Es war einer jener Tage an denen man morgens auf das Pferd steigt und abends wieder absitzt, um dem vierbeinigen Gefährten eine Ruhepause zu gönnen. Tagsüber hatte man die eine oder andere kleine Verschnaufpause im kühlen Schatten eines der mächtigen Bäume verbracht, etwas gegessen, einen Schluck aus einem der kleinen Bäche genommen, die sich durch die weite Prärie schlängeln, und ist dann weitergeritten bis in die Dämmerung. Ein stetiger lauer Wind aus Süden, kleine Wölkchen – in der warmen Luft tanzten Mücken über dem Gras und Schmetterlinge torkelten von einer Blüte zur nächsten.
An so einem Tag musste ich für meine Prüfung zur Zulassung büffeln. Ich wollte Postreiter werden. Ich wollte und ich musste. Postreiter sind in unserer Welt die Helden! Frei wie ein Vogel und nur dem Postmeister verantwortlich und sonst keinem. Basta.
Schon als Kind hatte ich immer die staubigen, von der Sonne verbrannten Gesichter der Reiter bestaunt, die total verschmutzt im letzten Tageslicht von ihrer Arbeit zurückgekommen waren. Lässig hatten sie ihre Arme auf das Sattelhorn gelegt, während sie ein letztes Mal den Präriestaub in weitem Bogen auf die Main Street spuckten. Einige hoben einen oder zwei Finger in Richtung Schankwirtschaft. Heute weiß ich, dass es das Zeichen für den Wirt war, um ihm die Anzahl der Bierkrüge zu signalisieren, die innerhalb der nächsten fünf Minuten bereitstehen sollten.
So saß ich in der miefigen, stickigen Luft des Posthauses mit anderen 20 jungen Männern, alle um die 18 Jahre alt, im kleinen Hinterraum, in der die Post in Säcken angeliefert wurde. Für den Tag der Prüfung wurden alle Säcke zur Seite geschoben um Platz für Tische und Stühle zu schaffen. Es roch nach Jute, alter Baumwolle und Papier. Durch die Ritzen der Holzwand blitzten die Sonnenstrahlen um uns zu verhöhnen und schienen zu sagen: „WAS! ? Du sitzt heute hier und kostet nicht die herrliche Luft? Siehst du nicht den wunderbaren kristallklaren Himmel? Lass dich treiben! Geh schwimmen oder angeln!“.
Ich grübelte über die Fragen nach. Meine Fresse! Eine war ziemlich schwierig. „Was machen Sie, wenn sich Ihnen auf dem Weg nach Silvertown eine Dame in den Weg stellt und Ihnen einen Brief hinhält?“. Als Antwort gab es drei Möglichkeiten. Eine richtige und zwei falsche. Ich dachte nach. Ich würde vielleicht den Brief einfach im vorbeireiten ergreifen und in den Sack stecken und dann einfach weiterreiten. Aber das könnte auch falsch sein! War er denn für Silvertown bestimmt? War er ausreichend frankiert und der Absender drauf? Und dann das Wichtigste: Die Adresse! Ich kreuzte also – nein – ach! Ich schielte nach links und nach rechts. Die anderen saßen einfach zu weit weg! Die letzte Frage, und ich hatte keinen Schimmer!
Ich durfte mir keinen Fehler erlauben sonst waren drei Jahre Ausbildung umsonst und weg. Dann durfte ich den Beruf meines Vaters ergreifen. Er war Polizist hier in Subtown. Nein – das war das Letzte was ich wollte! Ständig war man den Anfeindungen der Bürger ausgesetzt. Man durfte Betrunkene einbuchten, unachtsame Menschen ermahnen, die vergaßen, dass ein Sechsspänner stärker war als sie und viele andere unbeliebte Dinge erledigen. Sowieso bestand der Beruf eines Polizisten, gerade in so einem Nest wie unseres, aus vielen „Un-Wörtern“: Un-beliebt, un-möglich, manchmal un-gemütlich (wenn man zum Objektschutz abkommandiert wurde) und die Bezahlung war un-sozial. OK – man durfte einen Revolver tragen. Aber mal im Vertrauen: Würden SIE mit einem SO kleinen Spielzeug herumlaufen, das gerade genug Durchschlagskraft hat um in einer Bierdose eine kleine Delle zu hämmern und auch nur wenn man den Lauf direkt auf die Dose drückt. Im Vergleich dazu entwickelt eine Kinderzwille mehr Zerstörungskraft als so eine Erbsenpistole. Sie werden verstehen, dass man damit „unten durch“ war sozusagen.
Richtige Männer führen ein Gewehr und eine richtige stabile 44er mit sich. Richtige Männer reiten auf braunen Pferden in den Sonnenaufgang und erledigen einen richtigen Job: Sie tragen Post aus! Durch die Wildnis, in die nächste Stadt, durch Wind und Wetter, durch die wilden Horden der Eingeborenen hindurch und ZACK! Den Sack auf den Tresen geknallt, und dann das dankbare Lächeln der Bürger zu ernten. Wer hält denn die Zivilisation zusammen? Wer trägt dazu bei, dass der Bürgermeister unserer Stadt weiß was sein Kollege in Silvertown so treibt? Wer sorgt für ein Happy End zwischen Liebenden? Die Polizei bestimmt nicht!
„Slater!“, riss mich eine raue Stimme aus meinen Gedanken, „sind Sie schon fertig?“. Ich erschrak, hielt einen Moment das Gleichgewicht und kippte mit einem lauten „Kawumm!“ samt Stuhl nach hinten um. In Momenten des Sich-Gehen-Lassens hatte ich die Angewohnheit auf den beiden hinteren Stuhlbeinen zu balancieren um so zu einem inneren Gleichgewicht zu gelangen. Ich hatte das schon mehrmals beim Postmeister gesehen, der das mit Bravour beherrschte. Ich rappelte mich also mit hochrotem Kopf wieder auf und stammelte „N-nein Sir. Ich ha-habe noch eine Frage zu beantworten.“ Die anderen stierten auf ihre Blätter und schienen nicht zu bemerken, wie ich mich zum Affen machte. Einige zuckten mit den Mundwinkeln. Andere radierten wie wild auf dem Blatt herum, als gelte es durch das Blatt hindurch den Tisch zu polieren. „Dann machen Sie fertig“, forderte mich der Vizepostmeister auf, ein schleimiger, wichtigtuerischer Gnom, der noch nie einen einzigen Postsack auch nur eine Handbreit bewegt hatte. Wie er zu dem Posten gekommen ist, ist allen ein Rätsel. Jedenfalls nicht durch Arbeit! Er war aber der Vize und das hatte einiges Gewicht in der Stadt. Ich setzte mich also wieder hin und hatte plötzlich die Nase voll vom herumhocken. Zügig schrieb ich also unter die letzte Frage „Da mir weder bekannt ist, wohin der Brief gehen soll und ich nicht die Zeit habe den Brief auf ordnungsgemäßen Zustand zu untersuchen und ich den Termin in Silvertown einhalten muss, da die Bürger dort auf ihre Post warten, weise ich die Dame daraufhin, dass meine Kollegen im Postamt ihre Post gerne übernehmen, wünsche ihr einen guten Tag, ziehe meine Mütze und reite weiter.“ So! Ich faltete das Blatt zusammen, stand auf und ging zum Pult des Vizes. Ich legte Papier, Bleistift und das Radiergummi vor dem verkniffen blickenden Gnom hin, wünschte ihm einen guten Tag und ging leise aus dem Raum in den hellen, strahlenden Tag. Draußen fing es in meinen Ohren an zu dröhnen, es wurde immer lauter und plötzlich bekam ich einen Schlag auf die Trommelfelle – und alles versank in einer alles verschlingenden, tiefen Schwärze!
„Sehr gut“, höre ich den Laborchef. Der nimmt mir die Elektroden und den Visor vom Kopf.
„Morgen Früh bekommen Sie das Ergebnis. Seien Sie pünktlich um 9 Uhr wieder hier.“ Verdammt hart so eine Briefträgerprüfung im vierundzwanzigsten Jahrhundert, denke ich. Aber was soll’s? Immer noch besser als real eine Stunde bei der Prüfung zu verschwenden und so in nur 5 Minuten es hinter mich zu bringen. Ich sehe mich nach einem Taxi um, und dann passiert es: Ein heller Lichtblitz knallt mir ins Gesicht und meine Ohren bekommen einen Schlag, als ob mir jemand mit den flachen Händen auf diese schlägt. Dann wird es dunkel.
Ich höre Pink Floyd „Wish you were here”. Das Gitarrenintro. Ich öffne die Augen. Ich stehe auf einem hohen Berg und blicke auf eine weite Landschaft die sich tief unter mir ausbreitet und in weiter Ferne im Dunst verschwindet. Es ist eine rote Wüstenlandschaft mit grünen Tupfern. Eine grelle, heiße Sonne in einem blassblauen Himmel lässt die Landschaft wie eine Filmkulisse aussehen. Andere Berge, die wie riesige, zu rotem Stein gewordene, umgestülpte Trichter aussehen, wirken wie künstlich platziert.
Was wenn ... ich ... einen Schritt ... nach vorne ... und mein rechter Fuß zuckt auch schon nach vorne! Mit Panik beobachte ich wie sich mein Fuß immer weiter nach vorne schiebt! Im Hintergrund höre ich den Sänger flehen: „How I wish - how I wish you were here...“. Nun hängt der Fuß in der Luft! Mein Körper beugt sich etwas vor. Soweit bis ich nach vorne kippe ... und falle!
Himmel, Berge und Landschaft drehen sich vor meinen Augen, die ganze Welt dreht sich! Ich spüre mein Gewicht nicht. Ich habe keine Angst. Ich bin im Frieden und Harmonie mit mir und der Welt. Der Wind zerrt an meiner Kleidung. Seltsamerweise sehe ich wie in Zeitlupe eine Gruppe Menschen unter mir auf Pferden durch die Wüste reitet, eine lange Staubfahne hinter sich herziehend. Und Schwupp dreht sich die Welt wieder. Bei der nächsten Umdrehung sehe ich wie sie anhalten und in meine Richtung blicken. Ich versuche zu winken. Einer hebt einen Arm, an dessen Ende es metallisch blinkt. Ein kurzer Blitz und ich habe ein Gefühl, als ob ich auf eine weiche Daunendecke plumpse. Mit dem Gesicht zum Himmel bleibe ich einen Moment liegen und genieße die letzten Töne des Songs.
Plötzlich stürzen Erinnerungsfetzen auf mich ein. Postreiter – Prüfung und Schmerz – alles auf einmal! Wie ein schlechter Flashback kreisen meine Gedanken um einen Gedanken den ich nicht fassen kann - was mir Angst macht. Scheiße! Was mache ich hier in der Luft? Was ist das für eine Landschaft? Wo ist mein Bett – mein Zuhause?
Gerade lag ich noch bei mir zu Hause im Bett, hatte das Buch zugeklappt und wollte gerade das Licht ausmachen als ein greller Blitz und eine dumpfe Druckwelle mich traf und ich mich auf dem Berg wiederfand. Und nun liege ich hier über einer Landschaft die mich stark an das Monument Valley erinnert und unter mir fünf Menschen in Westernkluft auf Pferden! Was ist das für ein Trip?
Ich drehe mich so, dass ich die tief unter mir stehenden Reiter sehen kann. Es sind schätzungsweise 30 Meter bis zum Boden, aber schlecht schätzen konnte ich schon immer ganz gut. Halt mal! Ich sinke! Wenn auch langsam, aber doch so, dass ich die Stimmen meiner Retter hören kann. Sie unterhalten sich, manchmal von einem Lachen unterbrochen. Scheinen sich ja köstlich zu amüsieren, die Herren! Ich zerbreche mir den Kopf darüber wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte. Soll ich aufstehen und grinsend sagen: “Danke Kumpels. Aber wo ist das nächste Telefon?“. Oder lieber: „Bringt mich zu eurem Anführer.“? Etwa einen Meter über dem Boden lasse ich mich einfach in den roten Sand plumpsen. Pferde kommen näher. Ihre dumpfen Hufschläge werden lauter. Ich drehe mich in die Richtung aus der die Reiter kommen müssen und sehe wie fünf Pferde mit ihren 20 Beinen vor mir stehen. Nervös tänzeln sie auf der Stelle. Da erscheinen zwei menschliche Beine neben einem der Pferde, die von oben in mein Gesichtsfeld erscheinen. Schwarze, rotstaubige Stiefel nähern sich mir, bis sie vor meiner Nase stoppen und jemand mit einer männlich tiefen Stimme aufmunternd zu mir sagt: „Yah t’aeh! “
Ich hebe meinen Kopf um zu sehen wer da vor mir steht. Ein Mann in einem unbestimmten Alter, das Gesicht zu einem Grinsen verzogen streckt mir seine rechte behandschuhte Hand entgegen. Er ist angezogen wie ein Cowboy, oder so wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Reitstiefel, Jeans, einen breiten Revolvergurt, rotes Hemd, blaues Halstuch und einen großen Hut auf dem Kopf, mit dicken Schweißrändern am Hutband.
„Tach auch“, bringe ich heiser heraus, räuspere mich und ergreife die Hand, lasse mich hochziehen und sehe verlegen in die Gesichter meines Begrüßungskomitees. Wettergegerbte Gesichter. Schmale, breite und flache Gesichter, aber eindeutig Indianer. Sie sehen aus wie Statisten in einem Westernstreifen, die in der Drehpause mal eben um die Ecke reiten um ein Nickerchen zu halten. Die Kleidung entspricht in etwa so wie man sich klischeehaft indianische Westernhelden vorstellt: Abgetragene Jeanshosen und –jacken, blaue oder rote Flanellhemden und auf dem Kopf den typischen Cowboyhut.
Nach einiger Weile ist das Begrüßungsmustern abgeschlossen. Ich spüre ein Prickeln an den Beinen und sehe hinunter. Schei...! Nackte Beine ragen aus schottengemusterten Boxershorts hervor, an denen sich der Wüstensand reibt. Mein Oberkörper ist von einem grauen T-Shirt bedeckt. „Save the wales“ lese ich von oben. Meine Güte! Ich merke wie ich rot werde und zeige mit einem Kopfnicken pauschal in die Landschaft. „Ähh... hähemm... also ich weiß nicht... ähem... aber ich könnte einen Schluck Wasser gut vertragen und überhaupt wache ich eh gleich auf und alles ist vorbei und ihr seid gar nicht da und sowieso bin nicht hier an diesem Ort und ich will eine Zigarette und kann mir mal jemand eine Ohrfeige geben damit ich aufwache?“, bringe ich ohne Luft zu holen heraus. Die Männer sehen sich an und fangen an untereinander in einer mir unverständlichen Sprache zu reden.
Indianisch, schließe ich fachmännisch, westernerprobt wie ich nun mal durch unzählige alte Westernschinken bin. Während der Unterhaltung stelle ich fest, dass der, der mich angesprochen hatte, wohl der Anführer sein muss. Ich nenne ihm mal John Wayne, weil mich irgendwas an ihn erinnert. Vielleicht ist es sein leicht verkniffener Blick.
Das Palaver scheint sich dem Ende zu nähern. Wayne macht eine abschließende Handbewegung und wendet sich mir zu.
„Also, Fremder“, sagt er in akzentfreiem Deutsch „erst mal herzlich willkommen bei uns. Mein Name ist Jim Begay. Wie Sie vielleicht festgestellt haben wundern wir uns nicht allzu sehr, Menschen von unserem heiligen Berg fliegen zu sehen. Normalerweise ist es erst am Nachmittag soweit. Sie haben Glück, dass wir so früh vorbeikommen. Ich bringe Sie dann zu den anderen. Leider“, und er zeigt auf die Pferde, „haben wir nicht damit gerechnet eine Person mehr zurückzubringen und sind deshalb pferdetechnisch unterversorgt. Sie werden also laufen müssen. Es ist nicht weit.“
Mit einem Satz aus dem Stand springt er auf sein Pferd. So ein Angeber! Die anderen besteigen ebenfalls ihre Pferde und reiten im Schritttempo in die Richtung aus der sie gekommen sind.
Belämmert stehe ich da in der heißen Sonne mit flatternden Shorts. „Hey!“, rufe ich ihnen nach, „kann mir mal einer sagen was hier verdammt noch mal los ist? Was ist das hier für ein Land? Amerika? Monument Valley? Träume ich? Was ist hier los?“
„Du bist im Dine’tah, Weißer!“, ruft einer von den Reitern über die Schulter zurück und fängt an zu singen.
Ein heftiges Donnern lässt meine Trommelfelle erzittern. Es wird schwarz vor meinen Augen.
„Na, das war ja gar nicht so übel, oder?“, Ruft eine Stimme gut gelaunt durch den grauen Nebel, der sich vor meinen Augen lichtet. „Das nächste Mal stelle ich einen Schwierigkeitsgrad höher ein.“ Ich erkenne Neonröhren über mir. Ich drehe den Kopf und sehe einen Mann in einem weißen Kittel an einem Gerät, das neben meiner Liege steht. Vom Gerät führen Kabel zu meinem Oberkörper, die mit kleinen Saugnäpfen an meiner Brust und Stirn befestigt sind. Ich schüttele meinen Kopf um wieder klarer denken zu können. Seltsam, denke ich, jedes Mal werden die Eindrücke realer. Nun dreht der Mann seinen Kopf zu mir, lächelt und sagt: „Kommen Sie morgen wieder, dann bekommen Sie das Ergebnis“. Mit vielen kleinen „plopps“ nimmt er die Saugnäpfe ab und ich stehe auf. Noch wackelig in den Beinen ziehe ich mir mein „Save the wales“- Shirt über und verlasse das Institut. Was tut man nicht alles um als Ranger der Marskolonien anerkannt zu werden! Aber immer noch besser als Postreiter im Hinterland! Das sind doch alle Memmen!
Wenn alles klappt, bin ich in einem halben Jahr auf dem Mars und blase mir den Staub des Kriegsgottes vom Anzug! In der dunstigen Abendsonne gehe ich nach Hause. Durch die Abbruchviertel, durch hohe Hausschluchten und vorbei an Reklametafeln auf denen kreischend die Slogans der Rekrutierungsbehörde einen ins Gesicht klatschen: „ HEY! Alter! Was! ? Du hier!? Auf der alten Erde? Komm zum Mars – komm ins Marsland! Da gibt es noch Freiheit!“ Und das schärfste ist, dass als Foto ein Cowboy sich an einem Lagerfeuer eine Zigarette anzündet und dich angrinst. Neben ihm räkelt sich eine Frau, die an Freizügigkeit nichts zu wünschen übrig lässt und den Typen schmachtend anhimmelt. Mars ich komme!
Hoch oben im Abendhimmel sehe ich wie die 21 Uhr Fähre in Richtung Mond ihren Kondensstreifen zieht. Von dort aus geht es in die Neue Welt! Langsam gehe ich weiter. Nun ist es so dunkel, dass man die Hand nicht mehr vor den Augen sehen kann. Aber ich habe es nicht mehr weit. Nur noch um die Ecke da vorne. Strom gibt es seit über 70 Jahren nicht mehr in meinem Viertel. Würde sich nicht lohnen, sagt die Verwaltung, den Reaktor wieder anzuwerfen. In anderen Städten sieht es ähnlich aus. Manchmal, wenn die Verwaltung einen ihrer seltenen sozialen Anfälle bekommt, gibt es für einige Stunden Strom, dann wird, oh Wunder, Elektrizität aus anderen Netzen eingespeist. Ansonsten muss jeder so gut er kann mit Akkus und Solarzellen zurechtkommen. Die Erde wird langsam aufgegeben. Immer mehr zieht es weg. Entweder zum Mond oder zum Mars, der neuen Freiheit! Wenn das so weitergeht ist es auf dem Mars so wie hier und die Erde wird zur Wüste. Na ja – mir doch egal. Ich hänge nicht an diesem Planeten. Ich stecke mir die Hörer ins Ohr und versinke in den Klängen von „The dark side of the moon“.
Bedächtig wickelt der Mann die Kabel auf. Sorgsam räumt er alle in die dafür vorgesehenen Vorrichtungen unter dem MVG. Sieht noch mal nach ob alle Schalter auf „OFF“ stehen, zieht das Kabel aus der Steckdose und wickelt auch dieses gewissenhaft auf. Dabei denkt er an den Spruch seines Chefs: „Man kann die Kabel verknüddeln lassen – muss man aber nicht!“. Grinsend zieht er seinen Kittel aus, hängt ihn an den Haken neben der Tür, streicht sich über die kurzen Haare und geht zum Telefon, das auf seinem Schreibtisch steht. Schnell wählt er eine Nummer, sieht dabei auf die Uhr und stellt fest, dass es in der Marshauptstadt ungefähr Mittags sein muss.
„Ja?“, meldet sich eine männliche Stimme kurz angebunden. Der Mann richtet sich unwillkürlich auf als er sagt: „Zielperson geimpft“, sagt er schnell in den Hörer und legt wieder auf. Jedes mal wenn er in der Zentrale des „Tribal Institute of Human Resources“ anruft, hat er das dumme Gefühl einen Fehler gemacht zu haben. Aber das hat wohl mit dem anerzogenen Respekt gegenüber höheren Clanmitgliedern zu tun, denkt er noch im hinausgehen. Draußen ist es nun endgültig dunkel geworden und er setzt deshalb seine Nachtsichtbrille auf. Er verschwendet keinen Gedanken mehr an den Auftrag den er heute erledigt hat.
Leise vor sich hinsingend geht der Navaho in Richtung seines Hauses, das am Rande der schrumpfenden Stadt liegt. Um ihn herum die nächtlichen Geräusche der Wüste. Grillenzirpen und das Rascheln der kurzen Büsche im Wind. Weit entfernt brummt ein einsamer Motor auf dem Highway. Über ihm das Funkeln der Sterne und irgendwo dazwischen die neue Heimat seines Volkes: Der Mars.
Millionen Kilometer entfernt legt bedächtig eine bronzefarbene Hand den Hörer auf die Kontakte des Fons. Eine untersetzte Gestalt geht langsam zum großen Panoramafenster das die Außenwand seines Büros beherrscht. Er sieht auf die weite Marslandschaft hinaus und denkt ‚Bald ist es vollbracht. Dann geht mein Volk in die sechste Welt. Dann sind wir wieder die Windreiter’.
Unter ihm in der Ferne wandern kleine, schwarze Punkte durch die helle Wüstenlandschaft: Der Stolz seines Volkes. Die besten Pferde, die man sich vorstellen kann! Gezüchtet unter Marsbedingungen und bestens für die Verhältnisse hier geeignet. Und dann etwas weiter rechts der Stolz aller Menschen: Die Hauptstadt der Vereinigten Völker Nordamerikas! Kreisrund, 30 Kilometer im Durchmesser und mit einem riesigen Brunnen in der Mitte, im Osten ein großes Stadttor und einer Straße, die direkt in gerader Linie auf den Brunnen zu¬geht, damit die aufgehende Sonne ihre ersten Strahlen in die 20 Meter hohe Wasserfontäne werfen kann - der höchsten Erhebung der Marsstadt.
Texte: Cover:
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Tag der Veröffentlichung: 12.01.2011
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Widmung:
Ihr könnt uns nicht töten. Ihr könnt uns nicht vertreiben. Kann man den Regen töten oder den Wind vertreiben? Der rote Mann ist unsterblich wie der Regen und unbeugsam wie der Wind. Eines Tages wird der weiße Mann an seiner Gier sterben und die Indian Nation wird leben.
Ansprache des Vorsitzenden der Vereinigten Indianischen Völker Nordamerikas während der Eröffnungsfeier der "Indian Olympics", Sioux City/Mars, 20. April, 2512