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Hey, Fremder

Sein Atem bildete kleine Tröpfchenwolken, die sich im Nirgendwo verflüchtigten. Obwohl es relativ kalt war, trug Kyle nicht mehr als eine bequeme Hose und einen Pullover.

Er hatte, wie so oft in den letzten Wochen, nicht schlafen können. Also hatte er sich etwas übergezogen und war mitten in der Nacht hierher gekommen, in den Central Park, zu derselben Bank, die bereits in den letzten Nächten seine Einsamkeit lindern sollte. Er hatte gehofft, die frische Luft würde ihm helfen, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

Wie hatte es nur soweit kommen können?

Wieso hatte er das Risiko nicht gesehen und die Notbremse gezogen?

Mit einem "Hey, Fremder" hatte es an einem Freitag vor drei Wochen völlig harmlos angefangen. Und wo war er jetzt?

Ein Seufzer entwich ihm und bildete erneut eine kleine, transparente Wolke, die seine Hoffnung mit sich fort in die Dunkelheit zu tragen schien.

Aber er war doch selbst Schuld. Er hatte sich zu weit vorgewagt und bekommen, wovor alle ihn gewarnt hatten: Eine eiskalte Abfuhr.

Doch dass es ihn so verletzen würde, hatte er nicht gedacht.

Ein leichter Nieselregen setzte ein und Kyle fröstelte.

 

***

 

"Hey, Fremder", meinte eine ihm nur allzu bekannte Stimme direkt hinter ihm und eine Hand legte sich auf seine Schulter. Es war Jason, sein Kollege vom Morddezernat. Sie arbeiteten jetzt seit einigen Jahren immer mal wieder gemeinsam an Fällen und nur zu oft trafen sie sich abends in ihrer Stamm-Bar.

Erschöpft ließ sich Jason neben ihn auf einen Barthocker fallen und gab dem Barkeeper zu verstehen, dass er ein Bier brauchte. Mit einem grüßenden Nicken schob dieser ihm von der anderen Seite der Theke eine Flasche zu. Die Bar war zu voll heute Abend, um über die Menge hinweg zu schreien.

"Na, Fremder", erwiderte Kyle schließlich ebenso müde und prostete ihm mit seinem eigenen Bier zu.

"Harter Tag, was?", murmelte Jason und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen. Er ließ seinen Blick über die Leute wandern und versuchte, sich vorzustellen, weshalb sie wohl alle hier waren.

"Mmh." Kyle stimmte ihm zu. Er hasste Tage, wie diesen. Einen doppelten Kindermord hatte es gegeben. Ein siebenjähriges Mädchen und ihr elfjähriger Bruder. Es war grausam gewesen.

Sowohl Kyle wie auch Jason hatten schon viele entstellte Leichen gesehen, aber der Anblick von unschuldigen Kinderkörpern ging ihnen noch immer nahe. Es deutete alles auf den Vater der Kinder hin, dessen Ehefrau vor ein paar Monaten Selbstmord in der Nervenheilanstalt begangen hatte. Man hatte ihn in Untersuchungshaft gebracht, wo er wenig später die Tat gestand. An sich war der Fall einfach gewesen. Und dennoch... Manchmal war er sich nicht mehr so sicher, warum er damals Cop hatte werden wollen.

"Ich kann in Nächten nach solchen Fällen nicht schlafen", gestand Kyle leise.

Jason sah ihn nicht an. "Ich auch nicht."

Wie so oft hatte der Fall auch ihn nicht kalt gelassen. Um sich abzulenken, nahm er einen großen Schluck von seinem Bier und führte sein Spiel fort, die Leute zu beobachten.

Sie sagten Beide nichts und doch hatten sie nicht das Gefühl, sich anzuschweigen, sondern miteinander die Stille zu genießen.

Nach einer Weile, als Jason sein Bier geleert hatte, stand er langsam auf und ging um den Tresen herum. Er nahm sich ein Glas und schenkte sich einen doppelten Bourbon ein. Kyle war nicht einmal überrascht.

"Wenn ich nicht schon zwei gehabt hätte, würde ich auch noch einen nehmen", meinte er mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme.

Jason zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Besser als jedes Schlafmittel."

In einem einzigen Zug hatte er das Glas geleert und schenkte sich gleich noch einmal ein. Mit dem eisklar schimmernden Getränk kehrte er an seinen eigentlichen Platz zurück. Das zweite Glas war ebenso schnell leer wie das erste.

"An Tagen wie diesen wünscht man sich, man wäre glücklich verheiratet." Er lachte kurz auf. Dann sah er Kyle direkt in die Augen. "Dann könnte man zu jemandem nach Hause kommen, der einen in den Arm nimmt und einen die schrecklichen Bilder des Tages für ein paar Stunden vergessen lässt."

Kyle versuchte, in seinen Augen zu lesen, die plötzlich undurchdringbar dunkel waren. Jasons Finger waren wie von selbst zu seiner Hand gewandert und strichen langsam über seinen Handrücken. War das eine Aufforderung? Kyle wusste, dass er sein Glück nicht herausfordern sollte. Doch der Alkohol ließ seine Vernunft in den Hintergrund treten und die Anspannung des Tages dominierte sein Handeln.

"Komm, ich bring dich nach Hause", meinte er ruhig und legte einen Arm um seine Schulter. Jason ließ sich von seinem Barhocker herunter ziehen und gemeinsam verließen sie die Bar.

 

Die Straßen waren leer. Es war windstill und die Ruhe hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Schweigend liefen sie den Bürgersteig entlang. Er hatte immer noch den Arm um seine Schulter gelegt.

Vor ihrer Haustür blieben sie stehen.

Jason suchte nach seinem Schlüssel.

"Kommst du noch mit rauf?", meinte er beiläufig.

Kyle zögerte. Sie waren beide leicht angetrunken. In nüchternem Zustand wäre Jason nie so... direkt. Und Kyle hätte das Angebot nie angenommen. Doch sie hatten beide einen harten Tag gehabt, sehnten sich nach etwas Nähe. Was war denn so falsch daran?

Kyle nickte.

Jason schloss auf und sie gingen die Treppen hoch zu seiner Wohnung. Ihre Arme berührten sich immer wieder, wie zufällig, und Kyle war wie elektrisiert.

Als Jason die Tür zu seiner Wohnung geöffnet hatte, blieb Kyle zögernd stehen. Ein letzter Versuch seines Verstandes, ihn zum Umzukehren zu bewegen, hielt ihn zurück.

"Jason, vielleicht ist es doch keine so gute Idee..."

Doch Jason ließ ihn nicht ausreden. Er hatte sanft die Lippen auf seine gepresst. Eine Welle der Wärme, die die Anspannung aus seinen Gliedern vertrieb und mit ihr die düsteren Gedanken, durchzog Kyles Körper. Sein Verstand gab auf.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen lächelte Jason ihn an und zog ihn mit sich. In sein Schlafzimmer - und für eine Nacht in sein Leben.

 

Als Kyle am nächsten Morgen aufwachte, war das Bett neben ihm leer und kalt. Die Erinnerung an die letzte Nacht überfiel ihn und zog eine Woge der Reue nach sich. Er wusste nicht warum, aber ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit.

Mit zerzaustem Haar und noch schlaftrunken setzte er sich auf. Es war erst halb acht. Wo mochte er so zeitig hin sein?

Ein Zettel auf dem Kopfkissen ließ das Gefühl in seinem Magen wachsen.

 

Schließ bitte ab, wenn du gehst, und wirf den Schlüssel in den Briefkasten. Jason

 

Ein kleiner, bronzener Schlüssel lag auf dem Zettel.

Kyle fühlte sich verletzt. Er hätte sich am Liebsten dafür geohrfeigt, dass er seinen wirren Gefühlen und Jasons Angebot gefolgt war. Aber er war auch nur ein Mensch, und genau wie Jason hatte der letzte Tag ihn schwach gemacht. Empfänglich für jede Andeutung von Zärtlichkeit und Nähe.

Seufzend sammelte er seine Kleidungsstücke vom Boden auf, zog sich an und verließ die Wohnung.

 

Kyle hatte ihn danach für zwei Wochen nicht gesehen. Jason war weder auf Arbeit erschienen, noch ging er ans Telefon oder öffnete die Tür. Zuerst glaubte er, Jason wäre verreist. Irgendwohin, um sich seiner Gefühle klar zu werden oder für immer zu verschwinden. Doch als er in einer schlaflosen Nacht an seiner Wohnung vorbei kam, sah er, dass bei ihm Licht brannte. Also versteckte er sich vor ihm und der Welt.

Ein paar Tage später, als er nicht damit gerechnet hatte, lief er ihm auf Arbeit über den Weg.

Ihre Blicke trafen sich. Jason sah für einen kurzen Moment erschrocken aus. Dann drehte er sich um und ging in Richtung seines Büros.

"Jason, warte", rief Kyle ihm hinterher. "Bitte."

Jason lief noch ein paar Schritte weiter und Kyle folgte ihm. Dann drehte Jason sich zu ihm um.

"Hör zu", meinte er leise, aber bestimmt. "Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht, und es tut mir Leid. Bitte vergiss einfach, was passiert ist, okay?"

Und ohne Kyles Reaktion abzuwarten war Jason in seinem Büro verschwunden und hatte ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.

 

***

 

Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Kyle akzeptierte Jasons Wunsch. Er würde so tun, als sei diese Nacht nie passiert. Doch er konnte ihm nicht in die Augen sehen. Er war zu verletzt. Er bezeichnete ihre gemeinsame Nacht als schrecklichen Fehler. War er ihm wirklich so egal?

Sicher, sie hatten beide überstürzt gehandelt, ihren Durst nach Nähe gestillt, ohne sich über den nächsten Tag Gedanken zu machen. Doch wieso konnten sie nicht einfach darüber reden? Wieso musste er ihn gleich so verletzen und als Fehler bezeichnen?

Kyle schloss für einen Moment die Augen und genoss die Stille der Nacht. Der Wind fuhr sanft durch die Bäume.

Gerade heute hätte er ihn gebraucht. Als Freund. Um nach einem anstrengenden Tag über den Fall zu reden, oder einen Trinken zu gehen. Ohne dabei im Bett zu landen. Aber er war nicht da gewesen, weder um den Fall mit ihm zu klären, noch um ihm zu helfen die Bilder in seinem Kopf zu vergessen.

Als eine warme Windböe aufkam, glaubte er für einen Moment, den typisch Duft seines Shampoos wahrnehmen zu können.

"Hey, Fremder."

Kyle öffnete überrascht die Augen. Er hatte ihn nicht kommen hören. Doch da stand er tatsächlich, nur wenige Schritte entfernt. Jason sah verunsichert aus und Kyle wusste nicht, wie er reagieren sollte.

"Na, Fremder", meinte er schließlich leise.

Jason lächelte matt und überbrückte die paar Schritte zwischen ihnen. Zögernd ließ er sich neben ihn auf die Bank sinken.

"Harter Tag, was?" Er sah ihn nicht an.

"Mmh", murmelte Kyle. Er betrachtete ihn von der Seite. Jason sah müde und überarbeitet aus.

Eine Weile schwiegen sie beide.

Dann seufzte Jason leise.

"Es tut mir Leid", flüsterte er schließlich.

Kyle nickte. "Mir auch."

Jason sah ihn überrascht an. "Was?"

"Dass ich so naiv war, zu glauben, ich könnte gut genug für dich sein." Er klang verletzt.

Jason biss sich auf die Zunge. Er wusste, dass es nichts gab, das er tun konnte, um seine Worte rückgängig zu machen.

"Ich wollte dir nicht weh tun", versuchte er es trotzdem.

Kyle schien über seine Worte nachzudenken. "Denkst du immer noch, dass es ein schrecklicher Fehler war?"

Jason schüttelte seinen Kopf. "Ich wünschte, du würdest mich besser kennen."

Kyle lachte verbittert auf. "Das ist ziemlich schwer, wenn du jeden Versuch dir näher zu kommen, abblockst."

"Ich weiß", flüsterte er. "Ich hatte Angst, du würdest mich für billig halten."

Jetzt sah Kyle ihn überrascht an. "Billig? Weil du mit mir schläfst?"

"Weil ich dich benutzt habe, um meine Einsamkeit zu verdrängen. So, wie ich es sonst an solchen Tagen mit jedem beliebigen Kerl tu, der einfach zu haben und später wieder wegzuschicken ist... Weil ich Angst vor festen Bindungen habe." Er hatte seinen Blick in die Ferne gerichtet.

Jasons Worte krampften sich wie eine kalte Hand um Kyles Herz. Doch er sagte nichts. Sie hatten sich nie für eine Beziehung entschieden, also ging Jasons Liebesleben ihn nichts an.

Jason sprach weiter. "Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich dich benutzt habe, ohne an deine Gefühle zu denken. Es tut mir Leid. Ich wollte nicht, dass es mal so zwischen uns passiert."

Und plötzlich fühlte Kyle sich erleichtert. Von diesem Standpunkt aus hatte er die Sache noch nicht betrachtet. Er hatte geglaubt, Jason würde ihre gemeinsame Nacht als Fehler bezeichnen. Doch er bereute nicht, dass es passiert war, sondern wie.

"Dazu gehören immer noch zwei", meinte er.

Erst jetzt sah Jason ihn an. Er war noch nie so offen zu jemandem gewesen, und er hatte Angst, Kyle würde ihn nach allem, was passiert war, abweisen. Und trotzdem sagte Kyles Blick ihm, dass er ihn verstanden hatte.

"Weißt du..." Kyle lächelte ihn sanft an. "Ich würde dich wirklich gerne besser kennen."

Jason erwiderte sein Lächeln. "Und ich würde dir gern die Chance dazu geben."

Und plötzlich war alles zwischen ihnen gesagt.

"Komm, ich bring dich nach Hause", meinte Kyle ruhig und legte einen Arm um Jasons Schulter.

 

Die Straßen waren leer. Es war windstill und die Ruhe hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Schweigend liefen sie den Bürgersteig entlang. Er hatte immer noch den Arm um seine Schulter gelegt.

 

~ Ende ~

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.04.2016

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