Cover

Prolog

Leise tönte der Erste von zwölf Glockenschlägen durch das Dorf, als Nebelschleier durch die Siedlung schlichen. Die milchigen Schwaden tanzten im rötlichen Licht des Blutmondes und verdichteten sich immer mehr. Eine Gestalt huschte durch die Siedlung. Schlammspritzer zierten ihr Kleid aus heller Seide und verdunkelten das Ende der langen Schleppe. Sie lief so schnell ihre Beine sie trugen. Unbemerkt löste sich eine Strähne aus ihrer kunstvoll hochgesteckten Frisur. Statt auf die Makel ihres Äußeren zu achten, presste sie das kleine Bündel an ihre Brust und setzte eilig ihren Weg fort, ohne sich umzudrehen.

Ihre Schritte führten sie zielstrebig auf ein Gebäude im Zentrum des Dorfes zu, in dem sie eilig verschwand. Für einen Moment versteckte sie sich in einer der beiden Boxen. Hektisch blickte sie sich um, wobei in ihren Augen der Schein eines Feuers schimmerte.

Kurz legte sie ihren Zeige- und Mittelfinger an ihre Lippen, ehe sie diese zum Bündel aus edlem, blutrotem Stoff führte.

Ein Abschiedskuss.

Vorsichtig bettete sie es ins Stroh und verbarg es darin, nur um hastig wieder aufzuspringen.

Ohne sich umzublicken eilte sie aus dem Stall und flüchtete in die dichten Nebelschwaden.

Mit dem letzten Glockenschlag gellte der schrille Schrei einer Frau durch die Siedlung, ehe sich Stille über die Häuser legte.

In vielen Gebäuden wurde Licht entzündet und ein paar der Dorfbewohner tapsten in die Nacht hinaus.

Aus dem Stall in der Mitte des Dorfes plärrte urplötzlich die Stimme eines Babys.

Ein junges, frisch vermähltes Päärchen, welches das Haus neben dem Stall bewohnte, lief in das hölzerne Gebäude. Die Frau fand den Ursprung des Geschreis schnell, kniete sich vor das Bündel und schob ein Stück des edlen Geschmeides bei Seite. In einer Ecke, eingestickt in die rote Seide, stand der Name des Kindes. Als der Stoff lautlos wich, kam das Gesicht eines rothaarigen Babys zum Vorschein. Tränen perlten aus zusammengekniffenen Augen über die Wangen, sodass die Frau das Baby schweigend auf den Arm nahm und es sanft wiegte. Vorsichtig erhob sie sich und trug das Bündel unter dem missmutigen Blick ihres Gatten ins Haus.

Kapitel 1

Kapitel eins:

 

Leise plätscherte das Wasser des schmalen Baches, der an einem jungen Mann vorbei floss. Er mochte diesen Ort sehr gerne. Um ihn herum blühte grüne, unberührte Natur, ein wahres Meer aus Blumen. Vor ihm plätscherte der kleine Wasserlauf und hinter diesem wogte ein weiterer Ozean aus Blüten. Hier herrschte der Frieden, welcher den Menschen dieser Welt Averys Meinung nach fehlte.

Er hatte sich am Bachufer ausgestreckt und hielt die Füße ins kühle Wasser. Die Pflanzen, die hier wuchsen, verdeckten Avery vor Blicken anderer. Ab und an kitzelte ihn mal eine Blume an der Wange oder an den Fußknöcheln, aber das war ganz angenehm.

Nur derjenige, der wusste, wo man ihn suchen musste, war in der Lage, ihn auch zu finden. Momentan konnte er die Ruhe genießen. Noch während des arbeitsreichen Tags auf dem Feld sehnte er diese Erholung herbei, sodass er sich noch vor Ende der Schicht einfach davonschlich und nun hier lag.

Mit seinen 22 Jahren sollte er sich nach Angaben seines strengen Vaters eigentlich erwachsener verhalten, aber dazu fehlte ihm oftmals die Lust.

Der Blick aus den grünen Augen ruhte auf dem leicht purpurnen Himmel über sich, wo ein paar weiße Wolken vorbeizogen und mit einem rötlichen Stich den Abend ankündigten. Aus manchen von ihnen konnte Avery Formen erkennen. Seine Mutter hatte ihm dieses Spiel in seiner Kindheit gezeigt. Zumindest zu der Zeit, als sein Vater ihn noch nicht zur Feldarbeit zwang. Seine Mutter besaß ein gutes Herz. Anfangs waren sie und sein Vater auch noch sehr glücklich gewesen, aber ihr Mann und sein Erzeuger hatte sich im Laufe der Jahre verändert. Immer häufiger stritten seine Eltern sich, bis seine Mutter krank wurde und kurze Zeit darauf verstarb.

Sanft strich der Wind durch Averys Haar und zupfte an seiner Kleidung, während er die trüben Gedanken verscheuchte und sich der wohltuenden Ruhe hingab.

Wieso konnte es nicht immer so sein? So herrlich ruhig, friedlich und niemand, der einen hier störte.

In Averys Dorf gab es keine solche Gelassenheit, dort herrschten noch immer sehr strenge Regeln. Es war eine Gemeinde von Wenigen, da der Rest der Welt seinen Bewohnern mehr oder weniger bessere Bedingungen bot.

Hier bei ihnen musste jeder mit anpacken und im Gegensatz zur großen Stadt rund um den Königspalast schätzte man die Frauen aus den ferneren Dörfern weniger als die Männer. Sie dienten einzig der Erfüllung der Hausarbeit und der Heranzucht der neuen Generation. Ebenso mussten sie hübsch aussehen und ihrem Mann treu ergeben sein.

Es gab sogar ein paar mutige Frauen, die aus einem solchen Dorf flüchteten und ihr Glück in den größeren Städten suchten. Ob es eine von ihnen geschafft hatte, wusste Avery nicht. Er war schon froh als Mann geboren zu sein.

Seine Zukünftige wollte er trotzdem nie schlecht behandeln, denn er besaß ein ruhigeres Gemüt. Etwas, das sein aufbrausender Vater oft an ihm bemängelte.

Scheinbar lebte in Avery mehr von seiner guten Mutter, was ihm aber um Einiges lieber war, auch wenn er sich Mühe gab, seinen Erzeuger ansonsten zufriedenzustellen. Schwer, aber nicht unmöglich.

Die Ruhe, die Avery daheim nicht fand, suchte er vermehrt an diesem Bach. Viele Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt, an einem Ort, den Menschen noch nicht entdeckt, eingenommen und zerstört hatten. Keiner außer ihm und …

„Avery ... Avery?“, und seiner Schwester, die ihn gerade rief.

Sie beide waren die Einzigen im Dorf, die rote Haare und grüne Augen besaßen. Avery mochte sie zudem von allen Bewohnern der Siedlung am liebsten.

Seine Schwester war mit 21 ein Jahr jünger als Avery und ein richtiges großer-Bruder-Kind. Jetzt aber klang sie ziemlich aufgebracht. Obwohl, aufgebracht war das falsche Wort. Sie klang gehetzt. Er fragte sich still, was ihr die Ruhe raubte.

Avery setzte sich auf, um zu sehen, was los war. Er sah sie von Weitem durch die schönen Blumen laufen, die sich sanft im Wind bewegten. Je näher sie kam, desto mehr zeigte sich ihm der mögliche Grund. Ihr sonst so ordentliches, rotes Haar glich eher einem wirren Vogelnest und an ihrem Gesicht klebte eine dunkle Flüssigkeit.

Ihr Kleid flog im Wind immer mal wieder leicht hoch, aber nie so sehr, dass man prekäre Stellen sehen konnte.

Als Avery ihr Gesicht richtig erkennen konnte, bemerkte er, dass sie aus der Nase blutete. Oder war die Flüssigkeit bereits getrocknet? Sofort erhob er sich und kam ihr das letzte Stück entgegen.

„Was ist geschehen, Belfi? Wer hat dir das angetan?“, wollte Avery mehr als besorgt wissen, während sie sich nur kurz über ihr geblümtes Kleid strich. Dann allerdings packte sie grob seine Hände, bevor er ihr Gesicht auch nur berühren konnte.

„Wir müssen hier fort, Avery!“, teilte sie ihrem Bruder panisch mit. Belfi ließ sich nicht beruhigen. Immer wieder sah sie sich hektisch um, als wollte sie nach jemandem Ausschau halten, aber Avery konnte hinter ihr niemanden sehen. Ihr ganzer Körper war angespannt, was er aus dem festen Griff ihrer Hände und dem verängstigten Ausdruck ihres Gesichts schloss.

„Ruhig, Belfi. Was ist denn los? War Gerd wieder grob zu dir?“, fragte Avery sie und zog ein graues, altes Stofftuch aus seinem Ärmel, um ihr das Blut unter der Nase wegzuwischen.

Gerd war seit fast zwei Jahren ihr Ehemann. Leider besaß er, der glatt ihr Vater hätte sein können, einen verdorbenen Charakter. Für viele Männer aus den ländlichen Dörfern stellte weder die schlechte Behandlung ihrer Frauen noch der oftmals große Altersunterschied etwas Ungewöhnliches dar.

„Gerd ist jetzt völlig egal. Das Dorf wurde überfallen!“ Damit stieß sie seine helfende Hand zur Seite.

Verwirrt sah Avery sie an, bevor das Entsetzen den jungen Mann eisig-kalt packte. Das Dorf wurde überfallen? Wie das? Sein Dorf mochte vielleicht nicht das Beste sein, aber es war seine Heimat. Der Ort, wo er geboren und aufgewachsen war.

„Überfallen? Von wem?“, fragte Avery geschockt, sodass sie etwas hilflos die Hände hob. Sein Herz schien dabei einen Aussetzer machen zu wollen und es lief ihm eiskalt den Rücken herunter.

„Ich weiß es nicht. Es waren ganz komische nackte Wesen mit scharfen Klauen und spitzen Zähnen und ganz weißen Augen“, versuchte sie die Angreifer zu beschreiben und bemerkte nicht sofort das erstaunte Gesicht ihres Bruders. Er legte ihr seine Hand auf die Stirn, um zu sehen, ob sie fieberte. Was redete Belfi da nur? Wesen mit Klauen und scharfen Zähnen? Vielleicht Hunde oder ein Bär? Aber die waren weder nackt, noch hatten sie weiße Augen.

Das hörte sich wie ein Wesen aus einer Gruselgeschichte ihrer Kindheit an. Damals, als sie noch klein waren und ihre Mutter ihnen noch Märchen erzählte.

„Hast du Fieber? So etwas, was du da beschreibst, gibt es gar nicht“, meinte Avery sanft und beruhigend, aber sie schlug seine Hand erneut weg. Belfi behandelte ihren großen Bruder normalerweise nie so grob - und jetzt tat sie es schon mehrmals? War vielleicht doch etwas passiert? Aber Monster? Unmöglich, sie lebten in keiner Märchenwelt!

„Soll das heißen, ich lüge? Das tue ich ganz gewiss nicht. Bitte, Avery. Wir müssen hier weg!“ Damit zog sie an seiner Hand. Sollte er ihr etwa folgen? Avery hielt sie auf. Er verstand nicht ganz, was mit seiner kleinen Schwester los war. Für gewöhnlich war sie nur aufgelöst, wenn Gerd wieder grob zu ihr war. Avery mochte den Mann nicht. Ihr Vater hatte ihn für Belfi ausgesucht. Vor allem der Altersunterschied zwischen Belfi und ihm störte Avery neben seiner Gewaltbereitschaft an diesem Mann. Er tat wirklich sein Bestes, um Belfi in ihrer Ehe etwas zu schützen und zu stützen, aber dies gestaltete sich als gar nicht so einfach.

„Beruhige dich. So schlimm wird es nicht sein. Komm, lass uns zurück …“, seufzte Avery, während er seinen Blick wandern ließ. Mitten im Satz brach er jedoch abrupt ab. Seine Augen wurden immer größer. Was rannte ihnen denn da entgegen? Je größer das Etwas beim Näherkommen wurde, desto mehr konnte er erkennen und Vergleiche zu dem ziehen, was Belfi ihm erzählt hatte. Graue und völlig nackte Haut, große Dornen auf dem Kopf. Weiße Augen, die ihnen böse entgegen starrten, selbst die Klauen konnte Avery sehen, als es vor ihnen anhielt. Belfi, die vor ihrem Bruder stand, wich hinter ihn zurück, aber dieser starrte einfach weiter auf das Vieh.

Die kalten, milchigen Augen huschten zwischen den Geschwistern hin und her. Es legte sogar den Kopf schief, bis dessen gespaltenes Ohrläppchen die Schulter berührte. War das Ding zu blind? Oder weshalb schaute es so komisch? Es schien verwirrt zu sein, als es die beiden Rotschöpfe erblickte.

„Was bei allen Göttern ist das?“, keuchte Avery und stellte sich halb schützend vor seine kleine Schwester. Sie krallte ihre Hände in sein Oberteil am Rücken. Das Wesen, das ein paar Schritte näherkam und dabei einen Bogen beschrieb, behielt er ganz genau im Auge. Avery drehte sich mit und hielt Belfi weiter hinter sich verdeckt. So versuchte es das Geschöpf anders herum. Es wollte tatsächlich seine Schwester.

Die Erkenntnis traf Avery wie ein Schlag. Belfi, die sich näher an ihn drückte, hatte es wohl auch erkannt, sodass er die Arme schützend vor ihr ausbreitete.

„Verschwinde, was auch immer du bist!“, knurrte er der Kreatur laut entgegen, welche ein komisches Geräusch von sich gab. Wollte es ihnen damit etwas sagen? Wenn ja, sollte es deutlicher reden. Zusätzlich bot die Situation perfekten Nährboden für die lähmende Angst, aber Avery musste stark für seine Schwester sein. Er musste sein schnell klopfendes Herz ignorieren und sich ganz auf das Wesen vor sich konzentrieren.

„Hau ab!“, knurrte Avery gleich noch mal hinterher, da es nicht hören wollte und noch näher an die beiden herantrat. Deswegen drückte er Belfi, die hinter ihm stand, mehr und mehr zurück. Er musste seine kleine Schwester vor diesem … Monster, diesem Dämon schützen. Wenige Schritte vor ihnen blieb es stehen und streckte eine seiner Klauen nach den beiden ..., nein, nach Belfi aus, aber Avery schlug sie fort. Empört kreischte es daraufhin auf. Es sollte ruhig wagen, seiner kleinen Schwester etwas anzutun, denn dann würde er diese Kreatur fertigmachen. Die Wut dieses Wesens konnte man nicht übersehen. Selbst Schuld, dachte er. Avery musste lügen, wenn er behauptete, er hätte keine Angst.

Ein solches Wesen sah der Rothaarige zum ersten Mal. So etwas kannte Avery nur aus Horrorgeschichten, die ein paar Jungs aus dem Dorf und er sich mal zusammen ausgedacht hatten. Damals, als sie kleiner waren. Dieses hier hingegen war real und gab gewiss nicht so schnell auf. Schon allein wie es die beiden aus seinen weißen Iridien anstarrte. War es Gier? Bosheit? Listigkeit? Avery konnte es nicht erkennen oder erahnen. Die Augen blicklos, wie die einer Puppe oder … eines Toten?

Ein Schauder kroch durch seinen Körper und bescherte ihm eine Gänsehaut. Er glaubte nicht daran, dass dies hier vor ihm eine Leiche war, schließlich bewegte es sich. Die weißen Augen aber ließen diesen Eindruck vermuten. Diese Kreatur strahlte beinahe spürbare Gefahr aus. Es war einfach unmenschlich und beängstigend.

Zusammen wichen die Geschwister etwas zurück, dem breiten Bach immer näherkommend. Das Monster folgte ihnen dorthin, bis plötzlich Wind aufkam. Erst kaum zu bemerken, nahm er schnell zu und wurde immer kräftiger. Avery korrigierte aus reinem Instinkt ihre Richtung zu dem Baum am Ufer. Er hatte das Gefühl, bald in einem Sturm zu stehen. Beide klammerten sich an die borkige Rinde des Baumes. Im nächsten Moment riss eine starke Böe sie vom Boden.

Immer wieder zerrte der starke Wind nach ihnen, ihren Haaren und ihren Kleidern, die sie wie zwei Stoffbanner wirken ließen.

„Halt dich fest Belfi!“, brüllte Avery seiner kleinen Schwester zu und schlang seinen Arm um ihre Taille, um ihr zusätzlichen Halt zu geben. Er klammerte sich, so gut er konnte, an einem Ast des Baumes fest und sah kurz zu Belfi runter. Deren Gesicht war angsterfüllt. Dann wanderte sein Blick zu dem Etwas herüber, welches die Geschwister wohl genau beobachtete. Um diese Kreatur wehte bloß eine leichte Brise, die höchstens ein paar Staubkörner davontrug.

Mit einem Mal sprang das Vieh laut kreischend auf die beiden zu. Averys Herz schien kurz auszusetzen. So konnte er sie nicht mal beschützen, es nicht abwehren. So ein Mist. Gerade konnte er eine helfende Hand gut gebrauchen. Dem Ding schien der Wind ja auch in seinem weitem Sprung nichts anhaben zu können. Wie war das möglich? Die beiden wurden hier fast weggepustet und diese Kreatur bewegte sich, als gäbe es den Sturm gar nicht. Als schwebe oder flöge es.

Belfi schrie plötzlich laut vor Angst auf - zu seiner und wohl auch ihrer Verwunderung hielt das Monster inne, landete etwas von ihnen entfernt und legte den Kopf wieder schief. Dafür aber nahm der Wind immer mehr zu. Averys Kräfte schwanden und er spürte den Ast aus seiner Hand rutschen. Loslassen hingegen kam für ihn nicht infrage, da er nicht austesten wollte, was dann passierte. Egal wie sehr seine Finger schmerzten oder wie viele Splitter er sich einfing. Er durfte unter keinen Umständen aufgeben.

Sein Blick wurde von dem Geschöpf abgelenkt, als sich das Wasser des Baches zu kräuseln und zu bewegen begann. Dies kam aber nicht vom Wind, da das Wasser auch als der Sturm begann ruhig weiter floss. Über dem Kräuseln erschien plötzlich ein kleiner purpurner Streifen, welcher sich schnell verbreiterte. Er pulsierte förmlich in einem Dunkelrot. Auch als er sich zu einem Bogen erweitert hatte und am Rand irgendwelche Zeichen zu erkennen waren. Das war doch nur ein Traum, oder?

Zu dritt starrten sie auf das Tor, wobei das Monster zu fauchen anfing, sich etwas vorbeugte und die Klauen nach vorne streckte. Wollte es gleich noch mal angreifen? Saßen sie nicht schon genug in der Patsche? Erneut wurde Averys Aufmerksamkeit von der Kreatur abgelenkt.

In dem dunkelroten Tor stand plötzlich eine Gestalt in einem Umhang. Die Kapuze hatte sie tief ins Gesicht gezogen. Ruhig trat das Wesen aus dem Tor, blieb stehen und blickte sich um. Der Kopf hielt in ihrer Richtung inne und blickte zu den Geschwistern herüber. Ein Gesicht oder gar Augen konnte Avery nicht erkennen. Unter dem Umhang erschien eine Hand mit langen scharfen Klauen, die ansonsten aber menschlich aussah. Sie streckte sich in Averys und Belfis Richtung. Durch das Kreischen des Wesens sah Avery hastig wieder zu diesem, aber zu spät. Es sprang und flog auf die beiden zu und riss ihm Belfi förmlich aus dem Arm. Avery war nicht stark genug, um dem Ruck standzuhalten.

„Nein, lass mich los. Finger weg!“, kreischte sie und schlug nach den Armen, die sie festhielten. Avery versuchte noch nach ihr zu greifen und schrie laut ihren Namen. Belfi wurde in Richtung des Portals gezogen, direkt zu der Gestalt im Umhang.

„Loslassen!“, brüllte sie und plötzlich ließ die Kreatur Belfi los. Sie hatte ihm ihren Arm in den Bauch gerammt. Der Wind trieb ihm zusätzlich noch die Tränen in die Augen, griff zeitgleich nach Averys Schwester und zerrte sie weiter auf den Bogen zu. Direkt auf den Kapuzenmann, der sie zu erwarten schien und sie mit offenen Armen empfangen wollte. Bevor sie ihn erreichen konnte, rammte das nackte Wesen den Verhüllten zur Seite und Belfi flog an den beiden vorbei. Sie verschwand direkt in dem rot pulsierenden Tor, von welchem dieser Sturm auszugehen schien. Die Dunkelheit verschluckte die junge Frau.

Erneut schrie Avery nach seiner Schwester, streckte seine Hand unnütz in ihre Richtung, aber das Tor schloss sich. Es wurde immer schmaler und schmaler. Nur kurz hörte er sie noch nach ihrem Bruder schreien, dann war selbst der letzte dünne Streifen verschwunden und der Wind nahm endlich ab, bis Avery zu Boden fiel.

„Belfi, nein...“, wisperte er hilflos, sah dann aber wütend zu den beiden Kämpfenden herüber. Wieso hatte er den Baum nicht losgelassen? Wieso waren die beiden hinter ihr her? Belfi tat keiner Fliege etwas zu Leide!

„Was habt ihr mit ihr gemacht?! Wo ist meine Schwester?!“, brüllte Avery zornig und musste ausweichen. Die Gestalt im Umhang hatte das Monster von sich getreten, direkt über den wutschäumenden jungen Mann hinweg, welcher seine Hände zornig zu Fäusten ballte.

Eilig erhob sich der Verhüllte und auch das seltsame Geschöpf war geschwind wieder auf den Beinen. Nein, eigentlich landete es nach dem Flug auf eben diesen und kreischte den Kapuzenmann an. Dann sah es aber abrupt zu Avery, sodass er einen Schritt zurückwich. Die Kreatur ging plötzlich auf ihn los. Bevor es Avery erreichen konnte, sah dieser, wie auf der kahlen Kopfhaut der Kreatur eine Klaue auftauchte. Es wurde mit ziemlicher Kraft zurückgerissen. Dabei durchbohrten die Dornen auf dem kahlen Kopf des Wesens die Hand des Fremden. Der Unbekannte gab aber keinen Laut des Schmerzes von sich. Er katapultierte das Ungeheuer mit viel Schwung ins Wasser und kehrte den Rücken zu Avery.

Was wurde hier nur gespielt?

Avery war wütend. Sein Körper spannte sich so sehr an, dass es fast schon wehtat. Er presste zornig die Kiefer aufeinander.

„Hey! Ich will wissen, wo Belfi ist!“, schrie er den Fremden vor sich an und stieß ihm in den Rücken. Dieser taumelte unvorbereitet nach vorne. Das Monster, das im Wasser gelandet war, nutzte die Chance. Es schoss auf den Taumelnden zu, zog ihm die scharfen Klauen von oben über den Rücken und zerfetzte dabei Kleidung und Haut des Gegners. Dem Verhüllten blieb keine Zeit mehr, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Er brüllte diesmal vor Schmerz auf.

Die schreiende Stimme ließ Avery frösteln. Sie klang so unmenschlich. Vielleicht sollte er sich besser zurückziehen, aber was wurde dann aus Belfi? Avery wusste nicht, wo man sie hingebracht hatte, geschweige denn, wie er zu diesem unbekannten Ort kam. Aber wenn er hier starb, konnte er ihr auch nicht mehr helfen. Eines stand allerdings fest: Avery musste seine Schwester finden und retten.

Zu einem Rückzug kam es nicht. Das Monster rannte auf ihn und riss den Rothaarigen von den Füßen.

„Verschwinde!“, schrie Avery mit geweiteten Augen. Er drückte und schlug, um freizukommen. Der Blick aus den weißen Augen bohrte sich in die seines Opfers und schien ihn verschlingen zu wollen. Averys Bewegungen wurden fahriger, als er in den milchigen Iridien ein Schimmern bemerkte.

Was war das? Die Augen waren von einem reinen Weiß und kein Blinzeln unterbrach den Blickkontakt. Sie strahlten etwas Verzweifeltes aus, als wollten sie ihm etwas sagen. Etwas unendlich Wichtiges.

Ehe Avery dem auf den Grund gehen konnte, wurde das Ungeheuer von ihm herunter gezerrt und auf den Boden gedrückt. Die Klaue des Unbekannten schwebte über dem Gesicht des Monsters.

Söde!(1)“ Mit diesem gezischten Wort raste die Klaue auf das Geschöpf hinab. Avery konnte nicht mal mehr etwas sagen oder schreien, da hörte er das Knirschen der Schädelplatte, die gespalten wurde. Er sah zu, wie die ganze Hand in dem Kopf verschwand. Es war ein grausamer Anblick, den er sich noch nie hatte antun müssen. Der Körper der Kreatur erschlaffte, während die Hand wieder herausgezogen wurde. Dort, wo vorher das Gesicht des Scheusals prangte, klaffte nun ein klaffendes Loch.

Wie ging das? Knochen mussten doch viel zu hart sein, um sie so einfach durchschlagen zu können.

Das Ganze ließ Avery förmlich erstarren. Ein eiskalter Schauer rann ihm über den Rücken. Diese Gestalt war eine Gefahr, das hatte er sofort bemerkt, aber jetzt erfasste ihn die Erkenntnis mit der Wucht eines harten Schlages.

Abrupt drehte er sich um und rannte los. Rannte, so schnell er konnte. Die Angst ließ ihn schneller als normal laufen. Der Wind zischte an ihm vorbei. Avery wollte nur weg. Wenn er in Sicherheit war, konnte er sich auf die Suche nach seiner Schwester machen. Doch erst einmal musste er hier weg.

Eine Klaue schloss sich urplötzlich fest um Averys Oberarm, hielt ihn fest und brachte ihn aus dem Takt. Er konnte den Sturz nicht mehr abfangen und landete hart auf dem Boden. Im nächsten Moment wurde Avery auf den Rücken gedreht und sah in rot schimmernde Augen. Diese bohrten sich in seine. Aus dem Augenwinkel nahm er die zweite Klaue wahr. Sie schwebte, genau wie vor wenigen Minuten beim Monster, nun über ihm. Avery brach der Angstschweiß aus, während seine Augen hin und her ruckten.

„Nein, nicht“, hauchte er mit erstickter Stimme, während sein Herz hart gegen seinen Brustkorb schlug, doch da raste die Klaue auf ihn nieder.

War das nun sein Ende? Nie hatte er sich vorgestellt, so früh sterben zu müssen. Erst recht nicht durch etwas eindeutig Nichtmenschliches.

Nein.

Avery wollte nicht sterben und trotzdem sah er die Klaue wie in Zeitlupe auf sich herunter sausen. Nein, er wollte das nicht. Er war doch viel zu jung und Belfi … Avery musste doch seine kleine Schwester retten. Sie hatte sicher gerade große Angst so ganz alleine.

„NEIN!“, brüllte Avery laut auf und kniff die Augen zusammen. Er wollte das alles nicht mehr sehen müssen.

 

(1) Söde = Stirb

Kapitel 2

Kapitel zwei:

 

Avery erwartete voller Furcht sein Ende. Spitze und gefährliche Nägel, die ihn durchbohrten, ihm eventuell das Herz herausrissen und zerquetschten. Wahlweise zerschmetterte man ihm auch den Schädel. Das Gras, in welches Avery gedrückt wurde, fühlte sich klamm an. Als dränge die Feuchtigkeit frisch gefallenen Regens durch seine Kleidung. Doch die Wiese war trocken. So trocken wie nach einem heißen Sommertag.

Avery wartete, aber aus irgendeinem Grund kam nichts. Zögerlich und nur ganz langsam öffnete er eines seiner Augen.

Zuerst fielen ihm die roten Augen über sich auf. Sie blickten zornig auf ihn herunter. Zum Zweiten schwebte eine Klauenhand über ihm in der Luft. Sie öffnete und schloss sich immer wieder zu einer spitz zulaufenden Form.

Was war los? Weshalb machte das Wesen nicht weiter? Nicht, dass Avery es bedauern würde oder dergleichen. Nein, aber er konnte in dessen Augen deutlich den Wunsch sehen, seinem Opfer das Leben zu nehmen. So setzte Avery alles auf eine Karte. Er zog die Beine schnell und so gut es ging, an seinen Körper, nur um den Fremden von sich herunter zu treten.

Wirklich weit flog das Kapuzenetwas nicht, aber immerhin war Avery frei und konnte sich wieder aufrappeln. Diesmal blieb er stehen und beobachtete den Fremden ganz genau. Wenn er ihn eben schon nicht umgebracht hatte, bot sich ihm vielleicht die Möglichkeit, herauszufinden, wo Belfi war.

„Wer seid Ihr und was habt Ihr mit meiner Schwester gemacht?“, fragte Avery seinen Gegenüber wütend und mit einem Hauch von Furcht in der Stimme. Die Antwort bestand aus undeutlichen Worten. Avery verstand ihn nicht und das wurmte ihn gewaltig.

Als nichts weiter kam, trat das Etwas langsam auf ihn zu. Was sollte das jetzt wieder werden?

Avery wich zurück. Er spürte, wie seine Hände feucht wurden und wischte sie an seiner Leinenhose ab. Danach ballte er sie sofort wieder zu Fäusten. Averys Zunge fuhr derweil nervös über die trockenen Lippen und seine Augen huschten aufmerksam über die Gestalt, die auf ihn zu kam. Er nahm jede noch so kleine Bewegung wahr.

Für jeden Schritt, welchen Avery vor ihm zurückwich, näherte sich der Fremde zwei.

Als er noch einen zurücktrat, spürte er kühles Nass an seinem Fuß. Er war am Bach angelangt, aber stehen bleiben konnte er auch nicht. Die Person vor ihm war gefährlich. Schon allein, weil Avery außer den unnatürlich rot glühenden Augen und dem Umhang nichts weiter von diesem Wesen sah. Er erschien ihm wie ein Geist oder etwas Ähnliches.

Obwohl ...

Geister sollten eigentlich eher weiß sein und keinen schwarzen Umhang tragen.

Der Geist, Avery nannte ihn jetzt einfach so, folgte ihm in den Fluss hinein. Eine Flucht schien aussichtslos. Musste er nun zum Angriff übergehen? Nur womit? Avery besaß keine Waffe und ein erfahrener Nahkämpfer war er auch nicht. Er verstand mehr von Feldarbeit als von Kriegen. Trotzdem erhob er seine Fäuste, was ihm ein unheimliches Kichern seitens der Gestalt einbrachte. Lachte ihn das Ding etwa aus? Das durfte doch nicht wahr sein!

Avery hielt die Fäuste weiter oben und schluckte schwer, als er seinen Gegenüber betrachtete. Die Furcht kämpfte er dabei nieder.

Mit einem Mal geschah allerdings ein Wunder. Sein Gegenüber blieb stehen und hob eine Hand zur Kapuze. Er schob sich diese von seinem Kopf herunter und endlich konnte er sehen, mit wem oder was er es zu tun hatte. Avery hatte irgendetwas Hässliches oder Schauriges befürchtet. Stattdessen enthüllte der Stoff einen schönen Mann mit schwarzem Haar. Dies wurde mit zwei weißen Haarsträhnen nach hinten gebunden. Dadurch konnte Avery die leicht spitz zulaufenden Ohren sehen.

Sein Blick wanderte wieder zu den seltsamen Augen, welche ihn musterten.

Er fühlte sich unwohl. Es war, als wollten diese roten Seelenspiegel ihn Stück für Stück sezieren. Die Haut in kleine Häppchen schneiden, um sie dann besser untersuchen zu können. Avery schluckte hart und ballte seine Fäuste wieder fester. Er weigerte sich, kampflos aufzugeben.

„Ruhig. Nicht kämpfen“, vernahm er plötzlich verständliche Worte. Avery war erstaunt, da er ihn diesmal verstehen konnte.

Die Stimme war dunkel und der Fremde schien sich schwer mit Averys Sprache zu tun. So senkte der Bedrängte leicht die Fäuste und sah seinen Gegenüber mit großen Augen an. Der Mann wandte den Blick von ihm ab und schien in seinem Umhang etwas zu suchen. Er holte nach kurzer Zeit etwas hervor, trat näher auf Avery zu und streckte ihm die Hand entgegen. Erschrocken wich Avery hastig einige Schritte zurück und betrat sogar das andere Ufer des Baches. Durch die Erhöhung des Untergrundes geriet er ins Stolpern und fiel rückwärts ins Gras. Der Fremde nutzte die Chance und war bereits über ihm.Seine Knie drückten Averys Arme zu Boden. Würde er es jetzt beenden? Das, was er vorhin, aus welchem Grund auch immer, unterbrochen hatte? Seine Hand kam Averys Gesicht nur langsam näher. Dieser drehte den Kopf fort und versuchte, so gut er es konnte, auszuweichen. Es brachte nichts.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Ohr. Avery gab ihm jedoch nicht die Genugtuung eines Schreis und versuchte sich zu befreien. Er zappelte wie wild unter dem Fremden. Die Arme konnte er befreien, aber nach ihm zu treten schaffte er nicht. Ruhig blieb der Schwarzhaarige auf ihm sitzen und hatte die Hände schnell wieder eingefangen.

Was hatte der da nur an seinem Ohr gemacht?

Jetzt halt endlich still! Talto detis(2)“, erklang die kühle Stimme, weswegen Avery erstaunt zu ihm aufsah. Wieso verstand er ihn plötzlich? Auf jeden Fall schien ihm Averys plötzliche Verstummung zu gefallen. Er erhob sich und trat nur einen Schritt zur Seite.

Avery richtete sich halb auf und ließ die Hand zu seinem noch leicht pochenden Ohr hochgleiten. Dort hing irgendetwas.

„Finger weg. Der Snapclip übersetzt dir meine Sprache“, fauchte ihm der fremde Mann entgegen und Avery ließ die Hand wieder sinken. Aber jetzt, da er ihn verstehen konnte, konnte er vielleicht herausfinden …

„Wo ist meine Schwester? Was habt Ihr mit ihr gemacht?“, fragte Avery mittlerweile zum vierten Mal. Er war gespannt, ob er diesmal eine passable Antwort bekommen würde.

„Vergiss das Weib. Du solltest dich lieber um dein Leben sorgen. Was bist du?“, bekam Avery die nicht zufriedenstellende Rückmeldung. So ballte er seine Fäuste erneut und blickte den Kerl vernichtend an.

„Wenn du mir nicht sagen willst, was ich wissen will, wird das umgekehrt auch nichts“, knurrte Avery ihm entgegen. Dies brachte ihm nur einen abschätzigen Blick ein.

„Sie wird in Kanturas sein. Vorausgesetzt mein Portal ist durch ihre fremde Aura nicht gestört worden und vom Kurs abgekommen“, antwortete er ihm dann tatsächlich.

„Wie komme ich nach Kanturas?“, fragte Avery direkt weiter. Er ignorierte die Dinge wie Portal und Aura, welche es ja eigentlich nicht geben konnte, auch wenn er Ersteres mit eigenen Augen gesehen hatte.

Aus dem Augenwinkel nahm er die sich immer wieder öffnenden und schließenden Klauen wahr. Der Mann wollte Avery offensichtlich noch immer umbringen. Kleine Härchen stellten sich auf seinen Armen auf, als er bei dem Gedanken erschauderte.

„Gar nicht. Kanturas ist den Ketas vorbehalten und jetzt sag mir: Was bist du?“, erkundigte sich der Mann mit dem schwarz-weißen Haar abermals und zerstörte damit Averys Hoffnung, seine Schwester je wieder zu finden.

Nein.

Avery durfte nicht aufgeben.

„Dann bring du mich nach Kanturas. Du bist doch aus diesem Ding gekommen, also kannst du mich auch dorthin führen“, forderte er den Mann vor sich auf und blickte in seine rot schimmernden Augen. Dessen Lippen verzogen sich ärgerlich, wohl, weil Avery nicht auf seine Frage geantwortet hatte.

„Weshalb sollte ich einem mickrigen Menschen helfen? Was kannst du mir schon dafür bieten?“, fragte Averys Gegenüber herablassend. Es stimmte. Was konnte jemand wie Avery einer Person wie diesem dort schon dafür geben? In Gedanken ging er die Dinge durch, die er an seinem Leib trug. Nichts davon hatte Wert.

„Was verlangst du? Abgesehen von meinem Tod?“, wollte Avery deswegen einfachheitshalber wissen. Der rote Blick war stechend, doch er schien drüber nachzudenken.

„Was bist du?“, fragte er direkt.

„Wenn ich dir das sage, bringst du mich nach Kanturas?“

„Ja“, eine knappe und kühle Antwort. Aber mehr als Avery erwartet hatte. Doch …

„Wie soll ich dir glauben? Was garantiert mir, dass du mich wirklich dorthin bringst und mich nach meiner Antwort nicht einfach umbringst?“

Eine berechtigte Frage, wie Avery fand. Dieser Mann war gefährlich. Sehr gefährlich. Das spürte er einfach.

„Nichts. Du wirst mir glauben müssen“, spottete sein Gegenüber zurück, weswegen er leicht die Fäuste ballte. Avery blieb nichts anderes übrig.

„Ein Mensch. Ein einfacher Mensch und Bauer bin ich. Was sollte ich auch sonst sein?“, seufzte Avery. Mit der Hand fuhr er wieder zum Snapclip, welcher noch an seinem Ohr hing. Leicht befühlte er die Unebenheiten des Gegenstandes. Es war glatt, wenn man von den vielen, kleinen Kerben absah.

„Ein Mensch? Als ob. Aber nun gut. Dann bring ich dich nach Kanturas. Dort wirst du alleine zurechtkommen müssen. Ich habe Besseres zu tun, als deinen Aufpasser zu spielen!“, murrte Averys Gegenüber nicht sehr erfreut, aber besser, er nutzte die Chance, bevor der Fremde es sich anders überlegte.

„Einverstanden. Bring mich dorthin“, stimmte er direkt zu.

„Die Reise würde für mich alleine … ein bis zwei Wochen dauern, mit einem Anhang wie dir, drei, wenn nicht sogar vier Wochen“, informierte er Avery, weswegen diesem das Herz schwer wurde.

„So lange? Und was ist mit diesem … Portal, durch welches du gekommen bist?“, fragte er und hoffte, dass sie die Zeit damit abkürzen konnten.

Was Avery erhielt, war ein spöttischer Blick.

„Dein Weib hat mein Portal genommen und besetzt. Da die hindurch ist, kann ich es nicht erneut aufrufen. Das heißt, wir müssen es auf die gute alte irdische Art und Weise schaffen. Wir müssen nach Turosta“, gab er Avery scharfzüngig Auskunft, was diesen tief seufzen ließ.

„Dann muss ich aber noch ein paar Dinge von daheim holen. Wie ist überhaupt dein Name? Wie kann ich dich nennen? Und wo liegt Turosta überhaupt?“, fragte Avery und ging im Bogen um ihn herum. Er musste durch das Wasser des Baches zurück auf die andere Seite waten.

Kurz spürte Avery einen Lufthauch neben sich und erkannte, dass der schlanke Mann einfach über den Bach gesprungen war. Es ließ ihn erschaudern. Er war ihm unheimlich.

„Nenne mich Dymar. Und Turosta ...? Das wirst du noch sehen“, brummte er, während er Avery folgte und in der Luft zu schnuppern schien.

„Wenn du zu der Siedlung in dieser Richtung willst, dann wird davon wohl nicht mehr viel übrig sein.“

Damit deutete Dymar in die Richtung, wo sein Dorf lag. Es war das Einzige in dieser Richtung. Avery erinnerte sich auch sofort daran, was Belfi gemeint hatte. Der Überfall. Er hoffte einfach auf das Beste und betete, dass es dort nicht zu verwüstet war.

 

***

 

Als Avery am Dorf ankam, hatte er die Hände so sehr geballt, dass es schmerzte. Schon von Weitem hatte er den Rauch gesehen. Nun stand er in einer Ruinenlandschaft aus schwelenden Häusern, wobei manche noch brannten. Der Wind schien es ihm unter die Nase reiben zu wollen und wehte Avery unterschiedlichste Gerüche zu. Man konnte verkohltes Holz heraus riechen und noch etwas anderes, was er aber nicht zuordnen wollte. Es war einfach zu widerlich. Trotzdem fand er schnell den Ursprung dieses Geruches.

Direkt am Tor war eine Leiche zu sehen. Avery erkannte die Person nicht. Sie war viel zu zerfleischt und rußgeschwärzt. Deutlich spürte er, wie sich sein Magen verkrampfte und ihm der Mageninhalt hochkam. Er kämpfte es zurück und schluckte einmal.

Das war doch nicht mehr normal. Als hätten Bestien dieses Dorf überfallen. Aber wenn Avery so an dieses nackte Wesen zurückdachte, dann traute er es diesem und dessen eventuellen Kumpanen zu, an alledem Schuld zu sein. Tod und Zerstörung.

„Beeilung. Ich will heute noch los“, knurrte Dymar unfreundlich und weckte ihn aus seiner Erstarrung. Avery warf ihm einen kurzen Blick zu, betrat dann aber das Dorf. An der Leiche ging er mit starrem Blick vorbei. Er wagte es nicht mehr, sich im Dorf umzusehen, bis er an seinem Haus ankam. Dort wohnte Avery mit seinem Vater zusammen. Ein ehemals hübsches Haus mit einem Stall hinten dran und einem Garten, wo seine Mutter früher immer Kräuter und kleines Gemüse angepflanzt hatte.

Sein erstes eigenes Heim erbte er entweder, wenn sein Vater verstarb, oder er erbaute für sich und seine zukünftige Gattin eines. Bei diesem Haus hingegen musste viel wieder ausgebessert werden.

Anstatt eines Fensters in der Küche prangte dort ein riesiges Loch. Die Haustür war aus den Angeln gerissen und ein tragender Balken wurde durchtrennt, nur mit was? So stark konnte doch niemand sein. Avery musste trotzdem vorsichtig sein, während er durch das Haus wanderte.

Schritt um Schritt. Er wollte ja nicht durch den Boden brechen. Es knirschte bedrohlich bei jedem Schritt, den er sich vorwärts wagte.

Avery kam unbehelligt auf sein Zimmer. Es war genauso verwüstet wie der Rest des Hauses. Selbst tiefste Kratzspuren verzierten die Wände. Avery lief bei dem Anblick ein kalter Schauder über den Rücken. In seinem Zimmer holte er einen robusten Leinenbeutel aus dem Schrank hervor und packte einige unbeschädigte Kleidungsstücke ein. Ebenso fanden andere wichtige Dinge, die er für eine lange Reise benötigte, ihren Weg in den Beutel.

Als er fertig gepackt hatte, führten ihn seine Schritte zurück hinunter in die Küche, wo er Dymar vorfand. Dieser hatte den Kopf schief gelegt und sah auf etwas hinter dem Küchentisch runter. Avery senkte den Blick und erkannte ein Bein unter dem Tisch. Ihm blieb bei dem Anblick beinahe das Herz stehen und er hoffte nicht, dass dies eine weitere Leiche war, dass es nicht sein Vater war.

Eilig rannte er um den Tisch herum und gab einen erschrockenen Laut von sich. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich, als er den blutüberströmten Körper als den seines Vaters erkannte.

„Diese Criitis werden auch immer hirnloser“, kam es für Averys Geschmack viel zu amüsiert von Dymar. Er drängelte sich einfach an diesem vorbei und kniete neben seinem Vater. Es war widerlicher als Avery dachte, denn er blickte auf einen aufgeschlitzten Bauch, aus dem einige Gedärme hervorquollen.

Avery legte sich eine Hand auf den Mund und wich sofort zurück. Er fiel auf seinen Hintern, was Dymar kichern ließ. Wütend sah er diesen an. Er musste sich wirklich zusammenreißen.

Sein Vater war tot und Belfi verschleppt. Avery musste wenigstens seine Schwester retten. Hastig erhob er sich und versuchte, nicht mehr auf die Leiche zu sehen. Er sammelte aus der Küche eilig Lebensmittel zusammen und verließ das Haus. Wenig später auch das Dorf.

Er glaubte nicht, dass hier noch irgendjemand lebte. Sein Herz fühlte sich an, als würden schwere Ketten darum liegen und sich immer enger ziehen. Er hatte seine Heimat und alle, die er kannte, auf einen Schlag verloren. Trotzdem biss er die Zähne zusammen.

Es dauerte nicht sehr lang, bis Dymar neben Avery auftauchte und neben ihm herlief. Dieser schien ziemlich vergnügt zu sein. Von der Seite her beobachtete Avery seine Begleitung. Tief in einen Mantel gehüllt konnte er vom Körper nichts erkennen, nur das feine Gesicht samt der roten Augen.

„Was bist du eigentlich? Ich habe noch niemanden mit so spitzen Ohren und solchen Augen gesehen“, wollte Avery schließlich wissen. Er wurde dreist ignoriert. Avery wäre jedoch nicht Avery, wenn er sich so schnell geschlagen gab.

„Hey. Ich habe dich was gefragt.“

„Sei ruhig. Wenn ich dich Last schon mitschleppen muss, will ich dich zumindest nicht hören. Klar? Wenn nicht, kann ich dich ja gerne doch noch aufschlitzen“, knurrte er ihn missgelaunt an.

Gut. Das hatte gesessen. Also hielt der Rotschopf lieber seinen Mund und lief still neben dem Mann, der sich die Kapuze erneut über den Kopf zog, her. Avery tippte mal darauf, dass er am helllichten Tag nicht erkannt werden wollte.

Dabei war er so nur noch viel auffälliger.

 

(2) Talto detis = dummer Mensch

Kapitel 3

Kapitel drei:

 

Eindeutig. Wenn das so weiter ging, würde Avery Dymar einen Kopf kürzer machen. Es verging kein Tag, an welchem dieser sich nicht über ihn lustig machte oder ihn hetzte. Natürlich wusste der Grünäugige, dass er sich beeilen musste, aber so schnell wie dieser Mann war er einfach nicht und Schlaf benötigte er ebenfalls. Avery wollte ja bei Kräften sein, wenn er seine Schwester wieder fand. Wer wusste schon, vor wem oder was er sie beschützen musste? Vielleicht war sie ja auch verletzt? Er wollte gar nicht daran denken und schob solcherlei Gedanken immer ganz schnell zur Seite. Bloß weit weg.

In solchen Momenten fiel Avery auch wieder ein, dass er eine Waffe benötigte. Aber was für eine? Er besaß kein Geld dafür. Es reichte gerade mal, damit ihm nicht vor Hunger die Glieder versagten und er einfach umkippte.

Eine Woche reisten die beiden sicher schon. Sie kamen an den verschiedensten Dörfern vorbei, durchquerten das Land und folgten einem reißenden Strom. Avery kannte den Namen des sehr breiten Flusses nicht, da sie seine Welt schon lange verlassen hatten. Allein und ohne Hilfe fand er den Weg zurück sicher nicht mehr, aber das spielte keine Rolle. Ohne Belfi konnte man die Siedlung kein Zuhause mehr nennen und alle anderen weilten nicht mehr unter den Lebenden. Die Geschwister waren die Letzten aus ihrem Dorf.

„Können wir eine Pause machen?“

Eine Frage, die Avery in den letzten Tagen so oft wie noch nie gestellt hatte und wie jedes Mal wurde sie mit einem abfälligen Schnauben beantwortet.

„Mensch, Dymar. Wenn du keine Pause benötigst, dann bitte, aber ich kann nicht mehr und Hunger habe ich auch!“, protestierte Avery lautstark und blieb einfach stehen. Sein Blick war auf den schwarzen Umhang gerichtet, in welchem sich Dymar die ganze Zeit einhüllte.

Ein Schritt.

Zwei Schritte.

Drei Schritte und er blieb stehen. Wie jedes Mal in den letzten Tagen.

„Menschen sind so schwach … bis zur Flussüberführung wirst du ja wohl noch durchhalten“, spottete Dymar. Langsam schien sich Avery auch an diesen Spott zu gewöhnen. Zumindest wollte er ihn dafür in Gedanken nicht mehr tausend Mal kreuzigen. Vielleicht nur noch hundert Mal. Aber das nahm ja auch genügend Zeit in Anspruch.

„Eine Flussüberführung? Kannst du uns nicht hinüberbringen?“, fragte Avery dann aber doch und lenkte sich von diesen nicht sehr netten Gedanken ab, Dymar zu steinigen oder den Hals umzudrehen. Dymar sah Avery darauf abschätzend an und irgendwie kannte er die Antwort auch schon.

„Als ob ich jemals einem mickrigen Menschen einen Gefallen tun und ihn dafür berühren würde.“

Zu schön, um wahr zu sein.

Avery wollte aber auch nicht einfach so aufgeben und seufzte tief.

„Und wieso nicht? Ich habe dir schließlich nichts getan und hör gefälligst auf, mich dauernd einen mickrigen Menschen zu nennen. Ich habe einen Namen und der ist Avery!“, murrte Besagter. Sofort bemerkte er, dass dieser Satz an Dymars Verhalten nichts änderte.

„Ich betitle dich, wie es mir gefällt, Mensch, oder versuchst du dich gerade gegen mich aufzulehnen?“, fragte Dymar schnippisch und wandte sich ab, um weiterzugehen.

Avery schüttelte leicht den Kopf und blickte sich um. Der Fluss, der neben ihm dahinglitt, schien am Ufer ruhig zu sein, aber Avery ahnte, dass die Strömung in der Mitte ihn mitriss, sollte er den Versuch wagen, ihn zu überqueren. Bei gut zwanzig Metern Breite war das auch kein Wunder. Averys Blick wanderte nach vorne, wo sich die Ufer des Flusses und somit auch der Pfad immer mehr anhoben. Das reißende Nass formte zwischen den Steinwänden eine Schlucht. Er war sich nicht sicher, ob sich dort vorne einen Übergang befand. Bisher passierten sie keine geeigneten Stelle. Weder Steine zum Hinüberspringen noch eine Brücke, welche sie überqueren konnten.

„Dymar? Bist du dir sicher, dass dort vorne eine Überführung ist?“, hakte Avery deswegen nach, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Dymar schien das ständige Gefrage allerdings ziemlich auf die Nerven zu gehen. Abrupt drehte er sich zu seinem Anhängsel herum und kam die wenigen Schritte zu ihm zurück.

„Du nervst!“ Mit diesen zwei Worten packte er den Kleineren an den Schultern, hob ihn leicht an und warf Avery einfach in den Fluss, direkt in die reißende Stromschnelle.

Avery entwich ein erschrockener Schrei, doch das Wasser zwang ihn dazu, den Mund zu schließen. Er hatte vorher zum Glück noch tief einatmen können. Das Wasser griff sich den jungen Mann und zerrte ihn erbarmungslos in die Tiefe. Nur mit Müh und Not schaffte es Avery, die Wasserdecke zu durchbrechen und nach Luft zu schnappen. Zeit zum Fluchen blieb ihm nicht, da die Fluten ihn weiter mit sich rissen. So dachte Avery nicht weiter nach und versuchte an Land zu kommen.

Ein guter Schwimmer war er ohne Frage. Bisher kannte er aber nur ruhige Gewässer und nicht solch Wilde wie diesen Fluss. Zusätzlich zog seine vollgesogene Kleidung seinen Körper Stück um Stück unter Wasser. Avery gab sein Bestes, während er ab und zu ein sehr lautes und erheitertes Lachen hörte. Darum konnte er sich aber in dem Moment des Kampfes gegen die Fluten nicht kümmern. Er musste hier raus, bevor ihn der Fluss zwischen die Steinwände zerrte. Dort fand er keinen Halt und ertrank mit ziemlicher Sicherheit oder schlug sich den Kopf an irgendwelchen Felsen an. Der Tod erwartete ihn dort mit großer Wahrscheinlichkeit.

Avery schwamm, so gut er konnte, tauchte immer wieder unter und gab gurgelnde Laute von sich. Das eisige Wasser erstickte jedes Wort. Es war vielleicht eine warme Jahreszeit, trotzdem lähmte die Temperatur der Fluten ihn, streckte immer wieder die frostigen Finger nach ihm aus.

Endlich, nach gefühlten Stunden glaubte er, steinigen Boden unter seinen Händen zu spüren. Sofort packte er zu und zog sich näher ans Ufer und schlussendlich an Land. Schwer atmend robbte er noch ein Stück weiter, bis auch die Füße aus dem Wasser waren. So ließ er sich auf den Bauch fallen und krallte die Finger in die weiche Erde.

Nach und nach drang ein Lachen an sein Ohr.

Avery hob etwas den Kopf an und erblickte Dymar neben sich. Diesem war die Kapuze vom Kopf gerutscht, während er sich vor Lachen den Bauch hielt. Averys Blick verdüsterte sich.

„Das findest du wohl witzig, wie?“, fragte er keuchend, auch wenn die Frage angesichts dieser Erheiterung völlig unnötig war.

„Du wolltest hinüber, also habe ich dir geholfen. Bin ich nicht äußerst nett und zuvorkommend?“ Dymar grinste und sah nicht ein, sich zu beruhigen und aufzuhören. Er lachte einfach weiter über den nassen und frierenden Mann.

„Du hättest mich fast umgebracht!“, schrie Avery den Amüsierten an, welchen das aber nicht interessierte. Er hörte zwar auf zu lachen, trotzdem verschwand das belustigte Funkeln in den lodernd roten Augen nicht.

„Armer kleiner Mensch. Was willst du dagegen machen? Mich ausschimpfen? Mich übers Knie legen? Auf dem Acker schuften lassen? Oder doch ohne Essen ins Bett schicken?“, fragte Dymar spottend, während sich Avery hochstemmte und im Schneidersitz sitzen blieb. Er war triefend nass und fühlte sich wie ein Volltrottel.

Ein Narr, dem es an allem fehlte. Sein Geld, welches er aus dem zerstörten Haus mitgenommen hatte, ging zur Neige. Jeder, den er kannte, war tot, seine Schwester fort und er musste diesem dämonischen Mistkerl vertrauen. Er konnte nur hoffen, dass dieser ihn nach Kanturas brachte. Natürlich ohne ihn dabei reinzulegen. Ebenfalls musste er es sich gefallen lassen, wie dieser mit ihm umging. So wurde Avery noch nie von jemandem behandelt, ohne dass er sich wehren konnte, ohne dass für ihn so viel auf dem Spiel stand. Es war sehr frustrierend, aber Aufgeben stand nicht zur Debatte.

„Machen wir dann jetzt eine Pause?“, erkundigte sich Avery deswegen. Er wollte vom Thema ablenken und hoffte schnell zu trocknen.

„Hast du dich gerade nicht genug ausgeruht, als du mit dem Gras kuscheltest?“, fragte Dymar dagegen, was die Wut in Avery hochkochen ließ. Er griff neben sich nach einem Flussstein und warf ihn nach Dymar.

„Du verdammter Dreckskerl. Verschwinde, wenn ich dich schon sehe, kommt mir die Galle hoch. Lachst über den Schaden anderer ... über dich sollte man lachen!“, schrie Avery die Gestalt vor sich an. Dessen Gesicht schien sich mit jedem Wort mehr zu verhärten.

„Wie du wünschst“, waren seine einzigen Worte. Er wandte sich um und sprang einfach an der Felswand, durch welche der Fluss sich hindurchwand, hoch. Von Stein zu Stein und von Felsvorsprung zu Felsvorsprung. Avery blickte ihm mit offenem Mund nach. So etwas hatte er noch nie gesehen. Es bestätigte seinen Gedanken, den er die ganze Zeit schon hegte, dass dieser Mann kein normaler Mensch war. Wenn er denn überhaupt einer war. Augenblicklich machte sich eine zweite Erkenntnis in ihm breit.

„Hey, bleib hier!“, rief Avery und sprang auf die Beine. Er rannte die wenigen Schritte zur Felswand hinüber, aber diese war zu steil.

„Hiergeblieben, Dymar!“, schrie er erneut. Der Mann blieb trotzdem verschwunden und Avery alleine. Wenn er jetzt nicht wieder kam, fand er nie den Weg nach Kanturas. Eines stand fest. Die Pause musste er verschieben und einen Weg dort hinauf entdecken. Er musste Dymar zurückholen.

Da er den Leinenbeutel noch um seine Schultern liegen hatte, konnte er sich auch gleich auf den Weg machen. Er lief an der Wand entlang. Vielleicht gab es ja irgendwo eine Stelle, wo er hochgehen konnte oder eine, die nicht so steil war. Hier am Wasser rutschte er viel zu leicht von den glatten Felsen, um daran hochklettern zu können.

Avery machte zwanzig Schritte, als er plötzlich ein unmenschliches Kreischen vernahm. Er sah abrupt die Felswand hoch und wusste mit trügerischer Sicherheit, dass es Dymar sein musste. Wer oder was würde sonst ein so schauriges und wütendes Geräusch von sich geben?

Avery musste sich beeilen.

 

Kapitel 4

 

Kapitel vier:

 

Keuchend und völlig außer Atem griff Avery zu. Er hatte keinen Weg an der steilen Felswand hinauf gefunden. Nach einigen Schritten kam eine Stelle, die nicht so glatt war und an der er hochklettern konnte. Er war ein paar Mal abgerutscht und hatte blutige Stellen an den Händen, aber jetzt zog er sich das letzte Stück nach oben.

Sein Atem ging flach und hektisch, sodass er einen Moment benötigte, um sich wieder zu beruhigen. Er lauschte seinem Herzschlag und spürte den kalten Schweiß auf seinem von der Sonne getrockneten und erwärmten Leib. Es war ein unangenehmes Gefühl, aber Avery ignorierte es und erhob sich. Er brauchte nicht lange laufen, da fand er etwas auf dem Boden. Es war schwarz und aus irgendeinem Metall. Avery hob es vorsichtig auf und drehte es einmal so, dass er einen Totenschädel mit Hörnern erkennen konnte. Es ähnelte ein wenig dem Kopf von einem Ziegenbock. Avery glaubte, sich auch daran zu erinnern, diese Gürtelschnalle kurzzeitig an Dymars Hüfte gesehen zu haben.

Sein Blick wanderte wieder auf den Boden. Was war hier passiert? Die steinige Erde wies eindeutig Kampfspuren auf. Nicht nur von zwei Personen. Vielleicht sechs oder mehr. Avery spannte sich etwas an. Wenn hier gekämpft wurde, dann waren die Angreifer eventuell noch da. Die Feinde, wenn der Rotschopf richtig kombinierte, die Dymar eingefangen hatten. Dabei kam ihm der Mann so stark vor. Wie er diese Monster bekämpft hatte!

Jeder Muskel war gespannt und die Ohren gespitzt. Er hörte nichts außer dem Wind und dem reißenden Fluss. Hier und da noch einen Vogel, der sein Lied sang.

Erkennen konnte Avery auch nicht viel. Auf der anderen Seite der Schlucht, durch welche der Fluss floss, stand ein Wald in seinem Blickwinkel. Auf seiner Seite, wo ebenfalls Wald wuchs, war das Gestrüpp völlig verwüstet. Eilig lief Avery dort hin und steckte das gefundene Stück Metall in seinen Leinenbeutel.

Eindeutig. Sie mussten hier entlang gelaufen sein.

Die Spuren wurden tiefer, je näher er dem Waldrand kam. Scheinbar hatten die Menschen etwas Schweres getragen. Zwei oder drei von ihnen. Avery schluckte, dann durchbrach er das Gebüsch. Seine Beine fühlten sich schwer vom Klettern an. Ein unangenehmes Ziehen in den Oberschenkeln. Das Gesicht zerkratzt durch die langen dürren Äste, die sich ihm wie Finger entgegenstreckten und versuchten ihn festzuhalten. Immer wieder entriss Avery sich und seine Kleidung den Fängen des dornigen Gestrüpps. Er las die Spuren auf dem Untergrund und an den Ästen, welche die Menschen hinterlassen hatten. Fußspuren, abgeknickte oder angebrochene Zweige. Auf dem Boden plattgedrückte Blätter.

Nach einer Weile vernahm Avery ganz leise eine Art Jubel und Gegröle. Er war seinem Ziel wohl schon sehr nahe gekommen. Kurz blieb er stehen, um sich einen Moment der Pause zu gönnen und seine Beine zu beruhigen. Ebenso seinen Atem, der ihn sonst nur verraten würde. Das flaue Gefühl im Magen wollte nicht weichen. Er wusste, dass er nicht hier an diesem Ort, in diesem Wald sein sollte. Er wusste aber auch, dass er ohne Dymar den richtigen Weg nicht finden konnte.

Langsam schlich er sich näher heran. Die Stimmen wurden lauter. Als Avery sich sicher war, dass der nächste Busch sein Ziel freigeben würde, hockte er sich hinter diesen. Vorsichtig schob er mit einer Hand die Blätter zur Seite. Vor ihm tat sich ein Dorf auf. Die Bäume waren gerodet worden und an deren Stelle standen Holzhütten mit Strohdächern auf der Lichtung. Hier und da huschten Männer, Frauen und Kinder durch die Siedlung.

Sie trugen alle dunkelgrüne Kleidung, als wollten sie sich damit in der Natur tarnen und gänzlich unerkannt bleiben. Selbst den Kopf samt Haaren hatten sie sich mit einem dunkelgrünen Tuch verbunden. Es schien von vorne nach hinten um den Schädel gelegt worden zu sein und dann ein paar Mal um den Hals. Die leicht gebräunte Haut eines jeden von ihnen troff nur so vor Schmutz. Aber Avery sah momentan auch nicht besser aus, auch wenn er vor kurzer Zeit ein unfreiwilliges Bad genossen hatte.

Averys Blick wanderte über die Menschen, die sich alle im Dorfzentrum sammelten. Es wurden immer mehr und das Jubeln immer lauter. Langsam und leise verließ Avery sein Versteck. Er huschte hinter eine der Hütten und schlich sich weiter vor. Immer wieder sah er sich um und versuchte, unentdeckt zu bleiben. Mal verbarg er sich hinter einer Hütte, mal hinter geflochtenen Körben oder aufgeschichteten Heuhaufen.

Schlussendlich blieb er hinter einer Hauswand stehen und lugte vorsichtig darum herum auf den Dorfplatz. In der Mitte war ein Käfig aufgestellt, um den sich Dutzende Männer gescharrt hatten. Sie hielten Pfeil und Bogen in den Händen und zielten auf das in dem Käfig liegende Etwas.

Die Kinder, die hier herumliefen, warfen mit Steinen nach dem Gefangenen und die Frauen riefen irgendetwas wild durcheinander. Avery verstand die Sprache nicht. So widmete er seine Aufmerksamkeit dem, was im Käfig war. Es war eingewickelt in ein Netz, völlig bewegungsunfähig. Das Gesicht abgewandt, zumindest, bis es sich wütend brüllend herumwarf. Die Kinder liefen erschrocken schreiend zu ihren Müttern zurück, ließen es sich aber nicht nehmen, weiter mit Steinen zu werfen.

Avery musste sich selber den Mund zuhalten, um kein verräterisches Geräusch zu machen. Es war Dymar, der dort lag. Er schrie den Dorfbewohnern zornig etwas in ihrer Sprache zu. Scheinbar konnte Dymar eine Menge Sprachen, aber es half ihm nichts. Die Steine der Kinder trafen ihn doppelt so oft und überall.

Avery war etwas verwirrt. Er hatte Dymar für stark gehalten, aber auch dieser hatte wohl seine Grenzen. Wie aber konnte er dem Mann jetzt helfen? Die Dorfbewohner sahen nicht so aus, als ließen sie nett mit sich reden oder Dymar gar wieder gehen.

Ein plötzlicher Arm um seinen Körper und ein scharfes Messer an seinem Hals sorgten dafür, dass er erschrocken aufkeuchte. Hastig griff Avery nach der Waffe, aber der stärker werdende Druck der Klinge belehrte ihn eines besseren. Wie hatte er nur so unvorsichtig sein können? Er bemerkte nicht, wie jemand an ihn herangeschlichen war. Dieser Jemand zwang ihn auf die Füße und hinter der Hüttenwand hervor zum Dorfplatz. Ein fremdartiger Satz wurde laut gesprochen und alle drehten sich zu ihnen um.

Die Dorfbewohner tuschelten untereinander. Wahrscheinlich, wer er war, was er hier wollte oder wie man ihn am besten wieder los wurde. Avery wusste es nicht genau, er sah zu Dymar, der nicht sehr begeistert schien. Seine Augen sagten ihm vieles, aber am deutlichsten war die Bezeichnung “Vollidiot“ herauszulesen. Avery, dessen Herz bis zum Hals schlug, kümmerte sich nicht darum und blickte zu einem hervortretenden Dorfbewohner.

Vielleicht der Anführer?

Er sah auf jeden Fall alt aus und hatte als Hilfe eine junge Frau dabei, auf deren Schulter er sich abstützte. Sie war ungefähr in seinem Alter und sah ihn prüfend an. Avery krallte seine Finger in seine Kleidung. Was würde nun geschehen? Würde man ihn wie Dymar fesseln und in einen Käfig stecken? Der alte Mann stellte ihm eine Frage, die er aber nicht verstand. Scheinbar bemerkten es auch die Dorfbewohner. Die junge Frau an der Seite des Alten fragte wieder und wieder. Immer waren es andere Wörter, bis er sie endlich verstand.

„Wer bist du?“

„Avery. Ich heiße Avery“, antwortete dieser und sie übersetzte es dem alten Mann.

„Was willst du hier und wieso hast du uns beobachtet?“, wollte die junge Frau wissen, während der Mann hinter Avery seinen Griff nicht locker ließ. Ebenso wenig ließ er die Waffe sinken.

„Ich ...“ Was sollte er ihr jetzt erzählen? Avery war noch nie in einer solchen Situation gewesen und auch noch nie mit einem Messer bedroht worden.

„Ich war auf der Suche nach meiner Begleitung“, antwortete Avery ehrlich und ruckelte etwas an dem Arm herum. Dieser zog sich fester um ihn, sodass er lieber wieder stillhielt. Kurz schielte er zu Dymar hinüber. Der Blick blieb nicht unbemerkt, denn auch die junge Frau sah kurz hinüber.

„Du suchst nach ihm?“, fragend deutete sie auf ihren Gefangenen. Avery schluckte einmal, nickte dann. Ob das so eine gute Idee war? Vermutlich nicht, denn schon scharten sich die Dorfbewohner um ihn. Die Bögen wurden auf ihn gerichtet.

„Bist du auch ein Ketas?“, fragte die junge Frau streng und kühl. Verwirrt sah Avery auf, schüttelte aber leicht den Kopf. Nicht dass ihm die Klinge noch die Kehle durchschnitt. Er wusste ja nicht einmal, was Ketas waren. Avery erinnerte sich daran, dass Dymar dieses Wort gebrauchte, als sie sich das erste Mal am Fluss gegenüberstanden.

„Ich habe keine Ahnung, was ein Ketas ist“, fügte er deswegen seinem Kopfschütteln noch hinzu. Das schien die junge Frau zu überraschen. Ihr Gesicht zeigte Verblüffung, ehe sie dem Mann an ihrer Seite alles übersetzte.

Dieser kniff die Augen etwas zusammen und sah zu dem neuen Gast. Seine Augen schienen nicht so gut zu sehen. Averys Herz schlug noch immer in einem schnellen Rhythmus, während seine Hände anfingen, unangenehm feucht zu werden. Der eindeutige Anführer der Dorfleute murmelte seiner jungen Stütze etwas zu. Sie nickte, wenn auch widerwillig und sprach zu den Dorfbewohnern, die ihre Waffen senkten.

Selbst das Messer an seinem Hals verschwand. Dafür bekam Avery einen Stoß in den Rücken, der ihn vorwärts taumeln ließ. Immer wieder und immer weiter, bis zu einer der größten Hütten. Avery wagte es nicht, sich zu beschweren.

Als er die Hütte betrat, musste er sich etwas ducken, um die Perlenketten nicht herunterzureißen, welche dort hingen. Die Tür wurde ihm aufgehalten und hinter ihm geschlossen, als alle drin waren. Avery blickte von der jungen Frau zum alten Mann, bis hin zu seinem Bewacher schräg hinter sich.

„Woher kommst du, Avery?“, fragte die einzig weibliche Anwesende in der Runde, sodass Avery wieder zu ihr sah. Sie schien eine hohe Stellung in ihrem Dorf inne zu haben und ziemlich wichtig zu sein.

„Aus dem Dorf Katra nahe Utalis.“ Ehrlichkeit war eine Tugend. Hauptsache, sie ritt ihn nicht in irgendwelche Schwierigkeiten.

„Das ist aber sehr weit weg von hier“, stellte sie misstrauisch fest, während sie dem alten Mann beim Hinsetzen half.

„Das stimmt. Mein Dorf wurde angegriffen und vernichtet. Dymar versprach mir, die Leute zu finden, die meine Schwester entführten.“

Die Situation erforderte einen kleinen Schwindel. Er wusste ja, dass Belfi weniger entführt, als durch ein Portal geflogen war. Aber wer sollte das schon glauben? Dymar war wie die Monster mitschuldig an dem ganzen Desaster.

„Dymar? Ist das der Dämon dort draußen?“, erkundigte sich die junge Frau, was Avery verwunderte.

„Dämon? Was hat er angestellt, dass man ihm einen solchen Namen zuteilwerden lässt?“, fragte Avery unschuldig nach. Vielleicht fand er ja so mehr über Dymar heraus.

„Es reicht, dass der Dämon sich in unsere Welt wagt ... aber mir scheint, dass du nichts darüber weißt“, stellte sie kühl, aber auch lauernd fest. Avery schluckte. Erzählte sie ihm nichts, wenn er eh keinen Schimmer hatte?

„Ich weiß, dass er außergewöhnlich stark ist, aber auch sehr hoch und weit springen kann“, meinte Avery deswegen und hoffte, dass sie ihm mehr erzählten.

Nachdenklich wurde Avery von der mit Stoffen eingehüllten Frau betrachtet, ehe sie dem alten Mann etwas zuflüsterte, der selber etwas abwesend wirkte. Sie sprach diesen an und bekam nur langsam dessen Aufmerksamkeit. Avery ließ seinen Blick derweil durch die Hütte wandern. Sie war schlicht eingerichtet. An der einen Seite brannte ein Feuer in einem Kamin vor sich hin. Ein länglicher Tisch mit sechs Stühlen, wovon auf einem der alte Mann saß, stand mittig im Raum vor dem Feuer. Kerzen, die schon fast heruntergebrannt und momentan erloschen waren, spendeten als im Raum verteilte Lichtquellen zusätzlich etwas Helligkeit. An den Wänden standen zwei mit hübschen Schnitzereien verzierte Holzkommoden. Avery konnte von hier nur nicht erkennen, was in die Bretter eingeritzt war.

Sein Blick glitt hinunter und zur Wand gegenüber der Kommoden, wo er einen gewebten Teppich erblickte. Auf diesem war eine Art Krieg zu erkennen. Dutzende Gestalten mit Schwertern und teilweise Rüstungen, die aufeinander zustürmten. Was wohl der Grund für diesen Krieg war? Vielleicht der Glaube? Auf einer Art Anhöhe kämpften zwei einzelne Personen. Avery fand nicht die Zeit, sie genauer zu mustern, da die junge Frau das Wort ergriff.

„Willkommen im Jägerdorf Grônz. Mein Name ist Sivir. Bis zur Hinrichtung des Ketas wirst du unser Gast sein.“ Avery wusste nicht, ob er froh sein sollte oder nicht.

„Das geht nicht. Ich habe keine Zeit, um hier zu verweilen!“, protestierte Avery, ehe er grob an der Schulter gepackt wurde.

„Du wirst dir die Zeit nehmen müssen. Wenn deine Schwester von den Ketas entführt wurde, dann wird sie auch nicht mehr unter den Lebenden weilen. Ketas nehmen keine menschlichen Gefangenen“, sprach Sivir kühl und fügte noch mahnend hinzu, „Du darfst dich im Dorf frei bewegen, aber es verlassen oder dem Gefangenen zu nahe kommen, ist dir untersagt. Yels wird dich begleiten.“

Yels, der Mann, welcher hinter Avery stand und diesen an der Schulter grob festhielt, gab ihm einen Stoß, sodass Avery aus der Hütte hinaus taumelte.

 

 

 


--------------
Es ist da :)
Sowohl das Print als auch das EBook zu Sanizra Amai ist rausgekommen.
Mehr Informationen findet ihr auf meinem Blogg
[link href="http://sandra-blacks-world.blogspot.de/"]http://sandra-blacks-world.blogspot.de/[/link]

Impressum

Texte: Alle Copyrights liegen bei mir Sandra Black (kojikoji)
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ein ganz großes Danke an meine liebe Mary fürs Betan. Hab dich lieb :-*

Nächste Seite
Seite 1 /