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Das Ende von Etwas

Das Ende von Etwas

An diesem Abend ging ich noch durchs Dorf und genoss die herrlich frische Luft. Aus dem Wirtshaus hörte ich Rudi und Herbert lachen, aber ich ging nicht hinein. Das eine Mal langte vorerst. Und wie ich über die Brücke ging, sah ich Rosi da stehen, sie lächelte und nahm mich an der Hand. Wir gingen fast bis zur Mühle und setzten uns ins hohe Gras.

„Gell, Tobias, wir bleiben auch jetzt zusammen?“ hatte sie mich gefragt, und mit vor stolz geschwellter Brust beruhigte ich sie und sagte, dass das Schulende keinen Einfluss auf unsere Beziehung habe. Diesen Satz, nur in einem anderen Zusammenhang hatte ich in irgendeinem Buch mal gelesen, und ich war befriedigt, als ich in Rosis Augen Erstaunen und Überraschung lesen konnte.

Und als ich Rosi dann nach Hause brachte, ihr wie selbstverständlich einen Kuss auf die Wange gab und ihr eine gute Nacht wünschte, schlich ich mich zurück und in mein Zimmer.

Nun, das war gestern gewesen, und jetzt lag ich im Schatten der Eiche und wusste nicht recht, was anzufangen. Nach Hause mochte ich nicht, denn nachdem die Eltern wussten, dass ich ihnen als billige Hilfe verloren war, schimpften sie nur immerzu mit mir. Einen Lohn für meine Arbeit wollten sie mir nicht geben, denn ich würde ohnehin den Laden eines Tages übernehmen, und außerdem hätte ich doch alles, was Essen und Kleidung und Wohnung anging und brauchte kein Geld.

Als der Vater gestern noch mit Meister Hagenbeck über mich redete, ließ er sich gleich versprechen, dass mein ohnehin geringer Lohn zur Hälfte an ihn ausgezahlt werde. Das ärgerte mich, aber als Gegenleistung nahm ich mir im Stillen, mehr Kleidung und Essen zu verbrauchen und mir ab und an eine Flasche Rotwein aus dem Laden zu entlehnen. Das beruhigte mein angegriffenes Gemüt, und nun sah ich der Lehre wieder freundlicher entgegen.

Die Eltern begrüßten mich mürrisch und waren schlecht gelaunt. Das Mittagessen wurde mir lieblos dargeboten. Und während ich meine Suppe löffelte, erkannte ich, dass sich die Eltern einen herrlichen Braten gönnten. Meine Hoffnung, dass nach der Suppe mir auch ein Stück vom Braten gereicht werde, wurde zerstört, als die Mutter mir, auf eine Frage, die den Braten anging, antwortete, dass für einen jungen Menschen Suppe vollkommen ausreiche. Außerdem werde mein spärlicher Lohn beim Meister ohnehin nicht für mehr reichen, wenn man Kleidung und Wohnung noch mitrechne. Dann schlug sie mir vor, jetzt in den Ferien, da ich doch genug Zeit, im Laden mitzuhelfen. Und sie würde es gerne sehen, wenn ich dem Geschäft mehr Interesse entgegenbrächte. Vielleicht, so sagte sie dann noch, fände ich ja Gefallen daran – und die Lehrstelle beim Meister könne man immer noch absagen.

Meine Antwort befriedigte sie in keiner Weise, und als sie dann wieder mit der Schimpferei anfing, ging ich in mein Zimmer. Dort setzte ich mich grimmig aufs Bett und überlegte krampfhaft nach einer Lösung. Die kam mir dann auch, zwar erst am nächsten Morgen, aber sie kam und schien mir sehr gut zu sein. Eilig zog ich mich an, sah, dass es zum Frühstück für mich nur eine Scheibe Brot gab, verzichtete darauf und ging schnellen Schrittes ins Dorf.Im großen Bogen umging ich die Werkstatt von Meister Hagenbeck, lief über die knarrende Holzbrücke, kam an der Kirche vorüber und war schon am Ziel meiner Lösung. Witwe Köstler öffnete mir und ließ mich eintreten. Ich wusste, dass sie seit dem Tode ihres Mannes ein Zimmer zur Vermietung anbot, und sprach sie sogleich darauf an. Zuerst schaute sie mich ungläubig an und musste sich setzen. Ich wäre, so hörte ich von ihr, der erste seit über zehn Jahren, der nach dem Zimmer frage. Und dann ging es los mit dem Warum, Wieso und Weshalb. Aber ich beantwortete jede Frage ehrlich und erzählte auch von den Umständen, die sich bei mir zu Hause zutrugen. Eine Weile sah sie mich durch die dicke Brille sinnend an und fragte mich dann, wie ich die Miete zahlen wolle. Daraufhin erzählte ich von der Lehrstelle und meinem spärlichen Lohn. Lächelnd strich sie mir durchs Haar mit den alten Fingern und nannte einen Betrag, der weit unter dem lag, was meine Eltern vom Meister einzustreichen hofften. Dann sagte sie, dass ich auch sofort bei ihr einziehen könnte, und ich nahm dankbar an. Der Reiz, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, war zu groß, als dass ich hätte absagen können. Schleunigst machte ich mich auf den Heimweg. Meine paar Besitztümer, namentlich den Sonntagsanzug, einige Bücher und die Briefmarkensammlung, wollte ich holen. Doch auf dem Weg nach Hause beschlich mich ein Gefühl der Angst. Was würden wohl die Eltern sagen und vielleicht dagegen unternehmen? Meine überschwängliche Freude war dahin. Ich ging nicht nach Hause, sondern auf den Hügel bis zur Eiche und dann in den Wald bis zum Teich.

Dort angekommen, setzte ich mich in den alten, beschädigten Kahn und ruderte mit den Händen, Paddel waren keine mehr vorhanden, bis in die Mitte. Hier war der Ort, wo ich Ruhe hatte, denken konnte und mich in Sicherheit und Abgeschiedenheit wusste. Nur allzu wunderlich waren meine Gefühle, doch wie ein dunkler Schatten schwebten über diesen Gefühlen die Eltern. Selbst der Teich schien mir anders als sonst zu sein. Er gab mir nicht die Geborgenheit, die er mir sonst immer gab. Das graue Wasser lag wie tot, uns am bleichen Himmel zogen düstere Wolken. Es war verdammt kein guter Tag, und ich überlegte, ob ich meinen Umzug nicht doch verschieben sollte. Während ich darüber nachdachte und mich im Kahn langlegte, schlief ich ein. Lange hörte ich noch das Rauschen der Bäume und das leise Plätschern des Wassers am Kahn, bevor ich einem wirren Traum entgegen schlief.Schweißgebadet erwachte ich und wusste nicht sogleich, ob ich träumte oder wachte, aber dann hörte ich wieder meinen Namen rufen. Vorsichtig spähte ich zum Waldrand und sah dort Rosi stehen.
Sie winkte mir zu und rief, ich solle kommen.

„Was machst du denn hier?“ fragte ich, während ich den Kahn wieder an seine alte Stelle brachte und ihn fest an einen Baumstumpf band.

„Dich suchen.“

„Warum?“ antwortete ich mürrisch und wusste nicht warum. Rosi war beleidigt, das sah ich daran, weil sie nichts mehr sagte und sich zum Gehen wendete.

„So bleib doch, Rosi, es war nicht so gemeint.“

Strahlend erzählte sie mir nun, dass sie erst bei meinen Eltern war und so erfahren habe, dass ich vielleicht hier sei. Dann zeigte sie mir den mitgebrachten Korb. Unter der Decke, die obenauf lag, sah ich Kuchen und Brote und sogar eine Flasche Rotwein. Und nun spürte ich einen gewaltigen Hunger, schließlich hatte ich seit dem Abend zuvor nichts mehr gegessen.

„Wo können wir hingehen?“                                                                                                           Ich nahm ihr den schweren Korb ab und hieß sie mitkommen, ging ein Stück um den Teich herum und hielt bei einer schrecklich aussehenden Hütte.

„Glaubst du, das wäre der rechte Ort?“

„Komm erst mal rein.“

Drinnen sah es, das musste selbst Rosi zugeben, besser als erwartet aus. An den vielen Tagen, die ich hier war, hatte ich mir die verlassene Hütte wohnlich gemacht. In der Mitte standen ein niedriger Tisch und darum drei Baumstümpfe, die als Stühle dienten, und in der äußersten Ecke, direkt unterm Fenster, eine alte Pritsche.   Rosi war zufrieden und deckte sogleich den Tisch. Um nicht zu gierig auf Kuchen und Brote zu starren, versuchte ich. mich abzulenken. Ich zog die Pritsche beiseite, löste ein Brett vom Boden und entnahm dem Loch darunter ein in eine Plastikhülle eingewickeltes Heftchen.

„Was hast du da, Tobi?“„Hier habe ich ein paar Verse geschrieben“, sagte ich und ärgerte mich im gleichen Moment.

„Die musst du mir aber vorlesen, sobald wir gegessen haben.“                                                              Es klang so ehrlich interessiert, dass ich zusagte und mich sogar darauf freute.
Beim Essen musste ich mich mächtig beherrschen, dass ich nicht zu gierig alles in mich hineinschlang. Und Rosi freute sich, dass ich einen so guten Appetit hatte. Dann öffneten wir die Flasche und setzten uns auf die Pritsche. Die Beine angezogen und mit dem Rücken an die Hüttenwand gelehnt, saßen wir Schulter an Schulter und waren plötzlich so sonderbar still geworden.
Meine Hände, die die Flasche hielten, wurden feucht, und verlegen nahm ich einen Schluck aus der Flasche. Dann kamen Rosis Hände, nahmen die Flasche, und ich sah, wie sie trank und die Flasche dann auf den Boden stellte.

„Du bist oft hier!“

„Ja, sehr oft.“

„Warum, Tobias? Was gibt es Besonderes hier?“

„Es gefällt mir hier besser als zu Hause. Und Besonderes? Ist die Natur nichts Besonderes?“

Rosi nickte nur und legte den Kopf an meine Schulter. Ihre Hand berührte meine, und das Herz schlug mir heftig, als ich ihr mit der anderen Hand übers Haar streichelte. Dann drehte Rosi mir ihr Gesicht zu, und ich küsste sie auf die Wange.

Draußen wurde es dämmrig, und ich schlug vor, einen Spaziergang zu machen. Eng umschlungen gingen wir am Teich entlang und hatten beide nur den einen Gedanken!

Unendlich lang war der kurze Weg um den kleinen Teich, und als wir die Hütte wieder erreichten, waren wir beide froh. Nun war es dunkel und ich zündete eine Kerze an. Im Kerzenlicht sah Rosi wunderschön aus, und ich liebte sie wie niemals zuvor. Wir tranken vom Rotwein, und dann las ich ihr meine Verse vor. Rosi fand, dass sie schön seien, und darüber war ich sehr glücklich und gab ihr wieder einen Kuss.

„Werden deine Eltern nicht schimpfen, wenn du so spät nach Hause kommst?“

„Es ist mir egal, Tobi, wenn ich nur bei dir sein kann.“                                                                      Noch nie waren Rosi und ich so lange beisammen gewesen – und eigenartig war die Stimmung in der dunklen Hütte.

Was war zu tun? Was war richtig oder falsch? Heimlich sah ich Rosi an und hätte sie am liebsten an mich gedrückt und ihr das Geheimnis entlockt. Vielleicht war dies auch Rosis Wunsch. Wer konnte es wissen?

Und während ich so darüber nachdachte, war es Rosi, die mir befahl, mich an den Tisch zu setzen, mit dem Rücken zu ihr. Verwirrt tat ich wie mir geheißen und hörte alsbald das Rascheln von Kleidungsstücken. Zitternd vor Erregung zwang ich mich zum Sitzen bleiben, lauschte aber desto angestrengter nach hinten. Das Rascheln hörte auf, die Pritsche knarrte, eine Decke wurde ausgebreitet – dann war es still.

„Jetzt kannst du kommen.“                                                                                                            Langsam nur und auf das Schlimmste gefasst, drehte ich mich um und sah im matten Kerzenlicht Rosis Augen unter der Decke hervorschauen.

„Wollen wir heute hier schlafen, Tobi, ja?“

„Ja“, sagte ich und stand hilflos in einer fremden Welt. Die schäbige Hütte wurde zum Schloss, und ich wurde zum Prinz, und dort lag meine Prinzessin.                                                                                     Sie lag still und wartend – und ich stand still und wartend. Eine tiefe Kluft tat sich auf, und Rosi war es, die eine Brücke schlug.

„Zieh dich auch aus, Tobi, dann komm unter die Decke. Ich dreh mich derweil um."                                Ich weiß nicht mehr, wie ich mich auszog und unter die Decke schlüpfte, Rosis Körper umarmte und mit ihr ins bodenlose versank. Ich weiß es nicht mehr und könnte es auch nicht mehr beschreiben. Ich weiß nur, dass ich mit dieser Nacht etwas von mir streifte, sei es die Kindheit, sei es die Jugend, sei es, was es wolle – jedenfalls war es das Ende von Etwas!

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Konrad Meise
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2012
ISBN: 978-3-86479-830-6

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