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Es war ein schöner, warmer Sommertag im Juli. Hundstage. Keine Ahnung wieso jemand gerade diesen Namen für die schönste Zeit des Jahres sich ausgedacht hatte. Hund verbinde ich immer mit Regen, Wind und dem unnachahmlichen Geruch nassen Hundefells. Woanders, in einer anderen Gegend der Welt, sagt man, dass es Katzen und Hunde regnet, wenn es wie aus Eimern schüttet. Aber „Hundstage“ für die beste Zeit des Jahres? Keine Ahnung. Keinen Schimmer, wieso.

An diesem Morgen lag ein eigenartiger Schimmer über dem Wasser der Nordsee. Die Sonne schien wie verrückt und wärmte bereits die Dünen auf der Ostseite. Die Kühle der Nacht hatte keine Chance die Wärme des Vortages aus dem Sand zu vertreiben. Tropenmorgen in Sankt Peter Ording.
Ein leichter Hauch trieb vom Meer den salzigen Geruch von Ferne landwärts und der blaugraue Himmel, wie vor einem Gewitter, lauerte fast bedrohlich im Westen, wolkenlos, um wieder einen Tag ohne Regen anzukündigen. Ich ging gemächlich an den parkenden Wagen vorbei, die jetzt, um Acht Uhr, ihrer Familienfracht entledigt, herum standen und geduldig in der prallen Morgensonne bis zum Abend auf ihre menschlichen Gefährten warteten.
Weiter vorne, in Richtung Wasser, bevölkerte eine Siedlung Burgbauer den weiten Strand. Wie bei einer Wagenburg drängelten sich in Kreisform die Sandburgen, mit den kleinen, aber praktischen Strandmuscheln als Windschutz. Ich werde nie verstehen warum Menschen im Urlaub an einem weiten und großen Strand sich zusammendrängen müssen.

Scheinbar kannten die Leute sich. Fröhliche Ruffetzen johlten über den Sand, Kindergekreische und leise Schlagermusik untermalte diese südländische Szene. Kleine Kinder rannten um die Sandkrater herum, Mütter packten die ersten Getränke aus den Kühlboxen und die Väter standen in einer kleinen Gruppe herum. Einige von ihnen rauchten, einige nahmen ab und zu einen Schluck aus einer Bierflasche, aber alle blickten zum Wasser, als ob es da etwas Besonderes zu sehen gab.
Was gab es da schon zu sehen? Die Nordsee eben. Gestern war sie noch da, heute ist sie da und morgen wird sie auch noch da draußen sein. Welle um Welle rauschte heran. Nicht besonders aufregend, wenn Sie mich fragen. Jede Welle hatte den gleichen Abstand zur nächsten. Jede kleine Gischtkrone hatte die gleiche Form und Farbe. Langweilig. Genauso synchron wie sie träge ausliefen, kam auch schon die nächste Welle angeschwappt. Irgendwie machte mich das alles träge und müde. Monotonie in der Südsee.
Mit einem hingeworfenen „Moin“ ging ich an der Kolonie.
Hinter mir hörte ich rheinländisch klingende Satzfetzen.
„Haste Schalke jesehn? Escht! Verkimmeln die jejen de Dortmuhnder!“
„Sinn doch alle jeck!“
„Watt solln die auch machen?“
„Bjöööörk! Mahlzeit!“
„Sa ma haste nochne Finne?“ Ah, dachte ich, Westfale!
„Nä abba ne Fluppe kan isch dir geben!“
Den rheinisch-westfälischen Frieden hinter mich lassend ging langsam weiter. Weiter vorne in Blickrichtung Norden konnte ich den Leuchtturm von Westerhever sehen. Man meint von hier aus den Turm leicht erreichen zu können. Aber das geht leider nicht, was Touristen, die zum ersten Mal hier sind nicht wissen können und enttäuscht vor einem großen Priel stehen bleiben müssen. Aber Eingeweihte kennen da einen Weg, den ich niemals verraten werde! Nein, meine Damen und Herren, liebe Feriengäste, wenden Sie sich an ihren Reiseführer - wenn Sie ihn noch finden ...

Nach einiger Zeit, ich hatte inzwischen Pause gemacht und die Sonne stand schon hoch, erreichte ich den Turm. Den Weg mühsam erkämpft, mich gegen Kampfschafe verteidigt und einen Teufelsslalom durch Schafkot hingelegt, kam ich nur leicht schwitzend an den beiden Häusern, die wie Wachhunde an der Basis des Turmes dastanden, an. Schwalben zogen ihre irrwitzigen Bahnen in der heißen Juliluft, flitzten im Tiefflug über die Strandastern der Salzwiese um kurz vor meiner Nase eine Mücke mit ihrem Schnabel aufzuspießen.

Ich drehte mich zum Turm und sah hoch. Meine Güte! 42 Meter! Die Brücke der „Queen Mary II“ soll angeblich genauso hoch sein. Na – wer es glaubt! Ich ging zur offenen Tür des Turmes und begann den Aufstieg. Zu dieser Zeit hatte man immer Glück, da schließt niemand ab. Wer ist denn auch so verrückt und zockelt 42 Meter hoch bei der Hitze! Selbst die Leute von der „Schutzstation Wattenmeer“ hingen um diese Zeit im Schatten in der Hängematte und zählten Mücken statt Vögel.

Irgendwann kam ich oben an. Nach wochenlangem Marsch, so kam es mir vor. In der ersten Ebene oben machte ich ausgiebig Mittagspause. Ich nahm meinen kleinen Weltempfänger aus dem Rucksack und suchte mir den Deutschlandfunk. Ah - da war er. Nachrichten. Südseenachrichten auf dem Leuchtturm Westerhever, in der heißen mittäglichen Sonne.
Südwestlich von mir glitzerten die Autoscheiben auf dem Strandparkplatz in der Sonne. Etwas rechts die Stelzenbauten. Restaurants und kleine Gastwirtschaften, vollgepfropft mit lärmenden Kindern, rufenden Müttern und bölkenden Vätern. Noch mehr Pommes, noch ein Bier und ein Latte Macchiato und zwar schnell, die Ebbe setzt ein! Sohnemann muss Pippi und Töchterchen noch ein Eis haben! Ich höre es direkt vor mir. Seufzend öffnete ich meine Thermoskanne und goss mir Eistee in den Becher. Neben mir kam gerade eine Sondermeldung aus dem Radio. Undeutlich.
„Vor der US-amerikanischen Küste ....... mfbrzlrtauschzisch ...... Welle ........ keine Gefahr ...... Seebeben .......rauschzirpmfbrl melden und wieder wenn ... rauschzirp ...“Plötzlich ein Donnern über mir! Laut pfeifend zog ein kleines Düsenflugzeug über meinen Kopf in Richtung Nordsee. Als ob der Pilot uns seine Stärke zeigen wollte, schaltete er auf Nachbrenner und noch lauter donnernd zog er Richtung Westen ab, eine dunkle Abgasfahne hinter sich herziehend. Ich goss mir neuen Tee ein – der andere war infolge Schreck und Schwerkraft zu Salzwiesentee geworden.

Ich aß meinen leckeren, selbstgemachten Nudelsalat, dazu schöne, weiche Brötchen (wieso heißen „Kieler-Brötchen“ eigentlich so?).
Die Nachrichten waren nun zu Ende und es kam eine Informationssendung. Keine Ahnung um was es da ging. Mit dem Becher in der Hand ging ich nach ganz oben. Hört sich gut an: Nach ganz nach oben, jawoll!

Heiße und stickige Luft empfing mich hier. Eine Tür führte auf die oberste Galerie. In der Mitte kreiste und kreiste und kreiste auf immer und ewig das Licht am Ende der Welt. Wind. Richtiger, guter, kühler Wind strich um meine Beine und wuschelte mir durchs Haar, als ich den Obersten Balkon betrat. Ein wenig schwindelte mir schon, als ich runtersah. 42 Meter!
Mir kam eine Passage aus einem Buch in den Sinn. Dort war zu lesen, dass es Freakwaves auf dem Meer gäbe, die locker 30 Meter hoch werden können. Ich steckte mir eine Zigarette an und sinnierte darüber nach, dass ich bei 42 Metern Höhe ja noch Glück hätte, wenn so eine Welle käme.

Nach einem Nickerchen und einer weiteren Zigarette (ich weiß, ich rauche zu viel!) und einer kleinen Teepause packte ich meine Sachen zusammen, schaltete das Radio aus. Halt!

„ .... Vor der amerikanischen Ostküste hat ein Seebeben der Stärke 8 stattgefunden. Zu unserem Korrespondenten in Washington, der sich in diesem Augenblick in einem Helikopter über dem Katastrophengebiet befindet, schalte ich nun - Herr Schreiber, wie sieht es im Moment aus?“

„Ich befinde mich hier an der ehemaligen Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika. Ehemalige muss man nun sagen, denn die gesamte Ostküste wurde von einer riesigen Welle, ausgelöst durch ein Seebeben, ausradiert. Kanada meldet ähnliches. Dort ist ebenfalls die gesamte Küstenlinie bis zu 50 Kilometern ins Landesinnere verwüstet und zerstört. Florida scheint im Moment von der Außenwelt abgeschnitten, da widersprechen sich noch die Meldungen - pessimistischen Äußerungen von Regierungssprechern zufolge scheint man das schlimmste zu befürchten und das wäre die komplette Vernichtung Floridas. Laut Aussagen von Bebenexperten gab es im Mittelatlantik ein starkes Beben der Stärke acht, das auf ein tektonisches Ereignis, das Fachleute schon seit längerem erwarteten, zurückzuführen sein soll. Es wird mit Toten in Millionenhöhe gerechnet. In diesem Zusammenhang...“

„Entschuldigen Sie Herr Schreiber, aber was bedeutet das für Europa?“

„Nun, für Europa bedeutet es erstmal nichts. Experten warnen aber dennoch davor, dass es zu einer riesigen bis zu 30 Meter hohen Monsterwelle kommen könnte, die die Küste Europas auf mehrere hunderte Kilometer ins Landesinnere zerstören könnten. Man will aber keine Panik verbreiten und die Bundeskanzlerin gab noch keinen Katastrophenalarm für die deutsche Nordseeküste. Eigentlich hätte den Experten zufolge zum Beispiel Hamburg schon im Moment des Seebebens evakuiert werden müssen, das war vor ungefähr 4 Stunden, Amsterdam, Rotterdam und so weiter genauso. An die kleinen Ortschaften direkt an der Nordsee und auf den Inseln wage ich im Moment nicht zu denken. Wir warten noch ...“

„Moment Herr Schreiber, ich habe jetzt eine Meldung, die wichtig zu sein scheint, hereinbekommen.
Sekunde.... (rascheln – hüsteln) ich äh hmmm hahabe hier eilige Mitteilung, dass laut Satellitenbildern zufolge sich eine 20 Meter hohe Wasserwelle (hüstel) auf die europäischen Küsten zu bewegt.
Laut Expertenberechnungen wird Deutschland von einer mindestens 30 Meter hohen Welle bedroht. Die nördlichen Landesteile von Groß-Britannien müssen sich auf eine Höhe von 40 Metern einstellen. Portugal, Spanien und Teile Nordafrikas auf ca. 50 Meter. Berechnungen zufolge muss die Welle in ähemm ... „(rauschenzirrpenzischschschsch) ....

Wie gelähmt hocke ich da. Ich löse die verkrampften Hände vom Radio. Ich höre die Schwalben, ich rieche das Meer, das gestern da war, heute da ist und morgen? Langsam stehe ich auf und sehe aufs Meer. Friedlich, langweilig mit synchronen Wellenbergen. Autos blitzen in der Mittagssonne, Kinder kreischen, Eltern stopfen sich voll mit Pommes, Limo und Bier.
Nun kommt Bewegung in die glitzernde, mittägliche Autowelt. Blitzende Punkte bewegen sich vom Strand weg. Die dunklen Tupfer auf dem Sand werden weniger und die blitzenden Punkte immer mehr. Ein leichtes, dünnes Dröhnen steigt vom Strand auf. Nun stockt die blinkende Autoparade an der Ausfahrt. Ich habe doch ... fällt mir ein, mein kleines Monodingsbums. Mein Minifernrohr.
Gab es mal günstig im Kaffeeladen, übrigens. Ich nehme es aus meiner Tasche, setze es ans Auge und sehe eine hohe weiß-graue Wand am Horizont!

Ich kann mich heute nur noch dunkel an die Geschehnisse erinnern, die dazu führten, dass unsere Küste die heutige Form bekam. Ist ja auch schon 40 Jahre her. Aber nicht nur wir waren betroffen. Die ganze Welt bekam den Stempel der größten Katastrophe aufgedrückt. Andererseits war es keine Katastrophe – erdgeschichtlich betrachtet. Wie man den Schnee im Winter erwarten kann, wird man immer ein globales Ereignis erwarten müssen. Sei es durch menschliche Schuld oder einfach so, weil unser Planet sich räuspert.
So Kinder – ich sehe gerade es ist Ebbe. Der Kölner Dom zeigt seine Turmspitzen. Macht’s gut und danke für den Fisch. Ich muss dann auch noch weiter. Die Insel „Kahler Asten“ wartet auf mich, dort wohne ich jetzt!
Ich wende mein Boot und presche in Richtung sauerländische Bucht, während das Örtchen Neu-Köln auf der schwimmenden Insel langsam im Dunst hinter mir verschwindet.

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Tag der Veröffentlichung: 19.11.2010

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