Ich erinnere mich noch genau daran, wie du in die Klasse gekommen bist. Völlig still und unnahbar, hast dich einfach auf deinen Platz gesetzt und still mit gearbeitet. Deine kinnlangen, braunen Haare, deine unergründlichen grünen Augen und deine zerfetzte Kleidung, all dies ließ dich besonders aussehen. Im Gegensatz zu mir. Ich war ein typischer Durschnitts-Junge. Blaue Augen, blonde Haare, immer einen Spruch auf der Zunge und in der Klasse relativ beliebt. Und doch, obwohl wir so unterschiedlich waren, hatte ich mich sofort in dich verliebt. Aber eine Gelegenheit dich anzusprechen fand ich nie. Du warst immer der letzte der den Klassenraum betrat und der Erste der ihn verließ. In den Pausen warst du nie da, es gab das Gerücht du würdest dich wegschleichen um zu fixen. Ich fand das albern, sagte es auch aber sie lachten mich nur aus. Toll. Super. Wenn man sich also für dich einsetzte hatte man eh schon die Arschkarte gezogen. Eines Freitagnachts fuhr ich von einer Party nach Hause, als Einziger total nüchtern. Da sah ich dich, am Rande des Sees. Ich stieg von meinem Fahrrad ab und setzte mich einfach zu dir. „Hi.“ sagte ich so freundlich wie möglich. „Hey.“ Deine Stimme klang erstickt, ich sah erst jetzt die Tränenspuren auf deinem Gesicht. „Was ist los?“ fragte ich, die „Alles in Ordnung?“ Frage schloss ich nämlich immer aus wenn jemand weinte. „Mein Vater, er hat wieder Mom geschlagen und...und dieses Mal auch Lily.“ Bei dem Namen seiner kleinen Schwester brach seine Stimme und verlor sich im Dunkeln. Ich wusste dass du eine kleine Schwester hattest, da ich einmal gesehen hatte wie du sie vom Kindergarten abgeholt hast. Sie war vor gelaufen und du hattest gerufen: „Nicht so schnell, Lily-Schätzchen!“ Ich fand es so süß, wie du dich um sie gekümmert hast. „Nur mich schlägt er nicht.“ hattest du gesagt, mit einem verbitterten Tonfall. „Er sagt, wir Männer müssen ja zusammen halten. Er ist so ein Arschloch! Ich wünschte er würde mich auch schlagen denn ich möchte nicht von so einem besoffenen Schläger gemocht werden.“ Ich wollte dich in den Arm nehmen aber du hast deine Tränen weggewischt, leicht gelächelt und gesagt: „Weißt du was mir jetzt helfen würde? Ein kaltes Bad.“ Und damit zogst du dir das Hemd vom Leib. Ich sah deinen stählernen Bauch, angezogen sahst du nicht so muskulös aus. Als du dich dann deiner Hose widmetest schaute ich schnell weg. Ich hörte das Platschen als du ins Wasser sprangst und ich konnte nicht anders. Auch ich riss mir die Kleider vom Körper und landete mit einer Arschbombe im Wasser. Es war Vollmond und das Wasser war sehr klar. Du schwammst in die Mitte des Sees und beobachtetest den Mond, der alles in ein gespenstisches Weiß tauchte. Unser See war nicht sehr tief deswegen konnten wir auch noch stehen, auch wenn uns das Wasser bis zur Brust stand. Wie schon gesagt, das Wasser war sehr klar und ich konnte nicht umhin, deinen Knackarsch zu bewundern oder...ähem...deinen großen Vorbau. Zum Glück machte mich das Licht des Vollmondes so weiß, dass man nicht sehen konnte wie ich errötete. In dieser Nacht war so viel passiert! Du hattest mich sanft angelächelt und selbst durch das Wasser konnte ich die Wärme deiner Hand spüren. Unsere Hände...sie haben sich fast berührt. Fast...Oh wie ich mir jetzt wünsche ich hätte es getan! Nach einigen Minuten stillen Schweigens schwammen wir wieder zum Ufer. Dort lieferten wir uns noch eine kleine Wasserschlacht. Und plötzlich warst du so nah, sahst mir tief in die Augen. Ich kannte diesen Augenblick schon von meinen Ex-Freundinnen. Der Moment in dem man weiß dass man sich küsst. Wir schlossen die Augen, ich spürte deinen Atmen an meinem Gesicht, ich beugte mich vor und...Sirenegeheul. Es war das Erste Mal dass ich dich fluchen hörte. Wir hasteten aus dem Wasser. Natürlich durften wir um diese Uhrzeit noch draußen sein, wir warn ja keine Kinder mehr. Aber ob man nachts in einem See schwimmen durfte...da war ich mir nicht so sicher. Wir zogen uns schnell an und taten so als ob wir gerade unsere Räder besteigen wollten. Das Polizeiauto fuhr einfach an uns vorbei. Du hattest dich rücklings ins Gras fallen lassen. „Puh, ich dachte mein Alter hätte mich wieder gesucht. Das hab ich schon Mal erlebt, es war das einzige Mal dass er mich geschlagen hat. Ich bin abgehauen und er hat die Polizei informiert. Die haben mich gesucht, gefunden, zurückgebracht und sind wieder abgehauen. Und da hat er mich geschlagen.“ Du sahst auf deine Uhr. „Ich will nicht noch Mal von den Bullen aufgegabelt werden, ich glaub ich verzisch mich!“ Doch bevor du abgehauen bist, bist du zu mir gekommen hast mir in die Seite geknufft und mir tief in die Augen geschaut. „Danke.“ Und dann warst du weg. Aber ich hab bestimmt noch ne Stunde dort rum gesessen und mich gefragt wieso ich dich nicht einfach geküsst hab. Nach dieser Nacht wurden wir gute Freunde. Es war mir egal was die Anderen darüber dachten, zum Beispiel, dass du mich in einen Drogenkreis hereingezogen hattest. Ich war mit dir zusammen und nur das zählte. Zwar nicht so wie ich mir es vorgestellt hatte aber wenigstens etwas. Und dann kam dieser Weiterbildungstag für die Lehrer. Wir streunten in der Stadt herum, schrieben unsere Namen an jeden Zug der am Bahnhof anhielt und lachten die Leute aus die zur Arbeit mussten. Sie waren so eintönig und oberflächlich, aber wir waren die Könige der Welt! Doch danach änderte sich etwas. Du wurdest still, dein Blick leer. Und dann kam der Tag an dem du nicht zur Schule kamst. Die Lehrerin erklärte uns mit Tränen in den Augen was geschehen war. „Die Polizei hat hier angerufen. Luka Eden wird nicht mehr zum Unterricht kommen, denn er ist nun in einem Zeugenschutzprogramm. Sein Vater er...er...“ Sie schluchzte einmal laut auf. „Er hat seine Tochter Lily im Vollrausch tot geprügelt und ist dann geflüchtet. Aber...wie konnte er nur, sie war doch erst fünf, hätte noch achtzig Jahre glücklich Leben können! Ich gehe manchmal zum Kindergarten und bereite die Ältesten auf die Grundschule vor. Und Lily hat sich so darauf gefreut! So ein aufgewecktes kleines Mädchen!“ Und dann weinte sie, unsere Lehrerin weinte und schämte sich nicht dafür. Genauso wie ich. Ich hatte dich so oft besucht und Lily hatte mich lieb gewonnen. Immer bevor ich zu dir gegangen bin musste ich mir ihre verschiedenen Schätze angucken. Erinnerst du dich? Ihre Strandbarbie? Oder der Teddy mit den Knopfaugen? Oder die singende Katze? Alles tot. Und jetzt war dieses kleine Mädchen mit den zwei lustigen Zöpfchen an jeder Seite des Kopfes, mit den blauen Murmelaugen und dem kleinen Stupsnäschen einfach tot, und du warst weg. Das letzte Mal sah ich dich auf der Beerdigung, aber du hast mit niemandem geredet, deine Mutter hat mir gesagt ich dürfte nicht zu dir, das würde alte Wunden aufreißen. Nur eine Sache erlaubte sie mir. Ich und du und Lily, wir waren doch einmal einkaufen gegangen, weißt du? Da war diese Prinzessinnenbarbie gewesen, die Lily so gerne haben wollte, die mit dem glitzernden Kleid. Ich hatte sie ihr gekauft und wollte sie ihr bald schenken. Aber jetzt ist sie tot. Aber ich durfte sie ihr jetzt noch geben. Statt Blumen legten wir ihr die Barbie zwischen die Hände, ihr kleinen sanften Hände. Und es schien als ob sie lächeln würde, weil ich an sie gedacht hatte. Und als der Sarg, der viel zu kleine Sarg in die Erde gelassen wurde hattest du angefangen zu schreien. „Nein! Lily! Komm zurück, tu mir das nicht an! Ich werde dich rächen! Ich werde Vater umbringen, ihn töten! Ich werde dich rächen Lily-Schätzchen! Hörst du? Ihn rächen!“ Sie hatten dich weggebracht. Jetzt sitzt du in einer Anstalt und redest mit Lily. Ich darf nicht zu dir, sagen sie. Das Gleiche wie deine Mutter. Es würde alte Wunden aufreißen. Aber diesen Brief, den darf ich dir schreiben, weil du mich dann nicht siehst. Warum ich dir hier alles aus meiner Sicht erzähle? All meine Gefühle und Ansichten? Weil ich dich liebe. Verstehst du das, Luka? Ich liebe dich und vertraue dir! Und ich weiß dass du mich auch liebst, wegen diesem einen Beinahekuss. Vielleicht wirst du nie mehr aus diesem Haus herauskommen, wer weiß? Aber ich bin mir sicher dass du mich immer lieben wirst. Und Lily. Versprich mir dass du mich nie vergisst. Ich werde nicht vergessen, ich werde mich erinnern. Ich erinnere mich immer noch und ich weiß ich hätte dich küssen sollen. Du hättest mich küssen sollen. Ich werde mich immer erinnern, dich immer lieben.
Dein Mike.
Anmerk. des Autors: Luka hat den Brief bekommen und ist vollständig geheilt, sein Vater wird 15 Jahre im Gefängnis sitzen, ohne Bewährung. Was aber aus der Liebe der beiden Jungen geworden ist, konnte ich nicht herausfinden.
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2010
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