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Jemand wie du

Es ist seltsam, wie der Verstand eine Weile braucht, um wieder zu funktionieren, wenn er aus dem Tiefschlaf heraus beansprucht wird. Mit einem mürrischen Schnauben tastete Eveline nach ihrem Wecker und schaltete ihn aus. Es war sechs Uhr früh und sie verspürte nicht die geringste Lust, ihr warmes Bett gegen das kühle Badezimmer einzutauschen. Noch dazu war es Sonntag.

Nachdem sie einen Augenblick lang überlegt hatte, ob sie einfach weiterschlafen sollte, zog Eveline langsam ihren anderen Arm unter der Decke hervor und strich sich die hellbraunen Haare aus dem Gesicht, welche jede Nacht die Form eines wirren Knäuels annahmen. Noch immer zögernd befreite sie sich schließlich aus dem Meer von Decken und Laken und tapste mit zerknautschtem Gesicht ins Badezimmer. Als ihr Blick in den Spiegel fiel, fröstelte sie kurz. Sie fühlte sich so fremd. Um den kurzen Anflug von Kälte zu überbrücken, drehte sie das heiße Wasser auf und ließ es über ihre Hände laufen. Es fühlte sich schmerzhaft gut an. Vielleicht würde sie wirklich vergessen können.

 

 ***

 

Die Eier brutzelten leise vor sich hin. Eveline wandte ihren Blick zum Fenster. Draußen wurde es langsam Frühling. Die ersten Narzissen stecken frech ihre Köpfe aus der Erde und die Forsythie blühte bereits seit einigen Tagen.

Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen ließ Eveline ihre Eier auf den Teller gleiten. Sie griff nach dem Besteck, das sie bereits gestern aus einem der Kartons gekramt hatte, die sich überall in ihrem neuen Haus stapelten. Vereinzelte Sonnenstrahlen umspielten den blanken Holztisch, auf den sie ihren Teller stellte. Eveline nahm sich die Senfflasche und schüttelte sie kräftig. Dann zog sie eine leuchtend gelbe Linie über ihre Spiegeleier. Das hatte sie als Kind auch immer getan. Grinsende Gesichter aus Eiern und Senf gezaubert.

Das Signal der Mikrowelle ließ sie kurz aufschrecken. Ihre Pancakes waren fertig. Eveline stand auf und stapelte sie übereinander auf einen weiteren Teller. Sie hatte einfach alles. Eier, Pancakes, Pflaumensirup, Sahne… Nur er fehlte an diesem Tisch.

Sie hasste sich dafür, dass sie ständig an ihn denken musste. Sie hatte den Schlussstrich ziehen wollen. Sie war ausgezogen. Doch nach dieser ersten einsamen Nacht in einem warmen, gemütlichen Haus fühlte sie sich klein und unbedeutend. So hatte sie es immer haben wollen. Raus aus der Großstadt, ein neues Leben beginnen. Und obwohl sie wusste, dass sie ohne ihn besser dran war, fehlte er, um dieses Haus auszufüllen.

Nachdem sie das Geschirr ordentlich in die neue Spülmaschine eingeräumt hatte, begann sie, einige der Kisten auszupacken. Im Bad fielen ihr ein paar Spritzer auf, die sie beim Zähneputzen auf dem Spiegel zurückgelassen hatte. Eveline griff nach einem Tuch und wischte sie fort. Henry hatte sich nie darum gekümmert. Er hatte seine Handtücher auch einfach auf den Fußboden geworfen, sodass sie nicht trocknen konnten und beim nächsten Mal ganz klamm waren. Er hatte die Zahnpasta von der Mitte her ausgedrückt, und nach dem Kämmen die Bürste einfach in der Wohnung herumliegen lassen.

Vorsichtig brachte Eveline zwei Haken an der gefliesten Wand an und hängte zwei weiße Handtücher daran. Sie würde ein neues Leben beginnen. Frei von klammen Handtüchern oder Schlüsseln, die von Innen in der Tür steckten, obwohl es doch ein Schlüsselbrett gab. Aber konnte sie ihre Träume einfach so wegwerfen? Sie kannten sich seit sie denken konnte. Und er liebte sie wirklich. Doch das reichte nicht. Für sie beide hatte es vielleicht gereicht. Nicht aber für die Zukunft.

Mit einem zarten Lächeln auf den Lippen strich Eveline sanft über ihren Bauch, der sich bereits leicht wölbte. Dann seufzte sie kurz und wandte sich der nächsten Kiste zu. Christbaumschmuck. Den würde sie vorerst nicht brauchen.

 

 ***

 

Vielleicht sollte sie mal wieder ins Kino gehen.

Ein bisschen an die frische Luft zu kommen würde ihr sicherlich gut tun. Also griff Eveline nach ihrem Mantel und dem Schlüsselbund und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Ein Schwall kühler Luft kam ihr entgegen. Sie sog sie tief ein und genoss es. Es füllte sie von innen heraus mit Lebendigkeit. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie machte sich auf den Weg. Die Häuser in der Nachbarschaft sahen fast alle gleich aus. Die Vorgärten waren ordentlich gepflegt, hier und da lag ein Kinderfahrrad oder Sandspielzeug auf dem Rasen. Die Straße endete in einem Rondell. Dahinter lag ein kleines Wäldchen. Wenn man mit dem Auto unterwegs war, musste man um es herum fahren, um zum Kino zu gelangen. Eveline entschied sich jedoch, am Waldrand entlang zu gehen. Die Wege waren nicht mehr matschig, und sie liebte den Duft von frischen Kieferntrieben.

Als sie auf dem fast völlig leeren Parkplatz angekommen war, wehten ihr bereits Plakate mit den neusten Filmen entgegen. Sie sah sie kurz durch und seufzte dann. Es gab nur fröhliche Filme, solche, bei denen man am Ende glaubt, das Leben wäre ein einziges, buntes Lachen und man bräuchte sich um nichts zu sorgen. Filme, wie sie sie mit Henry angesehen hatte. Jedes Wochenende. Doch danach war Eveline heute nicht zumute. Also zog sie ihren Mantel enger um sich, vergrub die Hände in den Taschen und machte sich auf den Rückweg.

Das Wetter würde es schon richten.

 

 ***

 

Es wurde bereits kühler und die Sonne stand flach am Himmel hinter dem Wald, als Eveline zurückkam. Sie hob die Zeitung vom Rasen auf und betrat ihr Haus, in dem sie sich noch immer wie ein Eindringling fühlte. Ein wenig lieblos landete die zusammengerollte Zeitung auf dem Boden in der Ecke, in der einmal ihr Garderobenschränkchen stehen sollte. Was sollte schon groß darin stehen, das ihren Kummer noch übertreffen konnte?

Es war einsam in diesem Haus. Trotz der warmen Farbtöne, in denen die Wände gestrichen waren. Trotz des beginnenden Frühlings.

Eveline nahm sich eine Tasse aus dem Küchenschrank und goss sich etwas koffeinfreien Kaffee aus der Thermoskanne ein, die sie heute Morgen gefüllt hatte. Sie lehnte sich gegen die Anrichte und blies sanft über die Oberfläche. Vielleicht würde ja die Tasse mit ihr reden, wenn sonst schon niemand. Sie betrachtete das dunkle Getränk eine Weile, als könne es tatsächlich sprechen, schüttelte den Kopf über sich selbst und stellte die Tasse hart zurück auf den Küchentisch, ohne einen Schluck zu nehmen.

Sie bereute es, nicht gleich ihren Fernseher ausgepackt zu haben. Sie wusste nicht einmal, in welchem der Kartons er verstaut war. Also würde sie wohl weiter auspacken müssen.

Nachdem sie ihr gesamtes Geschirr, Besteck und andere Küchenutensilien eingeräumt hatte, war es bereits später Abend. Evelines Rücken war völlig verspannt und ihr Nacken war steif geworden. Also entschied sie sich, für heute Schluss zu machen.

Sie suchte ihren bequemen Pyjama aus der Reisetasche im Schlafzimmer und ging ins Bad. Eingeräumt sah es viel gemütlicher aus, als noch am Morgen. Als sie die Zahnpasta auf ihre Bürste strich, wanderten ihre Gedanken erneut zu Henry. Sie hatten beide ihre Fehler gehabt. Manchmal, ob aus Faulheit oder Gewohnheit, das konnte sie nicht so genau sagen, da hatte sie das Licht im Bad angelassen, bevor sie schlafen gingen. Henry hatte es gehasst. Er konnte nicht schlafen, wenn es unter der Tür durchschien. Also schaltete Eveline es aus, und schloss die Tür hinter sich, als sie zurück zu ihrem Bett ging. Sie kroch unter ihre weiche Decke und rieb ihre Füße aneinander, um den Moment zu überbrücken, den man brauchte, um das Bett zu wärmen. Dann griff sie nach ihrem Buch und schlug die Seite auf, auf der sie zuletzt gelesen hatte. Doch irgendwie konnte sie sich nicht konzentrieren. Also legte sie es wieder beiseite und kuschelte sich tiefer in ihr Kissen. Ihr Blick wanderte durch den Raum. Sie würde ihr neues Schlafzimmer lieben, das wusste sie. Direkt neben sich wollte sie das Babybettchen aufstellen. Vielleicht würde sie auch noch eine Wand streichen, in einem hellen Pastellton. Sie konnte frei entscheiden. Es war ihr Leben.

Dann griff sie nach der Lampe auf ihrem Nachtschränkchen und schaltete sie aus. Sie hatte den ersten Tag ihres neuen Lebens überstanden. Es würde schon gehen.

 

 ***

 

Es ist seltsam, wie der Verstand eine Weile braucht, um wieder zu funktionieren, wenn er aus dem Tiefschlaf heraus beansprucht wird. Mit einem mürrischen Schnauben tastete Eveline nach ihrem Wecker und wollte ihn ausschalten. Doch auch nach mehrmaligem Versuch gelang es ihr nicht. Sie blinzelte kurz und setzte sich ein Stück auf. Dann stellte sie fest, dass das Klingeln gar nicht von ihrem Wecker kam, sondern von der Tür. Es war sechs Uhr früh und es war noch dunkel draußen. Wer konnte um diese Zeit auf die Idee kommen, bei ihr zu klingeln? Schlaftrunken kroch sie aus ihrem Bett und tapste zur Tür. Als sie sie öffnete, sah sie zuerst eine Welpe, die ihr entgegenblickte. Evelines Augen folgten der Leine hinauf zu dem Besitzer des Hundes.

„Henry…“

Für einen Augenblick stand er einfach nur da, schweigend, mit einem schüchternen Lächeln.

„Hallo…“, meinte er dann zaghaft.

„Hallo.“ Eveline biss sich auf die Unterlippe.

„Ich, ähm…“ Henry sah auf seine Schuhe. „Weißt du, ich habe einen Job bekommen, als Manager im Einkaufszentrum im Lakewood Drive. Und ich dachte… Na ja. Zu einer richtigen Familie gehört doch auch ein Hund, oder?“

Erst jetzt sah er zu ihr auf. Eveline kaute noch immer auf ihrer Unterlippe.

Henry zog schüchtern etwas hinter seinem Rücken hervor. „Ich habe auch eine eigene Tube Zahnpasta mitgebracht…“

Für einen Moment sah Eveline ihn an. Dann fiel sie ihm ohne Vorwarnung um den Hals und begann, zu weinen.

Henry war ein wenig überrascht. Dann legte er seine Arme um sie und strich ihr sanft über den Rücken. Eveline vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge.

„Danke“, flüsterte sie. „Danke, dass du zurückgekommen bist.“

Henry küsste ihre zerzausten Haare. „Hey. Immerhin werde ich bald Papa.“

Henry lächelte. Er wusste nicht, was er sagen sollte und heftete seinen Blick auf ihren Bauch.

„Hast du schon… ein Namen gewählt?“

Sanft strich sie über ihren Bauch und schüttelte den Kopf. „Dazu ist es noch ein bisschen früh.“

„Und für einen Kaffee?“

„Dafür ist es nie zu früh.“

Genau wie für einen Neuanfang. Eveline trat einen Schritt zurück, damit Henry reinkommen konnte. Sie schloss die Tür hinter ihm. Er war wieder da. Sie würden reden müssen. Viel. Aber er war wieder da.

 

~ Ende ~

 

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Tag der Veröffentlichung: 10.03.2016

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