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Prolog: Regen

Es war eine kalte, regnerische Nacht. In den meisten Fenstern der Wohnungen und Häusern waren die Lichter bereits aus - nur in wenigen brannten sie noch oder wurden sie gerade gelöscht. Wären die Straßenlaternen nicht gewesen, wäre es stockfinster hier. Dicke Regentropfen fielen vom Himmel und sammelten sich zu vielen kleinen oder manchmal auch großen Wasserpfützen. Meine Augen waren auf eines der Häuser, gar nicht weit weg, gerichtet. Ich beobachtete schweigend, wie der Vater seinen kleinen Sohn - Minoru oder so ähnlich, hieß der Junge - ins Bett brachte. Liebevoll wurde der kleine zugedeckt und das Licht wurde gelöscht. Einige Sekunden später wurde auch die Tür geschlossen. Ich zuckte leicht zusammen, als ich neben mir ein Geräusch hörte. Hastig drehte ich mich um, doch es war nur eine streunende Katze gewesen, die wohl gerade auf Mäusejagd war. Ich stieß einen leichten Seufzer aus und zog meine Jacke - die schon ziemlich heruntergekommen war. Zum Beispiel war sie an einigen Stellen bereits aufgerissen und die Füllung quirlte hervor, dennoch spendete sie mir ein wenig Wärme - enger zu. Mein Blick wanderte nun zu der gepflasterten Wand, der Seitengasse, vor mir. Einige Sprayer hatten hier wohl ihren Spaß gehabt, denn überall waren Graffiti-Bilder, Logos, Liebeserklärungen oder eben einfach irgendwelche Zeichen - deren Bedeutung wohl nur der Sprayer wusste. Nicht weit entfernt konnte ich hören, wie ein Auto mit quietschenden Reifen zum stehen kam. Die Autotür wurde zugeschlagen und es war wieder still. Außer dem Regen, der unaufhörlich weiter hinab prasselte - es würde wohl die Nacht durchregnen - war es still. Ich zog meine Knie dicht an meinen Körper und schlang meine Arme darum. Längst waren meine Klamotten durchnässt. Ich spürte nur zu genau, wie der nasse Stoff an meiner Haut klebte und wie schwer er war. In meiner Hand hielt ich ein kleines, aus Silber bestehendes Kreuz, ich hatte es einst von meiner Mutter geschenkt bekommen. Wenn ich mich recht erinnerte, war es zu meinem fünften Geburtstag gewesen.

Damals hatten wir alle zusammen - mein Vater, meine Mutter und meine Oma - in einem kleinen Einfamilien Haus gewohnt. Es war ein sonniger Morgen gewesen und ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie feierlich der Frühstückstisch gedeckt war. Überall waren Kerzen aufgestellt, Großmutters gutes Geschirr war aufgelegt worden, Luftballons hingen hier und da, das Radio lief und die Mitte des Tisches zierte eine kleine Torte - die Mutter selbst gemacht hatte. Der süßliche Duft hatte mich - einen fünfjährigen Jungen - ins Wohnzimmer geführt, wo ich herzlichste Glückwünsche zu meinem Geburtstag erhielt. Zusammen mit meiner Familie frühstückte ich. Anschließend durfte ich meine Geschenke öffnen. Ich erinnerte mich noch genau daran, wie groß die Freude gewesen war, als ich Vaters Geschenk öffnete und kurz darauf schon das lang ersehnte Ferngesteuerte Auto in meinen Händen hielt. Natürlich hatte ich es damals gleich ausprobieren müssen. Von Oma hatte ich - wie erwartet - ein neues paar gestrickter Socken bekommen, von Mutter eine Kette, an der ein kleines silbernes Kreuz hing, auf dessen Rückseite mit schönem Schriftzug 'Kazuya' eingraviert worden war.



Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine, vor Kälte zitternden, Lippen. Kazuya. Ja. So lautete mein Name. Ich drehte das silberne Kreuz um und fuhr mit den Fingern über meinen eingravierten Namen. Dieses Kreuz, war das wichtigste und eigentlich auch das einzige, das ich besaß. Außer einem alten Knopf, ein paar Cents und einem kleinen Taschenmesser, waren meine Hosentaschen leer. Ich schloss meine Hand fester um das Kreuz, denn ich wollte nicht, dass es durch den Regen nass wurde. Ruhig hatte ich mich gegen die kalte Wand gelehnt, direkt neben einen der stinkenden Abfälle - aus denen immer wieder mal kleine Mäuse, die jedoch von den Katzen gefangen und verspeist wurden, huschten. Ich blieb einige Minuten regungslos sitzen, starrte einfach vor mich her, doch schließlich stand ich langsam auf. Mein Rücken schmerzte - das lange sitzen war eben nicht gerade angenehm gewesen. - und auch der Rest meines Körpers fühlte sich nicht gerade gut an. Ich zog mir die Kapuze, der Jacke tiefer ins Gesicht und ging dann, mit schlürfenden Schritten los. Wohin genau ich gehen würde, wusste ich noch nicht. Doch Hauptsache, ich kam erstmal aus dem Regen heraus. Zu dieser späten Stunde, waren längst keine Passanten mehr unterwegs. Noch nicht mal betrunkene Menschen traf man hier an, doch das war mir ganz Recht. Eine Prügelei konnte ich jetzt gar nicht brauchen, außerdem wurde ich sowieso oft genug verprügelt. Ich folgte der Straße ein gutes Stückchen, bog dann nach links und schließlich nach rechts ab. Mein Blick wanderte einmal rund herum. Gut, hier schien schon mal keine Gefahr zu lauern. Ja, das klang jetzt vielleicht blöd. Aber, es gab wirklich viele Gefahren hier. Zum Beispiel, die ganzen Penner, die hier lebten oder auch die Punk-Gangs, die hier ihre Reviere hatten, für mich waren sie alle gefährlich. Ich folgte einem alten Kiesweg, direkt am Fluss entlang. Irgendwo war das Bellen eines Hundes zu hören und kurz darauf das Gejammer einer Katze. Tja, das Straßenleben war nicht leicht. Vor mir kam eine Brücke in Sicht. Wie es aussah, war sie noch nicht 'bewohnt'. Sprich; es war keiner, der hier lebte. Das war schon mal gut. Ich schnappte mir ein paar der alten Zeitungen aus dem nahe liegenden Mülleimer und machte es mir so weit wie möglich gemütlich. Heute hatte ich wirklich Glück. Es kam nicht oft vor, dass unter eine der Brücken noch keiner schlief. Ich verschränkte meine Arme und legte den Kopf darauf. Hier war es gar nicht so übel. Ich lauschte dem Regen und dem rauschen des Flusses. Auch das erinnerte mich wieder an früher.

Ich war etwa fünf oder sechs gewesen. Es war an einem der sonnigen Mai-Tage, einige Monate nach meinem Geburtstag, gewesen und Vater hatte mit mir zusammen Papierboote gebastelt - damals hatten wir einen Heiden Spaß dabei gehabt. Mit verschiedenen Buntstiften und Filzern waren sie noch verziert worden und fertig. Anschließend hatte mein Vater mir erzählt, dass sie sogar schwimmen konnten. Neugierig wie ich war, wollte ich es natürlich gleich testen. So überredete ich meinen Vater, mit mir zum Fluss zu gehen. Wir nahmen uns eine Kleinigkeit zum Essen, unsere Boote und machten uns auf. Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch waren wir da gewesen. Ich schnappte mir mein Boot, rannte hinunter zum Ufer und setzte es dann sachte auf dem Wasser ab. Und tatsächlich, es war geschwommen oder eher gesagt, gesegelt. "Sieh nur Papa, es schwimmt!", stieß ich begeistert aus und folgte dem kleinen Schiffchen, das stromabwärts 'segelte'. Doch es dauerte nicht lange und es stieß gegen einen Stein und sank. Enttäuscht war ich zurückgegangen und hatte es meinem Vater erzählt. Doch der hatte nur seinen Arm um meine Schultern gelegt und gemeint: "Da kann man nichts machen, Kazuya. Das nächste Mal werden wir ein besseres Boot basteln und dann wird es weit hinaus, in die Welt segeln."



Damals. Damals war alles noch schön und gut gewesen. Damals hatte ich noch nicht auf der Straße gelebt. Ja, damals war ich glücklich gewesen, ich hatte eine Familie gehabt, ich hatte Freunde gehabt... Eine kleine Träne kullerte über meine Wange und bahnte sich ihren Weg, bis sie schließlich am Kinn zu Boden tropfte. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich alles verloren hatte. Und wie auch schon viele Nächte zuvor, weinte ich mich auch diesmal in den Schlaf.

Kapitel 1: Ein neuer Tag - ein neues Leben?

Das Gezwitscher der Vögel - die ihren morgendlichen Rundflug machten - und die warmen, hellen Sonnenstrahlen, die mir ins Gesicht schienen, weckten mich. Noch etwas müde öffnete ich die Augen und blinzelte verschlafen. Direkt vor mir, nur ein paar Schritte entfernt, konnte ich einen Spatzen sehen, der wohl gerade auf Jagd war. Still blieb ich liegen. Der kleine Vogel tapste geschickt hin und her, schnappte schließlich zu. Anschließend reckte er sich anmutig und siehe da, in seinem Schnabel hing ein Regenwurm. Kurz blickte er mich mit seinen kleinen schwarzen Äuglein - die gerade einmal so groß wie der Kopf einer Stecknadel waren - an, breitete dann die Flügel aus und stieß sich vom Boden ab. Er schlug ein paar Mal kräftig und fort war er. Der kleine hatte es gut. Er konnte einfach wegfliegen, wenn es ihm irgendwo nicht gefiel und sich ein neues zu Hause suchen. Ich schob die alten Zeitungen von mir herunter, setzte mich auf und gähnte. Mein Blick wanderte zu dem Fluss, der leise vor sich her gluckerte. Was für ein wundervoller Morgen. Mit einem leichten Lächeln klopfte ich mir den Dreck von der Hose und streckte mich erst einmal ausgiebig. Ich musste zugeben, es war lange her gewesen, das ich mal wieder so gut geschlafen hatte. In aller Ruhe warf ich die alten Zeitungen wieder in den Mülleimer, steckte die Hände in die Hosentasche und trat näher an den Fluss heran. Ich betrachtete ein wenig die Wasseroberfläche und beugte mich dann hinunter. Grob wusch ich mir das Gesicht - achtete dabei darauf, die Tränenspuren zu beseitigen -, schrubbte den Dreck von meinen Armen und auch von den Beinen. Wie lange es wohl schon her war, das ich richtig geduscht oder gebadet hatte? Ich wusste es nicht. Aber es musste schon einige Wochen her sein.

Als ich noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte ich es immer gehasst, wenn Mutter mich badete. Jedes mal war ich in Tränen ausgebrochen und sie hatte mich erst einmal beruhigen müssen, ich hatte einen Bonbon bekommen und erst dann war alles wieder gut. Ich hatte mich freiwillig in die Badewanne gesetzt, Mutter hatte mir mein kleines gelbes quietsche Entchen, sowie das kleine blaue Käptn-Blaubär-Schiffchen gegeben und mich richtig von Kopf bis Fuß durch geschrubbt. Manchmal hatten Vater und ich auch zusammen gebadet und er hatte mit mir gespielt. Anschließend war ich immer in das blaue, flauschige Handtuch gewickelt und abgetrocknet worden. Ich durfte frische Kleidung anziehen und fertig.



Das laute klingeln der Kirchenglocken, riss mich wieder aus meinen Gedanken. Ich schüttelte kurz den Kopf. In letzter Zeit dachte ich wirklich viel zu oft an meine Vergangenheit, das war nicht gut. Schließlich hatte ich eigentlich beschlossen, das alles hinter mir zu lassen, es einfach zu vergessen. Ich wollte mich nicht an jene schrecklichen Dinge erinnern, die geschehen waren. Es war schon lange her, das ich versuchte, es zu verdrängen. Und dennoch holte mich die Vergangenheit immer wieder ein. Ich wischte mir schnell die Hände an meiner Hose trocken und betrat wieder den Kiesweg, durch den ich am Abend zuvor hierher gekommen war. Jetzt musste ich mich erst einmal um mein Frühstück kümmern, wie mir mein knurrender Magen zu verstehen gab. Ich beeilte mich, wieder in die Stadt zu kommen und suchte mir dann einen guten Platz, wo viele Menschen vorbei kamen. Ich kramte in einer meiner Jackentaschen, zog ein altes Pullmolldöschen heraus und legte es vor mich auf den Boden. Anschließend setzte ich mich dahinter und fing an zu singen. So verdiente ich mir meistens mein Brot. Entweder sang ich, führte verschiedene kleine Kunststücke auf oder polierte den Leuten die Schuhe. Ich hatte Glück, das meine Stimme relativ gut klang. Aber egal was ich tat, mein Verdienst war meist derselbe und für ein oder manchmal sogar zwei Brötchen reichte es immer. Ich hörte das leise dumpfe Geräusch, als ein paar Cent in das Pullmolldöschen fielen und nickte dem 'Spender' dankend zu. Und es dauerte auch nicht allzu lange, bis ich genügend Geld zusammenhatte. Schnell sprang ich auf, steckte das kleine Döschen in meine Jackentasche zurück und machte mich auf zur Bäckerei. Es dauerte keine fünf Minuten und ich kam mit zwei Brötchen in der Hand wieder heraus. Hungrig vertilgte ich sie, während ich die Straße entlang lief. Was genau ich jetzt machen wollte, stand noch nicht fest. Entweder ich würde wieder einmal an der Schule vorbeigehen und die Schüler beobachten, wie sie zusammen lachten, sich unterhielten oder im Klassenzimmer saßen und ihre Aufgaben erledigten - natürlich konnte ich von draußen, vom Gitter aus, nicht wirklich alles sehen, aber es reichte schon - oder ich würde mich irgendwo ins Gras fallen lassen und mich ausruhen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben und leise pfeifend ging ich nun doch an der Schule vorbei. Ich wusste auch nicht, was mich fast jeden Tag hierher trieb. Vielleicht war es einfach mein geheimer Wunsch, auf eine solche Schule zu gehen? Eine Uniform zu tragen, Freunde zu haben? Um ehrlich zu sein war es mir egal. Ein junges, hübsches Mädchen mit schulterlangen bräunlichen Haaren rannte an mir vorbei. Oh, sie war wirklich spät dran, wenn sie auf dem Weg zur Schule war. Die Tore wurden nämlich immer pünktlich zu Unterrichtsbeginn geschlossen. Ich hoffte, sie würde es noch schaffen.
Ruhig blieb ich an der Ampel stehen, die gerade Rot geworden war und es dauerte ein wenig, bis ich die Straße überqueren konnte. Auf der anderen Seite - also da, wo ich mich nun befand - waren eine Reihe von Geschäften. Neben einem Juwelier, einem Supermarkt und einigen Klamottenläden gab es auch das ein oder andere Café. Ich blieb direkt vor dem Eingang, eines der kleineren Cafés stehen. Ein wunderbarer Kaffeegeruch, sowie süßlicher Kuchenduft war mir in die Nase gekrochen. Ich leckte mir kurz über die Lippen und warf dann einen Blick durch das Glas, hinein in das Innere des Cafés. Der Innenraum war in einem schönem Terrakotta gestrichen, an den Wänden hingen verschiedene Bilder, hier und da war eine schöne Grünpflanze hingestellt worden und auf jedem Tisch befand sich eine der Getränke- oder auch Menükarten. Viel schien schon mal nicht los zu sein. Außer ein paar Älteren Herrschaften, einem Pärchen und einem gut aussehenden, jungen Mann - der höchstens ein, zwei Jährchen älter als ich war - konnte ich niemanden sehen. Hinter dem Tresen arbeitete ein hübsches junges Ding. Bestimmt hatte sie erst vor kurzem hier angefangen. Wie gern wäre ich da nun hineinmarschiert und hätte mir ein Stück Torte, sowie einen Tee oder Kaffee bestellt! Ein wenig abwesend, starrte ich weiter durch die Scheibe und erst, als ich merkte, wie der junge Mann sich zu mir umgedreht hatte und mich mit seinen dunklen Augen ansah, wandte ich mich ab. Auf meinen Wangen lag ein leichter Rotschimmer. Bestimmt hatte er mein Glotzen bemerkt! Peinlich berührt beeilte ich mich, weg zu kommen, wobei ich fast ein kleines Kind übersehen hätte, das mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war. Eiligen Schrittes ging ich die Straße entlang und bog schließlich in eine der sicheren Seitengassen ab.

Hier war es angenehm still und irgendwie auch vertraut. Gerade wollte ich weitergehen, als ich eine Stimme hinter mir hörte. "Oh, wen haben wir denn da? Ist das nicht unser kleiner Kazuya?" Ich schluckte. Eigentlich brauchte ich mich gar nicht umdrehen, denn ich wusste, wem diese tiefe, spöttische Stimme gehörte. "Hey Hojo. Lange nicht mehr gesehen.", meine Stimme zitterte leicht, als ich mich zu ihm drehte. Hojo - ein starker, selbstbewusster, gut gebauter Junge mit schwarzen Haaren und blauen Augen - stand vor mir. Sein Gesichtsausdruck war nicht gerade Freundlich. "In der Tat. Du hast mir gefehlt, Kazuya.", er trat einen Schritt näher. "Wo warst du nur, Kazuya? Meine Faust hat dich auch ganz schön vermisst.", ein fieses Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Ängstlich trat ich einen Schritt zurück, spürte hinter mir die kalte Ziegelsteinmauer. Mein Herz hämmerte wild gegen meine Brust, ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet und erschwerte mir das Sprechen. Außerdem musste ich mich beherrschen, nicht zu Boden zu sacken. "I-ich...war mal hier und da." "Hier und da, also?" "Ja." Hojo schlug mit der Faust direkt in die Wand neben mir und ich zuckte zusammen. Es verwunderte mich doch jedes Mal, das Hojo anscheinend keinen Schmerz spürte. Und das, obwohl er mit so viel Wucht zuschlug. "Das ist keine richtige Antwort.", meinte er schließlich. "Hm. Aber, eigentlich ist es ja gar nicht wichtig, wo du warst. Jetzt rück mal lieber deine Kohle raus." "Ich hab nichts." "Ach nein?" Der schwarzhaarige fasste in meine Jackentasche und zog die kleine Pullmolldose heraus. Soweit ich wusste, waren dort nicht mehr als fünfzig Cent drinnen. "Soso, das ist alles?" Ich nickte. "Tja, das tut mir jetzt aber Leid für dich.", der Junge holte aus und verpasste mir einen kräftigen Schlag in die Magengegend. Für einen Moment bekam ich keine Luft und sackte auf die Knie. Doch das war noch nicht alles. Hojo schlug erneut zu, diesmal traf er mich an der rechten Schultern und ich keuchte schmerzhaft auf. Bevor ich mich auch nur irgendwie verteidigen konnte, hatte er erneut zugeschlagen. So lief es immer. Tja, das Straßenleben war wirklich hart. Hojo verprügelte mich noch eine ganze Weile - es machte ihm anscheinend großen Spaß.
Erst, als ich richtig am Boden lag und aus meiner Nase Blut tropfte, ließ er von mir ab. "Das nächste Mal, will ich Kohle sehen, klar? Sonst belass ich's nicht bei einer einfachen Tracht Prügel." "I-is gut.", ich hustete und spukte dabei etwas Blut heraus, das sich in meinem Mund angesammelt hatte. Dann hob ich den Kopf und sah gerade noch, wie der Junge verschwand. Langsam richtete ich mich wieder auf, wischte mir das Blut mit dem Ärmel weg und hielt mir den Schmerzenden Arm. Bestimmt würde das wieder einige blaue Flecken geben und die Heilung würde auch nicht gerade schmerzfrei verlaufen. Ich seufzte. Erneut lehnte ich mich an die kalte, feuchte Wand und starrte auf den Boden, um genauer zu sein, auf mein Blut. Wieso wurde ich eigentlich immer verprügelt? Was hatte ich Hojo denn schon getan? Nur weil ich mal nicht genug Geld dabei hatte, das er mir abnehmen konnte. Das war doch kein Grund, mich gleich zu verprügeln oder? Naja, der Junge hatte wohl eine andere Sichtweise als ich. Ich blieb noch einige Minuten so sitzen und stand dann langsam auf. Noch etwas unsicher auf den Beinen torkelte ich zum Ende der Gasse. Nun befand ich mich wieder auf der Straße, auf der ich zuvor gewesen war. Zur Schule brauchte ich jetzt schon mal nicht mehr zu gehen, auch wenn ich den Weg schon fast hinter mir hatte. Der Unterricht hatte eh längst angefangen und bis zur Pause war es noch eine gute Stunde. Viel zu sehen, gab es da also nicht. Den Blick weiterhin auf den Boden gerichtet, trottete ich davon.

Na, super. Die fünfzig Cent, aus der Pullmolldose, hatte Hojo natürlich mitgehen lassen. Eigentlich waren sie für mein Mittagessen gedacht gewesen, ich hatte vorgehabt, mir eventuell eine Brezel zu gönnen. Ein leises Seufzen kam über meine Lippen. Tja, dann musste ich mir wohl wieder ein schönes Plätzchen suchen und singen oder etwas vorführen. Wenn ich Glück hatte, gab mir jemand ja gleich die fünfzig Cent und die Sache war erledigt. Gedankenversunken folgte ich dem Gehweg, direkt an der Straße. Mein Blick war auf den Boden gerichtet. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie viele Kaugummis die Leute doch wegspuckten. Alle zwei Meter konnte man mindestens fünf Stück sehen. Angeekelt verzog ich das Gesicht. "Mama, kaufst du mir ein Eis?", bat ein kleines blondes Mädchen - in Jeans, Pullover und mit zwei kleinen niedlichen Zöpfen. Hm. Genauso war ich früher auch immer gewesen. Ich hatte Mutter solange damit genervt, bis sie mir schließlich eins gekauft hatte. Meistens hatte ich das gleiche Eis - also Erdbeere - genommen. Es hatte immer so wunderbar fruchtig geschmeckt. Meine Hand griff nach dem silbernen Kreuz - ich hatte es in meiner Hosentasche - und umklammerte es. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über meinen eingravierten Namen, so wie ich es immer tat. Es war komisch. Denn immer wenn ich das Kreuz berührte, war es, als würde mein Körper Kraft erhalten. Egal, wie niedergeschlagen ich auch war, das Kreuz munterte mich immer ein wenig auf, auf eine stille Weise tröstete es mich. Es war, als würde meine Mutter mich anlächeln. Vielleicht war es ja wirklich so? Vielleicht sah Mutter gerade auf mich herab und lächelte? Ich schüttelte energisch den Kopf. Oh Mann. Was für einen Schrott dachte ich mir da schon wieder zusammen. Also wirklich! Ich war doch keine sechs Jahre mehr alt! Da ich so in Gedanken versunken gewesen war, hatte ich nich noch nicht einmal bemerkt, dass die Ampel rot und nicht grün war. Langsam trat ich also auf die Straße und im nächsten Moment ertönte auch schon das Hupen eines Autos. Ich spürte wie mich jemand am Jackenkragen packte und mich - nicht gerade sanft - nach hinten zerrte. "Pass doch auf, Junge." "Hast du keine Augen im Kopf oder was?" "Willst du dich umbringen?", hallten die aufgebrachten Stimmen der Autofahrer in meinem Kopf wieder. Ich schluckte schwer. Konnten die Leute nicht still sein? Ich wollte das verdammt noch mal nicht hören!

Kapitel 2: Warme Worte

"Hey, alles in Ordnung mit dir? Hast du dich verletzt?", diese ruhige, sanfte und zugleich klare Stimme sorgte dafür, dass sich das Chaos in meinem Kopf langsam wieder ordnete und ich mich beruhigte. Hastig nickte ich. "J-ja. Vielen Dank. Mir geht es gut.", nun drehte ich mich endlich um und sah meinem Retter ins Gesicht. Ich errötete tief, als ich den jungen, gut aussehenden Mann erkannte, den ich zuvor noch in dem kleinen Café gesehen hatte. "Ah.", mein Puls begann zu rasen, er hatte mich wohl auch wieder erkannt. "Du bist doch der Junge, der vorhin so abwesend durch die Scheibe gestarrt hat oder?" Ich nickte stumm. Mann, war das peinlich! Sowieso, wieso sprach er mich auch noch darauf an? Wollte er mich bloßstellen? Es konnte ihm doch ganz egal sein. Ich spürte, wie sich die angenehm warme Hand des Mannes plötzlich unter mein Kinn legte und meinen Kopf sanft hochhob. "Nanu, was ist passiert? Diese Wunden hattest du vorhin noch nicht.", fragend sah er mich an. "Ich...bin in eine 'kleine' Schlägerei geraten.", entgegnete ich leise, mit einem leichten zittern in der Stimme. Mir war mittlerweile richtig heiß geworden und mein Herz pochte so wild gegen meine Brust, das ich dachte, es wolle herausspringen. "Hm. So lassen können wir das jedenfalls nicht. Komm mit.", sanft aber bestimmt, packte er mich am Arm und ging los. 'Hey, lassen Sie mich los, was soll das?' - hätte ich am liebsten gebrüllt. Doch was tat ich stattdessen? Genau, ich ließ mich schweigend mitziehen. Wieso wusste ich selbst nicht. Dieser Mann hatte irgendetwas...an sich, das mich in diesem Moment unglaublich faszinierte. Er hatte wohl gemerkt, das ich ziemlich unsicher und nervös war, denn im nächsten Moment drehte er sich zu mir um und meinte mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen: "Keine Sorge, ich will dir nichts tun."

Es dauerte nicht lange und wir betraten das kleine Café. Ein kleines Glöckchen klingelte über unseren Köpfen und ein Schwall Wärme kam mir entgegen. Der angenehme, süßliche Duft nach Kaffee und Kuchen, ließ mir das Wasser im Mund zerlaufen. Was wollte er denn hier? Der Ältere zog mich mit zum Tresen und setzte mich dann kurz auf einem Stuhl ab. Neugierig sah ich mich um. Ich musterte die Terrakottafarbenen Wände, die kunstvollen Bilder - die die Wände zierten -, die verschiedenen Grünpflanzen und schließlich die ganzen Sitzmöglichkeiten. Das Café war wirklich schön eingerichtet worden und vor allem freundlich. "Entschuldigung, könnte ich mir mal ihren Verbandskasten ausleihen?", ich hörte wieder die Stimme des jungen Mannes und wandte mich ihm zu. Elegant hatte er sich über den Tresen gebeugt und sprach nun mit der Bedienung. "Natürlich." Als das Mädchen sich schließlich umdrehte und für einen kurzen Moment verschwand, sah er zu mir und zwinkerte. Meine Wangen nahmen erneut einen zarten rot Ton an und ich erwischte mich dabei, wie ich ihn beobachtete, als er sich eine seiner braunen Strähnen aus dem Gesicht, hinters Ohr strich. Leicht biss ich mir auf die Lippe. "So.", lächelnd nahm er neben mir platz und stellte den Verbandskasten ab. "Dann lass mich mal sehen.", behutsam besah er sich meine Nase und eine der Schürfwunden, direkt an der Wange. Anschließend durchstöberte er den Kasten und legte einige Pflaster, sowie das Desinfektionsmittel heraus. "Das kann jetzt kurz brennen." Ruhig desinfizierte er mir die Wunden - wobei ich jedes Mal schmerzhaft das Gesicht verzog - und klebte dann jeweils ein Pflaster darauf. Keine fünfzehn Minuten später hatte ich die Sache überstanden und lehnte mich entspannt zurück. "Willst du etwas trinken? Tee, Kaffe oder vielleicht ein Stück Kuchen essen?" Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich...ich hab kein Geld." "Hm? Du brauchst auch keins, ich lad dich natürlich ein." Überrascht sah ich ihn an. Er lud mich ein? Mich? Einen ihm völlig fremden Jungen, lud er ein? Ich war überrumpelt. Noch nie hatte mich jemand eingeladen. "Ähm, na gut, dann trink ich eine Tasse Tee." "In Ordnung. Übrigens; Ich bin Nayuta Saito und du bist?" "Kazuya. Einfach nur Kazuya." Nayuta nickte mir zu. "Freut mich dich kennen zu lernen, Kazuya.", er hob kurz die Hand und gab dann die Bestellung auf. "Sag mal, warum treibst du dich hier draußen so alleine rum, die Gegend hier kann ziemlich gefährlich sein. Du solltest lieber nach Hause gehen." Ein wenig nervös zupfte ich an dem Ärmel meiner Jacke. Was sollte ich ihm erzählen? Sollte ich vielleicht lügen? Nein, lügen würde ich nicht. Nayuta war so nett zu mir gewesen, da hatte er es nicht verdient, dass ich ihn anlog. "Ich kann nicht nach Hause gehen.", murmelte ich so leise, dass man mich kaum verstehen konnte. Aber der Junge hatte mich wohl doch verstanden. "Wieso denn nicht? Hast du deinen Schlüssel vergessen oder verloren? Oder hast du Stress daheim?" "Bitteschön, ihre Bestellung.", die Bedienung unterbrach uns einen kurzen Moment, was ich ihr keineswegs übel nahm. "Danke.", ich legte meine Hände um die warme Tasse und lächelte leicht. Wie schön warm es hier doch war. "Ich kann nicht nach Hause, weil ich keins habe.", klärte ich mein gegenüber schließlich auf.

Nayuta schwieg einen Moment, goss etwas Milch und einen Löffel Zucker in seinen Kaffee, ehe er einen Schluck nahm. Es klirrte leise, als er die Tasse schließlich wieder zurückstellte. "Verstehe. Bist du abgehauen von zu Hause?" "Nein. Aber ehrlich gesagt, möchte ich nicht über meine Vergangenheit reden.", er nickte mir zu. "In Ordnung, aber sag mal, dann lebst du ja praktisch auf der Straße?" "Mhm.", ich hob die warme Tasse hoch und nippte vorsichtig daran. Es fühlte sich einfach wunderbar an, wie die warme Flüssigkeit, meine Kehle hinab rann. Ich musste zugeben, der Tee schmeckte einfach köstlich. "Lecker.", nuschelte ich leise vor mich hin. Etwas verwirrt war ich schon, weil Nayuta plötzlich schwieg. Was war denn los? Ekelte er sich jetzt vor mir, weil ich ein Straßenleben führte? Die meisten Menschen verachteten mich oder beschimpften mich - aber daran hatte ich mich schon gewöhnt. Es gehörte mittlerweile zu meinem Leben dazu. "Darf ich fragen, wie du dir dein Geld verdienst und wo du schläfst, vielleicht auch wie alt du bist?" "Hm? Ich singe meistens, manchmal führ ich auch kleinere Kunststücke vor oder polier den Leuten die Schuhe. Das Geld das ich zusammen bekomm reicht meistens sogar für zwei Brötchen und schlafen tu ich oftmals unter Brücken oder im Park, auf den Bänken - die sind meistens viel bequemer. Und ich bin siebzehn.", klärte ich ihn auf. Plötzlich musste ich erneut schwer schlucken. Wieso erzählte ich ihm das alles eigentlich? Was ging es diesen Mann vor mir an, wie ich lebte? Er war mir doch eigentlich völlig fremd! Ich kannte ihn höchstens seit dreißig Minuten! Schnell hob ich meine Teetasse wieder hoch und nahm einen Schluck. Es war besser, wenn ich ihm nicht mehr so viel erzählte, auch wenn es schön war, sich wieder mal mit jemandem zu unterhalten. "Ach so. Das ist bestimmt ziemlich hart für dich." Schweigend nickte ich ihm zu. Während ich einen weiteren Schluck nahm, musterte ich ihn. Dem Aussehen nach zu urteilen, schätzte ich ihn etwa auf neunzehn, vielleicht auch ein Jahr älter. Vermutlich war er Student oder so etwas in der Art. "Darf...darf ich fragen, wie alt Sie sind?" "Natürlich, aber du brauchst mich nicht zu siezen, ich bin einundzwanzig." Einundzwanzig? Ich war überrascht. Ich hatte ihn höchstens auf zwanzig geschätzt, aber trotzdem, er sah jünger aus. "Sie, ich meine du, siehst gar nicht aus wie Einundzwanzig. Ich hätte dich auf jeden Fall etwas jünger geschätzt. Vielleicht sogar in meinem Alter." Nayuta sah an sich hinunter. "Sehe ich wirklich wie ein siebzehn- oder achtzehnjähriger aus?" Erneut nickte ihm zu. Wir sahen uns einen Moment lang in die Augen und brachen schließlich in schallendes Gelächter aus. Keiner von uns wusste, was an diesem Satz so lustig war, dennoch lachten wir. Wir lachten und lachten, solange bis ich Bauchschmerzen bekam. Die junge Frau am Tresen, warf uns schon besorgte Blicke zu und auch die anderen Cafégäste, sahen uns fragend an. Doch es war wundervoll. Ich hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr so herzhaft gelacht. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand eine schwere Last abgenommen. Als hätte mir jemand die Hand entgegen gestreckt und mich aus dem Dunklen Loch - in dem ich mich derzeitig befand - herausgezogen, oder mir zumindest eine Taschenlampe hinuntergeworfen.

Es dauerte bestimmt eine gute Viertelstunde, bis wir uns wieder beruhigt hatten. Nayuta wischte sich kurz einige Tränen aus den Augen, die ihm vor lauter Lachen gekommen waren und ich nahm noch einen Schluck Tee. "Du bist wirklich niedlich.", meinte der Ältere grinsend. "D-danke.", ich freute mich wirklich über dieses 'Kompliment' und vor lauter Aufregung erhöhte sich mein Puls gleich wieder. Leicht verlegen musterte ich nun meine leere Teetasse. "So, tut mir Leid, aber langsam muss ich wirklich los. Meine Pause ist schon fast rum, sonst schimpft der Professor wieder, wenn ich zu spät komme.", meinte mein Gegenüber, nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. Er winkte nach der Bedienung und bezahlte dann die Rechnung. Ich schwieg. "Hat mich gefreut dich kennen zu lernen, Kazuya. Du bist ein wirklich netter Junge.", langsam erhob er sich und zog sich seine Jacke an. "Ja. Mich...mich hat es auch gefreut, dich kennen zu lernen und vielen Dank noch mal für den leckeren Tee, sowie für das Gespräch.", nun stand auch ich auf. "Klar, gern.", Nayuta wühlte kurz in seiner Hosentasche und drückte mir dann einen Fünfer in die Hand. "Kauf dir was Leckeres zum Essen und trinken oder so etwas. Tschüss.", der junge Mann kehrte mir den Rücken zu und öffnete die Tür - das kleine Glöckchen klingelte wieder. "Das werde ich, aber wir sehen uns doch wieder, oder?", ich sah ihn hoffnungsvoll und auch ein wenig ängstlich an. "Hm? Natürlich, ich bin mir sicher. Bis Bald.", noch einmal schenkte er mir dieses wunderbar warme Lächeln und schloss schließlich die Tür hinter sich. Alleine, mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Fünfer in der Hand, blieb ich zurück.

Kapitel 3: Gedanken

Ich wusste nicht, wie lange ich so dagestanden war und ihm nachsah, doch es musste ein ganzes Weilchen gewesen sein. Nayuta. Der Name hallte in meinem Kopf wieder, wie ein Echo. Hoffentlich würde ich den jungen Mann wieder treffen. Ich musste zugeben, auch wenn ich ihn noch nicht lange - um genau zu sein eigentlich noch gar nicht - kannte, ich mochte ihn. Er war nett, freundlich und hilfsbereit. Sicher war er auch treu und zuverlässig, sowie vertrauenswürdig. Das Lächeln lag noch immer auf meinen Lippen und irgendwie erinnerten mich der Tee, der süßliche einladende Kuchenduft und die Wärme des Cafés plötzlich an meine Oma. Die wohl netteste, alte Dame, die ich je in meinem Leben gekannt hatte.

Damals hatte ich so gut wie jeden Nachmittag mit meiner Oma eine Tasse guten Tee getrunken. Ich war immer direkt nach der Schule - auf dem schnellsten Weg - nach Hause gegangen, hatte etwas gegessen und dann leise an Omas Tür geklopft. Ich war jedes Mal mit einem freudigen Lächeln hinein gegangen und hatte sie mit einem kurzen Küsschen auf die Wange begrüßt. Ich hatte meine Oma wirklich geliebt. Sie war eine Person gewesen, mit der ich über alles sprechen konnte. Egal ob es um die Schule, meine Freunde oder etwas anderes ging. Sie hatte mir immer Gehör geschenkt. Oftmals dauerten unsere Gespräche länger als eine Stunde, doch es machte mir Spaß. Ich liebte es einfach, ihre Geschichten zu hören. Am liebsten hatte ich diejenigen gehört, in denen sie mir von ihren Erlebnissen berichtete, von ihrem Leben als Mädchen, in meinem Alter. Ich hatte mich immer gewundert, in was für Verhältnissen sie gelebt hatte. Anschließend spielten wir eigentlich noch eine Partie Rummycup, das war aber jedoch davon abhängig, wann Mutter heimkam.



Das ruhige, hohe Klingeln des kleinen Glöckchens über der Tür ertönte wieder und ich schreckte aus meinen Gedanken auf, blinzelte verwirrt. Jetzt war es mir doch schon wieder passiert! Ich war erneut in den Erinnerungen meines früheren Lebens versunken. Aber komisch war es schon gewesen, schließlich war dies nun einer der unpassensten Momente, an meine Oma zu denken. Ich seufzte leise, ließ den Fünfer in meiner Hosentasche verschwinden und trat dann zur Tür. "Auf Wiedersehen.", meinte ich noch zur Bedienung und trat dann auch schon hinaus. Nach wie vor, war es heute doch ein relativ gutes Wetter. Ich warf beim Gehen einen kurzen Blick in die Schaufenster der Geschäfte und überlegte mir dabei, was ich nun mit dem Geld machen sollte. Ein Fünfer. Für mich war das ein ganzes Vermögen. Die anderen Leute hätten mich bestimmt ausgelacht, hätte ich ihnen das gesagt. Doch sie verstanden das nicht. Sie konnten nicht nachvollziehen, wie es war, kein Geld zu haben. Wie es war, wenn man auf der Straße lebte. Immerzu musste man sich Gedanken machen, wo man einen Platz zum Schlafen fand, wo man sein Essen und Trinken herbekam. Und nicht nur das, man musste auch gut auf sich aufpassen. Es gab genug Straßengangs, die einen überfielen und ausraubten oder einen zum Spaß einfach mal einen Satz heiße Ohren verpassten.

Ziellos bog ich schließlich an einem kleinen Kiosk - der so gut wie alles verkaufte - ab und überquerte eine kleine Wiese. Hier war ich schon oft gewesen. Es war eine Art Zufluchtsort und auch mein Lieblingsplatz. Ich ging noch ein Stückchen weiter und blieb dann stehen. Das Gras würde wohl zu nass zum sitzen sein. Prüfend bückte ich mich und strich mit der Hand über die einzelnen Halme. Schade, es war wirklich zu nass. Ich seufzte leise und ging nun doch weiter. Hier einfach herum zu stehen, war schließlich auch blöd. Ein paar Minuten später hatte ich dann auch schon den Park erreicht. Ich sah mich interessiert um, sogar jetzt waren schon einige Leute unterwegs. Das meiste waren ältere Frauen und Herren oder auch Schüler die früher Schluss hatten - ob sie schwänzten? - manchmal sah man auch jemanden, der mit seinem Vierbeiner Gassi ging. Ich beobachtete die Menschen in meiner Nähe und ließ mich dann auf einer alten Bank nieder - vorher wischte ich sie so gut wie möglich trocken. Ich stützte die Arme auf die Knie, legte den Kopf darauf und dachte ein wenig nach. Heute würde es wieder total langweilig werden.

Und schon wieder dachte ich an Nayuta. Um genauer zu sein, an seine warmen Worte und das wunderbare Lächeln auf seinen Lippen. Anfangs - als ich das erste Mal an dem Café vorbei gegangen war, war mir gar nicht aufgefallen, wie gut er aussah. Ich musste schmunzeln. So viel hatte ich wirklich schon seit längerem nicht mehr mit jemanden gesprochen und schon gar nicht, mit so jemand Nettem. Langsam strich ich über das Pflaster an meiner Wange. Nayuta hatte mich wirklich gut verarztet - auch wenn das Desinfektionsmittel wie Feuer gebrannt hatte. Irgendwie war er ganz anders, als die anderen. Ich wusste auch nicht genau, wie man es definieren konnte. Er war es eben einfach. Er war etwas Besonderes. Ich schluckte. Wieso dachte ich eigentlich soviel über diesen Mann nach? Er hatte mich gerettet, mich verarztet und mir sogar einen Tee spendiert, nicht zu vergessen: er gab mir auch den Fünfer. Aber trotzdem, wieso wollte er mir nicht aus dem Kopf gehen? Es war, als würde sich in meinem Kopf, das Geschehene immer wieder und wieder wiederholen. Ein leiser Seufzer drang aus meiner Kehle und ich lehnte mich entspannt zurück. "Nayuta..", sprach ich flüsternd seinen Namen aus. Sein Name hatte einen schönen Klang oder?

"Entschuldigung, haben Sie etwas gesagt?", ich zuckte etwas erschrocken zusammen und starrte die alte Frau neben mir an. Ihr weißes Haar war zu einem ordentlichen Dutt zusammengebunden und sie trug eines der üblichen alten Kleider, mit einem selbst gestrickten - zumindest nahm ich das an - Jäckchen darüber. Außerdem hatte sie einen alten Stock bei sich. "N-nein.", erwiderte ich errötend. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie neben mir Platz genommen hatte. Schnell setzte ich mich wieder ordentlich hin und musterte mein Umfeld. Gut, ansonsten schien sich nichts sonderlich verändert zu haben. Meine Wangen glühten noch immer etwas. Wie peinlich! Zum Glück hatte sie nicht auch noch verstanden, was ich gesagt hatte. Die alte Frau schwieg wieder und fing dann an, in ihrer Tasche zu kramen. Sie nahm zwei Bonbons heraus - aus einer neu gekauften Verpackung - und reichte mir einen. "Hier, nehmen Sie. Die sind wirklich gut." Ich griff nach dem Bonbon und nickte. "Danke." Langsam löste ich das Papier und schob mir die Süßigkeit in den Mund. Mhh. Das Bonbon war wirklich lecker. Soweit ich es beurteilen konnte, war es ein Kirsch-Bonbon. Ruhig stopfte ich das Papierchen in meine Hosentasche - zu den paar Knöpfen und Cents - und blieb sitzen. Ein Lächeln spielte auf meinen Lippen, heute hatte ich wohl wirklich eine Art 'Glückstag' gehabt. Es war selten, das ich so etwas wie einen Bonbon zwischen die Zähne bekam. Genüsslich lutschte ich es zu Ende und stand dann auf. "Ich werde dann mal weitergehen. Dankeschön für das Bonbon, es schmeckt wirklich lecker.", die Frau winkte kurz ab und lächelte. "Das hab ich gerne getan. Tschüss und passen Sie auf sich auf." "Keine Sorge, das werde ich.", ich winkte ihr noch kurz zu und ging meinen Weg dann weiter. Tja, da es langsam dunkel wurde, konnte ich mir jetzt wieder einen Schlafplatz suchen. Vielleicht konnte ich ja sogar noch einmal da übernachten, wo ich die Nacht zuvor verbracht hatte? Mal sehen...

Kapitel 4: Sehnsucht

Tja, diesmal hatte ich Pech. Der Platz unter der Brücke war besetzt. Eine der Straßengangs hatte dort ihr Lager aufgeschlagen. Leise seufzend kickte ich einen Stein ins Wasser und drehte wieder um. Dann musste ich mir eben woanders einen Platz zum Schlafen suchen, irgendwo würde schon noch etwas frei sein und notfalls, konnte ich ja noch in einer der Gassen schlafen oder so. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, folgte ich dem Kiesweg zurück und bog dann nach links ab. Ich stapfte über ein unbenutztes Feld und kam schließlich an eine der Häuserreihen raus. Vor einem der Häuser, sah ich wie zwei kleine Kinder spielten, um genauer zu sein, zwei Jungs. Sie waren etwa fünf oder sechs Jahre alt. Ich blieb einen Moment stehen und beobachtete sie. Anscheinend versuchten sie gerade, ein Papierboot zu basteln - mithilfe eines Bastelbuches - doch das wollte wohl nicht ganz so klappen. Ich schmunzelte leicht und gesellte mich zu den Kleinen. "Hey, versucht ihr, Papierboote zu basteln?", fragte ich höflich und sah die beiden an. Beide nickten mir zu: "Ja, aber das ist total schwer." Ich nickte ihnen zu und lächelte. "In eurem Alter hatte ich da auch meine Probleme.", murmelte ich leise, während ich mich auf den Boden setzte. Ich zog das Buch an mich heran und las kurz die Beschreibung durch. Es war schon Ewigkeiten her, dass ich eines der Boote gebastelt hatte, mal sehen, ob ich es noch konnte...

"Papa! Papa!", ich rannte aufgeregt ins Wohnzimmer und setzte mich auf die Couch. "Schau mal, was Mama mir geschenkt hat!", stolz präsentierte ich meinem Vater den ersten Band der 'Basteln? So wird's gemacht!' - Reihe. Er zog eine Augenbrauche hoch: "Ein Bastelbuch?", wiederholte er leise und sah mich an. "Ja! Toll nicht?!", ich strahlte. Ich hatte schon immer super gerne gebastelt, auch wenn ich meistens Hilfe dabei gebraucht hatte. "Lass uns was basteln, okay?" "Muss das sein? Ich muss noch einen Bericht fertig schreiben." Ich schob die Unterlippe nach vorne und setzte gekonnt meinen Hundeblick auf. So konnte Papa mir nie widerstehen! "Bitte... ich bastel doch so gerne.. und da sind wirklich superschöne Ideen drin.", ich sah traurig auf das Buch. "Na gut! Aber nur eine Kleinigkeit, in Ordnung?" Nun grinste ich ihn siegessicher an: "Okay!"
So hatten wir uns also das Buch angesehen und uns schließlich auf ein Papierboot geeinigt. Es dauerte nicht lange und wir hatten es fertig. Glücklich betrachtete ich es. "Super!" Seitdem hatten mein Vater und ich, fast jede Woche etwas aus dem Buch zusammen gebastelt.



"Kannst du das denn?", einer der Jungen sah mich fragend an. "Wirst du gleich sehen.", ich erinnerte mich daran, wie Vater es mit mir gebastelt hatte und lächelte leicht. Früher hatte mich so ein kleines Boot wirklich glücklich gemacht! Wie leicht man Kinder doch zufrieden stellen konnte. Ich faltete eines der Papierblätter, wie es auf der Anleitung abgebildet war und einige Minuten später, hatte ich ein Boot. "So, das war's. Wenn ihr wollt, könnt ihr es ja noch mit Bunt-, Filzstiften oder Wachsmalkreiden anmalen." Die Kleinen sahen mich mit großen Augen an und ich musste fast lachen. Damit auch kein Streit ausbrach, bastelte ich schnell noch eins und gab es den Jungs. "Danke!", sie strahlten mich an. "Hab ich doch gerne gemacht." "Hiro! Atsushi! Es ist schon spät, kommt herein!", ich schreckte leicht auf, als ich die Frauenstimme wahrnahm.

Die Haustür hatte sich geöffnet und eine junge Mutter stand vor mir. Ihr Blick wanderte zu den beiden Jungs und dann zu mir. "Mama, der nette Junge hat uns Papierboote gebastelt!", meinte einer der Kleinen und zeigte seiner Mutter stolz das Boot. Die Frau nickte. "Das ist schön, aber kommt jetzt herein, es wird schon ganz schön dunkel, außerdem müsst ihr noch baden.", die zwei rannten fröhlich in die Wohnung. "Und du solltest auch schauen, dass du nach Hause kommst." Ich nickte ihr zu und schon schloss sich die Tür und es war still.
Langsam erhob ich mich, klopfte mir den Dreck von der Hose. 'Nach Hause'. Wenn ich doch nur nach Hause gekonnt hätte! Ich schüttelte stumm den Kopf. Mein Zuhause gab es nicht mehr. Es existierte nicht mehr - man hatte es mir genommen.
Die Worte der jungen Mutter im Hinterkopf, setzte ich meinen Weg fort. Mittlerweile war es schon recht dunkel geworden und man spürte nur allzu gut, wie es dadurch auch um einiges Kälter wurde. Resigniert sah ich gen Himmel. Es war nicht nur dunkel und kalt, nein... anscheinend zog auch noch ein Gewitter auf. Na toll, da hatte ich ja mal wieder viel Glück. Hoffentlich fand ich noch einen passenden Unterschlupf. Automatisch beschleunigte ich meine Schritte und sah mich um. Irgendwo musste es doch etwas geben, wo man schlafen konnte? Einen Altbau, eine Brücke oder irgend so etwas?
Es dauerte einige Minuten, bis ich vor einem alten Gebäude stehen blieb. Es sah nicht sehr stabil aus, aber es war unbewohnt. Unsicher warf ich noch einmal einen Blick in den Himmel, wo sich schon die Wolken gesammelt hatten. Ich spürte einen kleinen Tropfen auf meinem Arm und beschloss, doch in das Gebäude zu gehen. Um etwas Neues zu finden, war die Zeit einfach zu knapp und ich wollte ja nicht schon wieder pitschnass werden. Schnell sprintete ich also zum Eingang und betrat das zerfallene Gebäude. Jeder meiner Schritte hallte auf dem Betonboden wieder. Langsam und etwas unsicher ging ich den Gang entlang. Die Wände waren teilweise eingerissen - manche Wände existierten gar nicht mehr, man sah nur noch ein großes Loch und einige übrig gebliebene Brocken davon -, man konnte Spuren von Kalk entdecken, sowie einige Löcher. Hm. Ich vermutete stark, dass dies früher ein Firmengebäude gewesen war. Einfach wegen der Größe. Aber vielleicht war es ja auch eine Schule gewesen? Naja, mir war es egal. Hauptsache ich hatte einen trockenen Platz zum schlafen.

Am Ende des Ganges war ich stehen geblieben. Vor mir erstreckte sich nun ein riesiger Raum. Man konnte ihn etwa mit einer kleineren Turnhalle vergleichen. Durch ein kleines Loch an der Decke, fielen einzelne Regentropfen, die sich zu einer kleinen Pfütze sammelten. Neugierig sah ich mich um. In einer der Ecken, waren einige Betonbrocken, in der anderen Ecke hatte wohl schon mal jemand geschlafen, dann dort waren einige alte Zeitungen, sowie eine braun-schwarz karierte Decke. Da mir nichts anderes übrig blieb, schnappte ich mir die alte Decke und nahm sie mit. Es dauerte noch ein wenig, bevor ich mir den passenden Schlafplatz rausgesucht hatte. Sorgfältig breitete ich die Decke aus. Ich versuchte einfach nicht daran zu denken, wie diese andere Person ausgesehen hatte, die hier geschlafen hatte oder besser gesagt, die mit dieser Decke geschlafen hatte. Müde gähnte ich, ehe ich es mir auf meinem 'Bett' gemütlich machte. Ich nahm eine hälfte der Decke, um mich zu zudecken, auf der anderen lag ich. Auch wenn es nicht wirklich viel brachte, so war es nicht ganz so kalt. Zitternd versuchte ich, mich irgendwie zu wärmen. Ich schloss die Augen, hoffte einfach, dass ich schnell einschlafen würde, was gar nicht so einfach war. Immer wenn der Wind durch das Gebäude heulte, öffnete ich die Augen wieder. Und als ob das nicht auch schon genug war, fing es an zu blitzen und zu donnern.

Durch die ganzen Geräusche und Töne, konnte ich erst recht nicht einschlafen und so dachte ich wieder nach. Ob Nayuta schon schlief? Bestimmt. Bestimmt lag er in einem richtigen Bett und schlief tief und fest, bekam nichts mit von diesem Unwetter. Ich seufzte leise. Wie gern hätte ich auch ein 'normales' Leben geführt, immer etwas zu Essen und Trinken gehabt, Freunde, ein Bett oder eher ein Zuhause. Ich tastete nach dem kleinen Kreuz, in meiner Tasche und hielt es ganz fest. Ein Weilchen dachte ich noch über mein Leben und Nayuta nach, als mir schließlich doch noch die Augen zufielen und ich in einen leichten Schlaf fiel. Ein leichtes Lächeln hatte sich auf meine Lippen gestohlen. "Nacht...Nayuta..."

Kapitel 5: Glücksgefühl

Die Nacht war nicht gerade die beste gewesen. Durch das ständige donnern und blitzen, war ich immer wieder einmal aufgewacht. Ja, ein paar Mal hatte ich sogar einen Alptraum gehabt oder ich war aufgewacht, weil es so kalt war, aber trotz allem war ich immer wieder eingeschlafen. Am nächsten Morgen ließ ich mich von dem Gezwitscher der Vögel und dem bellen eines Hundes - der irgendwo in der Nähe zu sein schien - wecken. Ich öffnete die Augen und blinzelte ein paar Mal. Anschließend schlug ich die Decke auf und setzte mich hin. Ich zitterte leicht. Es war noch immer noch so furchtbar kalt. Während ich aufstand, gähnte ich. Ich überlegte einen kurzen Moment, ob ich die Decke vielleicht mitnehmen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Wenn ich sie wirklich einmal wieder brauchte, würde ich eben hierher zurückkommen und sie holen. Durch das Loch, durch das in der Nacht zuvor noch die Regentropfen gefallen waren, schien nun die Sonne herein. Ich warf einen Blick nach oben und somit hinaus. Es war ziemlich bewölkt, aber nach Regen sah es nicht aus. Plötzlich knurrte mein Magen. Hm, es schien wohl langsam Zeit für mein Frühstück zu sein. Ruhig tapste ich den Gang zurück, der mich wieder zum Eingang brachte. Von dort aus machte ich mich gleich auf in die Stadt. Ob ich gleich noch bei dem Café vorbeischauen sollte? Vielleicht war Nayuta ja da? Als ich wieder an den jungen Mann dachte, begann mein Herz ein wenig schneller zu schlagen. Wäre das schön, wenn ich ihn gleich wieder treffen würde! Und plötzlich hatte ich es furchtbar eilig, zu dem Café zu kommen. Ich rannte also zurück, die Straße entlang und kam nach einigen Minuten an. Leicht keuchend blieb ich stehen, sah aufgeregt in den Innenraum. Mein Herz schlug nun noch schneller, sodass ich meinen Puls richtig hören konnte. Doch ich seufzte leise auf. Nayuta war anscheinend nicht da. Naja, dann würde ich mir eben beim Bäcker schnell ein Brötchen holen und mich dann neben die Tür des Cafés setzen. Ich wollte Nayuta ja nicht verpassen, falls dieser doch noch auftauchte.

Als ich schließlich bei der Bäckerei ankam, grüßte ich die Frau an der Theke freundlich. "Ich hätte gerne ein Brötchen.", murmelte ich meinen Standart-Satz und kramte in meiner Tasche nach Geld. "Ist das alles?", fragend sah sie mich an. Ich nickte und holte dann einen Schein heraus. Ach ja! Ich hatte ja auch noch den Fünfer. Eigentlich hatte ich ihn aufheben wollen, aber wenn ich so darüber nachdachte: Hojo würde ihn mir sicher abnehmen und außerdem, ich konnte mir auch mal etwas gönnen oder? Nayuta hatte ihn mir schließlich deswegen gegeben. "Ähm... ich nehme noch eine Nussschnecke dazu, Danke." Die Frau verpackte beides in einer Tüte und reichte sie mir, ich bezahlte, steckte das Wechselgeld wieder ein und verabschiedete mich. Mit einem leichten Lächeln, frühstückte ich schließlich. Ich hatte schon seit Ewigkeiten keine Nussschnecke mehr gegessen! Den Luxus hatte ich mir einfach nicht leisten können. Nachdem ich anschließend wieder vor dem Café angekommen war, platzierte ich mich direkt neben der Tür. Hoffentlich würde Nayuta gleich vorbeikommen.

Doch er kam nicht.

Ich wartete vergebens auf den jungen Mann, doch er erschien nicht. Naja, er hatte zwar gesagt, dass wir uns wieder sehen würden, aber nicht wann. Oder hatte ich mich irgendwie verhört? Nein. Ich rieb meine Hände leicht aneinander, um sie ein wenig zu wärmen. Trotz des Sonnenscheins war es noch immer ziemlich kalt. Ich saß schon solange hier, das ich nicht einmal wusste, wie viele Stunden vergangen waren. Meine Knochen taten schon ganz weh, vor lauter Kälte, doch ich wollte nicht aufstehen. Ich wollte nicht weggehen. Was wenn Nayuta dann doch noch auftauchte? Dann würde ich ihn ja verpassen und das wollte ich unter keinen Umständen! Stur wie ich war, blieb ich also sitzen. Erst, als das Café am späten Abend schloss, stand ich auf. "Huch? Bist du noch immer hier? Du bist doch schon seit heute Morgen hier oder?", es war die junge hübsche Frau - die uns am Tag zuvor bedient hatte -, die mich ansprach. Ich nickte. "Ja.." "Wartest du etwa auf den jungen Mann von gestern?" Ein leichter Rotschimmer zeigte sich auf meinen Wangen, als ich erneut nickte. "Oh, na dann hoffe ich, das du ihn noch triffst.", sie schenkte mir ein kurzes Lächeln und verabschiedete sich dann. "Ja, das hoffe ich auch.", murmelte ich leise. Ich hoffte es wirklich.

Doch meine Hoffnung wurde zunichte gemacht.

Nayuta tauchte auch zwei Stunden später nicht auf und da es schon recht spät war und ich fror, stand ich auf. Ich war enttäuscht. Ich hatte mich so darauf gefreut, den jungen Mann wieder zu sehen, doch er war nicht aufgetaucht. Mit zitternden, vor Kälte halb erstarrten Fingern, klopfte ich mir den Dreck von der Hose. Klar war jedenfalls, dass ich nicht aufgeben würde. Dann kam ich morgen eben wieder hierher und wartete. Nayuta würde schon vorbeikommen! Darauf vertraute ich, er hatte schließlich selbst gesagt, dass wir uns bestimmt wieder sehen würden. Ich lächelte ein klein wenig, da mich das an etwas aus meiner Vergangenheit erinnerte.

Es musste im Sommer gewesen sein, damals war ich in etwa zehn Jahre alt gewesen. Mutter hatte mich zum Einkaufen, fürs Abendessen, geschickt, guter Laune hatte ich mir meine Tasche und ein wenig Geld geschnappt und war auch schon losgegangen. Der Supermarkt befand sich nur eine Straße weiter, also nicht besonders weit. Über mir erstreckte sich der endlos blaue Himmel, an dem nicht eine einzige Wolke zu sehen war. Einfach herrlich! Als ich schließlich an meinem Ziel angelangte, entdeckte ich ein kleines Kätzchen, das sich vor einen Busch gelegt hatte. Ich lächelte leicht und machte mich dann daran, die Sachen einzukaufen, die wir brauchten. Hm, vor dem Milchregal war ich stehen geblieben. Meine Gedanken wanderten zu dem kleinen Kätzchen und ich beschloss, ihm etwas Milch zu geben. Wenn ich einkaufen ging, gab mir Mutter sowieso immer mehr mit, sie sagte mir immer, ich sollte mir doch noch eine Kleinigkeit mitnehmen. Tja, heute nahm ich eben die Milch. Die ganzen Sachen auf dem Arm ging ich zur Kasse und bezahlte. Anschließend kam ich wieder nach draußen. Ich hatte Glück, das Kätzchen war noch da. Es schien, als hätte es sich gar nicht bewegt. Langsam näherte ich mich dem Tier. Ein klein wenig beunruhigt hob das Kätzchen den Kopf und musterte mich. "Pschhh... ich tu dir nichts.", einige Schritte entfernt, blieb ich stehen. Ich kramte in meiner Tasche und zog schließlich ein altes Pullmolldöschen, welches leer war, aus meiner Tasche. Ich füllte es mit der frischen Milch und stellte es dem Kätzchen vor die Schnauze. Es dauerte einen Moment, bis das kleine Tier sich aufraffte und begann, gierig zu trinken. "Na, das schmeckt dir, was?", unsicher streckte ich die Hand aus, um das Tier zu streicheln. Das weiche Fell unter meinen Fingern fühlte sich wunderbar an.
Später hatte ich etwas Ärger bekommen, weil ich wegen der kleinen Aktion, etwas zu spät nach Hause gekommen war, doch meiner Meinung nach, hatte es sich gelohnt. Auch die Tage darauf brachte ich dem kleinen Tierchen Milch und jedes mal war es fast so, als hätte das Kätzchen schon auf mich gewartet...



Ja, das war eine schöne Erinnerung. Ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen und ging die, von den Straßenlaternen, beleuchtete Straße entlang. Den nächsten Tag und auch einige darauf folgende Tage verbrachte ich ebenfalls in der Kälte vor dem Café, hoffend, das Nayuta doch noch irgendwann auftauchen würde.
Akiko - die hübsche Bedienung - und ich, hatten uns kurz darauf ziemlich gut angefreundet. Man konnte sich wirklich gut mit ihr unterhalten und sie war ziemlich Nett. Manchmal spendierte sie mir sogar einen Tee und ein Stück Kuchen und außerdem durfte ich meine Zeit nachmittags auch in dem kleinen Café verbringen, wofür ich ihr ziemlich dankbar war. Doch abends, wenn der Chef da war, musste ich immer hinaus. Schließlich war ich ein Straßenjunge und der hatte nichts hier zu suchen. Aber das war schon in Ordnung so.

Tja, doch auch heute tauchte er nicht auf. Naja, irgendwie hatte ich ja damit gerechnet. "Ich werde dann langsam mal gehen, Akiko." "In Ordnung.", sie zwinkerte mir kurz zu und ich hob die Hand. "Bis Morgen dann.", meinte ich mit einem Lächeln und verschwand dann. Morgen. Ja, morgen würde ich wieder auf ihn warten.

Und das tat ich auch, wie jeden Morgen kaufte ich mir beim Bäcker eine Kleinigkeit zum Essen und setzte mich dann neben die Eingangstür des Cafés und dann plötzlich geschah es. "Kazuya?", eine mir sehr wohl bekannte Stimme rief mich. Ich sah auf und da waren sie, da waren diese wunderschönen Augen und das wunderbare Lächeln, nach dem ich mich so gesehnt hatte. "Nayuta!", brachte ich freudig hervor und ohne darüber nachzudenken, was ich da eigentlich tat, umarmte ich den Jungen. Die ganze Warterei hatte sich also doch noch gelohnt! Der Ältere hatte mich anfangs zwar etwas verwirrt angesehen, doch schließlich wuschelte er mir durchs Haar. "Na, wie geht es dir so? Alles in Ordnung?" Ich nickte. "Ja... alles bestens." Vor lauter Freude begann mein Herz richtig zu rasen und mir wurde ganz Warm, ja fast schon heiß. "Das freut mich." "Mhm u-und bei dir?" Ich konnte es mir nicht verkneifen, einen unauffälligen Blick auf seinen Körper oder genauer gesagt, seine Klamotten zu werfen. Ich war so unglaublich froh, dass ich ihn erneut sah. "Bei mir läuft auch alles ganz gut. Ich hatte in letzter Zeit nur recht viel an der Uni zu tun." "Verstehe.", ich hielt mich noch immer an ihm fest. Es fühlte sich einfach so wunderbar an. "Aber demnächst, wird es nicht mehr so stressig.", fügte Nayuta schließlich noch hinzu, aber ich verstand ihn nicht. Nein, ich verstand kein einziges Wort, das er noch sprach. Nanu? Was war denn nun los? Irgendwas stimmte nicht! Und ohne, das ich noch etwas dazu sagen konnte, wurde mir schwarz vor Augen...


Kapitel 6: Vergangenheit

Ich hob den Kopf und sah mich um. Naja, umsehen konnte man nicht gerade sagen; denn es gab nichts zu sehen. Um mich herum war alles schwarz. Pechschwarz. Wo war ich nur gelandet? Und was sollte ich hier? Ich war verwirrt. An so einem Ort war ich noch nie gewesen und es war mir am liebsten, wenn ich hier gleich wieder verschwinden konnte. Bevor noch etwas passierte oder ich das falsche tat, blieb ich lieber schweigend sitzen. "Kazuya?", ich lauschte auf. Hm... das war doch Nayutas Stimme? Aber wo kam sie her? "Kazuya?", erklang es wieder, diesmal stand ich auf. "Na-nayuta?", fragte ich leise. Hoffentlich würde er mir antworten! "Kazuya.." Da war es wieder! Ich schluckte, mein Puls begann sich zu beschleunigen. Was war nur los? "Ich bin hier.", entgegnete ich leise, während ich mich zum wiederholten Mal umsah. Und plötzlich tauchte der Ältere vor meinen Augen auf, einfach so, als hätte ihn jemand hergezaubert. Er sah mich mit seinen wundervollen Augen und diesem bezaubernden Lächeln an. "Nayuta! W-Was ist hier los?", schnellen Schrittes ging ich auf ihn zu. Ich war so froh, ihn zu sehen. "Ich versteh das nicht.", hastig griff ich nach seiner Hand und hielt sie fest. "Ich muss gehen, Kazuya." "Hm? Wohin denn?", fragend sah ich ihn an. "Weg, einfach nur weg.", er schüttelte seine Hand leicht, entzog sie aus meinem Griff. "Dann... dann nimm mich doch mit. Bitte Nayuta, i-ich werde dir auch keine Umstände oder so machen, bitte nimm mich mit!" Doch der junge Mann schüttelte den Kopf. "Das geht nicht." Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und genauso abrupt wie er aufgetaucht war, verschwand er wieder. Ich schluckte schwer. Was hatte das nur zu bedeuten? Wieso hatte er mich nicht mitgenommen? Würde ich ihn denn nun wieder sehen?

"Kazuya." Wieder nannte mich jemand bei meinem Namen. Doch diesmal war es nicht Nayuta. Nein, diesmal, war es eine ruhige, sanfte Frauenstimme. "Kazuya." Ich stockte, irgendwoher kannte ich die Stimme doch wer war es? Erwartungsvoll sah ich mich um. Vielleicht würde die Person ja genauso plötzlich wie Nayuta aus dem Nichts auftauchen? Doch das passierte nicht. Neben mir wurde ein Licht angemacht. Ich zuckte erschrocken zusammen. Was war denn jetzt los? Hier gab es Licht? "Kazuya, komm." Ich musterte meine Umgebung und es dauerte nicht lange, bis ich feststellte, dass ich mich in einem Krankenhaus befand. Vor mir erstreckte sich ein Gang. Der Boden war aus hellem Linoleum - das nahm ich zumindest an. Die Wände waren typisch weiß gestrichen, ab und an mit einem Gemälde verziert und einige Schwestern, sowie Besucher waren unterwegs. Hier und da erklang eine kurze Durchsage - meistens wurde irgendein Arzt ausgerufen. Ich ging einige Schritte und stand schließlich vor einem Schild. Durch verschiedene Pfeile und Farbei, sowie Aufschriften wurde auf die Abteilungen hingewiesen. Und was nun? Wo sollte ich denn jetzt hin? "Hier lang." Na toll, das sagte natürlich alles. Ich seufzte leise und versuchte, anhand meines Hörvermögens, der Stimme zu folgen. Ein, Zwei Minuten später fand ich mich vor einer Zimmertür wieder, ich war auf der Intensivstation. "202..", murmelte ich leise. Komisch. Das kam mir so bekannt vor. Ich war hier schon einmal gewesen, da war ich mir sicher. Aber wieso? Unsicher legte ich die Hand an die Klinke und drückte hinunter. Die Tür öffnete sich und ich trat ein.

Ich wartete einen Moment, doch die Stimme war verstummt. Erst jetzt, sah ich mich um. In dem Zimmer befanden sich zwei Betten. In dem einen befand sich eine Frau, sie sah nicht gut aus. Überall trug sie Verbände und unzählige Schläuche verbanden sie mit verschiedenen Geräten, die hin und wieder leise piepsten. In dem anderen Bett lag ein Mann, er war ebenfalls so zugerichtet. Langsam trat ich näher. Die beiden schienen wohl einen schweren Unfall gehabt zu haben und plötzlich erstarrte ich. Einen Unfall... Ich musste schwer schlucken. Natürlich, kannte ich die beiden Personen, die da vor mir lagen. "Mama... Papa...", ich schluchzte leise. Ja, diese zwei Menschen waren meine geliebten Eltern. Doch was es noch schlimmer machte, ich hatte sie nicht einmal erkannt. Sogar die Stimme meiner eigenen Mutter, hatte ich nicht wieder erkannt! Tränen rannen über meine Wangen. Warum war ich hier? Ich hatte doch alles so gut verdrängt gehabt! Wieso musste ich mich jetzt daran erinnern?! Meine Knie gaben nach und ich sackte langsam zu Boden. Ich wollte hier weg! Ich wollte das nicht alles noch einmal erleben! Weinend und schluchzend blieb ich auf dem kalten Boden sitzen.
"Mama... Papa..", wiederholte ich immer wieder leise, als würde dadurch alles besser werden. Warum wurde mir alles genommen? Ja, sogar Nayuta war gegangen! Wieso hatte ich ihn nicht zurückgehalten?



Ich spürte, wie mir etwas Kaltes auf die Stirn gelegt wurde. "Mhh.", angestrengt öffnete ich die Augen und blinzelte ein paar Mal. Mir war furchtbar warm und irgendwie fühlte sich mein Körper an, als war er aus Blei. Was war nur los mit mir? Es dauerte ein bisschen, bis sich der Schleier vor meinen Augen auflöste und meine Sicht wieder klarer wurde. Jemand strich mir sanft über die Wange, es fühlte sich irgendwie schön an. Langsam drehte ich den Kopf um zu sehen, wer das tat. Ich sah ihn an. Es war Nayuta. "Na... yuta..", hauchte ich leise. "Ja.", er lächelte mich an. "Du hast schlecht geträumt oder?" Ich nickte kurz, als mir der 'Traum' wieder einfiel und plötzlich rannen erneut Tränen an meinen Wangen hinunter. Nayuta war gar nicht gegangen, nein, er war hier. Er hatte mich nicht im Stich gelassen. Er war bei mir geblieben. "Kazuya? Hey, was ist denn los?", er nahm mir den kühlen Waschlappen von der Stirn, zog mich an sich. Ich drückte mich an seine Brust und weinte weiter. Ich war so froh, dass er mich nicht alleine gelassen hatte. "Nayuta...", ich wollte weiter sprechen, doch ich konnte nicht. "War der Traum so schlimm?", er streichelte über meinen Rücken. Hastig nickte ich, jedoch sagte ich nichts dazu. Vielleicht würde ich es ihm irgendwann später einmal sagen können, doch jetzt ging es nicht.
Ich weinte noch eine ganze Weile so weiter. Irgendwie konnte ich mich einfach nicht beruhigen und ich wusste es nicht recht, doch vielleicht war auch Nayuta dafür verantwortlich, denn er ließ mich die ganze Zeit über nicht los. Im Gegenteil, er hielt mich fest und versuchte mich durch ruhige Worte zu besänftigen.

Nachdem ich mich schließlich irgendwann doch noch beruhigte, fühlte ich mich richtig ausgelaugt. Nayuta reichte mir ein Taschentuch und ich putzte mir erst einmal die Nase. Anschließend legte er mich wieder sanft zurück. Der Waschlappen wurde ins kalte Wasser getaucht und ausgewindet, dann landete er wieder auf meiner Stirn. "Wie fühlst du dich?" Ich hustete kurz. "Nicht gerade toll." Nayuta nickte. "Das denk ich mir, du hattest ziemlich hohes Fieber, wir haben Glück, das es wieder runter gegangen is. Tja, ich schätze mal; du hast dir eine richtig schöne Erkältung eingefangen." Eine Erkältung? Na super. So etwas hatte mir ja noch gefehlt. Ich seufzte leise auf. "Aber keine Sorge, wir bekommen das wieder hin.", er streckte die Hand aus und wuschelte mir übers Haar. "Hm. Die Bedienung in dem Café hat mir erzählt, du wärst jeden Tag gekommen und hättest in der Kälte draußen auf mich gewartet, stimmt das?" Ich sah ihn an. Oh Nein! Akiko hatte es ihm wirklich erzählt? Meine Wangen wurden rot, ich nickte. "Uhum... ich...ich wollte dich so gern wieder sehen." Der Ältere lächelte mich erneut an. "Das ist wirklich süß von dir. Ich... wollte dich auch wieder sehen." "E-ehrlich?" "Ja, ehrlich." Ich erwiderte sein Lächeln. Nayuta hatte mich auch wieder sehen wollen! Dann, dann mochte er mich also auch! Ich war glücklich. "Das... freut... mich.", murmelte ich leise, während ich die Augen schloss. "Kazuya?" "Ich bin so müde..", ich öffnete noch einmal kurz die Augen, um ihn anzusehen. "Verstehe, wenn du etwas brauchst, sag mir bescheid, ich bin jedenfalls da." "Bleib... bleib einfach bei mir.", ich streckte die Hand nach ihm aus, jedoch erreichte ich ihn nicht mehr. Kurz davor, war ich vor Erschöpfung eingeschlafen. Ich lächelte, denn ich spürte noch, wie er meine Hand ergriff und sie festhielt. "In Ordnung, ich bleib da."

Mitten in der Nacht wurde ich wach, irgendetwas hatte mich wohl geweckt. Doch ich wusste nicht so recht, was es war. Noch immer ein wenig benommen, blinzelte ich in die Dunkelheit. Das Kratzen im Hals wurde stärker, sodass ich kurz husten musste. Prüfend sah ich zu Nayuta, der noch immer am Bett saß, jedoch bereits eingeschlafen war. Gut, ich hatte ihn nicht geweckt. Der Ältere hielt meine Hand noch immer fest. Ich tastete mit der freien Hand an meiner Decke entlang und fischte dann eine Andere hervor. So hatte ich doch gewusst, dass es hier noch eine Decke gab! Langsam setzte ich mich auf, um den schlafenden Jungen zuzudecken. Schließlich wollte ich nicht, das Nayuta nun auch noch krank wurde und das nur, weil er bei mir hatte bleiben müssen. Ich schlang die Decke sachte um seinen Körper und zog sie dann etwas zu mir. Perfekt. Zufrieden ließ ich mich wieder zurücksinken. Ich warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster, wobei ich feststellte, dass wir heute Vollmond hatten. Anschließend schloss ich meine Augen wieder und fiel in einen sanften Schlaf, zurück ins Reich der Träume.

Das nächste Mal, als ich verschlafen die Augen öffnete, war es bereits Morgen. Die Sonne warf ihre warmen, hellen Strahlen durchs Fenster und durchflutete den Raum. Ein kleiner Spatz, der es sich auf dem Ast eines Baumes bequem gemacht hatte, zwitscherte vor sich hin. Ich blinzelte mehrere Male hintereinander und setzte mich dann auf. Zum ersten Mal, seitdem ich hier war, sah ich mich um. Die Wände waren in einem hellen, freundlichen orange gestrichen. Direkt neben dem Bett befand sich ein kleines Nachtschränkchen, mit einer Leselampe und einem Buch. In einer Ecke des Raumes befand sich ein Schreibtisch - der ziemlich chaotisch aussah. Bestimmt bewahrte Nayuta dort seine Sachen für die Uni auf. Des Weiteren entdeckte ich einen Kleiderschrank - zumindest glaubte ich, es war einer -, zwei Bücherregal - die Titel der Bücher deuteten daraufhin, das es sich meistens um Fachliterarische Werke handelte, ab und zu war auch mal ein Roman oder ein Manga dabei - und noch einige andere Dinge, die mich jedoch nicht so ganz interessierten. Neugierig besah ich mir die Bilder und Poster, die sich an den Wänden befanden. Eine der Bands kannte ich sogar und ich musste sagen, deren Musik war gar nicht mal schlecht. "Mhh.." Ich zuckte leicht zusammen, drehte mich zu Nayuta, der noch immer zu schlafen schien. Ob er wohl langsam wach wurde? "Nayuta?", fragte ich vorsichtig und so leise, das man es kaum hörte. Ich wollte ihn schließlich nicht unbedingt wecken. Doch das wäre auch nicht nötig gewesen, der Ältere hob nämlich schon den Kopf. "Morgen..", nuschelte er leise, während er herzhaft gähnte und sich dann streckte. Ich musste lächeln. "Guten Morgen."

"Wie geht's dir, fühlst du dich schon besser?" Ich nickte. "Ja, zwar tut mir mein Hals noch weh, aber eigentlich fühl ich mich ganz gut soweit." Naja, das lag wohl größtenteils auch daran, dass ich bei ihm war - aber das behielt ich mal lieber für mich. "Gut.", langsam erhob er sich. Erst jetzt, hatte er meine Hand losgelassen, er hatte sie die ganze Nacht festgehalten. "Uhm... ich..müsste mal aufs Klo." Nayuta nickte. "Einfach geradeaus und dann rechts die Tür." "Okay, danke.", ich schlug die Decke auf und wollte gerade aufstehen, als ich erstarrte. Ich errötete und wickelte mich wieder in die Decke ein. Peinlich berührt biss ich mir auf die Lippe. Wann war das denn passiert? Ich, ich war ja nackt - okay, zumindest fast, immerhin trug ich noch meine Unterwäsche. Natürlich hatte Nayuta alles gesehen, was mich nur noch tiefer erröten ließ. "Oh, Entschuldige. Ich hab mir erlaubt dich auszuziehen und deine Sachen zu waschen. Natürlich gebe ich dir gleich was Frisches." Ich schluckte. Er wusch meine Klamotten? "Wa-was ist mit meinen Sachen?! Also, das was in den Taschen war?" Oh Nein! Hoffentlich war mein Kreuz nicht mit in der Waschmaschine gelandet! Doch der Ältere lächelte mir nur zu. "Keine Sorge, das liegt alles hier.", er deutete zu seinem Schreibtisch. Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus. "Gut...", nuschelte ich schließlich und stand nun doch auf. Nayuta hatte mich, als er mich ausgezogen hatte, ja sowieso schon so gesehen und solange ich meine Unterwäsche noch trug, war es ja okay - zumindest für mich. Schnell tapste ich zu seinem Schreibtisch und musterte meine Sachen. Er hatte Recht, es war alles da. Ich hob das kleine silberne Kreuz hoch und lächelte leicht. "Hm. Das bedeutet dir viel oder?" "Ja... ich hab es von meiner Mutter." Er nickte. "Verstehe. Na dann, pass gut darauf auf." "Das werde ich.", ich legte es wieder zurück und ging dann Richtung Bad. Vorsichtig öffnete ich die Tür und betrat den Raum. Links von mir befand sich ein Waschbecken, das Klo befand sich vor dem Fenster und links daneben war die Dusche. Hm. Ich war schon lange in keinem Badezimmer mehr gewesen. Ob ich wohl...?

"Nayuta?" "Ja?" Ein wenig nervös spielte ich mit meinen Fingern. "Ähm... darf...darf ich die Dusche benutzen?", er sah mich einen Moment lang verwirrt an, dann nickte er. "Na klar, ich bring dir gleich frische Handtücher und Klamotten." "In Ordnung, Danke.", zufrieden schloss ich die Tür und zog mich dann aus. Ein wenig komisch war es schon, als ich die Schiebetür aufschob und hinein stieg. Ich schloss die Tür hinter mir wieder und schnappte mir die Duschbrause. Anschließend drehte ich das Wasser auf eine angenehme Temperatur und duschte. Das warme Wasser prasselte meinen Körper hinab, ich schloss entspannt die Augen. Irgendwie, erinnerte es mich an Regen.

Es war ein kalter Herbsttag gewesen. Die Bäume hatten längst ihre Blättermäntel fallen gelassen und es regnete in Strömen. Ein unruhiger Wind kam auf und brachte die Bäume zum erzittern. Damals hatte ich - ich musste zu dem Zeitpunkt so etwa Zwölf oder Zwölf gewesen sein - am Fenster gestanden und hinausgesehen. Ich war ein wenig traurig gewesen, da ich eigentlich an diesem Nachmittag vorgehabt hatte, ein wenig raus zu gehen und einige der wunderschönen Herbstblätter zu sammeln. Doch das Wetter hatte mir einen gehörigen Strich durch die Rechnung gezogen. Erst als Vater das Wohnzimmer betreten hatte, wandte ich mich ab. "Na, Kazu.", er sah nach draußen. "Aus deinem Blätter-Sammeln wir heute wohl nichts mehr." Ich schüttelte den Kopf. "Nein, anscheinend nicht." Resigniert seufzte ich auf. "Ach komm schon, was hältst du davon, wenn wir ein paar Brettspiele spielen?" Ich hatte kurz darüber nachgedacht und dann genickt. "Hm. Na gut.", schnell war ich in mein Zimmer gerast, holte meine Spielesammlung vom Schrank und beeilte mich dann wieder, hinunter ins Wohnzimmer zu kommen. Vater und ich machten es uns am Esstisch gemütlich und spielten einige Partien. Irgendwann hatte uns Mutter sogar eine Tasse Kakao und ein Stück Marmorkuchen gebracht. Sie hatte sich zu uns gesellt und zusammen hatten wir noch eine Runde gespielt. Und obwohl ich damals meine Blätter nicht mehr hatte sammeln können, hatte ich eine Menge Spaß an diesem Tag gehabt. Doch später am Abend hatten meine Eltern noch einmal wegfahren müssen, zu irgendeinem wichtigen Geschäftstermin und da sie mich für alt genug hielten, durfte ich alleine daheim bleiben.



Die Badetür öffnete sich und Nayuta trat ein. "Ich leg dir die Sachen ans Waschbecken." "Okay.", ich öffnete meine Augen wieder und sah gerade noch, wie die Tür sich schloss. Dann griff ich nach dem Shampoo und begann damit, mich gründlich einzuseifen. Ich fühlte mich körperlich richtig gut, als ich wieder aus der Duschkabine stieg. Das warme Wasser hatte meinen Körper wunderbar gewärmt. Schnell trocknete ich mich mit dem weichen, weißen Handtuch trocken und schlüpfte dann in die frischen Klamotten, die Nayuta mir hingelegt hatte. Naja, ein wenig zu groß waren sie mir schon. Das merkte man besonders an den Ärmeln. Sachte krempelte ich sie mir nach oben. Ja, so würde es gehen. Zufrieden trat ich schließlich aus dem Bad. Mein Magen knurrte leise, als ich einen leckeren Duft vernahm. Automatisch zog es mich in die Küche. "Hm, das riecht gut." Der Ältere warf mir einen kurzen Blick zu. "Da hat wohl jemand Hunger; das Frühstück ist gleich fertig, du kannst dich schon mal hinsetzen." "In Ordnung." So ging ich also zurück und nahm an dem kleinen Esstisch platz. Ich sah mich noch ein wenig um, ehe Nayuta auch schon auftauchte und 'servierte'. Ich musterte den Teller vor mir. "Bedien dich ruhig. Nimm dir, was du magst." Ich schenkte ihm ein kurzes Lächeln und beugte mich schließlich etwas nach vorne, um mir einen Toast zu nehmen. Nachdem ich kurz die anderen Sachen begutachtet hatte, beschloss ich, ein wenig von der Erdbeermarmelade drauf zu schmieren. Gemütlich, in einer angenehmen Atmosphäre frühstückten wir. Anschließend warf Nayuta einen Blick auf die Uhr.

"Ich muss mich dann langsam mal fertig machen." Ich sah ihn an. "Fertig machen?" Wo wollte er denn hingehen? "Ja, ich muss doch zur Uni." "Oh, ach so." Stimmte ja! Nayuta war ein Student an der Universität! Für einen kurzen Augenblick, hatte ich das schon wieder vergessen. Er lächelte mir noch einmal kurz zu, während er aufstand und den Tisch abräumte. "Du kannst es dir hier ja ein wenig gemütlich machen, ich denke ich werde nicht so spät heimkommen." "Mhm.", ich aß den letzten Bissen meines Toastes und stand dann auf, um ihm zu helfen. "In der Küche steht noch eine Kanne Tee für dich." "Okay.", ich musste wieder lächeln. Nayuta war so fürsorglich. Er dachte wirklich an alles. In Ruhe trank ich die derzeitige Tasse aus. "Also dann, ich bin weg. Wir sehen uns ja später, mach es dir ruhig bequem.", der Ältere sah noch einmal in die Küche und winkte mir dann zu. "Tschüss." Die Tür schloss sich. Tja, nun war ich alleine.

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Texte: Copyright at kokoro13
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2008

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Widmung:
Widmung: Kris Tanja Bine (alias Yuki)

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