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Fingerspitzen

Dieses Zittern. Manchmal ist es unerträglich. An manchen Tagen ist es wie ein Schatten, der mich begleitet, unbemerkt und weich. Aber dann gibt es Tage, an denen es mich zurück treibt in mein altes Leben, mich immer und immer wieder daran erinnert, wer ich war.

Ich bin noch nicht soweit.

Die Ärzte sagten, ich könne nichts dafür. Schlechtes Elternhaus. Vernachlässigt. War ja klar, dass es so kommen musste. Ich weiß, dass sie es sich nur leicht machen. Als ich die erste Pille nahm, war ich zwölf. Meine erste richtige Party, gefälschter Ausweis. Jede Menge bunte Drinks, laute Musik, die sich hinter den Augen einnistet. Und irgendwann eine Hand, die dir etwas in deine eigene drückt. Kalt, weiß, klein.

Mit zwölf sei man zu jung, um die Situation einzuschätzen, sagten die Ärzte. Vielleicht. Ich weiß, dass ich es damals wollte. Ich wollte endlich etwas erleben. Ich wollte auch so etwas Großes, Verrücktes tun, wie meine Eltern. Wollte auch so laut sein, so schnell, so bunt. So aggressiv, so desinteressiert. Also schluckt man, was man in der Hand hält.

Und irgendwie geht es dann so weiter. Aus der einen Hand werden viele, und die Fingerspitzen zerkratzen dich wie rohes Holz. Du gehörst plötzlich jedem, und jeder fühlt sich schmerzhaft gut an. Du vergisst, warum du angefangen hast. Du vergisst, dass es auch etwas anderes gibt, als dieses kalte, klare Gefühl alles zu wissen und nichts wissen zu müssen. Das Spiegelkabinett in deinem Kopf zeigt dir tausend Gesichter. Es sind deine Eigenen. Und du zitterst, wenn du sie siehst, diese Fratzen, die dich verhöhnen.

Die Ärzte sagten, ein paar Minuten später und sie hätten mich verloren. Damals war ich vierzehn. Die erste Nacht ist hart. Du glaubst, dass alle dich hassen und dich deshalb so quälen. Doch in Wahrheit bist du ihnen egal. Sie sperren dich ein, weil der Staat es so will. Sie hassen dich nicht, sie wollen nur nicht, dass du des Landes guten Ruf in den Dreck ziehst.

Sie duschen dich, heiß und kalt, und schon ist der Dreck nicht mehr zu sehen.

Nach der ersten Nacht folgen die ersten Tage. Mit jedem zerreißenden Tag ein Schritt auf Kohlen, und am Ende die Entscheidung: Zurück in die leichte Wärme der Hölle, oder nach vorne Blicken und sich durch den Eissturm kämpfen?

Die Ärzte sagten, ich wäre zu schwach und vergiftet gewesen, um es zu behalten. Also habe ich das Baby verloren, das ich wohl von irgendeinem graugesichtigen Mann im Anzug in mir trug. Mir war plötzlich kalt. Und dann war da eine Hand, die eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Die Fingerspitzen hinterließen angenehme Brandspuren auf meiner Haut und ich sog die Wärme in mir auf.

„Das hast du nicht verdient“, meinte er leise, der Zivi. Und ich glaubte ihm. Der Sturm wurde schwächer. Das Feuer dichter. Ich beschloss, meinen Weg im Schnee zu suchen.

Nach der Entscheidung kommen die ersten Wochen, Monate... Jahre. Psychologen, Therapeuten, Sozialhelfer, Ärzte. Man fühlt sich wie ein Kreisel zwischen lauter Menschen, auf die niemand mit dem Finger zeigt. Nur der Betreuer mit den Fingerspitzen war real. Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich, dass es auch Freundschaft gibt, in der nichts gefordert wird. Dass es Menschen gibt, die einfach helfen wollen. Und dann kommt der Tag, an dem man entlassen wird.

Ich bin noch nicht soweit.

Ich sitze, in ein weiches Sweatshirt eingehüllt, auf dem Sofa meiner ersten eigenen Wohnung. Draußen ist es dunkel und dicke, weiche Schneeflocken schweben am Fenster vorbei. Ich habe die Arme um mich geschlungen und spüre meine Hände auf den Oberarmen, fremd, als ob sie nicht zu mir gehörten. Warum bin ich hier? Wo bleiben all die bunten, bezaubernden Traumschleier, die einem als Kind versprochen werden? Die Welt ist grau und einsam. Und ich mit ihr. Ich habe keinen Alltag, kein eigenes Leben. Die letzten Jahre waren durchzogen von Behandlungsterminen, Sprechstunden und einer stetig pendelnden Standuhr. Und jetzt habe ich meinen Stundenplan mit einer Unterschrift auf den Entlassungspapieren weggewischt.

Die Ärzte sagten, ich würde es jetzt schaffen. Volljährig.

Ich?

Ich bin noch nicht soweit.

Ohne nachzudenken und von Zweifeln umgeben greife ich zum Telefonhörer. Das Freizeichen ist mahnend schrill.

„Ja?“ Eine Stimme, eben und im Gleichgewicht.

„Kannst du vorbeikommen?“ Dieses Zittern. Selbst von meiner Stimme ergreift es Besitz. Groß und drohend, wie eine Welle die mich mit sich in die Tiefe ziehen will. Die Ärzte sagten, es habe mentale Ursachen und würde schon irgendwann vergehen.

„Ich bin in zwei Minuten da.“ Das leise Signal des Auflegens hinterlässt ein Echo der Beruhigung.

Eine Minute verstreicht. Es ist still hier drin. Ich lehne mich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür. Die Haken des kleinen Brettchens, an dem mein karger Schlüsselbund hängt, bohren sich in meinen Rücken. Mit ihnen der Gedanke, dass ich schwach bin.

Ich höre es leise klopfen und atme tief durch. Nichts übereilen, bis fünf zählen. Ich will nicht schwach sein. Dann öffne ich. Und da steht er, mustert mich, sieht mir jeden Versuch, Stärke vorzutäuschen, an. Und die Angst, verhöhnt zu werden für meine Schwäche. Vielleicht werde ich es nie schaffen, mich in die fröhlich nette Welt einzugliedern. Die Hölle die ich damals betrat, ist noch immer da draußen. Und ich so nah dran, mit jedem Schritt durch die Eiswüste des Lebens.

Plötzlich spüre ich, wie er mich zu sich heranzieht und mich in die Arme nimmt. Einfach so. Wärme strömt durch jede Faser meiner Haut und die verkrampfte Seele entspannt sich. Ein wenig. Es tut gut, nicht stark sein zu müssen. Das Gefühl des Verlustes, als er sich wieder zurückzieht, ist beißend kalt.

„Danke“, murmele ich.

Ein Lächeln ist die Antwort.

Ich biete etwas zu trinken an. Kopfschütteln. Doch ich brauche einen Tee, nur, um nicht so leer dazustehen. Es dauert, bis das Wasser kocht, und er sieht mir einfach schweigend dabei zu, wie ich eine Tasse aus dem Regal hole. Das Wasser ist heiß und der Dampf brennt mir kurz in den Augen. Ich nehme meinen Tee und gehe zurück ins Wohnzimmer. Die Beine unter mir angewinkelt, sinke ich wieder auf meinen Platz auf der Couch.

„Es ist nicht leicht, plötzlich allein zu sein“, meint er schließlich. Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Mmh.“

„Besonders, wenn es draußen kalt ist.“ Er lächelt.

Ich nippe an meiner Tasse. Komme mir so durchschaubar und hilflos vor. Ich möchte reden, doch es ist nicht leicht. Sobald sich die Gedanken in meinem Kopf zu Worten umsortiert haben, strömen neue Gedanken nach und bringen alles durcheinander.

„Weißt du“, will ich anfangen, doch da bricht die Welle über mir zusammen. Dieses Zittern. Meine Hände sind mir so fremd, die Finger nicht mehr meine. Mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Teppich entgleitet mir die Tasse. Sie ist nicht zerbrochen, doch der Tee sickert in die Fasern ein und hinterlässt einen dunklen Fleck.

„Hey...“, meint er leise, fast schon flüsternd und greift nach meinen Händen. Das Zittern lässt nach. Ich sehe auf und unsere Blicke treffen sich. Es tut weh.

„Wenn du möchtest“, sagt er leise, „kann ich hier bleiben und wir reden die ganze Nacht. Oder wir schweigen die ganze Nacht, das ist nicht wichtig. Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen, weil du unsicher bist. Aber du schaffst das. Du hast es bis hierher geschafft.“

In meinem Blick liegen Zweifel.

„Komm.“ Er steht auf und zieht mich hoch, hinter sich her zum Fenster. Mit einem nachdrücklichen Ruck öffnet er es. Schnee wirbelt herein. Ich fröstele.

Er nimmt meine Hand und streckt sie aus, sodass sich Schneeflocken darauf absetzen und schmelzen. Es hat etwas Ruhiges, Besänftigendes an sich. Und als ich die Hand zurückziehe, legt er sie mir ins Gesicht. Ganz zart berühren meine Fingerspitzen meine Wange. Und entgegen meiner Erwartungen sind sie nicht kalt geworden, sondern fühlen sich warm an. Und dann muss ich lächeln. Ich habe verstanden.

 

~ Ende ~

 

 

 

Nachtrag vom Autor:
Ich habe diese Kurzgeschichte geschrieben, da war ich 16. Nein, ich habe keine Drogen genommen, aber mich aus verschiedenen Gründen viel mit dem Thema beschäftigt. Jetzt bin ich 28 und wollte die Story ausbuddeln und überarbeiten. Beim Überarbeiten fiel mir dann aber auf, dass es die Geschichte kaputt machen würde. Ein einziges Wort habe ich ausgetauscht, zwei Kommas entfernt. Das war mein Schreibstil damals und so soll die Geschichte bleiben. Warum ich so Vieles offen gelassen habe? Um nicht zu viel vorzuschreiben. Es geht um das Mädchen und ihren kampf, ihre Gefühle. Wer der junge Mann ist, spielt dabei keine Rolle. Offensichtlich ist er ihr ein Anker, und das ist alles, was zählt :)

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.03.2016

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