der Grund seines Hier seins nicht ein. Da heulte kein Wolf den Vollmond an. Nirgends schwebten plötzlich Fledermäuse, wo gerade noch Menschen gegangen waren.
Schnell aber heimlich steckte er sich hinter seinem Gewissen eine andere Zigarette an. Dieser Art Laster, war und fühlte er sich nicht gewachsen. Würde er daran sterben, würde er das für richtig empfinden.
Als er in einem Gebüsch eine Gestalt zu erkennen glaubte, schaute er so lange zur Gestalt, bis diese sich wieder als Gebüsch zeigte. Wehte ein Wind, fühlte er das sofort. Zum Mond schauend, wünschte er sich die Sonne, um auf warmen, staubigen Landstraßen daher schlendern zu können. Lösungen für irgendwelche Umstände mussten stets herbeigeführt werden. Er wusste ganz einfach nicht mehr was er machen wollte oder sollte. Verrückt, aber so war es.
Doch warum machen sollte? Niemand verlangte etwas von ihm. Ohne Poesie stampften seine Gedanken Ideenlos um sein ungewisse Zukunft. Die wirklich wichtigen Dinge passierten immer dort, wo er nicht war. Wohl hörte er davon, aber meistens so spät, dass ein Eingreifen seinerseits nicht nur unnötig, sondern auch unerwünscht schien.
Zitternde Lichtreflexe lenkten seine Gedanken wieder auf seine Freiheit, mit der er doch gar so wenig anzufangen wusste. Hieß das etwa, dass er etwas mit seiner Unfreiheit anfangen könnte? Oder wurde er in diesem Falle etwas mit ihm angefangen?
Wie auch immer. Da saß er auf einer Bank mitten in einer Nacht und irgendwo zwischen zwei Punkten, wusste weder genau, von woher er kam oder wohin er wollte und phantasierte von Freiheiten, die ihn, sollte er sie je erreichen, doch nur erdrückten. Irgendwo ganz tief innendrin lag ihm die Wahrheit, nicht so zu sein, wie sein Wunschträumen es von ihm forderte. Erkenntnisse lagen, schweren Steinen gleich, in seinem Weg. Manchmal wünschte er sich verzweifelt irgendein körperliches Laster. Nur ein Bein etwa, oder keine Hände. Irgendwas, was seine ständige Aufmerksamkeit erforderte, was ihn ablenkte von den blöden Gedanken an Änderungen und Verbesserungen. Nichts würde sich je ändern oder verbessern, so ganz aus heiterem Himmel. Dafür musste man etwas tun. Aber dieses Etwas vergrößerte nur seine Problemliste um einen Punkt. Übrigens, hätte er ein körperliches Laster, würde er sich sicherlich so sehr daran gewöhnen, dass man nicht mehr von Ablenkung sprechen könnte. Vielleicht ein ständig schmerzendes Laster, wie etwa Zahnschmerzen.
Vielleicht sollte er sich Daumenschrauben anlegen und jedes Mal, wenn er sich an den Schmerz gewöhnte, ein wenig daran schrauben. Und sollten die Daumen irgendwann kaputt sein, würde er dieselbe Schraube eben als Fingerschraube benutzen. Wobei er bei den letzten Fingern die Schraube wohl mit den Zähnen drehen müsste, was den Vorteil des Zähneabbrechens hätte, schließlich brauchte er auch für später noch seinen ablenkenden Schmerz.
Er kratzte sich so an seiner Stirn, dass das Jucken aufhörte. Die Stelle eines aus Versehen aufgerissenen Pickels brannte sogleich. An zwei plötzlich getroffenen Plätzen in seinem Gesicht, kündigte sich neuer Regen an. Als die kalten Tropfen auf die Haut aufschlugen und er sich seiner Teilnahmslosigkeit bewusst wurde, erschrak er. Unübersehbar seiner trüben Stimmung angepasst hatte sich der Körper und musste, um richtig funktionieren zu können, erst aufgeweckt werden. Obwohl nun eine ganze Weile nichts geschah, zwinkerten die Augenlider so, als würden sie ständig beinahe getroffen. Was die Augen erwarteten, traf dann die Zigarette, die ärgerlich zischte und von ihm unter seinem Schuh ins nasse Gras getreten wurde.
So ganz ohne etwas in den Händen oder zwischen den Fingern zu halten, musste er zunächst noch mehr denken. Seitengedanken erreichten immer öfter einen Ehrenplatz. In diesen Minuten hätte er ohne weiteres von abschweifenden Abschweifungen reden können. Manchmal gefiel ihm das ‚Gehen lassen’. Manchmal gefiel es ihm nicht. Heute hatte er kaum was dagegen.
An dem Trommeln im Laubwerk konnte er die Heftigkeit des fallenden Nass erkennen, das sich von einem leichten Trippeln in ein Stakkato zu verwandeln drohte. Schwer und faul fühlte er sich. Wenn er hinhörte, hörte er hin. Er nahm wahr, wie die Querlatten der Bank in seine Oberschenkel schnitten. Aber Oberschenkel ist der falsche Ausdruck. Schnitten auch.
Dass das dumpfe Gefühl unter ihm seine Beine waren, glaubte er zunächst nicht. Erst als er eine ganze Weile stand, wurde ihm bewusst, auf etwas zu stehen. Mit dem ersten Schritt schwächerte sich das dumpfe Fühlen. Mit dem zweiten Schritt verstärkte es sich wieder. Mit dem dritten wurde es abermals schwächer, dann wieder stärker, und noch einmal schwächer, dann vergaß er die ganze Sache.
Weil die Gründe zu gehen, größer waren als die zu bleiben, brach er auf. Mit der einsetzenden Erinnerung, setzte die Erinnerung ein. Der Schlüssel passte genau ins Zündschloss! Das Fortbewegen eigentlich war mehr ein Näherbewegen.
Gerade immer dann, wenn er glaubte, dass es schon zu spät für ihn sei, bemerkte er, nur am Anfang zu stehen. So handelte es sich bei dem von ihm empfangenen Aufruf nicht etwa um das Ende, sondern um den Beginn eines neuen Abschnittes.
Das eintönige Fahren sah er weder als Gegenwart an, noch als Zukunft oder gar Vergangenheit. Einfach wie ein fortlaufender, gleich bleibender Prozess erschien ihm das Fahren, bei dem die Zeit erst wieder beim Aussteigen tickte. Er selbst sah sich hierbei auf einer Nullebene, wo er, zwar durch sich selber befördert wurde, aber ohne sich selbst fortzubewegen. In einem Zug oder Flugzeug würde ihm das gleiche Gefühl überkommen haben. Noch lange in seinen Ohren nachgeklungen war ihm das Telefongespräch. Das stellte seine Laune quer. Quer? Das würde bedeuten müssen, dass sie vorher gerade war. Eigentlich wollte er schon längst zu Hause sein. Daran und an die ausgestreckten Füße bei einem Glas Wein denkend. Unbequem lehnte er sich bei diesen Gedanken in den Fahrersitz. Die Straße, obwohl sie zur Ortschaft ging und eine Hauptstraße darstellen sollte, lag ihm nicht besonders. Zu kurvenreich.
Zu viele Schlaglöcher. Dazu war es Nacht gewesen. Schlechter vermochte es kaum zu kommen. Warum schlechter? Und warum kommen? Schweißperlen bildeten sich auf den borstigen Augenbrauen, vom angestrengten Gucken im schleimigen Scheinwerferlicht. Nur wenige Büsche und Bäume tauchten am Straßenrand auf. Um mehr zu erkennen, als er zum Fahren auf der vom Regen geschwärzte Straße benötigte, reichte das Licht kaum.
Seine Körperwärme oder sein heißer, ärgerlicher Atem beschlug ständig die Scheiben. Nutzlos war schon lange das Anti-Beschlagtuch geworden. Und weil sein Arm bereits zuckte und die Bewegung zu Ende bringen wollte, ließ er die Hand in die Jackentasche huschen. Von dort kam sie nicht wieder ohne die Zigaretten hervor. In der linken Hand, mit der er ebenfalls steuerte, hielt er die Streichholzschachtel. An der Packung riss er ein Streichholz. Dieses entzündete sich kratzend.
Rasch wieder zur Normalität gewöhnten sich die geblendeten Augen. Unter die Explosionsgrenze beruhigte die Zigarette seinen Ärger. Dann dachte er an das Zimmer, das er noch finden musste und an das Telefon, um seiner Frau Bescheid zu sagen. Das durfte er unter gar keinen Umständen vergessen! Später würde sich dieses Handeln als positiv erweisen. Er dachte an das lange nötige Gespräch, um sie zu besänftigen, aber und das immerhin kam nun mal nicht jeden Tag vor. Wenn auch enttäuscht, würde sie ihn oder besser die Sache oder Angelegenheit verstehen können. Darüber brauchte er sich die wenigsten Gedanken machen. Worüber aber sollte er sich dann die meisten machen? Diese war ihm zurzeit entschwunden. Eher unterdrückt. Ein wenig dachte er schon daran. Eigentlich dachte er an nichts anderes. So erging es ihm immer. Je heftiger er etwas unterdrücken wollte, desto deutlicher zeigte es sich an der Oberfläche. Über eine Brücke fraßen sich schließlich die mageren Scheinwerferkegel. Das Holpern und Rucken spürend, erschrak er sacht. Wie meistens, wenn er sich seinem Ziel nahe wusste, erwachte er ein wenig aus seiner pelzigen Lethargie.
Den fernen Ortslichter starrte er mit brennenden Augen entgegen. Ans Umkehren dachte er für eine Sekunde. Die Sekunde verpuffte, weil er sich nicht gerührt hatte. So was verpuffen nennen. Dann dachte er an die positiven Seiten, an den Spaziergang über die Felder und Wiesen. An die Ruhe, die er sich nicht nur gönnte, sondern auch ganz ehrlich verdiente. Dieses ruhige monotone Daherplätschern des duftigen Landlebens würde ihn schon beruhigen. Beruhigen und besänftigen. Warum besänftigen? War er denn wild? Warum beruhigen?
Er dachte an die Gedanken, die ihm völlig ungestört kämen, denen er ohne Unterbrechung folgen könnte und hier ergriff ihn das kribbelnde, schöne Zukunftsgefühl. Er freute sich darauf, allein zu sein, allein zu denken, allein zu atmen. Er freute sich auf die Zweisamkeit mit seiner Stille, die er fühlen würde, vielleicht sogar mal deutlicher anfassen könnte. Das war die graue Eigentümlichkeit seiner Stille, die er um sich zu verbreiten wusste und dann auch wusste, dass sie da war, aber sie nur ahnen, klar ahnen konnte, doch niemals in Worte zu fassen verstand.
Aus der Zähflüssigkeit seines Jetzt riss er sich mühsam. Er zwang sich zu schauen und wahrzunehmen, was es wirklich zu sehen und wahrzunehmen gab. Im Auto zu sitzen, sagte er sich, zu lenken und zu schauen, sagte er sich noch mal ganz eindringlich, glaubte schließlich seinen Worten, fühlte das Auto in jeden seiner Knochen und steuerte es, ohne sich zu verfahren.
Einigermaßen gut kannte er sich hier aus. Prompt fand er die Gastwirtschaft. Nein, nicht irgendeine. Genau die, die er wahrscheinlich wollte.
Eine neue Zigarette steckte er sich an. Vom Nachbartisch holte er sich dafür einen Aschenbecher, wobei die drei alten Gesichter sofort aufschauten. Dass da nichts Besonderes vor sich ging, selbst kein Freibier, erkannten sie beinahe gleichzeitig und schauten wieder gemeinsam und gelangweilt tief in ihre Trinkerträume.
Unter seinem Gewicht knarrte der Stuhl. Da er keine Bedienung sah, wartete er geduldig. Am Aschenbecher strich er die Zigarette. In seinen Gedanken huschte er zum Telefonieren und versuchte sich dabei das Gesicht seiner Frau vorzustellen, was ihm nicht leicht viel. Obschon er sie so viele Jahre kannte. Oder war es gerade deshalb, weil man ein Gesicht schon für so selbstverständlich um sich herum weiß, dass man es kaum mehr für nötig hält, es zu betrachten? Bei genauerem Hinsehen erschrak er ein wenig. Seine Kenntnisse reichten schwerlich für einen polizeilichen Steckbrief. Wenn seine Frau verloren ginge, würde er alt aussehen. Aber warum sollte sie das? Es müsste schon aus eigenem Antrieb geschehen und dann ist das kein Verlorengehen mehr, dann ist das Absicht und würde somit keine Rolle mehr spielen, ob er sie beschreiben könnte oder nicht. Wenn sie nicht gefunden werden sollte, hatte sie das Recht dazu. Man sollte sie dann alleine lassen! Jawohl, so tolerant war er! Vielleicht würde sie auch nur gehen, um zu sehen, ob er ihr aus Liebe folgte oder wenigstens ihr Gehen, soweit er davon wüsste, versuchte zu verhindern. Vielleicht wäre ihr Gehen auch nur die Antwort auf etwas Schreckliches, das er tat. Überhaupt, wer sagte denn, dass sie ginge?
Die Atmosphäre lullte ihn ein, regte ihn zum Weitergehen geradezu an. Das Stimmengemurmel im Hintergrund, vielleicht auch im Vordergrund, tat seinen Teil und der warme Geruch von gewaschenen Gläsern den anderen. Zusammen wirkten sie wohltuend einschläfernd. Wie konnte er sich beim Einschlafen zum Denken angeregt fühlen? Vielleicht zu langsamen, trägen Gedankengängen, die eine bessere Aufmerksamkeit ablehnten oder eben zu Unwichtiges.
Er versuchte an die vergangenen Stunden zu denken, aber die Erinnerung blieb einfach aus. Manchmal glaubte er zwar ein kleines Stückchen Gedankengut erwischt zu haben, aber dann, bevor er es genauer inspizieren konnte, flutschte es dahin. Er hinterließ nichts, nicht mal einen Schatten oder eine Ahnung. Da herrschte nur eine Leere, wie wenn er sich nicht erinnern wollte oder so. Dabei wollte er doch. Aber was spielte sein Wille noch für eine Rolle?
Später dann, als er glaubte, einen kleinen blassen Schimmer zu erahnen, stand die fette Wirtin vor seinem Tisch und hatte nach seinen Wünschen gefragt und eine Haltung eingenommen, als wäre sie nicht im mindesten daran interessiert. Er spürte seine Abneigung und bestellte ein Bier. Schwabbelig dösend stampfte die Wirtin zum Zapfhahn. Die Zigarette drückte er in den Aschenbecher. Da kam dann auch schon die Fette wieder, stellte ihm ein abgestandenes Bier hin, nahm den Aschenbecher mit zur Theke, leerte diesen aus, wusch ihn und kam nicht damit zurück. Er spürte seine Abneigung sehr deutlich, aber entschied, nun erst recht, zu bleiben, rief nach der Bedienung, die, nachdem sie seinen Zimmerwunsch hörte, sofort und, das unaufgefordert, einen sauberen Aschenbecher anbrachte. Kurz darauf das Gästebuch,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Konrad Meise
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2012
ISBN: 978-3-86479-831-3
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