Meine Mutter hatte mir früher immer viele Märchen erzählt. So auch das Märchen vom Sammler. Es heißt, dass im nahegelegenen Wald, tief, tief drinnen im dichten Buchwerk eine alte Hütte steht. Hinter dieser Hütte, abgegrenzt von einem Zaun, sollte ein Garten liegen. In diesem Garten sollen die unterschiedlichsten Blumen wachsen, in jeder erdenklichen Farbe. Es gab dort violette Gänseblümchen oder schwarze Stiefmütterchen, grüne Rosen oder intensiv gelb leuchtende Lilien. Ich fragte, als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte, wer solch sonderbare Blumen züchtete und pflegte.
Mutter hatte kurz überlegen müssen bevor sie mir antwortete. „Es ist der Sammler. Ein Mann, ganz in schwarz gekleidet, mit verschlossenem Gesicht, mein Kind. Dieser Sammler ist ein Heiler, doch er heilt nicht für umsonst oder andere Gaben die wir ihm geben können. Menschen die zu ihm gehen mit einer Bitte oder einem Wunsch kommen nie wieder. Die, für die ihre Bitte oder ihr Wunsch jedoch war, werden wieder gesunden. Der Sammler hält seinen Teil der Abmachung immer ein, musst du wissen. Was er aber von den Bittstellern fordert ist nicht sehr angenehm. Er verlangt das sie einen Test bestehen. Ein Quiz mit drei Fragen. Niemand hatte es bisher ganz lösen können. Was mit ihnen geschieht, weiß ich jedoch nicht“, lächelte meine Mutter während sie am Stricken eines Pullis für mich war.
Ich war damals noch recht jung gewesen, doch an meinem vierzehnten Geburtstag erkrankte ich. Meine Mutter hatte alles versucht um mein Fieber zu senken, doch es klappte nicht. Also legte sie sich eines Nachts ihren Mantel um und setzte sich zu mir ans Bett. „Mein liebes Kind. Ich werde den Sammler um Hilfe bitten. Werde wieder gesund und lebe fröhlich weiter“, damit hauchte sie mir einen Kuss auf die Stirn, den ich, genau wie ihre Worte, kaum wahrnahm. Auch ihr Verschwinden ging an mir vorüber.
Es dauerte zwei Tage bis es mir urplötzlich wieder besser ging. Das Fieber verschwand innerhalb eines halben Tages. Meine Großmutter preiste es ein Wunder, doch ich wusste es besser. Mutter hatte mir die Geschichte nicht umsonst erzählt gehabt. Sie blieb jedoch verschwunden und kam auch Jahre später nicht wieder. Großmutter war vor Kummer drei Jahre später verstorben.
Ich aber lernte fleißig. Ich hatte mir ein Ziel gesetzt, ich würde zum Sammler gehen und um meine Mutter bitten.
So sollte es an meinem achtzehnten Geburtstag geschehen. Ich war gekleidet in dünne Kleidung und einen tiefschwarzen Mantel. Die Kapuze zog ich mir tief ins Gesicht, sah kurz aus dem Fenster, doch es war schon finstere Nacht. Niemand der sie noch aufhalten könnte, war unterwegs, sodass ich mich aus dem Haus schlich und wenig später in den tiefen Wald eintauchte.
Meine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, sah den Weg, welcher für sie und die anderen Kinder immer verboten gewesen war. Sie erzählten uns immer dort gäbe es menschenfressende Wesen. Leicht schluckte ich, doch hielt nicht inne, ging zielstrebig weiter. Ich wollte meine Mutter befreien, die irgendwo bei dem Sammler sein musste, dort Gefangen gehalten wurde.
Mitten auf dem Weg jedoch musste ich anhalten. Vor mir war ein reißender Fluss den es zu überwinden galt. Bevor ich aber dazu ansetzen konnte, hörte ich ein trauriges Stimmchen. Mein Blick wanderte suchend im Dunklen umher, lauschte dem Klagen. „Ach wie kann ich das Gewässer nur überqueren, wie gerne würde ich fliegen können, um hinüber zu meiner Familie zu gelangen“.
Die Klage berührte mein Herz, sodass ich in die Nacht hinaus fragte „Du klagst so schrecklich. Kann ich dir helfen beim Überqueren des Flusses?“. Es war einen Moment still. „Ein Menschlein, ein Menschlein. Ein Menschlein will mir helfen. Ich nehme dankend an. Sieh zu mir herunter, ich bin direkt vor dir“, ertönte das eben noch klagende Stimmchen, sodass ich runter blickte. Es war eine Ameise, die an meinem recht lädierten Schuh versuchte hochzukommen. Ich bückte mich und nahm sie auf meine Hand, sprang mit ihr über den noch für mich überwindbaren Fluss und ließ sie auf der anderen Seite wieder herunter.
„Ich danke dir Menschlein. Nimm dir zu Herzen, dass man sich für eine Aufgabe manchmal auch ändern muss“, lächelte die Ameise und verschwand im Dickicht. Ich war verwundert über diesen Rat, doch lief ich weiter.
Der Wald wurde langsam etwas lichter, als ich mit einem Mal eine erneut klagende Stimme vernahm „Ach wie schlimm es doch ist. Mein Heim ist zusammen gefallen und nun habe ich keinen Schutz mehr vor dem schrecklichen Regen“.
Ich bemerkte es erst jetzt das ein leichter, kaum wahrnehmbarer Nieselregen eingesetzt hatte, sah mich suchend nach der Stimme um. „Du klagst so schrecklich. Kann ich die dir beim Aufbau deines Heimes helfen?“, fragte ich in die Dunkelheit hinein und kurz war es still. „Ein Menschlein, ein Menschlein. Ein Menschlein will mir helfen. Ich nehme dankend an. Sieh zum Baum rechts neben dir. Ich bin genau auf Augenhöhe“, erklang das gerade noch klagende Stimmchen, sodass ich rechts neben mich sah.
Auf Augenhöhe erblickte ich ein Eichhörnchen, welches vor einem Loch im Baum hockte. Dies war völlig mit Laub, Ästen, Spänen und anderem Unrat voll. Verzweifelt versuchte das Eichhörnchen die Äste dort heraus zu zerren, war aber zu schwach. Also griff ich einfach zu und entfernte den Unrat aus der Behausung des Tieres, bis das dieses freudig in seine Behausung zurück konnte.
„Ich danke dir Menschlein. Nimm dir zu Herzen, dass man bei manchen Probleme auch mal an sich selbst und nicht an andere denken sollte“, damit verschwand das Eichhörnchen in dem Baumloch und ich ging verwundert weiter. Was sollte mir dieser Rat nur sagen? Doch ich konnte mich nicht damit aufhalten und ging weiter. Ich musste den Sammler noch diese Nacht erreichen. Mutter hatte ja erwähnt, dass man die alte Hütte nur Nachts fand, dann, wenn der Vollmond hoch am Himmel stand.
Langsam wurde der Wald wieder etwas dichter, doch plötzlich vernahm er eine erneut klagende Stimme. „Oh nein, oh nein. Mein Ei ist mir aus dem Nest gefallen. Wie kann ich es nur wieder herein holen, bevor der Fuchs es findet?“, klagte das Stimmchen ihr Leid, sodass ich mich suchend umsah, aber nichts fand.
„Du klagst so schrecklich. Kann ich die dir beim Bergen deines Eis helfen?“, fragte ich somit in die Nacht hinein und kurz war alles still. „Ein Menschlein, ein Menschlein. Ein Menschlein will mir helfen. Ich nehme dankend an. Sieh links auf dem Boden zu deinen Füßen. Dort liegt mein Ei. Bring es mir doch bitte zurück, genau darüber ins Nest“, erklang die eben noch klagende Stimme bittend, sodass ich nach links sah und das Ei fand. Es war weich in Moos und Gras gefallen und somit noch heil.
Ich nahm es in meine Hand und sah suchend nach dem Nest hoch. Es war etwas über dem Erdboden, sodass ich am Baum hochklettern musste, das Ei zurück ins Nest legte. „Ich danke dir Menschlein. Nimm dir zu Herzen das man, wenn man nicht weiter weiß, auch mal kurz abschweifen darf. Den Blick zum Himmel richtet und dort nach den Antworten für das Problem oder die Frage sucht“, damit setzte sich der Vogel auf sein Ei und vergrub den Schnabel samt Kopf tief im Gefieder.
Ich aber kletterte wieder herunter und machte mich verwirrt wegen dem Rat wieder auf den Weg. Es dauerte keine zehn Minuten da brach ich durch das Unterholz und sah eine alte Hütte vor mir. Einen Zaun der einen Garten abgrenzte, konnte ich zu beiden Seiten erkennen. Ich ging zu dem Haus heran und klopfte dort an die Tür. Es machte mir aber niemand auf sodass ich es noch mal versuchte.
„Im Garten“, ertönte eine kalte Stimme plötzlich, sodass ich dem Hinweis folgte, ums Haus herum ging und vor dem Zaun des Gartens stehen blieb. Ich staunte nicht schlecht als er die ganzen unterschiedlichen Blumen erblickte. Der Garten war in drei Bereiche unterteilt. In einem Gartenteil waren wunderschöne Blumen gepflanzt. Alle Farben, Formen und Größen waren vertreten. Der zweite Gartenbereich waren ziemlich hässliche Blumen. Manche voller Dornen, andere völlig angefressen oder auch ziemlich hässlich nur. Was mir auffiel war, dass es mehr Blumen im hässlichen als im hübschen Bereich gab.
So viel mein Blick auch auf den dritten Bereich. Dort aber waren alle Blumen tot, völlig verdorrt.
„Was suchst du hier Mädchen?“, erklang eine Stimme aus dem hübschen Gartenbereich wo ich auch einen schwarz gekleideten Mann erblickte. „Sind sie der Sammler?“, fragte ich und sah zu wie sich der Mann die Hände an einem Tuch abputzte.
„Der bin ich. Was willst du von mir?“, fragte der Sammler kühl, blieb aber stehen wo er war. „Meine Mutter kam vor vielen Jahren zu dir um dich um meine Genesung zu bitten. Nun bin ich hier um ihre Freiheit zu erbitten. Ihre und alle anderen die du hier Gefangen hältst“, sprach ich fest und sah in die schwarzen Augen mir gegenüber. „Du hast also den Mut, dich meinen Rätseln zu stellen? Dir ist bewusst, dass, wenn du es nicht schaffst, dich eine Strafe ereilen wird. Bei deinem besonderen Fall werde ich danach, wenn du versagst, die Menschen nicht frei lassen. Willst du es immer noch versuchen?“, fragte der Sammler ernst und ich nickte fest.
Ja das wollte ich machen.
Ich musste es machen.
Für meine liebe Mutter.
„Gut dann komm herein zu mir“, nickte der Sammler und so ging ich durch die kleine Gartentür neben mir hinein, trat zu dem Sammler heran.
„Es werden drei Fragen sein. Solltest du auch nur eine falsch beantworten, hast du verloren und wirst die Strafe tragen müssen“, erklärte der Sammler, sodass ich nur einmal nickte damit er anfangen konnte.
„Nun gut. Frage eins. Wie kommt eine Ameise über den Fluss wenn sie nicht schwimmen kann, keine Brücke oder Steg da ist über den sie klettern kann, keine Hilfsmittel wie Boot, schwimmendes Holz, ein Blatt oder ähnliches und ihr auch niemand helfen kann?“, fragte der Sammler während er einige der Blumen vor sich goss.
Ich war verwundert über die Frage. Was wollte der Sammler da nur genau wissen? So konnte eine Ameise doch niemals über das Wasser gelangen.
Wie sollte ich das nur lösen? Mir kamen mit einem mal die Worte der Ameise wieder in den Sinn ° Nimm dir zu Herzen das man sich für eine Aufgabe manchmal auch ändern muss°. Mann sollte sich also ändern. Aber wie soll sich eine Ameise ändern um ohne irgend etwas über den Fluss zu gelangen?
Ganz plötzlich hatte ich eine Idee.
„Weißt du die Lösung, Mädchen?“, fragte der Sammler welcher eine weiße Lilie in der Hand hatte, ich nickte.
„Die Ameise schmeißt das A aus ihrem Namen einfach weg und verwandelt sich in eine Meise. Dadurch kann sie über den Fluss fliegen“, lächelte ich. Ja für einiges musste man sich nun mal ändern.
Der Sammler jedoch schien nicht sehr beeindruckt und kam gleich zur nächsten Frage.
„Frage zwei. Am Morgen ist es vierfüßig, am Mittag zweifüßig und am Abend ist es dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße seine Kraft und Schnelligkeit“, lautete die zweite Frage, welche mir schwerer als die erste vor kam.
Meine Gedanken wanderten zu dem was mir das Eichhörnchen mit auf den Weg gegeben hatte °Nimm dir zu Herzen, dass man bei manchen Problemen auch mal an sich selbst und nicht an andere denken sollte°. Ich sollte also an mich selbst denken. Wie half ich mir selber dabei die Lösung zu erkennen.
„Weißt du die Lösung, Mädchen?“, fragte mich der Sammler nach einer Weile erneut und ich nickte etwas zaghaft. Ich war mir nicht ganz sicher ob dieser Gedanke wirklich die Lösung sein konnte. „Es ist der Mensch. Am Morgens seines Lebens, solange er ein Kind ist, auf zwei Füßen und zwei Händen kriecht. Ist er stark geworden, geht er am Mittag seines Lebens auf zwei Füßen, am Lebensabend, als Greis, bedarf er der Stütze und nimmt den Stab als dritten Fuß zu Hilfe. So verändert sich durch die Anzahl der Füße auch die Geschwindigkeit“, sprach ich meinen Gedanken laut aus und sah wie der Sammler das Gesicht wütend verzog.
Ich lag also richtig.
„Die dritte und letzte Frage. Wer sind die beiden Schwestern, die sich stets gegenseitig erzeugen?“, fragte der Sammler und deutlich konnte ich dessen Wut heraus hören. Scheinbar war bisher noch niemand so weit gekommen. Doch die letzte Frage brachte mich völlig aus dem Konzept.
Wie können sich Schwestern bitte selber gegenseitig erzeugen? Das ging doch eigentlich gar nicht. In dem Moment fielen mir die Worte des Vogels °Nimm dir zu Herzen,dass, wenn man nicht weiter weiß, auch mal kurz abschweifen darf. Denn Blick zum Himmel richtet und dort nach den Antworten für das Problem oder die Frage sucht° Ich sollte mir also etwas Zeit lassen und die Gedanken, ebenso den Blick, schweifen lassen.
Ich legte den Kopf in den Nacken, sah nachdenklich über den nächtlichen Himmel, voller Sterne, der Vollmond hellstrahlend. Ihre Gedanken schweiften völlig ab.
„Weißt du die Lösung, Mädchen?“, fragte der Sammler erneut, doch ich wand meinen Blick nicht ab, blieb am Mond hängen und erinnerte mich daran was Großmutter mir einmal erzählt hatte.
„Antworte mir jetzt oder oder du hast verloren“, forderte der Sammler sie auf, hatte die weiße Lilie zu den anderen Blumen in die Erde gepflanzt.
„Die Antwort lautet Tag und Nacht. Meine Großmutter erzählte mir einmal, dass in einer anderen Kultur, weit weg von hier, die beiden als weibliche Gestalten personifiziert wurden“, antwortete ich etwas unsicher und sah die Wut im Gesicht des Sammlers zunehmen. Es war also richtig.
„Ich habe alle drei Rätsel gelöst. Nun lass deine Gefangenen frei“, forderte ich ihn auf und sah deutlich wie sich der Sammler zusammen riss. „Ich halte immer mein Wort“, damit machte er eine weit ausschweifende Geste über seinen Garten. Die ganzen Blumen glühten Hell auf, fingen an sich zu formen. Formten sich immer menschlicher. Also wurde jedem als Strafe eine Blumengestalt aufgelegt.
„Menschen mit reinem Herz, wirklich wunderschöne Blumen“, grollte der Sammler und deutete auf den schönen Teil des Gartens. „Menschen voller Selbstsucht oder Hass im Herzen, wirklich hässliche Blumen“, damit deutete er auf den hässlichen Teil des Gartens. „Menschen die ihre Lebensjahre abgelebt haben und verstarben, wirklich traurig anzusehende Blumen“, seufzte der Sammler und deutete auf den Teil des Gartens wo keine Menschen aus den Blumen kamen.
„Wo sind diese Menschen?“, fragte ich deswegen verwundert. „Sie sind verstorben und werden nie wieder zu Menschen. Sie sind in den Himmel eingewandert“, antwortete mir der Sammler. als ich auch schon meinen Namen rufen hörte. Ich drehte mich um und erblickte meine Mutter, geformt aus der weißen Lilie, welche der Sammler eben noch gepflanzt hatte.
„Mutter. Oh wie freue ich mich“, lachte ich erfreut auf. „Lass uns Heim gehen, mein Kind“, lächelte meine Mutter und zusammen machten wir uns auf den Rückweg. Die ganzen anderen Menschen machten sich ebenfalls auf den Heimweg. Der Sammler blieb jedoch zurück, doch es würde nicht sein Ende sein. Er würde einen neuen Blumengarten eröffnen. Es würden immer neue Menschen zu ihm kommen.
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2011
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