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~ Kapitel 1 ~

„Bitte!“ Ihr Blick ruhte flehend auf ihm.

„Nein.“

„Wieso nicht?“

„Weil du in der letzten halben Stunde bereits fünf Tassen Kaffee hattest. Du bestehst doch nur noch aus Koffein.“ Henry fuhr mit einem Lappen über die Theke. Draußen war es schon lange dunkel und er hatte das Café vor über zwei Stunden schließen wollen, doch Vanessa saß noch immer an ihrem Tisch und brütete über verschiedenen Büchern und Aufzeichnungen.

„Kassenabrechnungssysteme.“

„Was?“ Henry hielt mitten in der Bewegung inne und überlegte für einen Moment, ob Koffein auf Gehirnzellen dieselbe Wirkung wie Alkohol haben könnte.

„Ich bestehe aus Koffein und Kassenabrechnungssystemen.“ Sie tippte mit einem Stift auf eines der Bücher und seufzte. „Ich muss noch über fünfzig Seiten lesen. Allerdings glaube ich, dass ich nach zwei Seiten einschlafen werde, weil die Kassenabrechnungssystem-Teufelchen die Koffein-Engelchen angreifen und vernichtend schlagen werden. Und wie du vielleicht weißt, sind Kassenabrechnungs-Teufelchen dafür bekannt, unschuldige Abendschulstudentinnen qualvoll in den Schlaf zu zwingen, weil sie...“

„Okay okay, du kriegst deinen Kaffee.“ Henry hob abwehrend die Hände und griff nach der Kanne.

„Was würde ich nur ohne dich machen.“

„Zu Hause lernen?“, schlug Henry vor.

„Ach.“ Vanessa winkte ab. „Mel übernachtet bei Jessi. Und wenn ich alleine bin, laufe ich Gefahr, mich... abzulenken.“ Sie grinste kurz. Melanie war ihre jüngere Schwester, die seit der High-School bei ihr wohnte. Sie stand kurz vor ihrem Abschluss und verbrachte den Abend bei ihrer besten Freundin, um zu lernen.

„Aha.“

„Du weißt schon. Da liegt dann irgendwo das neuste Klatschblatt rum und da steht auch noch drin, wieso man keinen grünen Nagellack verwenden sollte und ob Brad Pitt tatsächlich fremdgegangen ist.“ Sie strich sich eine widerspenstige schwarze Haarsträhne hinters Ohr.

„Weil er schrecklich aussieht.“

„Wer, Brad Pitt?“

„Nein, der Nagellack.“

„Siehst du, und dann vergesse ich... das hier.“ Sie machte eine ausschweifende Geste über den Tisch und rümpfte die Nase.

„Wofür lernst du das alles eigentlich? Habt ihr morgen wieder so’n Test?“ Henry zog sich einen Stuhl ran und setzte sich rittlings darauf.

„Nein.“ Ein erneutes Seufzen. „Aber nächste Woche findet eine freiwillige Prüfung statt.“

Henry gab ein seltsames Grunzen von sich.

Vanessa sah ihn fragend an. „Was?“

Er grinste. „Ich habe dich noch nie die Worte ‚freiwillig’ und ‚Prüfung’ in einem Satz sagen hören.“

Sie warf ihm einen beleidigten Blick zu. „Vielleicht sollte ich wirklich nach Hause gehen.“

Eine Weile herrschte Stille, dann schob sie geräuschvoll ihren Stuhl zurück und begann, ihre Bücher zusammen zu räumen. Auch Henry stand auf. „Ich hab’ einen besseren Vorschlag: Reduzier deinen Koffeinkonsum. Sechs Tassen in dreißig Minuten. In wie viel Minuten du eine Tasse leer bekommst, kannst du dir hoffentlich noch selbst ausrechnen. Außerdem bist du unausstehlich, wenn du zu viel Kaffee getrunken hast.“

„Du solltest mich erst mal erleben, wenn ich keinen getrunken habe.“ Sie schwang ihre Tasche über die Schulter und warf ihm ein süffisantes Grinsen zu. Nachdem sie zwei Schritte auf die Tür zugegangen war, blickte sie zu ihrem Tisch, kam zurück und trank demonstrativ den letzten Schluck Kaffee aus.

Henry schüttelte grinsend den Kopf und warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach eins.

„Bis Morgen“, meinte Vanessa lächelnd.

„Ich schmeiß schon mal die Kaffeemaschine an.“

„Gute Idee.“ Als sie bereits im Türrahmen stand, drehte sie sich noch einmal um. „Danke, Henry.“

Er nickte nur.

Vanessa ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Die kühle Nachtluft fühlte sich gut an. Sie war zu Fuß hier und würde knapp zwanzig Minuten bis nach Hause brauchen. Grandon war eine kleine Stadt. Ganz gleich, wo man wohnte, man brauchte nie länger als eine halbe Stunde bis ins Zentrum. Vanessa Hoffman war vor zehn Jahren hergezogen, als ihre Eltern ihr vorschreiben wollten, auf welches College sie nach ihrem High-School-Abschluss zu gehen habe. Vanessa wollte nicht aufs College. Auf gar keines. Sie wollte reisen, die Welt sehen, auf eigenen Beinen stehen. Doch ihre Eltern waren streng konservativ und machten sich mehr Sorgen um das Geschwätz der Nachbarn als um das Glück ihrer ältesten Tochter. Nach einem heftigen Streit hatte Vanessa ihre Sachen gepackt und war gegangen. Es war eine kühle Aprilnacht gewesen und irgendwie strandete sie dann in Grandon, in einem Café namens Coffee Culture, in dem ein schmaler, blasser Junge spätabends die Tische abwischte.

Er hatte murrend für sie die Kaffeemaschine noch einmal angeworfen und ihr den letzten Muffin serviert, der noch übrig war. So hatte sie Henry kennengelernt, der im Café seines Vaters arbeitete. Zehn Jahre später war er nicht mehr schmal und blass und hatte das Café seines Vaters übernommen. Er war ihr bester Freund.

Sie hatte ihre Entscheidung, hierher zu ziehen, nie bereut. Sie hatte Arbeit gefunden und sich mit Jobs über Wasser gehalten. Zunächst in einem großen Supermarkt am Highway, dann in einem Hotel als Aushilfe und später in einem Restaurant als Kellnerin. Dort arbeitete sie heute als Personalmanagerin und besuchte nebenbei die Abendschule, um sich eines Tages ihren Traum von einem eigenen Restaurant zu erfüllen.

Als Vanessa zu Hause ankam, war sie mehr als nur müde. Sie hatte noch knapp fünf Stunden, bis der Wecker klingeln würde.

 

***

 

„Wow!“ Vanessa zuckte erschrocken zusammen, als die Tür vom Coffee Culture ins Schloss fiel und Melanie sich gutgelaunt neben sie setzte. Sie sah frisch und erholt aus, trug ihre Schuluniform und die dunklen Haare waren zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden. Wie konnte sie so früh am Morgen nur so organisiert sein?

„Morgen, Nessa. Und, wie war deine Nacht?“ Mel griff nach der Kanne, die vor ihr auf der Theke stand und goss sich einen Kaffee ein.

„Kurz und grausam.“

„Oh. Kaffee?“

Vanessa schüttelte den Kopf.

Henry, der aus dem Lager kam, begrüßte Mel und schob ihr einen Teller mit Toast vor die Nase.

„Danke.“ Sie nahm sich die Scheibe und biss hastig hinein.

Henry beugte sich ein Stück vor und flüsterte: „Vanessa hat erzählt, dass du bei Jessi warst. Ich kenne nichts schlimmeres, als trockene Weizenkleieriegel zum Frühstück.“

Mel nickte und grinste ihn an. Jessis Mutter hatte sehr spezielle Vorstellungen von gesunder Ernährung. Der tägliche Einkauf auf einem besonderen Biomarkt und die furchtbaren, selbstgebackenen Weizenkleieriegel waren nur die Spitze des Eisbergs.

Dann wandte Henry sich an Vanessa, die ihren Kopf auf beide Hände gestützt hatte und die Augen kaum aufbekam.

„Wir haben wohl nicht gut geschlafen?“, meinte er mit einem winzigen Hauch von Schadenfreude in der Stimme.

„Zwei Drittel des Eigenkapitals kombiniert mit siebenundzwanzig Prozent von... Was?“ Für einen kurzen Moment, als wäre sie gerade aufgewacht, setzte sie sich kerzengerade hin und blickte erst Henry und dann Mel an.

„Oh.“ Sie sank wieder zusammen.

Henry griff nach einer Tasse und dem Kaffee und wollte ihr gerade einschenken.

„Stopp.“ Vanessa zog ihm die Tasse weg. „Keinen Kaffee.“

„Nein.“

„Doch.“

„Mel, hol sofort ein Tonbandgerät.“ Henry stellte die Kanne wieder ab und tat, als wäre er furchtbar überrascht.

„Ist ein Camcorder okay?“ Mel zog eine Packung Frühstücksflocken zu sich und mimte eine Kamera.

„Macht euch nur lustig. Habt ihr schon mal Aspirin genommen und dann Kaffee getrunken? Das ist in etwa so, als wolle man Migräne mit Nirvana kurieren.“

Melanie stellte die Packung wieder hin. „Wie lange hast du noch gelernt?“

„Keine Ahnung.“

„Das müssen wir ändern.“

„Hä?“

„Ab sofort gehst du um acht ins Bett.“

„Mel!“ Vanessa zog ihre Stirn in Falten. „Das ist nicht lustig.“

„Nein. Natürlich nicht“, meinte sie todernst und fuhr im selben Tonfall fort. „Ich muss jetzt in die Schule. Und das ist nicht lustig.“

Vanessa gab einen nicht identifizierbaren Laut der Wut von sich und schmiss ihrer Schwester die Packung Frühstücksflocken hinterher, doch sie prallte an der Tür ab und fiel zu Boden.

„He.“

„Sorry.“

„Das nächste Mal schmeiß ich dich um zehn raus.“

„Die Welt hat sich gegen mich verschworen.“ Vanessa nahm ihre Tasche und strich sich die Haare glatt. „Ich muss dann auch los.“

„Bis dann.“

„Bis dann“, meinte sie, hob die Packung vor der Tür wieder auf und warf sie ihm zu, bevor sie das Café verließ.

 

***

 

„Mel!“ Vanessa schlug die Eingangstür hinter sich zu und streifte auf dem Weg ins Wohnzimmer ihre Schuhe ab. Die Jacke wurde über die Sofalehne geworfen.

„Mel?“

„Küche!“

Vanessa hielt kurz inne, vollführte dann eine Drehung und setzte ihren Weg in die andere Richtung fort.

„Ich habe es!“

„Was?“ Die jüngere der Hoffmans sah von ihren Hausaufgaben auf und blickte ihre Schwester an.

„Die Ergebnisse!“ Vanessa hüpfte aufgeregt auf und ab. In ihrer Hand hielt sie die Post. Drei der Briefe landeten achtlos auf dem Küchentisch und über den vierten ließ sie zärtlich ihre Finger gleiten, als wäre er ein kostbarer Schatz.

„Nessa?“

Vanessa setzte sich. „Du weißt doch von der Prüfung, letzte Woche?“

Melanie nickte.

„Hier sind die Ergebnisse drin. Hier steht drin, ob ich zu den Strebern oder den Losern gehöre.“

„Und warum machst du ihn dann nicht auf?“

„Weil ich vielleicht zu den weniger streberischen fünfzig Prozent gehören könnte?“ Vanessa unterbrach ihr Gezappel und blickte skeptisch auf den Umschlag.

„Das wirst du erst erfahren, wenn du ihn geöffnet hast.“

„Du bist so weise.“

„Ich weiß.“

„Gib mir mal deine Nagelfeile.“

Melanie reichte ihrer Schwester das gewünschte Utensil und sah ihr gespannt dabei zu, wie sie den Brief öffnete. Ihre Augen fuhren ungeduldig über das Schreiben. Die Stille, die nur von dem leisen Tropfen des Wasserhahns unterbrochen wurde, schien fast unerträglich.

„Ahhaa!“

Mel zuckte zusammen. „Vanessa. Du kreischst wie Aaron Carter unter der Dusche!“

„Aber der gehört nicht zu den besten fünf Prozent. Hier. Lies.“ Vanessa reichte ihrer Schwester das Blatt. Wieder eine Weile Stille.

„‘...freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie eine Punktzahl erreicht haben, die zu den besten fünf Prüfungsergebnissen gehört.’ Wow, Nessa, du wirst berühmt.“

„Lies weiter“, drängte Vanessa.

Mels Augen flogen über das Blatt. Auf ihrer Stirn bildeten sich die ersten Falten.

„‘...würden wir uns freuen, Sie für einen sechsmonatigen Lehrgang in London gewinnen zu können. Sie würden eine offizielle Weiterbildung in folgenden Fachgebieten genießen können...’ Vanessa?“ Mel ließ den Brief sinken. „Was ist das?“

Vanessa winkte ab. „Nicht wichtig, da will ich eh’ nicht hin. Aber dass die mich haben wollten... Mein Ego legt sich gerade mit meinem Verstand an. Sie streiten darum, ob ich mir ein T-Shirt mit der Aufschrift ‘Spitzenhirn wurde nach Europa eingeladen’ zulegen sollte.“

„Wer gewinnt?“

„Angesichts der Umstände, dass die Hälfte von Grandon die Botschaft so oder so nicht verstehen würde... mein Verstand.“

Mel sah erneut auf das Schreiben.

„Wow...“ Sie grinste. „Meine Schwester – wer hätte das gedacht.“

„Hey, du traust mir ja viel zu.“

„Erfahrungssache.“

Vanessa griff sich das Blatt und zog gespielt beleidigt die Augenbrauen nach oben. „Redet man so mit seiner Schwester, die dir seit vier Jahren Asyl gewährt? Du gehst heute ohne Nachtisch ins Bett.“

„Natürlich.“

„Und barfuß.“

„Genau.“

 

***

 

Irgendetwas stimmte nicht. Sie wusste noch nicht, was genau es war, aber es passte einfach nicht. Ein Geräusch? Wo kam verdammt noch mal mitten im Tiefschlaf ein Geräusch her? Ein Klopfen, so viel hatte sie inzwischen identifizieren können, auch wenn das rein theoretisch unmöglich war. Schließlich schlief sie ja noch. Oder sollte sie zumindest.

Schlaf... Das war wohl der entscheidende, fehlende Fakt in ihrem Kopf gewesen. Wenn sie herausfinden wollte, wer mitten in der Nacht bei ihr an die Tür – oder sonst wohin – klopfte, würde sie wohl endlich aufwachen müssen.

Benommen und ohne jedes Zeitgefühl öffnete sie ihre Augen. Dunkelheit umgab sie. Mit viel Anstrengung schob sie ihre Hand in die Richtung, in der sie die Nachttischlampe erahnte und schaltete das Licht ein.

„Whoa...“ Von der plötzlichen Helligkeit geblendet, kniff sie die Augen zusammen.

Es klopfte erneut, diesmal heftiger, fast schon ungeduldig.

„Wenn das nicht wichtig ist, dann...“, murmelte sie schlaftrunken, brachte ihre Überlegung jedoch nicht zu Ende. Leicht torkelnd fand sie den Weg zur Tür und öffnete sie.

„Henry?“

„Er ist verschwunden.“ Ohne abzuwarten, ging Henry an Vanessa vorbei bis in die Küche, kam dann zurück und fuhr sich nervös durch die Haare.

„Weißt du, wie spät es ist? Und... wer... wer ist verschwunden?“ Vanessa versuchte, einen Sinn in dieser Situation zu erkennen, gab jedoch irritiert auf. Henry ging in ihrem Wohnzimmer hin und her. Dann blieb er stehen, als hätte er ihre Frage erst jetzt mitbekommen.

„John. Wir... wir hatten Streit – und da ist er weggelaufen.“

„Mal was ganz Neues...“, murmelte die noch immer völlig Verschlafene und verschränkte die Arme vor sich, weil sie fröstelte. John war Henrys jüngerer Halbbruder aus der zweiten Ehe seines Vaters. Er lebte nach der Scheidung seiner Eltern bei seiner Mutter. Sein Vater hatte ihn vor drei Jahren nach Grandon geholt, als seine Mutter gestorben war. John war erst fünfzehn und hatte bereits einiges durchgemacht. Erst letzte Woche hatte Henry ihn wegen Autodiebstahl von der Wache abholen müssen. Nur der Umstand, dass Grandons Sheriff und Henrys Vater langjährige Freunde waren, ließ John mit einem blauen Auge davonkommen.

„Du... du musst mir helfen.“ Henry fuhr sich nervös durch die dunkelbraunen Haare.

„Jetzt?“ Irgendwie war sie plötzlich hellwach und der Sinn – vielleicht auch Unsinn, da war sie sich noch nicht ganz so sicher – dieser Aktion machte sich vor ihr breit.

„Ah...“ Sie seufzte, legte Henry eine Hand auf die Schulter und drückte ihn aufs Sofa. Dann setzte sie sich neben ihn.

„Henry“, meinte sie vorsichtig. „Es ist nicht das erste Mal, dass John nachts nicht nach Hause gekommen ist.“

„Ich weiß, aber...“

„Was aber?“

„Diesmal ist es anders.“

„Hä?“

Henry stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab und legte sein Gesicht in die Handflächen. Dann seufzte er kurz und sah sie wieder an.

„Wir haben uns wegen der Klauerei in die Haare gekriegt.“

Vanessa wollte etwas erwidern, ließ es jedoch bleiben und wartete ab.

„Ich... ich habe ihm vorgeworfen, er würde einmal so werden, wie seine Mutter.“

„Und?“

„Seine Mutter war Alkoholikerin und starb in einem Autounfall, den sie selbst verschuldet hatte.“

„Oh.“ Vanessa wusste nicht, was sie sagen sollte. Das hatte sie nicht geahnt. Als John damals nach Grandon gezogen war, hatte Henry nur erzählt, dass seine Mutter bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Er hatte nie besonders viel über die zweite Frau seines Vaters gesprochen. Sie hatten sich scheiden lassen, lange bevor Vanessa nach Grandon gekommen war.

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen, dann stand sie auf und nickte.

„Komm.“

„Was?“

„Komm. Wir gehen John suchen.“

Henry sah sie leicht verwirrt an, nickte dann und folgte ihr aus dem Haus.

„Wo sollen wir suchen?“

„Ich... ich weiß nicht. Du hast eine Schwester, die nur wenig älter ist als John. Wo würde Mel hingehen?“

„Mel würde nicht weglaufen.“ Vanessa schlug den Weg in Richtung Stadt ein.

„Richtig.“

„Hat er... hat er irgend so etwas wie einen Lieblingsplatz in Grandon?“

Henry schien zu überlegen. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Irgendwann, als sie bereits beim Stadtpavillon angekommen waren, brach sie schließlich die Stille.

„Henry?“

„Hm.“

Sie blieb stehen und sah zu Boden. „Wurde... Wurde John von seiner Mutter geschlagen?“

Sie sah kurz auf, um seine Reaktion zu sehen, blickte jedoch gleich wieder zu Boden. Henry war leicht empfindlich, wenn es um John ging.

„Ehrlich gesagt weiß ich es nicht.“

„Hm.“

„Wieso ‘Hm’?“

„Einfach so.“

Wieder Stille. Vanessa hatte keine Ahnung, was sie sagen oder tun sollte, und das kam äußerst selten vor. Sie suchten weiter, schweigend. Doch weder in der Stadt, noch in angrenzenden Gebieten fanden sie ihn. Henry seufzte.

„Wir sollten zum See gehen“, schlug Vanessa vor.

„Meinst du?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber es ist der einzige Ort, an dem wir noch nicht waren.“

„Ich denke nicht dass er...“ Er unterbrach sich selbst, seufzte dann erneut und lächelte matt. „Versuchen wir’s.“

Der See lag, wie der Rest der Stadt auch, in nächtlicher Dunkelheit. Es war kühl und die Luft war feucht. Sie suchten das Seeufer ab und anschließend den Steg. Keine Spur von John.

„Du machst dir Sorgen, hm?“

Henry blieb stehen und sah sie überrascht an. Dann nickte er.

„Es ist seltsam.“

„Was?“

„Ich kann ihn eigentlich überhaupt nicht leiden. Er ist laut, er ist faul, launisch, ständig hat er etwas an allem auszusetzen. Und das sagt er dann noch nicht mal, sondern tut einfach so, als wäre alles in bester Ordnung. Apropos Ordnung... Seit einigen Wochen brauche ich Stunden, um irgendwelche wichtigen Dinge zu finden. Es ist das reinste Chaos. Von seiner Sturheit, seinem rüden Verhalten gegen Dad und dem schlechten Benehmen wollen wir gar nicht erst anfangen.“ Henry holte tief Luft und ließ seine Hände sinken, mit denen er immer wilder in der Luft gestikuliert hatte.

„Aber...“ Er suchte nach Worten. „Weißt du, er ist mein Bruder. Und als er drei Jahre alt war, da habe ich ihn bei seiner Mutter besucht.“

„Täusche ich mich, oder ist das da ein Lächeln?“ Vanessa zeigte demonstrativ mit dem Finger auf sein Gesicht.

Henry senkte grinsend den Kopf. „Er hat immer Pferd und Reiter mit mir spielen wollen. Aber er war zu klein und konnte sich nicht richtig festhalten. Nach gefühlten siebenundneunzig Versuchen habe ich aufgehört zu zählen, wie oft er runtergefallen ist.“

Nach einer Weile verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht und machte den Sorgenfalten Platz. „Was ich sagen will, ist...“ Er rieb sich die Augen und blinzelte ein paar Mal vor Müdigkeit. „Ich habe mich an ihn gewöhnt. Er mag seine Macken haben, aber... die hab’ ich auch. Er wird sicherlich nie werden, wie seine Mutter. Und, ganz ehrlich, ohne ihn war es viel langweiliger.“

„Du hast dich an mich gewöhnt, hm?“

„John!“ Vanessa trat erschrocken einen Schritt zurück und Henry wirbelte so schnell herum, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor.

„Himmel, musst du uns so erschrecken?“

John grinste. „Na, in deinem Alter wirst du doch nicht gleich einen Herzinfarkt bekommen?“

Henry sah ihn stirnrunzelnd an. Dann zog er ihn zu sich und drückte ihn. Als wäre er von seiner eigenen Reaktion überrascht, ließ er ihn wieder los und klopfte ihm auf die Schulter.

John nickte grinsend.

„Wo warst du eigentlich?“, wollte Henry wissen.

„Na direkt hier.“ John machte eine ausschweifende Geste in Richtung des Ufers.

„Aber wir haben doch...“

„Weißt du, diese Sache mit dem Verstecken habe ich kurz nach der Sache mit dem Festhalten gelernt.“

„Ah.“

„Lasst uns gehen, Rodeos“, meinte Vanessa und rieb sich mit den Händen die Arme, um die Kälte zu vertreiben.

„Und die wandelnde Kaffeebohne hast du mitgebracht, weil du mich alleine nicht finden konntest?“ Johns Grinsen wurde breiter.

„Ja. Darf ich vorstellen? Vanessa Prodomo“, meinte Henry todernst.

Vanessa antwortete ihm mit einem Geräusch, das man sowohl als Knurren wie auch als Fauchen auslegen konnte.

„Beißt die?“

Vanessa sah ihn gespielt grimmig an. „Nur, wenn man sie mitten in der Nacht aus dem Bett holt, um entlaufene Landstreicher einzufangen.“

„Schon gut, schon gut.“ John hob abwehrend die Hände. „Wir sollten zurückgehen.“

„Hah“, meinte Vanessa mit einem leisen Unterton des Triumphes in der Stimme. „Henry, du hast einen wirklich intelligenten Bruder.“

 

***

 

Den Weg zu Henrys Café legten sie schweigend zurück.

Henry schloss den Laden auf und wollte eintreten, doch dann sah er zu Vanessa, die leicht zitternd auf dem Bürgersteig stand und bemerkte erst jetzt, dass sie nur ihren Schlafanzug und den Morgenmantel trug. Er hätte sich am liebsten geohrfeigt für seine Rücksichtslosigkeit. Also ging er kurz rein, holte eine Decke und drückte John die Schlüssel in die Hand.

„Ich komm’ gleich wieder“, meinte er und senkte dann etwas die Stimme. „Ich bring sie noch nach Hause.“

„Klar“, entgegnete er schulterzuckend.

Henry ging die wenigen Stufen herunter und faltete die Decke auseinander.

Vanessa öffnete überrascht ihren Mund. „Das... ist nicht dein Ernst. Ich lauf hier nicht mit ‘nem Umhang rum.“

„Oh doch. Sonst bin ich am Ende Schuld, wenn du mit einer Lungenentzündung im Bett liegst.“

Mit einem leicht beleidigten Gesichtsausdruck ließ sie sich die Decke umlegen und sah an sich herunter.

„Was denn, du hast kein rotes S in die Mitte genäht?“

„Gehen wir, Superwoman.“ Henry ging ein paar Schritte voraus.

Vanessa zog einen Schmollmund und schloss dann zu ihm auf. Eine Weile gingen sie nebeneinander her.

„Danke“, meinte sie schließlich.

„Wofür?“

„Dass du mir dein Supermankostüm leihst.“

„Kein Problem. Nachdem in Shafton eine freiwillige Feuerwehr eingerichtet wurde, habe ich es nicht mehr getragen.“

„Es ist tragisch. Wer braucht heutzutage schon noch echte Helden, wenn es Notrufnummern gibt?“ Vanessa seufzte theatralisch.

Henry grinste.

Als sie vor dem Haus der Hoffmans angekommen waren, blieben sie kurz stehen.

„Also dann...“

„Also dann...“

Sie sahen beide zu Boden.

„Danke“, meinte Henry.

„Ich hab’ dir mein Spiderwomankostüm doch noch gar nicht gezeigt.“

„Aber du bist mitten in der Nacht ohne zu jammern aufgestanden, um John zu suchen.“

„Du hast dir Sorgen gemacht.“

„Eben.“

„Was ‚eben’?“

„Schon gut.“

„Was?“

„Geh schlafen.“ Er nickte in Richtung Haustür.

„Kein besonders intelligenter Themenwechsel“, meinte sie grinsend. „Aber ich bin momentan eh ein wenig eingeschränkt, was meine Aufnahmefähigkeit angeht.“

Er nickte und sie ging zur Tür. Im Türrahmen drehte sie sich noch einmal um.

„Schlaf gut.“

„Ja. Du auch.“

 

***

 

Obwohl sich am Horizont allmählich die ersten blassblauen Streifen durch den sonst dunklen Farbton des Himmels zogen, war es noch völlig ruhig. Melanie würde noch mindestens zwei Stunden schlafen, und sie sollte das eigentlich auch tun. Aber irgendwie war ihr nicht mehr nach schlafen, sie hatte die Phase des absoluten Protestes, welcher von ihrem Körper gegen jegliches Wachgefühl ausging, überwunden.

Ziellos streifte sie durch das Haus. Leise nahm sie sich in der Küche ein Glas aus dem Schrank und goss sich etwas Wasser ein. Als sie sich an den Tisch setzte, bemerkte sie, dass der Brief ihrer Abendschule noch immer dort lag, aufgefaltet, wie sie ihn hatte liegen lassen.

Zögernd nahm sie ihn und begann, die Zeilen noch einmal zu lesen.

Irgendetwas in ihr begann zu rebellieren. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit und versuchte, sie davor zu warnen, sich auf den Gedanken einzulassen, das Schreiben auch nur irgendwie ernst zu nehmen. Und dennoch... Die Idee, sich auf ihrem Fachgebiet weiterbilden zu lassen, war in ihrem Hinterkopf kleben geblieben und ließ sich weder durch ihre Bedenken noch durch ein zaghaftes schlechtes Gewissen abschütteln. Sie war da.

Vanessa seufzte.

Sechs Monate waren eine lange Zeit. Und Melanie war erst siebzehn. Sie konnte doch unmöglich ihre siebzehnjährige Schwester in Grandon zurücklassen und nach Europa fliegen. Und sie mitzunehmen kam noch weniger in Frage.

Vanessa wiederholte ihr Seufzen und es schien eine Weile wie eine unbeantwortete Frage im Raum schweben zu bleiben, bis es sich schließlich ebenso unbeantwortet auflöste.

Der Gedanke hatte etwas Verlockendes. Sie würde dafür ein Stipendium erhalten, das bedeutete, sie hätte mehr Geld, als hier aktuell – und wenn sie ordentlich sparte, hätte sie danach vielleicht das notwendige Startkapital zusammengekratzt, um sich endlich ihren großen Traum zu erfüllen: Ein eigenes Restaurant zu gründen.

Vanessa rieb sich die Augen, und spürte, wie die Müdigkeit langsam in sie zurück kroch. Vielleicht war sie einfach momentan geistig nicht in der Lage, sich über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Sie würde morgen Melanie vorsichtig darauf ansprechen, und dann... würde sie weitersehen. Aber jetzt sollte sie noch für ein, zwei Stunden schlafen.

Gähnend stand sie auf und tapste leise die Treppen hoch. Den Brief legte sie in eine Schublade ihrer Kommode und dann kuschelte sie sich unter ihre Decke. Waren sechs Monate wirklich so lang...?

~ Kapitel 2 ~

„Vanessa, das... das ist nicht dein Ernst.“ Mel stellte ihre Kaffeetasse mit einem lauten Geräusch auf dem Tisch ab.

Vanessa seufzte. Sie hatte geahnt, dass ihre Schwester so reagieren würde. Und sie hatte ja auch Recht.

„Schon gut“, winkte sie ab. „Ich wollte ja nur mal wissen, was du theoretisch davon halten würdest. Also sozusagen für den Fall, dass wenn und überhaupt...“

„Nessa?“

„Ja?“

„Alles klar?“

Ein erneutes Seufzen. „Natürlich. Ich hätte den Brief gleich wegschmeißen sollen.“

Melanie sah ihrer Schwester hinterher, die jetzt dabei war, einige Unterlagen zusammenzusuchen, und kaute auf ihrer Unterlippe. Dann leerte sie in einem Zug ihre Tasse, holte ihren Rucksack und nahm sich im Flur ihren Mantel. Doch als sie die Hand bereits auf die Türklinke gelegt hatte, hielt sie inne.

Vanessa stellte gerade die zwei Tassen in die Spülmaschine und schnappte sich ein Croissant, stellte dann jedoch fest, dass es bereits älter war als sein Verfallsdatum, und ließ es mit einem bedauernden Blick in den Mülleimer fallen. Als sie sich umdrehte, stand Mel im Türrahmen.

„Musst du nicht los?“

„Nessa, sei ehrlich.“

„Womit?“

„Du hast mich doch nicht nur zum Spaß gefragt, ob ich sechs Monate auf dich verzichten kann.“

„Doch. Ich sehe es so gerne, wenn du deine Stirn in Falten ziehst. Das ersetzt jede Sitcom.“

Mel warf ihrer Schwester einen Blick zu, der ihr eindeutig sagte, dass sie jetzt keine Lust auf Sarkasmus hatte.

„Also schön...“, seufzte Vanessa. „Ich habe dieses Angebot... doch ernsthaft in Erwägung gezogen. Damit meine ich nur, dass ich darüber nachgedacht habe, ob ich mit dir darüber reden werde. Aber du hast nein gesagt, und damit ist meine Entscheidung getroffen.“

„Mmh.“

„Wieso ‚mmh’?“

„Weil ich nachdenke.“

„Du bist doch noch gar nicht in der Schule. Pass auf, dass dein Kopf nicht vorher Rauch ausstößt.“ Vanessa öffnete einen der Küchenschränke, um nach einem Brötchen oder Toast zu suchen, zog ihren Kopf jedoch erfolglos wieder zurück.

„Wie groß wäre denn der finanzielle Vorteil?“

„Na ja…“ Vanessa kaute auf ihrer Unterlippe. „Wenn ich sparsam lebe und den Großteil des Stipendiums zurücklege, dann hätte ich nach den sechs Monaten genügend Eigenkapital, um einen ausreichenden Kredit zu erhalten. Aber Mel, es ist in Ordnung, wenn du dagegen bist.“

„Das habe ich so nicht gesagt. Es kam nur ein wenig... überraschend. Es ist sieben Uhr früh.“

„Richtig. Und du solltest jetzt schleunigst zur Bushaltestelle rennen.“

„Gib mir ein bisschen Zeit zum Nachdenken.“

„Ich stelle den Rauchmelder an, okay?“

„Bis später.“

„Gegen vier im Coffee Culture!“, rief Vanessa ihrer Schwester nach, nahm dann ihre Tasche und ging wenige Minuten später ebenfalls aus dem Haus. Sie hatte Hunger, und sie brauchte dringend etwas Essbares, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum nicht bereits Monate zurück lag.

 

***

 

„Guten Morgen.“ Vanessa legte ihre Tasche auf einen Hocker am Tresen und setzte sich daneben.

„Oh, hey.“ Henry sah kurz auf. „Hunger?“

Vanessa nickte und Henry verschwand kurz in der Küche, um mit einem Teller zurückzukommen, auf dem sich Croissants und Marmelade stritten, wer den meisten Platz einnimmt.

„Wow. Ich wusste gar nicht, dass du so was auf deiner Karte hast.“

„Hab ich auch nicht“, meinte er mit einem Bloß-keinen-Kommentar-Blick. „Ist sozusagen eine Wiedergutmachung.“

„Hm?“ Vanessa sah von dem Teller auf.

„Du weißt schon. Wegen gestern Nacht.“

„Oh. Klar.“ Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht, weil sie viel zu sehr mit dem Gedanken um das Fortbildungsseminar beschäftigt war.

„Sag mal, Henry?“

„Hm.“

„Wenn dir jemand anbieten würde, dass du einen gut finanzierten Café-Manager-Kurs machen könntest, würdest du annehmen?“

„Nein.“

„Oh. Wieso?“

„Weil ich für den Laden hier kein Manager sein muss.“

„Okay, blödes Beispiel.“

Vanessa bestrich sich ihr erstes Croissant mit Marmelade. Nachdem sie die Hälfte gegessen hatte, versuchte sie es erneut.

„Aber mal angenommen, du müsstest einer sein.“

Henry schloss leicht genervt die Schiebetür zur Muffinvitrine, in die er gerade neue Muffins einsortiert hatte. „Dann würde ich es sicherlich annehmen.“

„Und warum?“

„Na, weil es kostenlos ist.“

„Oh.“ Vanessa widmete sich wieder ihrem Croissant.

Henry ging zu einem der Tische, um den Gästen Kaffee nachzuschenken. Vanessa drehte sich zu ihm um.

„Und wenn du dazu eine Zeit lang von hier wegmüsstest?“

„Das“, setzte Henry an und kehrte zum Tresen zurück, „käme darauf an, wie lange ‚eine Zeit lang’ wäre.“

„Sechs Monate.“

Entnervt stellte Henry die Kanne ab.

„Also wenn du dir die schwachsinnige Idee in den Kopf gesetzt hast, mir jetzt ein Prospekt vor die Nase zu legen, in der ich eben solch einen Kurs mitmachen könnte: Nein. Ich kann hier nicht für ein halbes Jahr weg. Ich habe den Laden und John, ich trage Verantwortung. Ich...“ Er machte eine kurze Pause, um dann in einem etwas ruhigeren Ton fortzufahren. „...ich habe eben Familie und Freunde hier in Grandon, die ich nicht einfach ein halbes Jahr lang im Stich lassen kann. Das wäre nicht fair.“

Vanessa sah ihn überrascht und zugleich ein wenig irritiert an.

„Oh.“

„Was?“

„Ich hatte nicht vor, dich zu so einem... Kurs zu schicken. Aber...“ Sie stand auf und griff nach ihrer Tasche. „Danke, dass du mir deinen Standpunkt so...“ Vanessa machte eine kurze Pause, um Geld aus der Tasche zu kramen und es auf den Tresen zu legen. Dann sah sie ihn mit einem gezwungenen Lächeln an. „... so ausführlich klargemacht hast.“

„Alles in Ordnung?“

„Klar. Ich muss los.“

Henry schob ihr mit einem skeptischen Blick das Geld zurück.

„Das geht aufs Haus.“

„Oh.“ Vanessa zuckte mit den Schultern und nahm es zurück. „Na dann, danke...“

Mit einem Blick, der verriet, dass sie immer noch über seine Worte nachdachte, verließ sie das Lokal. Henry sah ihr kurz nach, zuckte dann ebenfalls mit den Schultern und wandte sich wieder den Muffins zu.

 

***

 

Melanie schlenderte die Straße von der Bushaltestelle zu Henrys Café entlang. Dann entdeckte sie ihre Schwester, die ein wenig abseits des eigentlich ausgemachten Treffpunktes stand und ungeduldig von einem Bein auf das andere trat.

„Hey, wieso stehst du hier draußen?“

„Ich muss mit dir reden.“

„Aha. Draußen...?“

„Ach so, nein.“ Vanessa drehte sich kurz zum Café um und winkte dann ab. „Nur nicht bei Henry.“

„Ah. Staatsgeheimnisse.“ Mel nickte und grinste dann.

„Wir sind heute aber gut gelaunt.“

„Wie’s dir geht, weiß ich nicht. Ich schon.“ Mel grinste weiter und schlenderte dann neben ihrer Schwester her.

„Gibt’s einen besonderen Grund?“

„Ich hab eine Eins-Plus in Französisch.“

„Ah.“

„Also, worüber musst du so dringend mit mir reden?“

„Hm.“ Vanessa lief eine Weile schweigend neben Mel her, sah sie ein paar Mal von der Seite an und begann dann, zu reden.

„Ich weiß nicht, ob ich dieses Seminar machen soll.“

„O... Oh.“

„Wieso ‚Oh’?“

„Heute früh hieß es noch, du denkst darüber nach. Jetzt hast du bereits Zweifel. Das bedeutet, irgendwo dazwischen gab es einen Punkt, an dem du dich dafür entschieden hattest.“

Vanessa nickte. „Ja. Ich... ich würde das schon ganz gerne machen.“

Mel seufzte. „Ich weiß.“

„Und?“

„Was und?“

„Was hältst du davon?“

Mel kaute auf ihrer Unterlippe. „Ich weiß nicht, was das für mich bedeuten würde – abgesehen davon, sechs Monate lang nur mit dir telefonieren zu können – aber ich glaube, du solltest es machen.“

„Und woher der Meinungswechsel?“

Mel blieb stehen. „Ich habe nie gesagt, dass ich dagegen wäre. Ich brauchte nur ein bisschen Zeit.“

„Für eine Pro und Kontra Liste?“

„Genau.“

„Ah...“

Die beiden gingen weiter.

„Und was hat Henry jetzt damit zu tun?“ Mel sah ihre Schwester von der Seite an.

„Nichts, nur...“

„Nur was?“

„Na ja... Er ist dagegen.“

„Du hast Henry gefragt, was er davon hält?“

„Hey, immerhin gehen wir jeden Tag dort essen. Wir sind gute Freunde.“

„Und... er hat gesagt, dass er dagegen ist?“

„Na ja. Nicht direkt.“

„Oh. Nein, Nessa!“

„Was?“ Vanessa warf Mel einen fragenden Blick zu.

„Du hast doch nicht etwa dein Was-wäre-wenn-Spielchen mit ihm gespielt.“

„Doch“, meinte Vanessa ein wenig kleinlaut.

„Ich fass es nicht. Und du glaubst ernsthaft, dass er – nur weil er so etwas nicht machen will – dir raten würde, das sausen zu lassen?“

„Nein... Das ist es nicht.“

„Was ist es dann?“

Die beiden waren bei ihrem Haus angekommen.

„Na ja, er hat da erwähnt, dass er es nicht machen würde, weil er John hat und...“

„Und?“

„Weil er seine Freunde nicht im Stich lassen würde.“

„Oh.“

„Genau.“ Vanessa betrat die Veranda und wollte eintreten, doch Mel hielt sie noch kurz zurück.

„Vanessa. Du weißt aber, dass ich nicht John bin. Ich könnte für ein halbes Jahr zu Mum und Dad ziehen, oder bei Andrea wohnen.“

„Ja... Ja, ich weiß.“ Andrea war ihre beste Freundin in Grandon. Sie arbeitet bei der städtischen Post und würde Mel auf jeden Fall für ein halbes Jahr Zuflucht gewähren.

Mel runzelte die Stirn. „Also glaubst du, du würdest uns im Stich lassen, wenn du das machst.“

„Irgendwie hat er doch Recht, oder?“ Vanessa sah Mel zweifelnd an.

„Ich denke nicht, dass er das so gemeint hat. Immerhin kannst du danach deinen Traum verwirklichen. Ich würde das nicht ‚im Stich lassen’ nennen.“

„Mmh.“

„Du solltest richtig mit ihm reden.“

„Mit wem?“

„Mit Henry!“ Mel sah ihre Schwester lächelnd an. „Seine Meinung scheint dir ziemlich wichtig zu sein.“

„Weil wir befreundet sind!“

„Hab’ ich was anderes behauptet?“ Mel schob Vanessa grinsend ins Haus.

„Hey, schon mal was von Taschengeldentzug oder Hausarrest gehört?“

„Und wofür?“

„Dafür, dass du so frech zu mir bist!“

„Lass uns was zu Essen bestellen.“

„Pizza?“

„Pizza. Ich ruf an.“

„Okay.“

 

***

 

„Roodie, wieso dauert das so lange?“ Elizabeth Hoffman zog ihre Augenbrauen nach oben und warf einen Blick in Richtung Küche. Sie hasste es, wenn das Dienstpersonal unpünktlich oder unzuverlässig war. Oder beides.

„Roodie?“ Vanessa musste grinsen, rutsche ein wenig auf dem Stuhl hin und her und strich ihren Rock glatt.

„Unsere neue Köchin.“

„Sie kommt aus Südeuropa“, fügte Daniel mit einem Hauch von Stolz in der Stimme hinzu.

„Ah. Und sie hat die Zeitverschiebung noch nicht überstanden...“

Mel musste grinsen. Elizabeth jedoch sah ihre Tochter zweifelnd von der Seite an.

„Sie ist bereits seit vier Tagen hier. Und sie hat das Essen immer pünktlich gebracht.“

Vanessa legte ein mattes Lächeln auf und starrte dann auf ihren Teller. So langsam bekam sie wirklich Hunger – außerdem war die Chance, auf ihr Seminar zu sprechen zu kommen geringer, wenn die Teller gefüllt waren und man nur nach jedem zweiten Bissen sprechen konnte.

Es hatte sie viel Überwindung gekostet, um dieses Abendessen bei ihren Eltern zu bitten. Aber sie waren ihre einzige Chance. Andrea konnte Melanie nicht wie erwartet bei sich wohnen lassen, also würde sie hier bleiben müssen. Als Vanessa zu Hause ausgezogen war, war Melanie noch ein kleines Mädchen gewesen. Doch auch sie hatte das Gefühl, unter der Fürsorge und dem gleichzeitigen herrschsüchtigen Druck ihrer Mutter zusammenzubrechen, als sie älter wurde. Als sie dann zur High-School ging, wollten ihre Eltern sie zwingen, auf ein privates Internat zu gehen. Melanie hatte sich dagegen gewehrt und war von zu Hause weggelaufen. Elizabeth und Daniel verstanden nicht, was in ihr Vorging und waren zu keinem Kompromiss bereit. Nachdem Mel wieder und wieder bei Vanessa aufgetaucht war, hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie bei ihr wohnen durfte. Seit dem beschränkte sich der Kontakt auf das Nötigste. Es wurden Höflichkeiten ausgetauscht und nett gelächelt.

Aber jetzt brauchte Mel für sechs Monate ein Zimmer bei ihren Eltern.

Als hätte Elizabeth Vanessas Gedanken erraten, ergriff sie plötzlich das Wort.

„Ich habe gehört, dass an deiner Abendschule Auszeichnungen für besondere Leistungen vergeben wurden.“

Vanessa ließ seufzend die Gabel wieder sinken, mit der sie ungeduldig herumgespielt hatte.

„Was du nicht alles hörst.“

„Vanessa, ich versuche, ein ernsthaftes Gespräch zu beginnen.“

„Und ich frage mich, wo in meinem Leben du dich noch einmischen willst!“ Was das anging, war sie einfach besonders empfindlich.

„Nessa“, zischte Mel und sah ihre Schwester eindringlich an. Vanessa grinste angewidert zurück. Richtig. Sie wollten etwas von ihren Eltern. Keine gute Idee, die Sache mit einem Streit zu beginnen.

„Aber weißt du, Mum...“ Ihr Grinsen wurde breiter. „Auf eben dieses Thema wollte ich heute Abend auch noch zu sprechen kommen.“

„Also hast du eine dieser Auszeichnungen erhalten?“ Elizabeth streckte sich ein wenig höher und setzte ein Lächeln auf. „Weißt du, man wollte mir die Namensliste nicht geben.“

Vanessa verkniff sich einen schadenfrohen Kommentar und nickte dann.

„Ja, ich... ich bin auch dabei.“

„Vanessa ist unter den besten Fünf“, warf Mel dazwischen.

„Mel, Schwesterchen, ein ‚ich bin auch dabei’ hätte völlig genügt.“

„Sorry.“

„Ist das wahr, Vanessa?“

„Ja, Mum.“ Sie senkte ihren Kopf, um nicht das stolze Lächeln ihrer Mutter zu sehen, dass ihr regelrecht ins Gesicht zu schleudern schien, wie glücklich Elizabeth Hoffman darüber war, dass aus ihrer Tochter in ihren Augen nun doch noch etwas geworden war. Wenn schon nicht das College, dann wenigstens eine Auszeichnung. Wie absurd.

„Und?“

„Was und?“

„Na, was habt ihr dafür bekommen? Einen Gutschein? Eine Prämie? Ein kostenloses Semester?“

„Nicht direkt.“

Elizabeth zog ihre Augenbrauen nach oben. „Was meinst du mit ‚nicht direkt’?“

„Na, dass...“ Vanessa lag ein schlagfertiger Kommentar auf der Zunge, doch sie sah kurz Mel an, seufzte dann und fuhr ruhiger fort. „Diesen besten fünf Leuten wurde ein Weiterbildungsseminar in Europa angeboten. Wir bekämen in der Zeit ein gutes Stipendium, würden eine Menge lernen und am Ende einen Abschluss erhalten.“

„Das ist ja fabelhaft. Also fährst du in den Sommerferien nach Europa?“ Daniel sah seine Tochter fragend an.

„Nicht direkt.“

„Vanessa!“ Elizabeth warf ihrer Tochter einen ungeduldigen Blick zu.

„Ich meine... Na ja, ich habe das Angebot noch nicht angenommen. Und außerdem ist das Seminar nicht in den Sommerferien.“

„Wann denn dann?“

„Es beginnt in drei Wochen...“

„Das ist aber ziemlich kurzfristig.“

„...und dauert ein halbes Jahr.“

Elizabeth ließ ihr Glas sinken. Sie tauschte einen leicht irritierten Blick mit Daniel und sah dann wieder zu ihrer Tochter.

„Hast du deshalb noch nicht angenommen?“

„Ja. Nein. Ja.“

„Du solltest bei ‚nicht direkt’ bleiben.“

Vanessa seufzte erneut. Sie hasste es, ihre Eltern um etwas bitten zu müssen. Auch wenn sie eigentlich wusste, dass sie Mel gerne wieder aufnehmen würden. Immerhin hatten sie dann etwas, dass sie ihr jahrelang vorhalten könnten. Und, was ihr am meisten Sorgen bereitete, sie hatten wieder Einfluss auf Mel.

„Mum, die Sache ist die... Ich würde sehr gerne dorthin fliegen. Das ist eine einmalige Chance und bedeutet mir eine Menge. Nur... Ich kann Mel nicht einfach aus der Schule nehmen und sie mitnehmen. Ihr Abschluss steht kurz bevor. Und deshalb wollte ich...“

„Sie wollte euch fragen, ob ich in dieser Zeit bei euch wohnen kann“, klinkte sich Mel ein, da ihre Schwester noch immer nach den richtigen Worten suchte und nun nur mit einem „Genau.“ zustimmte.

Erneut tauschten Elizabeth und Daniel einen Blick, diesmal jedoch vor freudiger Überraschung.

„Aber natürlich kannst du wieder bei uns wohnen. Das ist ja wunderbar. Und auf diese Idee bist du ganz allein gekommen, Vanessa?“

„Nein. Mich haben heute Nacht ein paar kleine grüne Männchen entführt und mir erklärt, dass dies wohl die beste Lösung sei, Mum.“

„Deinen Humor solltest du dir abgewöhnen. In Europa steht man auf so etwas nicht.“

„Ha.“

„Was?“ Elizabeth sah ihre Tochter fragend an.

„Als ob du eine Ahnung hättest, welchen Humor man in London schätzt.“

Daniel warf Mel einen hocherfreuten Blick zu und wandte sich dann an seine Frau. „Hört jetzt auf, euch zu streiten. Wir haben etwas zu feiern.“

„Ich hab’s geahnt“, stöhnte Vanessa, erntete ein amüsiertes Grinsen von Mel und ließ dann ihren Kopf auf die verschränkten Arme sinken.

„Roodie!“, donnerte Daniels Stimme plötzlich durch den Raum. „Wo bleibt das Essen?“

„Schwerer Fall von Jetlag...“, murmelte Vanessa, während Elizabeth ihre jüngere Tochter strahlend von der Seite musterte und Daniel ihr ein stolzes Grinsen zuwarf.

 

***

 

„Hey, das war hier aber auch schon mal voller“, meinte Vanessa und ließ ihren Blick durch das Café schweifen. Schulterzuckend ließ sie sich schließlich an einem der Tische nieder.

„Heute ist immerhin erst Montag. Da ist früh nie viel los.“ Mel setzte sich ihrer Schwester gegenüber.

„Hast du... eigentlich schon angerufen?“

Vanessa sah von ihrer Tasche auf, in der sie nach etwas gesucht und es offensichtlich noch nicht gefunden hatte. „Du meinst in London?“

Mel nickte.

„Ja, schon am Samstag.“

„Davon hast du gar nichts erzählt.“

Vanessa hob gleichgültig die Schultern. „Weil es nichts Besonderes war. Die haben meinen Namen notiert und schicken mir die Flugtickets.“

„Irgendwie ging das alles so unglaublich schnell“, meinte Mel und sah ihre Schwester nachdenklich an.

„Ja, das stimmt.“

„Was ging so unglaublich schnell?“

Vanessa sah auf und grinste. „Die Bedienung hier.“

„Hey Henry.“ Auch Mel grinste.

Henry nickte den Beiden kurz zu. Vanessa sah erst ihn und dann Mel an. „Ähm, Mel, könntest du vielleicht...“

Mel warf Vanessa einen fragenden Blick zu und begriff dann. „Oh. Äh, na klar. Ich wollte mich vor der Schule sowieso noch mit Jessi treffen.“

Sie stand auf, nahm sich ihre Jacke und verließ das Lokal.

„Was war das denn?“

„Ein morgendlicher Fall von Nessa-hat-mir-zu-verstehen-gegeben-dass-ich-besser-gehen-sollte.“

„Du vertreibst meine Kundschaft?“ Henry grinste.

„Zu viel Kaffee tut ihr nicht gut.“ Vanessa erwiderte das Grinsen.

„Ach...“

Eine Weile grinsten die beiden sich an, dann fiel Vanessa wieder ein, weshalb sie Mel weggeschickt hatte.

„Ähm, Henry, hast du kurz Zeit?“

Henry sah sich im Laden um. Es waren nur zwei weitere Tische besetzt, und an beiden waren die Gäste bereits versorgt.

„Klar.“ Henry zog sich den Stuhl ran und setzte sich. „Was gibt’s?“

„Ähm, ich... Ich meinte vorhin nicht die Bedienung.“

„Ich weiß.“

„Natürlich. Klar. Also, ähm, was ich sagen will ist... Erinnerst du dich an neulich?“

„Geht das auch etwas genauer?“

Vanessa strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich hab’ dich gefragt, was du von so einem Seminar halten würdest.“

Henry nickte.

Vanessa sah ihn mit einem Ausdruck leichter Überraschung an.

„Was?“, wollte Henry wissen.

„Kein genervtes ‚Fang nicht wieder damit an’?“

„Nein.“

„Na schön. Letztes Mal warst du ziemlich... genervt.“ Sie machte eine ausschweifende Geste

„Aber jetzt nicht.“

„Und warum?“

„Weil mir ein Licht aufgegangen ist, nachdem ich ein paar Minuten Zeit hatte, darüber nachzudenken.“ Henry griff nach einer Streichholzschachtel und begann, sie in den Händen hin und her zu drehen.

„Du willst den Kurs jetzt doch machen?“ Vanessa grinste.

„Nein, aber du.“

Ihr Grinsen verschwand. „Woher weißt du...“

„Vanessa. Ich kenne dich jetzt seit zehn Jahren. Du magst zwar viel wirres Zeug von dir geben, aber du stellst keine sinnlosen Fragen.“

„Oh. Danke.“ Sie sah ein wenig beleidigt aus.

„Nachdem ich mitbekommen hatte, dass es bei dieser würdest-du-würdest-du-nicht-Sache nicht um mich ging, gab es also nur noch eine Möglichkeit.“

Vanessa nickte. „Tja.“

„Tja.“

Eine Weile herrschte nachdenkliches Schweigen, dann hob Henry seinen Kopf.

„Und wann... geht es los?“

„In zweieinhalb Wochen.“

„Was?“ Henry ließ erschrocken die Streichholzschachtel fallen. Er sah sich kurz um, senkte dann die Stimme und wiederholte sich. „Was?“

„Ja. Das ist ziemlich kurzfristig, ich weiß.“

„Sechs Monate, hm?“

Wieder nickte Vanessa. „Sechs Monate.“

„Und... Mel?“

„Unsere Eltern nehmen sie auf.“

„Ach so. Na dann.“

„Sag mal, Henry...“

„Hm?“

Vanessa biss sich auf die Unterlippe und seufzte dann. „Du hast neulich gesagt, dass du so etwas nicht machen würdest, weil... weil...“ Sie setzte ein gequältes Lächeln auf. „Weil du deine Familie und Freunde nicht im Stich lassen würdest.“

Henry zog ein wenig irritiert seine Augenbrauen nach oben.

Sie sah ihn vorsichtig an. „Denkst du, ich lasse meine Familie im Stich?“

„Nein!“ Henry schüttelte überrascht seinen Kopf. „So hatte ich das nicht gemeint. Das ist doch was ganz anderes.“

„Ach ja...“ Vanessa richtete ihren Blick auf ihre Knie.

„Ich meine“, begann Henry. „Für dich bedeutet es, dass du danach dein eigenes Restaurant eröffnen kannst. Du verdienst genug Geld, Mel unterzubringen war auch kein Problem... Mir hätte so etwas nichts genützt. Und für etwas, das keinen Nutzen bringt, hätte ich eben nicht...“

„Ich verstehe.“ Vanessa setzte ein mattes Lächeln auf.

„Hör mal...“ Henry wartete, bis sie ihn ansah. „Sechs Monate können schnell vorbei sein.“

„Ja. Das können sie.“

„Für mich ist das immerhin auch eine einmalige Gelegenheit.“ Henry grinste und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.

„Wofür?“

„Na ja, in Europa soll er hervorragenden Kaffee geben. Du könntest mir welchen mitbringen.“

Jetzt musste auch Vanessa grinsen. „Klar. Versprochen.“

~ Kapitel 3 ~

 Die Zeit, die Vanessa noch bis zu ihrem Kurs blieb, zog an ihr vorbei, als hätte sie es schrecklich eilig. In der ersten Woche musste Mel sie des Öfteren daran erinnern, dass der menschliche Körper Schlaf und Nahrung braucht, um zu existieren. Die Stunden zwischen der Existenzerhaltung waren gefüllt mit den Vorbereitungen für die ‚große Reise’ – das Haus musste noch einmal durchkontrolliert werden, neue Sachen wurden gebraucht und jede Menge Telefonate standen auf Vanessas Liste.

„Himmel, wie sollen wir das alles schaffen?“, murmelte sie, während ein Stapel Wäsche und ein Haufen Papiere im Wohnzimmer darauf warteten, sortiert zu werden. Es war Freitag und ihre Eltern hatten sie erneut zum Abendessen eingeladen.

„Zeh dich an, Vanessa. Die Wäsche läuft dir nicht weg.“

„Um die Wäsche mache ich mir auch keine Sorgen. Aber der Papierstapel könnte einen hinterhältigen Angriff planen.“ Vanessa grinste.

Mel rollte genervt mit den Augen, schnappte sich ihre Schwester am Oberarm und bugsierte sie die Treppe hinauf.

„Rotes Oberteil, das mit den Dreiviertel-Ärmeln, olivgrüne Hose – du hast zehn Minuten. Ich warte unten.“ Mel gab Vanessa einen kleinen Schubs und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück. Nach weniger als fünf Minuten kam Vanessa die Treppe herunter – in einem blauen, ärmellosen Oberteil und einem schwarzen Rock. Mel musste sich ein Grinsen verkneifen und tauschte einen amüsierten Blick mit ihrer Schwester.

„Auf geht’s.“

„Na dann.“

Vanessa griff nach den Autoschlüsseln und sie machten sich auf den Weg.

 

***

 

Die Tür öffnete sich erst nach dem vierten Klingeln.

„Hi Mum, entschuldige die Verspä...“

„Kommt rein“, meinte Elizabeth nur und war auch schon wieder im Wohnzimmer verschwunden, aus dem die eindeutigen Laute der Lautsprechanlage des Telefons drangen.

Vanessa sah ihr etwas irritiert hinterher, trat dann ein und sah Mel an.

„Was zur Hölle...“, murmelte sie, während sie ihren Mantel aufhängte und ihrer Mutter ins Wohnzimmer folgte.

Mel runzelte die Stirn und tat es ihr gleich.

„Und Sie sind sicher, dass Mrs. Wilderson auch da ist?“ Elizabeth schritt im Raum auf und ab.

„Aber natürlich“, erklang die Stimme aus dem Telefon im Raum. „Wir freuen uns sehr.“

„Also dann, wir sehen uns am Freitag um Sieben.“

„Auf Wiederhören.“

Es klickte.

Vanessa sah ihre Mutter etwas verwirrt an. Nicht nur, dass sie die fünf Minuten Verspätung völlig ignoriert hatte, sie schien auch noch etwas Wichtiges geplant zu haben. Das verdiente doch ein wenig Interesse.

„Und... wen seht ihr an welchem Freitag?“

„Oh, hallo Vanessa. Mel.“ Daniel sah von seiner Zeitung auf. Er hatte eben erst bemerkt, dass seine Töchter eingetroffen waren.

„Nun, wir haben eine kleine Feier geplant“, meine Elizabeth und setzte sich auf das Sofa.

„Aha.“

„Sie findet nächsten Freitag statt.“

„Oh.“

„Vanessa, hat dir schon mal jemand beigebracht, dass Sätze aus mehr als einem Wort bestehen?“

„Nein, es tut mir Leid, in der Stunde muss ich gefehlt haben.“ Vanessa setzte ein süffisantes Grinsen auf. Dann fing sie sich wieder. „Und was feiert ihr?“

Elizabeth sah ihre Tochter einen kurzen Augenblick lang verständnislos an. Dann begann sie, zu lachen, als hätte sie einen Scherz gemacht. Vanessa verzog ihre Mundwinkel und sah Mel fragend an. Diese zuckte mit den Schultern und machte ein ebenso fragendes Gesicht.

Als Elizabeth sich ein wenig beruhigt hatte, strich sie ihr Kostüm glatt und räusperte sich. „Vanessa“, begann sie, als würde sie mit einem kleinen Kind reden. „Wir haben diese Feier für dich arrangiert. Es wird eine Abschiedsfeier werden. Viele deiner Verwandten werden da sein.“

„Wow.“ Vanessa presste ihre Lippen aufeinander und holte dann tief Luft. „Mum – das hast du nicht wirklich getan?“

„Oh doch, mein Kind.“

„Nenn mich nicht ‚mein Kind’. Aber... wieso... wieso machst du das?“

„Ich dachte, du fändest es ganz schön, dich von allen verabschieden zu können.“

„Aber... ich sehe sie sonst auch nur einmal im Jahr. Wenn überhaupt. Sie würden doch gar nicht bemerken, dass ich weg bin.“

„Vanessa, diese Auszeichnung ist etwas ganz Besonderes. Das muss gefeiert werden.“

„Natürlich, wie konnte ich nur fragen!“

Mel sah ihre Schwester von der Seite an. Sie konnte verstehen, dass sie alles andere als begeistert war. Familienfeste waren für sie... schrecklich. Der reinste Horror würde es auch treffen. Und dennoch war sie danach immerhin sechs Monate lang von jeglichem Kontakt zu ihren Eltern erlöst.

„Vanessa, es ist doch nur für einen Abend.“

Vanessa ließ ihren Blick vorsichtig zu Mel wandern. Ihre Schwester sah sie mit einem eindringlichen Ausdruck an, der ihr zu verstehen gab, dass sie jetzt bitte keinen Aufstand machen sollte. Vanessa seufzte. „Also schön. Party nächste Woche.“

„Und dann kommt ihr bitte nicht fünf Minuten zu spät“, meinte Elizabeth Hoffman, erhob sich und ging ins Esszimmer.

Wenn Blicke töten könnten, wäre Vanessa wahrscheinlich wenige Minuten später verhaftet worden.

 

***

 

Besagter Freitagabend rückte schnell näher, und mit ihm der Tag des Abfluges. Bereits seit Mittwoch war Vanessa dabei, ihre Koffer zu packen und alle zwei Minuten aufzustöhnen, weil ihr noch etwas Lebenswichtiges eingefallen war.

Während Mel ihre Sachen nach weniger als drei Stunden verstaut hatte, war Vanessa auch Freitagmittag noch damit beschäftigt.

„Hast du irgendwo mein Haarshampoo gesehen?“, rief sie durch das Haus, kaum dass Mel zur Tür rein war.

„Versuch’s mal im Küchenschrank ganz unten“, meinte Mel und ließ ihren Rucksack in die Ecke fallen.

„Was macht mein Shampoo im Küchenschrank?“

Mel zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich hat es sich nach einem neuen Job umgesehen und fand den Klarspüler am interessantesten.“

Vanessa joggte mit einer Flasche durch das Wohnzimmer vorbei an Mel und schmiss sie auf einen Haufen neben ihrem Koffer.

„Wie ich sehe, hast du dein Packritual nach unten verlegt.“

Vanessa nickte. „Die Sachen sind alle verstaut. Mir fehlen jetzt noch die Ökopantoffeln, das Snoopykissen und der grüne Fön.“

Mel warf Vanessa einen skeptischen Blick zu. „Wenn du die Latschen und das Kissen hier lässt, geb’ ich dir ‘nen heißen Tipp für den Fön.“

Vanessa blieb stehen und runzelte die Stirn. „Das ist nicht fair.“

Mel zuckte erneut mit den Schultern und griff nach der Popcornschüssel auf dem Couchtisch. „Ich brauch ihn ja auch nicht. Mum hat einen da.“

„Das ist gemein. Okay, ich schwöre, die Pantoffeln und das Kissen bleiben hier. Jetzt sag schon.“

„Ich Bad, gleich neben den Lockenwicklern.“

Vanessa blieb der Mund offen stehen. „Das ist...“

„Keine Pantoffeln.“

Das nächste Geräusch war irgendwo zwischen wütendem Grunzen und ärgerlichen Zischen angesiedelt. Mel war sich nicht sicher.

 

***

 

„Wie spät ist es?“

„Zwei Minuten vor Sieben.“ Mel stand neben ihrer Schwester und starrte auf die Haustür.

Vanessa sagte nichts weiter.

„Nessa, das ist albern.“

„Hey, zwei Minuten sind lebenswichtig.“

„Jetzt ist es nur noch eine.“

Vanessa sah weiterhin stur auf ihre Schuhe.

Dann holte sie tief Luft, seufzte und nickte. „Also schön.“

„Endlich“, meinte Mel und drückte auf die Klingel.

Wenige Sekunden später öffnete Elizabeth Hoffman die Tür und strahlte die zwei an.

„Kommt rein.“

Ein wenig zögernd betrat Vanessa ihr Elternhaus. Überall standen oder saßen Grüppchen von Leuten, die sie noch nie zuvor oder schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte.

„Also, wann genau geht morgen dein Flug?“

Vanessa legte ein gequältes Lächeln auf und säuselte: „Halb Zehn, Mum.“

Mel konnte sich beim Ton ihrer Schwester ein Grinsen nicht verkneifen. Vanessa schenkte ihr einen genervten Blick und murmelte: „Als ob sie das nicht gewusst hätte.“

„Diese Hochsteckfrisur steht dir übrigens sehr gut“, wechselte Elizabeth das Thema. „Ebenso wie das Kleid. Und du hast schon gepackt, ja?“

Vanessa tat, als wäre sie furchtbar erschrocken. „Ich wusste doch, da war noch was, was ich tun musste.“

Elizabeth sah ihre Tochter geringschätzig an. „Kommt jetzt, ich möchte Mel einigen Leuten vorstellen. Und du könntest in der Zeit deine Gäste begrüßen.“

„Meine Gäste...“, murmelte Vanessa und seufzte, als Mel mit Elizabeth in Richtung Wohnzimmer verschwand.

Sie strich ihr knielanges, rotes Trägerkleid glatt und bahnte sich dann einen Weg durch die Leute. Hin und wieder schüttelte sie eine Hand, führte zwei Sekunden Smalltalk und kämpfte sich dann weiter vor.

Als sie schließlich ihre Mutter wiedergefunden hatte, die gerade dabei war, Mel einem wichtig aussehenden älteren Herrn vorzustellen, war sie irgendwie erleichtert.

„Hey Mel“, meinte sie leise und wandte sich dann Elizabeth zu.

„Vanessa, gut dass du kommst“, meinte ihre Mutter und wies auf besagten älteren Herrn.

„Natürlich. Gut dass ich komme.“ Sie lächelte und reichte dem Mann die Hand.

„Ich bin Vanessa. Elizabeths Tochter.“

„Ah, Vanessa. Du bist groß geworden.“ Die Stimme des Mannes hätte Bäume fällen können, so laut und durchdringend war sie.

„Ja, die viele Sonne und ab und zu etwas Regen...“

Der Mann überhörte ihren Scherz. „Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du etwa drei Jahre alt und hast in Windeln in meinem Garten gespielt.“

„Oh... Ja, ähm...“ Vanessa warf ihrer Mutter einen kritisierenden Blick zu und wandte sich dann wieder an den Mann. „Sie sind nicht zufällig mit Helen Fielding befreundet?“

„Nein, nicht dass ich wüsste. Ah, da hinten ist Herbert. Herbert!“ Und schon war der Koloss in der Menge verschwunden.

„Helen Fielding?“ Elizabeth sah Vanessa fragend an.

Brigdet Jones, Schokolade zum Frühstück. Klasse Buch. Noch nie gelesen?“

Elizabeth schüttelte den Kopf. „Du hättest dir den Kommentar trotzdem sparen können. Alfred Winstor ist ein einflussreicher Mann.“

„Oh, hätte ich gewusst, dass das Alfred Winstor war! Tut mir schrecklich Leid.“

„Dein Sarkasmus wird dir noch mal auf die Füße fallen, Vanessa.“

„Sicher. Aber sag mir nicht, dass ich ihm jetzt ein Rentierpulli schenken muss und blaue Suppe mit ihm koche?“

„Wie bitte?“

„Das war auch aus dem Buch, Mum“, meinte Mel, verschränkte ihre Arme und grinste leicht.

„Oh.“

„Sag mal“, begann Vanessa, als sich ihnen die nächste Traube von Gästen näherte. „Mum, ich kann unmöglich allen Leuten hier die Hand schütteln. Bis dahin ist die Geisterstunde rum.“

„Dann halte doch eine Ansprache“, meinte Elizabeth mit einem Unterton der Gleichgültigkeit in der Stimme.

„Eine... Ansprache. Also schön, wenn du es sagst.“ Vanessa sah sich kurz im Raum um, nahm sich dann ein Glas und eine Muschelgabel, die auf einem der Snackteller lag, und schlug sie kurz gegen das Glas.

Nach wenigen Sekunden wurde es still im Raum und einige Gäste, die in der Eingangshalle gestanden hatten, kamen jetzt auch ins Wohnzimmer.

„Ähm... Also... Ich danke Ihnen, dass Sie alle zu meiner kleinen Abschiedsfeier gekommen sind.“ Bei dem Wort meiner warf sie ihrer Mutter einen lächelnden Seitenblick zu. „Ich bin übrigens Vanessa Hoffman, für alle, die mich das letzte Mal gesehen haben, als ich sieben war. Oder drei. Also, amüsieren Sie sich gut und... vielen Dank.“

Sie stellte das Glas wieder beiseite und wandte sich Mel zu.

Nach einem Moment des Wartens fingen plötzlich die ersten an, zu klatschen, doch der Applaus kam eindeutig nur aus Höflichkeit und ebbte schnell wieder ab.

„Vanessa!“ Elizabeth ging zu ihrer Tochter. „Das war doch keine Ansprache.“

„Nein, das war es nicht. Aber ich habe in zwanzig Sekunden sämtliche Hände geschüttelt und brauche nun niemanden mehr zu begrüßen.“

„Auch nicht mich?“, ertönte hinter ihr eine Stimme. Vanessa drehte sich um.

„Steve!“ Sie lächelte. „Was machst du denn hier?“

„Deine Mutter war so nett, mich einzuladen.“

„Das war ausnahmsweise wirklich mal... nett.“

Steve war ein langjähriger Freund von Vanessa und Melanie. Vanessa war mit ihm zur Schule gegangen. Seine Eltern waren enge Freunde von Elizabeth und Daniel. Steve war beruflich viel unterwegs und Vanessa freute sich, ihn heute hier zu sehen.

„Schön, dass du es geschafft hast“, meinte sie.

„Na, ich lasse mir doch die Gelegenheit, euch zu besuchen, nicht entgehen.“ Steve grinste. Er wuschelte Melanie durchs Haar, wie er es schon früher immer getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Dann wandte er sich wieder an Vanessa. „Und, aufgeregt?“

Vanessa sah ihn kurz ein wenig irritiert an, begriff dann und nickte. „Oh, ja, ein bisschen schon. Ich meine, Mel war noch nie so lange ohne mich, seit sie...“

„Schon klar.“ Sein Grinsen wurde breiter.

„Weißt du was?“

„Was?“

„Lass uns zum Büffet gehen. Ich sterbe vor Hunger.“ Sie hakte sich bei ihm unter.

„Na schön. Bevor du hier umfällst...“

 

***

 

Vanessa schlenderte, in der einen Hand einen Teller mit Süßspeisen, in der anderen ein Glas Sekt, durch das Wohnzimmer. Es war bereits nach halb zehn und sie fragte sich ernsthaft, wie sie es bis hierher überlebt hatte.

Vorsichtig ihren Teller balancierend ging sie die Treppe nach oben. Aus Mels Zimmer drang dumpf etwas Licht auf den sonst dunklen Flur. Vanessa öffnete die Tür und ihre Vermutung bestätigte sich.

„Na, war es dir auch zu viel?“ Vanessa trat ein und setzte sich auf Mels Bett.

„Hey, Nessa. Eigentlich nicht, ich wollte nur...“ Sie hob das Shirt an, welches sie gerade zu den anderen Sachen in die Kommode räumen wollte. Dann ließ sie es wieder sinken, seufzte und setzte sich zu ihrer Schwester. „Nein, du hast Recht. Dort unten sind über hundert Leute, von denen ich vielleicht sieben kenne. Ich dachte, es wäre eine ganz gute Ausrede, schon mal meine Sachen auszupacken.“

„Cleveres Mädchen“, stimmte Vanessa ihr zu.

„Du wirst mir fehlen, Nessa“, meinte Mel plötzlich unvermittelt.

Vanessa sah Melanie an und erkannte in deren Blick, wie ernst sie es meinte.

„Komm her“, meinte sie und nahm sie in den Arm. „Du wirst mir auch fehlen. Ich weiß, diesen Satz habe ich in letzter Zeit ziemlich oft gebraucht, aber sechs Monate können ganz schön schnell rum sein.“

Mel nickte. „Und wir telefonieren.“

„Jeden Abend.“

„Oder jeden zweiten.“ Mel grinste.

Vanessa erwiderte das Grinsen. „Vielleicht auch einmal die Woche.“

„Auf jeden Fall oft genug.“

„Und du musst mir alles erzählen, was hier passiert.“

„Wenn der Bürgermeister wieder einen Wutanfall bekommt, weil er das Gesetz für Leinenzwang bei Hunden nicht durchsetzen kann.“

„Oder wenn James aus dem Supermarkt sich ein neues Haustier holt“, lachte Vanessa.

„Oder Henry eine neue Freundin findet.“

Vanessa wollte gerade etwas erwidern, als sie Mels Worte vollständig begriff. Sie lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.

„Ja, genau“, meinte sie etwas weniger euphorisch als zuvor. „Oder wenn Madame Joleen ihre neue Kabarett-Show mit den Grandon Grundschülern fertig hat.“

Mel runzelte die Stirn.

Vanessa stand vom Bett auf. „Du solltest weiter auspacken. Ich bin unten.“

„Ist gut“, meinte Mel, die Stirn noch immer in Falten gelegt und leicht verwundert über den plötzlichen Stimmungswechsel ihrer Schwester.

 

***

 

Vanessa kam die Treppe herunter, noch immer ein wenig irritiert. Wieso störte sie der Gedanke so, dass Henry eine neue Freundin haben könnte? Er hatte einige Freundinnen gehabt in den letzten Jahren, mit einigen war sie sogar befreundet gewesen. Na ja. Zumindest ein bisschen. Aber wirklich traurig war sie nicht gewesen, als seine letzte Freundin gegangen war...

„Nun ja, man kann ja nie wissen. Immerhin ist Mel unsere Tochter.“ Elizabeths Worte rissen Vanessa aus ihren Gedanken. Sie blieb auf der untersten Stufe stehen und fragte sich, mit wem ihre Mutter wohl gerade redete. Vorsichtig ließ sie ihren Kopf ein wenig um die Ecke wandern. Es war Alfred Winstor, wie sie auch gleich darauf an seiner Stimme erkannte.

„Ich glaube allerdings, dass Melanie eine selbstbewusste Frau ist, die nicht hier wohnen möchte, wenn sie aufs College geht.“

Vanessa dachte, sich verhört zu haben. Sie kam die letzte Stufe herunter und blieb hinter den beiden stehen.

Elizabeth nippte an ihrem Glas und wiegte den Kopf hin und her. „Aber Melanie schuldet uns einiges. Nicht nur, dass wir ihr einen großzügigen Unterhalt zahlen. Ohne uns würde sie nie einen so großartigen High School Abschluss machen. Es wäre doch nur natürlich, wenn Melanie anschließend auf die Uni geht und an den Wochenenden wieder hier wohnt.“

Vanessa blieb der Mund offen stehen.

„Mum!“

Es wurde still im Raum. Elizabeth drehte sich zu ihrer Tochter um und in ihren Blick zeigte sich eine Spur von Überraschung.

„Vanessa.“

„Mum, wie... Wie kommst du dazu, so etwas zu sagen?“

Von dem Lärm, angelockt, kam jetzt auch Mel die Treppe herunter.

„Ich meine, nicht nur, dass du hier allen erzählst, wie abhängig wir von dir sind... Nein. Du musst auch gleich überall noch behaupten, wir wären ohne dich verloren. Ja, du zahlst Unterhalt für Mel. Und dafür danke ich dir, das weißt du. Aber sonst hast du doch nie etwas für uns getan. In deinen Augen bin ich doch eine Schande für die Familie und du versuchst immer wieder, mich zu ändern. Mein Ansehen wieder herzustellen. Du warst nie bereit, mir zu verzeihen, dass ich nicht aufs College wollte und du hast bis heute nicht akzeptiert, dass ich auch ohne deine Hilfe ein eigenständiges Leben führe. Ein Leben, indem ich nicht auf solche Partys muss, ein Leben, in dem ich mich wohl fühle und das nur durch gezwungene Feiern wie diese hier unterbrochen wird. Und jetzt sage mir nicht, dass ich ohne dich niemand wäre oder wie Mel ihr Leben zu führen hat. Hör auf, sie genauso zu bevormunden, wie mich damals. Warum kannst du uns nicht lieben, wie wir sind? Mel kann selbst wählen, auf welche Universität sie gehen wird und wo sie wohnen möchte. Wir kommen auch sehr gut ohne dich klar!“ Vanessas Gesicht hatte sich im Verlauf ihrer Rede von Zartrosa ins Dunkelrote verfärbt. Sie war unglaublich wütend. Erst jetzt bemerkte sie, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren.

„Vanessa...“

„Mel?“ Vanessa drehte sich um. Mel stand auf der Treppe, verwirrt und zugleich ein wenig hilflos. „Mel, ich wollte nicht... es tut mir Leid. Hör zu. Ich fahre jetzt nach Hause, ich... halte das hier nicht länger aus. Ich komme morgen früh noch mal wieder, um mich zu verabschieden. Mach’s gut.“

Mel nickte betroffen. „Bis morgen.“

Vanessa gab ihrer kleinen Schwester einen Kuss auf die Stirn, nahm sich ihren Mantel und ging dann. Als sie im Auto saß, holte sie tief Luft und gab Gas.

 

***

 

Als sie in Grandon ankam, war es bereits ruhig geworden. Der kleine Supermarkt lag im Dunkeln, ebenso die anderen Geschäfte und Läden. Nur im Coffee Culture brannte noch Licht. Vanessa parkte das Auto auf der gegenüberliegenden Straßenseite und strich sich ein paar Strähnen hinter die Ohren, die sich aus der Frisur gelöst hatten. Dann stieg sie aus, überquerte die Straße und betrat das Diner.

„Wir haben geschlossen“, meinte Henry, ohne aufzusehen, und wischte weiter mit einem Lappen über die Theke.

„Dann solltest du das Schild auch so hängen, dass man das erkennt.“

„Vanessa!“ Henry schien überrascht zu sein.

Er ließ seinen Blick über ihr Outfit wandern.

„Wow, ich meine...“ Er blinzelte ein paar Mal und sah wieder auf den Tresen. „Ähm, ich wusste nicht, dass du... wo ist Mel?“

Vanessa setzte sich auf einen der Hocker und zog sich eine Tasse heran. „Das ist eine lange Geschichte. Hast du noch Kaffee da?“

„Nur kalten. Aber ich kann welchen aufsetzen“, fügte er hinzu. Er griff nach der Kanne, leerte sie und füllte dann die Kaffeemaschine mit neuem Wasser. Nachdem er sie angeschaltet hatte, drehte er sich zu Vanessa um, nicht ohne sie erneut zu mustern. Als sein Blick bei ihrer Frisur hängen blieb, musste Vanessa grinsen.

„Was...“, setzte Henry erneut an, beendete seine Frage jedoch nicht sondern machte eine Geste zu ihren Haaren.

„Oh, das...“ Vanessa winkte ab. „Unsere Mutter hat ein kleines Fest gegeben.“

„Ach so, ja. Du hattest davon erzählt. Und warum bist du dann nicht mehr dort? Es ist erst...“ Er sah auf seine Uhr. „Kurz nach Zehn.“

Vanessa nickte. „Wir hatten einen kleinen... Streit. Ich will nicht darüber reden.“

„Oh. Schon klar.“ Er lehnte sich gegen die Arbeitsplatte hinter sich und betrachtete die Frau, die dort vor ihm saß. Sie wirkte erschöpft und enttäuscht. Und trotzdem sah sie unheimlich schön aus.

„Du hast da...“ Er griff nach einer Strähne, die ihr ins Gesicht hing, und wollte sie wegstreichen, doch Vanessa wich ein Stück zurück.

„Lass nur.“ Sie begann, ein paar der Haarspangen zu lösen. „Du hast doch nichts dagegen, wenn...“

„Nein, mach ruhig.“

Vanessa lächelte müde. „Das Zeug ist unheimlich schwer. Fühlt sich wie früher an, als ich mit einem Buch auf dem Kopf durch mein Zimmer laufen musste.“

Henry musste grinsen. Vanessa legte die Spangen eine nach der anderen vor sich auf den Tresen und schüttelte dann ihre Haare, sodass sie ihr wieder locker über die Schulter fielen.

„Schon besser“, seufzte sie und sah nach der Kaffeemaschine. „Hmm...“

„Was?“

„Mir ist nur gerade durch den Kopf gegangen, dass ich mir ja dann in London ein Stammcafé suchen muss, in dem es akzeptablen Kaffee gibt.“ Sie lächelte.

Henry nahm sich den Lappen und hob die Ketchupflasche an, um auch darunter wischen zu können. „Dann wünsch ich dir viel Glück.“

„Werd ich brauchen.“

Eine Weile herrschte Stille im Raum, Vanessa tippte ab und zu rhythmisch mit dem Finger gegen ihre Tasse und Henry betrachtete sie ab und zu dabei.

„Und Mel... wohnt bei euren Eltern?“, brach er schließlich das Schweigen.

Vanessa nickte. „Ja. Armes Mädchen. Aber sie schafft das schon.“ Dem Nicken folgte ein Grinsen. „Schließlich habe ich das ganze achtzehn Jahre ausgehalten.“

Henry erwiderte ihr Grinsen.

„Und wann genau geht dein Flieger?“

„Morgen früh halb Zehn.“

„Schon so früh?“

„Ja... hab ich dir das nicht gesagt?“

„Nein... Du hattest in letzter Zeit aber auch wenige Gelegenheit, mir irgendwas zu sagen.“

Vanessa biss sich auf die Unterlippe, denn ihr war der seltsame Unterton in seiner Stimme nicht entgangen.

„Tut mir Leid. Ich hatte so viel zu tun mit den ganzen Vorbereitungen. Da blieb einfach kaum Zeit für einen Kaffee zwischendurch.“

„Ja. Schon klar. Immerhin gibt es so einiges zu tun, wenn...“ Er machte eine ausschweifende Handbewegung. Vanessa nickte.

„Ja. Einiges...“

Es entstand erneut eine peinliche Stille, also warf sie einen Blick auf die Kaffeemaschine und war erleichtert, dass sie gerade die letzten Tropfen Kaffee abgab. Henry bemerkte es offensichtlich nicht.

„Ähm... Kaffee.“

„Hm?“

„Der Kaffee ist fertig.“

„Oh. Ja... klar.“ Henry griff nach der Kanne und schenkte ihr ein. Vanessa nahm gierig einen Schluck und seufzte. „Woah, das wird mir fehlen.“

Henry musste bei ihrem Anblick lächeln. „Ja, mir auch.“

„Du trinkst doch gar keinen Kaffee.“

„Das... hatte ich auch nicht gemeint.“

Sie sah ihn einen Moment lang überrascht an und begriff dann. „Oh...“

Sie nahm einen weiteren Schluck, stellte dann die Tasse ab und sah vorsichtig in Henrys Richtung, erleichtert, dass er gerade mit den Gläsern beschäftigt war. Vanessa rieb sich die Arme. Sie fröstelte kurz.

„Ist dir... kalt?“

„Hm?“

„Du hast gerade ausgesehen, als ob du frieren würdest.“

„Nein, nicht wirklich. Na ja, vielleicht ein bisschen.“

Henry ging um den Tresen herum, griff nach seiner Jacke und hängte sie Vanessa um die Schultern.

„Danke. Ich dachte schon, jetzt kommt wieder dein Supermankostüm zum Einsatz.“ Sie drehte sich ein Stück um und grinste.

„Nein, heute nicht.“ Er erwiderte ihr Grinsen. Seine Hände lagen noch immer auf ihren Schultern und Vanessa bekam eine Gänsehaut, als sie seine Finger für einen kurzen Augenblick auf ihrer Haut spürte.

Henry zog seine Hände zurück und räusperte sich.

Vanessa zog die Jacke enger um sich und senkte ihren Blick.

„Vanessa?“

„Hm?“ Sie drehte sich nicht zu ihm um, versuchte, sich auf die Kaffeetasse zu konzentrieren.

„Ich wollte dich fragen... ob wir vielleicht... mal etwas zusammen unternehmen könnten. Wenn du wieder da bist, meine ich.“

Jetzt musste sie sich doch zu ihm umdrehen. „Du meinst ein Date?“

Henry zog seine Stirn in Falten und sah dann auf seine Schuhe. „Na ja, nicht direkt...“

„Henry, hör mal...“ Sie wartete, bis er sie ansah. „Ich habe deine Freundschaft immer sehr geschätzt. Das ist... etwas ganz Besonderes. Sich darauf verlassen zu können, dass da jemand ist, der auch zu den unmöglichsten Zeiten für einen da ist und... zuhört. Weißt du, wir sollten ...“

„Oh.“ Er richtete seinen Blick wieder auf seine Schuhe. „Ist... schon okay.“

„Nein, Henry, so hab ich das nicht gemeint. Hör zu...“

„Nein, das ist wirklich in Ordnung. Weißt du, ich denke auch, dass es so besser wäre. War einfach eine blöde Idee.“

„Henry!“ Vanessa stand auf. „Ich wollte damit doch nicht sagen, dass wir nicht mal ins Kino gehen könnten oder so, aber ich bin jetzt eine Weile nicht da und ich will nicht...“

„Natürlich. Das ist okay. Ich meine... schließlich kann es ja passieren, dass du in Europa jemanden kennen lernst, mit dem du auch mal ausgehen willst.“ Er scharrte mit dem Fuß über den Boden.

Vanessa wusste nicht, was sie sagen sollte. Was war denn bloß in ihn gefahren? War er immer noch sauer, dass sie in den letzten drei Wochen so gut wie nie vorbeigeschaut hatte?

„Henry, jetzt lass mich doch mal ausreden!“ Sie seufzte, doch er stand weiterhin nur da und betrachtete den Fußboden. Schließlich hob er seinen Blick.

„Es ist wirklich okay, wenn du dort Dates hast. Ich meine, wir sind schließlich nur Freunde. Wirklich. Du solltest Dates haben.“

Vanessa blieb der Mund offen stehen.

„Na schön. Eigentlich hatte ich sagen wollen, dass wir das erst ausmachen sollten, wenn ich wieder da bin. Aber gut, du hast Recht. Ich sollte in Europa mit anderen Männern ausgehen.“ Sie war impulsiv und wütend. Wütend darüber, dass ihre Mutter sich so benommen hatte, wütend darüber, dass Henry sich grundlos so aufführte und vor allem wütend auf sich selbst, dass sie nicht einfach sagen konnte, dass sie wütend war.

Vanessa streifte sich die Jacke von den Schultern, ging an Henry vorbei und verließ das Diner. Als sie draußen war, kam ihr ein Schwall kalter Spätherbstluft entgegen. Ihre Augen brannten, und wenn sie eben noch gedacht hatte, dass der Wind der Grund dafür war, belehrte sie die erste Träne, die ihre Wange herunterlief, eines Besseren.

Gott, wie sie Streit hasste.

Als sie die Straße schon halb überquert hatte, hörte sie, wie die Tür zum Coffee Culture aufging.

„Hey“, rief Henry ihr hinterher.

Sie wollte sich nicht umdrehen, sie wollte wirklich einfach weitergehen. Und doch trieb sie die Hoffnung, sie könnten das Missverständnis aufklären, zurück.

Er hielt ihr ihre Handtasche hin und sah sie nicht an.

„Hast du vergessen“, meinte er nur.

Vanessa blieb einen kurzen Moment lang stehen, griff dann nach ihrer Tasche und machte einen Schritt rückwärts. Als Henry aufsah, konnte er sehen, dass sie weinte. Doch bevor er reagieren konnte, hatte sie sich umgedreht, war in ihr Auto eingestiegen und losgefahren.

Verdammter, verhasster Freitag.

~ Kapitel 4 ~

 Der Regen hinterließ feine Spuren auf dem Glas. Die dünnen Rinnsaale vermischten sich zu einem Geflecht aus farblosen Streifen.

Vanessa saß jetzt schon über eine Stunde in dem breiten Erkerfenster ihrer neuen Wohnung und beobachtete den Regen. Er war nicht stark, kein Unwetter oder Sturm, sondern einfach da. Das Novemberwetter schien in England nicht besonders viel Abwechslung zu bieten. Es hatte bei ihrer Ankunft geregnet, bei ihrem Einführungsseminar, ihrem Einzug und auch während der ersten zwei Wochen, die sie nun hier war.

Ein Seufzen entwich ihr und füllte den Raum für einen kurzen Augenblick mit Melancholie. Sie vermisste ihr Zuhause. Sie vermisste Mel, obwohl sie doch erst heute mit ihr telefoniert hatte. Sie vermisste Grandon und all die kleinen Dinge, die doch täglich gleich waren und ihr deshalb nie aufgefallen waren. Ihr Weg zur Arbeit. Das Ausschlafen und Gewecktwerden von Mel am Samstagmorgen.

Zweiwochenblues nannten die Anderen ihren Gemütszustand.

Die Anderen, das waren ihre Kollegen. Unter ihnen auch zwei wirklich nette Leute, mit denen sie jetzt schon häufiger etwas unternommen hatte. Karry und Jane. Doch heute war ihr nicht nach Weggehen. Sie wollte einfach nur hier sitzen und den Regen beobachten.

 

***

 

„Hey. Kannst du mir ‘n Kaffee machen?“

„Mel!“ Henry machte ein überraschtes Gesicht, als Mel den Laden betrat. „Klar. Setz dich.“

„Danke.“ Sie setzte sich und verschränkte die Arme. Dann legte sie ihr Kinn darauf ab und seufzte. Henry warf ihr einen fragenden Blick zu.

„Alles in Ordnung?“

Mel winkte ab. „Vanessa nennt das den Zweiwochenblues.“

„Sie fehlt dir, hm?“

„Ja. Es ist seltsam.“

Henry nickte und goss Mel dann ihren Kaffee ein.

„Es ist schön, dass du mal vorbeischaust.“

Mel nahm einen Schluck und setzte die Tasse dann wieder ab. „Ich treff’ mich nachher mit Jessi. Hab extra einen Bus eher genommen, um endlich mal wieder richtig guten Kaffee trinken zu können.“ Sie grinste.

„Und, wie... geht es Vanessa?“, wollte er wissen, vermied es jedoch, sie dabei anzusehen.

„Och.“ Mel zuckte mit den Schultern. „Ganz gut. Sie hat sich so langsam eingelebt und mit ihren Kollegen kommt sie auch ganz gut klar.“

„Das ist schön.“

Mel nickte. „Aber sie hatte ja noch nie Anschlussschwierigkeiten.“

„Oh ja.“ Jetzt musste Henry grinsen. Dann fiel ihm wieder ein, was alles am letzten Abend passiert war. Ob Mel davon wusste? Es schien nicht so...

„Sag mal, Mel, Vanessa hat erzählt, dass sie auf dieser Abschiedsfeier Streit mit eurer Mutter hatte, wollte aber nicht weiter darüber reden...“

„Oh. Das.“ Mel biss sich auf die Unterlippe und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. „Es war schon irgendwie ziemlich heftig, aber wie ich Mum kenne, wird sie das einfach ignorieren und so tun, als wäre gar nichts gewesen.“

„Aber sie behandeln dich nicht irgendwie...“

„Irgendwie was?“

„Na ja, komisch eben. Ich meine, weil sie Streit mit Vanessa hatten.“

„Nein. Mir geht’s gut. Obwohl ich mir doch überlege, jeden Morgen eine Stunde eher aufzustehen und herzukommen.“

„Wegen Jessi?“

Mel lächelte, schüttelte dann den Kopf und hob ihre Tasse an. „Deswegen.“

„Ah. Und euer Hausmädchen kann keinen Kaffee kochen?“

„Können schon. Aber Kaffee ist das nicht wirklich. Sie macht dieses komische Instant-Zeugs, weil sie die Bedienung des Vollautomaten nicht beherrscht. Widerlich.“

„Ich verstehe.“ Henry musste grinsen. „Na dann. Ich werde jeden Morgen eine Tasse für dich warm halten. Falls du es irgendwann doch mal schaffen solltest.“

„Danke. Das weiß ich zu schätzen.“ Mel warf einen Blick auf ihre Uhr und leerte dann zügig ihre Tasse. „So. Ich muss dann los.“

„Ja, bis bald.“

„Bis dann.“

 

***

 

Während sie zu Beginn des Kurses noch das Gefühl hatte, die sechs Monate würden nie vorübergehen, so wusste sie inzwischen nicht, wie sie all die Dinge schaffen sollte, die es zu tun galt. Die Vormittage waren gefüllt mit theoretischem Unterricht, in denen sie alles Mögliche über Management, Buchführung, Wirtschaft und Rechtslagen lernten. An den Nachmittagen arbeiteten sie in den renommierten Londoner Hotels und Restaurants, um all das Erlernte auch anzuwenden. Vanessa fühlte sich gewaltig an ihre Schulzeit erinnert, sagte sich jedoch jedes Mal, wenn sie kurz davor war, schreiend aus dem Fenster zu springen, dass sie all das hier für ihren großen Traum tat. Sie wollte dieses Restaurant. Sie wollte es und das so schnell wie möglich.

Nach zwei Monaten harter Arbeit wurde eine Prüfung für Mitte Februar angekündigt, in der das Wissen des ersten Semesters getestet werden sollte. Danach bekamen Vanessa und ihre Mitleidenden drei Tage frei. Ein Fakt, den sie sich redlich verdient hatten, wie Vanessa fand.

Doch vorher musste sie noch Abende damit verbringen, Bücher zu wälzen, Stoff zu wiederholen und zu lernen. Als sie heute aufgestanden und angezogen war, galt ihr erster Griff dem Telefon. Das Freizeichen ertönte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Nach dem siebten Signalton wollte Vanessa bereits auflegen, doch da erklang eine zerknautschte Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Hallo?“

„Mel?“

„Vanessa?“

„Hey Süße. Wie geht’s dir.“

„Nessa... Bis gerade eben ging es mir hervorragend. Ich habe in einem Pool mit Götterspeise gebadet und mein Handtuch bestand auf Zuckerguss.“

„Hat Mum anbauen lassen?“

„Nein. Ich habe geschlafen“, meinte Mel mürrisch.

„Oh nein, die Zeitumstellung!“ Vanessa schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und setzte sich auf ihr Bett. „Es tut mir Leid, das habe ich völlig vergessen.“

„Zum dritten Mal, wenn ich dich daran erinnern darf.“

„Es wird nie wieder vorkommen, das verspreche ich.“ Vanessa ließ sich rücklings auf das Bett sinken.

„Sicher. Weil ich ab morgen das Telefon ausschalte, wenn ich schlafen gehe.“

„Hee, es tut mir ehrlich Leid.“

„Schon gut. Also, was gibt’s?“

„Na ja, weißt du, wir schreiben in einem Monat unsere Zwischenprüfung.“

„Und deshalb holst du mich nachts um zwei aus dem Tiefschlaf?“

„Nein. Geweckt habe ich dich wegen Tedd Baker.“ Vanessa seufzte.

„Wer ist Tedd Baker?“

„Mein Date für nächste Woche. Er ist einsneunzig groß, sieht gut aus und hat unheimlich guten Humor.“

„Du hast ein Date?“

„Klar, wieso nicht?“

„Weil du lernen solltest?“, schlug Mel vor.

„Ach...“ Vanessa machte ein missmutiges Gesicht. „Spielverderberin. Gönn mir doch auch mal was.“

„Ich gönne dir immerhin deinen Schönheitsschlaf.“

„Und das weiß ich wirklich zu würdigen.“ Sie grinste.

Am anderen Ende der Leitung war ein Gähnen zu hören. „Also, ich habe die Nachricht gespeichert. Tedd Baker. Wenn ihr heiratet, nimm nicht seinen Namen an, das würde schrecklich klingen. Und jetzt lass mich wieder schlafen.“

„Na schön.“ Vanessa zog einen Schmollmund. „Ich meld mich dann wieder.“

„Ich warne dich!“

„Okay, du meldest dich.“

„Richtig.“ Mel gähnte erneut.

„Gut. Bis dann. Und nimm dir einen Schwimmring aus Lakritze mit.“

„Mach ich. Bis dann.“

Es klickte. Die Verbindung war unterbrochen. Vanessa legte den Hörer beiseite und setzte sich wieder auf. Sie liebte es, Mel nachts aus dem Schlaf zu holen. Und wenn sie die Drohung mit dem Telefon nicht wahr machte, konnte sie das noch des Öfteren tun. Ein Grinsen schlich sich in ihr Gesicht und beschloss, eine Weile dort zu bleiben.

Wenig später klingelte es. Vanessa schnappte sich ihre Jacke und Tasche und machte sich auf den Weg. Jane und Karry warteten auf sie.

 

***

 

Als Mel zwei Wochen später bei Henry auftauchte, war ihre Laune nicht gerade auf dem Höhepunkt. Missmutig ließ sie sich an einem der Tische nieder und schnappte sich die Karte, nur, um etwas in der Hand zu haben.

„Hey, was ist denn mit dir los?“, begrüßte Henry sie und stemmte die Hände in die Hüften.

Mel legte die Karte zurück und seufzte. „Vanessa hat vor zwei Tagen angerufen.“

„Und das ist so schlimm?“

„Und seitdem hat sie sich nicht mehr gemeldet.“

„Aha. Ihr habt doch schon häufiger nur einmal pro Woche telefoniert.“

„Jaa...“, meinte Mel gedehnt. „Aber da war sie auch nicht so aufgelöst.“

„Wie meinst du das?“ Henry legte seinen Notizblock beiseite und setzte sich zu Mel. Die sah ihn nachdenklich an.

„Na ja, ich weiß nicht, ob ich das erzählen darf...“

„Denkst du, ich laufe nachher wie eine dieser Kaffeeklatschzicken zu Madame Joleen?“

„Nein.“ Mel musste leicht grinsen. „Na schön. Hör zu.“ Sie senkte ihre Stimme. „Vanessa hatte ein Date mit einem Kollegen. Tedd Baker.“

„Grässlicher Name, wenn du mich fragst.“

Mel lächelte. „Das habe ich ihr auch gesagt. Jedenfalls schien es ganz gut gelaufen zu sein, denn sie ist danach noch zweimal mit ihm ausgegangen.“

Henry ballte seine Hände unter dem Tisch zu Fäusten, sagte jedoch nichts.

Mel seufzte kurz und fuhr dann fort. „Aber als sie vorgestern angerufen hat, war sie total seltsam. Sie schien geweint zu haben und redete wirres Zeug. Von wegen Tedd würde ihr nie sein Supermankostüm leihen und jemand in Grandon hätte sie vor ihrer Abreise um ein Date gebeten und sie hätte etwas Dummes gesagt, anstatt es anzunehmen.“

Henry wurde hellhörig.

„Na ja, und zwischen dem ganzen Schniefen und Räuspern kam auch noch so etwas hervor wie, sie würde sich einfach schrecklich fühlen. Ich glaube, das ist jetzt der Dreimonatsblues. Aber ich mache mir schon Sorgen, weil sie sich seitdem nicht mehr gemeldet hat.“

Henry hatte ihre letzten Worte gar nicht mehr wirklich wahrgenommen. Er nickte nur, gab ein murmelndes „Sie meldet sich sicher bald“ von sich und stand dann auf. Als Mel zwanzig Minuten später gegangen war, griff er zum Telefon und wählte eine Nummer.

„Ja, hallo, ähm, verbinden Sie mich bitte mit Transatlantic Airlines. Ja, ich warte. Danke.“

Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf dem Tresen, bis sich am anderen Ende jemand meldete.

„Hallo. Ist dort Transatlantic Airlines? Ich würde gerne einen Flug nach London buchen.“

 

***

 

Mel verbrachte ihre Nachmittage regelmäßig mit Jessi. Als sich ihre Schwester nach drei Tagen aber immer noch nicht gemeldet hatte, stellte sie fest, dass sie sich irgendwie nicht konzentrieren konnte. Weder auf den Lernstoff, den sie heute durchgehen wollten, noch auf das Gespräch, das Jessi mehr oder weniger alleine zu führen versuchte.

„Mel?“

„Hm?“

„Was ist los?“

Mel nahm einen Schluck von ihrer Cola. „Ich weiß auch nicht. Es ist wegen Vanessa.“

„Sie fehlt dir, hm?“

„Ja, schon. Aber das meine ich nicht. Du, hör mal...“ Sie setzte sich auf. „Könnte ich vielleicht mal telefonieren?“

„Mit Vanessa?“

„Ich mach es auch ganz kurz, versprochen.“

„Ja, schon gut. Natürlich.“

„Danke.“ Mel ging in den Flur, wo das Telefon stand. Sie nahm den Hörer ab und wählte. Das Freizeichen ließ sie dreimal warten, bevor Vanessa ran ging.

„Hallo?“

„Vanessa?“

„Mel?“

„Hey, wie geht’s...“ Mel lehnte sich gegen die Wand neben dem Flurschränkchen.

„Oh. Lieb dass du anrufst. Ich wollte gerade ins Bett gehen. Denn falls es dir diesmal entgangen ist: Bei mir ist längst Mitternacht durch.“

„Und da gehst du jetzt erst schlafen?“

„Ja... Ist etwas spät geworden.“

„Warst du wieder mit Tedd aus?“

„Gott, nein, hör mir auf mit dem. Dieser Name ist zum Gruseln. Der ganze Typ ist irgendwie… britisch.“

„Du wolltest ja nicht auf mich hören.“ Mel grinste.

Eine Weile schwiegen beide, dann wurde Mel wieder ernst.

„Nessa?“

„Ja?“

„Geht es... dir gut?“

„Ja. Natürlich.“

„Ich frage nur, weil du das letzte Mal etwas... seltsam warst.“

„Oh. Das. Ähm... Na ja. Ich war ein wenig down, wegen der Prüfung und weil das Wetter hier so deprimierend ist. Aber es ist alles in Ordnung. Wirklich.“

„Okay.“

„Also... darf ich dann schlafen gehen?“

„Klar. Das war nur meine Rache.“

„Du hast gut Reden. Wenn du früh müde bist, kannst du zu Henry gehen und einen ordentlichen Kaffee bekommen. Hier in London ist das, was die Coffee-to-go nennen, einfach fürchterlich.“

„So elend dein Schicksal sein mag, ich habe es nicht besser. Henry ist im Urlaub.“

„Was?“ Vanessa schien kurz aufzulachen. „Henry und Urlaub? Der macht doch nie Urlaub.“

„Doch. Als ich heute Nachmittag hin wollte, hing ein Schild an der Tür ‚Wegen Urlaub geschlossen’. Ich schwör’s.“

„Na dann. Hilft wohl nur zeitig ins Bett zu gehen.“

„Genau, und das solltest du jetzt auch tun.“

„Okay. Ich meld mich.“

„Ist gut. Bis dann.“ Mel beendete die Verbindung. Sie behielt den Hörer noch eine Weile in der Hand, lächelte dann und legte auf. Es ging ihr gut, und das beruhigte sie.

„Mel?“, kam Jessis Stimme aus dem Wohnzimmer.

„Ich komme!“

 

***

 

Der von allen Kursteilnehmenden gefürchtete Freitag der Zwischenprüfung war gekommen, und als Vanessa früh aufwachte, fühlte sie sich wie mit einem Hammer zerschmettert. Sie hatte gelernt, als würde ihr Leben davon abhängen. Nächtelang. Sie war neulich auch nicht weg gewesen, sie hatte bloß bis weit nach Mitternacht gelernt. Würde sie das jedoch Mel sagen, dann hätte diese etwas gegen sie in der Hand, wenn sie mal wieder ebenso lange gelernt hatte und Vanessa sie deshalb ermahnte. Es gab Dinge, die musste Mel nicht wissen, solange sie mit ihrer großen Schwester als Mutterersatz unter einem Dach wohnten.

Seltsamerweise war sie nicht wirklich aufgeregt. Sie hatte das Gefühl, gut vorbereitet zu sein und ausreichend gelernt zu haben. Selbst die schwierigen Gesetze zur Berechnung sämtlicher Investitionen, Kapitalzuschläge und Ausgabemöglichkeiten hatte sie im Kopf. Mathe war früher nie ihr Lieblingsfach gewesen, und sie war auch ziemlich schlecht gewesen. Doch jetzt... Sie wollte es. Sie wollte das hier schaffen. Für sich, für Mel und für ihren Traum.

Die Prüfung selbst dauerte einige Stunden. Nach der Hälfte der Zeit wurde Vanessa müde und sie wünschte sich, es würde nicht so stickig in dem Raum sein. Doch irgendwie schaffte sie es, sich auch ohne Kaffee wach zu halten und zu konzentrieren.

Als der aufsichtsführende Prüfer das Signal zum Ende der Zeit gab, legte sie seufzend den Stift weg und streckte sich erleichtert.

„Hey, das war doch gar nicht so schlecht“, meinte sie im Hinausgehen zu Karry, die ein ziemlich mürrisches Gesicht machte.

„Ja, wenn man nicht vergessen hätte, Paragraph fünf des Handelsgesetzbuches mit zu nennen. Aber ich konnte mich einfach nicht erinnern.“

„Oh.“

„Na ja, aber sonst, denke ich, habe ich mich ganz gut geschlagen.“ Die junge, blonde Frau setzte ein Lächeln auf und nickte, als wolle sie ihren Worten Nachdruck verleihen. Schließlich schloss auch Jane zu den Beiden auf. Sie seufzte theatralisch und klatschte dann in die Hände.

„So Leute, die Schufterei ist erst mal vorbei. Das fühlte sich fast wie an der High School an, findet ihr nicht?“

„Ja“, meinte Vanessa. „Damals ist mir auch immer nach einer halben Stunde der Fuß eingeschlafen. Grauenhaftes Gefühl.“

Jane grinste. Sie traten aus dem alten Gebäude und mussten die Augen schließen, weil die Sonne sie blendete.

„Hey, na das ist doch mal was. Zwei Minuten strahlender Sonnenschein zur Belohnung für all die Qualen.“ Vanessa schloss die Augen und genoss den Moment. Das kurzgeschnittene Gras des Parks duftete nach beginnendem Frühling. Sie fühlte sich tatsächlich wieder besser. Vielleicht hatte es wirklich nur an der Prüfung gelegen, sie war nervös gewesen, und da reagiert man eben über.

Gut gelaunt ging Vanessa die Stufen der Steintreppe vor dem Gebäude herunter.

„Wisst ihr was?“ Jane ging neben ihr her. „Wir sollten das feiern.“

„Du hast Recht“, stimmte Karry ihr zu. „Wir haben jetzt drei Tage frei – da können wir heute Abend so richtig einen drauf machen und haben morgen genug Zeit, um unseren Kater auszuschlafen.“

„Genau.“ Vanessa musste Grinsen. „Und den dritten Tag nutzen wir, um wieder wach zu werden und unseren Haaren klar zu machen, dass sie wieder normal auszusehen haben. Vielleicht sollten wir noch-“

Sie stockte mitten im Satz, als Ihr Blick an etwas hängen blieb, das einfach nicht sein konnte.

Henry. Da stand er, die Arme verschränkt, an einen Baum gelehnt, auf der anderen Seite des Parks und sah sie an. Einfach so. Er trug eine dunkle Jeans, ein weißes Shirt und darüber ein offenes, schwarzes Hemd. Vanessa legte ihren Kopf leicht schief und überlegte, ob sie nicht doch vielleicht an Halluzinationen litt.

„Hey, was ist los?“ Karry stieß sie an und warf ihr einen fragenden Blick zu. Vanessa sah sie kurz an und schüttelte verwirrt den Kopf.

„Nichts, ich...“

Ihr Blick wanderte wieder zu ihm. Und dann begriff sie, dass er wirklich da war. Sie wusste nicht, warum er das getan hatte, aber er stand eindeutig da und... zögerte?

Ja. Er zögerte, vorsichtig, als wüsste er nicht, wie sie reagieren würde. Die Überraschung in ihrem Gesicht wich einem Lächeln. Und dann, als sie sah, dass auch er lächelte, ließ sie ihre Bücher und die Tasche fallen und rannte los.

Sie wusste nicht, warum sie sich so freute, ihn zu sehen, aber das war ihr egal. Er war hergekommen, und das bedeutete, ihr Streit tat auch ihm Leid.

Stürmisch fiel sie ihm um den Hals. Henry wirbelte sie herum und ließ sie dann wieder los.

Noch immer grinsend strich sich Vanessa die Haare hinter die Ohren, trat von einem Bein auf das andere.

„Ich... ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Wie wär’s mit ‚Hallo’?“, schlug er vor.

„Hallo.“

„Hallo...“ Er erwiderte ihr Grinsen.

„Was.. was machst du hier? Ich meine, ich dachte du wärst im Urlaub.“

Er machte ein fragendes Gesicht und begriff dann. „Oh, ja, das Schild. Mel hat’s erwähnt, hm? Na ja, Urlaub eben.“

„Hier?“

„Ist doch schön hier, oder?“ Er machte eine ausschweifende Geste über den Park.

„Klar. Natur inmitten der Großstadt. Aber mal ehrlich... Du... fliegst doch nicht einfach so mal eben nach London...“

„Nein.“ Er seufzte. „Das ist ein bisschen kompliziert...“

„Okay.“ Sie nickte kurz und musste dann wieder grinsen.

„Was?“

„Nichts, ich...“ Sie sah kurz zu Boden und blickte dann wieder auf. „Schön, dass du da bist.“

Henry räusperte sich kurz und wollte etwas erwidern, als Karry und Jane mit Vanessas Büchern zu ihnen kamen.

„Hey, was war das denn für ‘ne filmreife Nummer?“ Karry drückte Vanessa ihre Bücher in die Hand.

„Oh. Ähm, darf ich vorstellen, das sind Karry und Jane, meine Leidensgenossinnen.“ Sie lächelte den Beiden zu und machte dann eine Geste in Richtung Henry. „Und das ist Henry. Er wohnt auch in Grandon.“

„Oh.“ Jane musterte ihn kurz und warf Vanessa dann einen fragenden Blick zu. „Ist er dein... ich meine, seid ihr zusammen?“

„Oh.“ Vanessa machte ein verzerrtes Gesicht. „Nein, ähm, wir sind...“

Karry winkte ab. „Richtig, du bist ja mit Tedd ausgegangen.“

Vanessa sah zu Boden und hoffte, Karry und Jane würden das Thema schnell langweilig finden. Und sie hatte Glück.

„Also, heißt das jetzt, dass du heute Abend nicht mehr mitkommst?“

„Wie? Ach so, das. Na ja...“ Vanessa sah von Jane zu Henry und wieder zu Jane. Henry sagte nichts und blickte auf seine Schuhspitzen.

„Nein. Ich komme ein andermal mit. Geht ihr ruhig und trinkt einen für mich mit.“

„Also schön.“ Karry zuckte mit den Schultern. „Wir sehen uns. Bis dann.“

„Denk daran, vor dem Schlafengehen deine Haare zusammenzubinden. Sonst reicht der dritte Tag nicht aus“, meinte Vanessa und grinste. Karry lachte kurz und machte sich dann mit Jane auf den Weg. Vanessa blieb mit Henry zurück.

„Das waren ja nette... Leidensgenossinnen.“

„Ja, sie sind... nett.“

Henry nickte nur.

„Also“, meinte Vanessa. „Wo wollen wir hingehen?“

„Hm?“

„Oder hast du heute Abend schon was vor? Hotelzimmer einrichten? Souvenirs einkaufen? In dem einen Laden am Bahnhof gibt es diese niedlichen, kitschigen roten Busse. Manche kannst du sogar öffnen und mit Bonbons füllen.“

Henry musste grinsen. „Nein... eigentlich hatte ich noch nichts vor.“

„Dann schlage ich vor, dass wir in mein Stammcafé gehen?“

„Du hast eins gefunden?“

„Na ja, nicht direkt. Es ist nicht zu weit von meiner Wohnung entfernt und der Coffee-to-go ist immerhin schwarz. Und das will was heißen.“

„Ah.“

„Also, komm.“ Vanessa hakte sich fröhlich bei ihm unter.

 

***

 

„Der Abend war wirklich schön.“ Vanessa sog tief die frische Nachtluft ein, die bereits wieder nach Regen roch.

„Ja, das war er.“

„Aber das nächste Mal, wenn du in ein Café gehst, springst du nicht auf, wenn jemand reinkommt, und fragst ihn, was er bestellen möchte.“

„Das war eben aus alter Gewohnheit...“, verteidigte sich Henry, sah dann wie sie grinste und begriff, dass sie ihn nur ärgern wollte. Er hatte vor, ihr eine schlagfertige Antwort zu geben, hielt jedoch inne und blieb stehen.

Vanessa drehte sich zu ihm um. „Was ist?“

Henry hielt seine Hand flach vor sich und nickte dann. „Es regnet.“

„Was?“

„Ich hab einen Tropfen gespürt.“

Vanessa hielt nun ebenfalls ihre Hand vor sich und verzog dann das Gesicht. „Oh nein.“

„Was ist?“

„Wir sollten anfangen, zu rennen.“

„Wieso?“

„Weil der Regen hier immer hereinbricht wie eine Lawine. Komm, beeilen wir uns lieber.“ Vanessa griff nach Henrys Arm und zog ihn mit sich. Doch es war zu spät. Wenige Sekunden später setzte der Platzregen ein und begann, sie zu durchnässen.

Lachen und stolpernd rannten sie durch den Regen, bis vor Vanessas Haustür. So schnell sie konnte kramte sie nach ihrem Schlüssel und öffnete die Tür. Als sie im Hausflur waren, schüttelte Vanessa sich und musste noch immer lachen. Henry begann, bei ihrem Anblick zu grinsen.

„Was?“

„Du siehst aus... wie...“ Sein Grinsen wurde breiter. „Nass eben.“

„Oh. Das kann ich mir ja nun gar nicht vorstellen.“ Sie schüttelte ihre Hände, um wenigstens da etwas Wasser loszuwerden. Das Tropfen ihrer Haare verursachte kleine Pfützen auf dem Fußboden.

„Also schön, ich sollte dann gehen“, meinte Henry und wandte sich zur Tür.

„Hey.“ Vanessa hielt ihn zurück. „Das ist doch nicht dein Ernst. Da draußen wird es noch mindestens eine Stunde regnen. Du holst dir den Tod, oder aber eine Lungenentzündung.“

„Aber...“

„Nein, nix aber. Komm mit hoch, ich geb’ dir ein Handtuch und wir trocknen deine Sachen.“

Henry zögerte. Vanessa, die bereits auf halber Treppe stand, grinste.

„Komm schon. Außerdem könntest du mir einen Kaffee kochen. Ich habe wirklich guten Pulverkaffee bei einem Ökoladen um die Ecke entdeckt.“

Henry seufzte kurz. „Also schön.“

Sie gingen die Treppen zum dritten Stock rauf und Vanessa schloss ihre Wohnungstür auf. Henry trat hinter ihr ein und sah sich um. Vanessa ging inzwischen ins Badezimmer und kam mit zwei Handtüchern wieder.

Henry zog sein schwarzes Hemd aus und begann dann, sich die Haare abzutrocknen. Das weiße Shirt, welches völlig durchnässt war, lag hauteng an seinem Oberkörper an und als Vanessa aufsah, hielt sie einen Moment lang inne. Henry bemerkte ihren Blick und stoppte ebenfalls. Wie ertappt sah Vanessa zu Boden.

„Ähm, entschuldige die Unordnung“, stammelte sie ausweichend. „Aber ich hab nicht so viel Zeit neben dem Lernen und den ganzen Kursen.“

„Nein, nur für Tedd Baker“, murmelte Henry.

„Was soll das denn heißen?“ Sie sah ihn überrascht an. „Und woher weißt du davon?“

Henry biss sich auf die Unterlippe. „Ähm... Deine Freundin hat ihn vorhin erwähnt.“

„Ja, das hat sie. Aber woher kennst du seinen Nachnamen?“

„Den... hat sie auch gesagt?“

„Nein, weil wir den namen furchtbar britisch finden und ihn nicht mehr aussprechen. Stell dir mal vor – Vanessa Baker! Ich will doch keine Brötchen verkaufen. Hat Mel es dir erzählt?“, stocherte sie weiter.

Henry seufzte. „Ja. Ja, das hat sie. Aber nur, weil sie sich Sorgen gemacht hatte“, fügte er hinzu, als sie etwas erwidern wollte. „Nimm ihr das nicht übel.“

Vanessa schüttelte den Kopf. „Tu ich nicht.“

„Und?“

„Was und?“

„War es wenigstens nett?“

„Mit Tedd Baker? Na ja...“ Vanessa wurde rot. „Er war schon charmant, aber...“ Sie zögerte kurz und frottierte ihre Haare. „Er war einfach nicht mein Typ.“

„Aha.“

„Und außerdem bin ich doch nur aus Trotz mit ihm ausgegangen.“

„Aus Trotz?“

„Ja.“ Sie lehnte sich gegen den Küchentisch und sah auf ihre Füße, die sie von den nassen Schuhen befreit hatte. „Ich weiß auch nicht. Ich hab’ mich eben einsam gefühlt und mich daran erinnert, dass du gesagt hast, es wäre gut, wenn ich ausgehen würde.“

„Oh, das...“ Henry ließ das Handtuch sinken. Er betrachtete Vanessa eine Weile.

„Weißt du“, fuhr sie fort. „Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich meine, ich hätte auch einfach sagen können, dass ich gerne mal mit dir ins Kino gehen würde. Oder woanders hin.“

„Würdest du?“ Henry sah überrascht auf.

Vanessa nickte verlegen.

„Aber das wäre... kein Date.“ Henry sah sie noch immer fragend an.

„Na ja. Ich weiß nicht.“

„Und wenn das kein Date wäre, warum hast du dann nein gesagt?“

Jetzt war es Vanessa, die ihn überrascht ansah. „Ich habe nicht nein gesagt. Aber du hast mir nicht richtig zugehört. Ich wollte nur nicht, dass wir etwas ausmachen, kurz bevor ich hierher gehe. Ich meine, ich wollte nicht, dass du-“

„Warten musst?“, beendete Henry den Satz und begriff jetzt.

Vanessa lächelte kurz und seufzte. „Ja.“

Henry überbrückte den Abstand zwischen ihnen und blieb dicht vor ihr stehen. Vanessa spürte, wie ihr Puls schneller ging.

Ganz vorsichtig hob Henry seine Hand und strich ihr mit dem Daumen über die Wange. Seine Augen glänzten dunkel und geheimnisvoll und sie schien sich darin zu verlieren. Sie schloss ihre Augen, wusste, was passieren würde. Und dann spürte sie seine Lippen auf ihren, ganz zart, federleicht. Es war nur ein kurzer, flüchtiger Kuss, doch er füllte sie von Innen heraus mit Wärme.

Als er sich wieder von ihr löste, sah sie auf.

„Warum...?“, flüsterte sie.

Er lächelte und nahm ihre Hände in seine. „Weil ich wissen wollte, ob es sich lohnt, zu warten.“

Vanessa wusste nicht, womit sie das verdient hatte. Er war extra wegen ihr hierher geflogen, und das, obwohl er Reisen hasste. Und dann begriff sie, dass er der Grund für ihre schlechte Laune war. Er hatte ihr gefehlt, und sie wünschte sich, dass sie doch mehr waren, als nur gute Freunde.

In einer einzigen Bewegung hatte sie ihn zu sich herangezogen und fing seine Lippen mit ihren ein. Henry schien ein wenig überrascht zu sein, doch dann erwiderte er den Kuss und Vanessa schlang ihre Arme um ihn. Er drückte sie an sich, als hätte er Angst, sie könnte verschwunden sein, wenn er sie losließe. Vorsichtig vertieften sie den Kuss. Vanessa fuhr mit ihren Fingerspitzen über seine Brust und ließ sie schließlich unter sein nasses Shirt gleiten. Zögernd begann Henry, mit seiner Hand unter ihrem Pullover über ihren Rücken zu streichen. Sie unterbrachen den Kuss kurz, nur, um sich ihrer Oberteile zu entledigen. Der plötzliche Verlust des Körperkontaktes jagte Vanessa eine Gänsehaut über den Rücken und sie zog ihn sofort wieder an sich. Ganz sanft begann sie, ihn in Richtung ihres Schlafzimmers zu dirigieren. Einzelne Kleidungsstücke fielen auf dem Weg dorthin zu Boden. Noch immer eng umschlungen ließen sie sich schließlich auf das Bett sinken.

Draußen prasselte der Regen in einem sanften Rhythmus gegen die Fenster.

 

***

 

Als Vanessa am nächsten Morgen aufwachte, vernahm sie den angenehmen Geruch von frischem Kaffee. Das Bett neben ihr war leer, doch bei dem Gedanken an die letzte Nacht musste sie lächeln.

Noch ein wenig müde stand sie auf und folgte dem Kaffeeduft in die Küche. Eine große Tasse mit noch immer dampfendem Inhalt stand auf dem Tisch. Daneben lag ein Zettel.

 

Warten lohnt sich. Genieß den Kaffee.

 

Vanessas Lächeln wurde breiter. Sie setzte sich und betrachtete den Zettel. Er war wieder weg, aber das war in Ordnung. Sie hatte bereits die Hälfte der Zeit geschafft - also würde sie die restliche Zeit auch noch rum bekommen. Und Henry... Er wollte auf sie warten.

Vanessa nahm einen großen Schluck Kaffee, setzte dann die Tasse ab und musste wieder grinsen. Sie las sich den Zettel an diesem Morgen noch viele Male durch. 

~ Kapitel 5 ~

„Ob es hier jemals aufhört, zu regnen?“, meinte Karry gähnend und sah aus dem Fenster.

„Mmh.“ Vanessa rieb sich müde die Augen. Es fiel ihr schwer, dem Geschehen im Seminarraum aufmerksam zu folgen. Sie war von der letzten Woche noch völlig übermüdet, während der sie erneut Nächte mit Lernen verbracht hatte. Hin und wieder kam es auch vor, dass sie nicht einschlafen konnte, weil sie sich zu viele Gedanken machte.

Sie hatte seit seiner Abreise noch nicht wieder mit Henry gesprochen, und auch mit Mel nicht. Es fehlte ihr irgendwie, mit jemandem darüber reden zu können. Was, wenn die Sache einfach passiert war, ohne eine Bedeutung zu haben – wie sollten sie jetzt noch Freunde sein? Wollten sie überhaupt noch Freunde sein? Vanessa war verunsichert.

Was sah sie denn in Henry? Er war ihr bester Freund. Er war da, wann immer sie ihn brauchte. Sie hatten Spaß zusammen und sie hatten auch schon schlechte Zeiten durchgemacht. Er hatte ihre Männer kommen und gehen sehen – hatte es ihm je etwas ausgemacht? Vanessa wusste es nicht. Andrea hatte hin und wieder Andeutungen gemacht. Aber Andrea war manchmal… ein wenig weltfremd. Wie sollte sie die Zeichen richtig deuten… Und wenn doch? Was, wenn Henry sie wirklich liebte und sie ihn immer wieder verletzt hatte, indem sie zu ihm kam und sich über fehlgeschlagene Beziehungen beschwerte… Diese Sache war kompliziert. Und trotzdem wuchs in Vanessa die Hoffnung, dass diese Nacht der Beginn von etwas Neuem, etwas Schönem sein konnte.

Mit dem Anflug eines Lächelns zog Vanessa einen kleinen, inzwischen völlig zerknitterten Zettel aus ihrer Tasche. ‚Warten lohnt sich’, stand darauf. Es waren noch knapp drei Monate. Keine Ewigkeit.

„Träumst du?“, riss Jane Vanessa aus ihren Gedanken.

„Was? Nein…“ Vanessa schüttelte den Kopf, mehr, um ihn frei zu bekommen als um zu verneinen.

„Hast du Lust, nachher mit in die Stadt zu kommen? Ich denke wir sollten mal wieder so richtig shoppen gehen.“

„Hmm…“ Vanessa zog die Stirn in Falten. „Irgendwie ist mir heute nicht danach. Vielleicht am Wochenende.“

„Okay“, meinte Jane schulterzuckend. Dann wandte sie sich wieder nach vorn um dem Geschehen des Unterrichts zu folgen. Vanessa versuchte, er ihr gleichzutun. Mitarbeitermotivation. Dafür brauchte sie eigentlich keinen Unterricht.

 

***

 

„Coffee Culture, was kann ich für Sie tun?“

„Hey Bill, hier ist Vanessa, ist Henry da?“ Vanessa saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und spielte leicht nervös mit der Schnur des Telefons.

„Warte kurz, ich schau mal nach. HENRY!“

„Himmel!“ Vanessa musste den Hörer vom Ohr wegnehmen. Henrys Dad konnte ziemlich laut werden, wenn er wollte. Sie hörte Stimmen im Hintergrund, das Klirren von Tellern und Scharren von Stühlen. Es dauerte eine Weile, bis am anderen Ende wieder eine Stimme ertönte.

„Hallo?“

„Hey…“ Hörte sie sich nervös an?

„Nein, heute haben wir Muffins, keine Donuts. Wer ist denn dran?“ Henry schien nebenbei eine Bestellung aufzunehmen.

„Ähm, Vanessa.“

„Wer? Oh… Hi. Ähm. Warte.“

Sie hörte dumpf, wie er die Bestellung aufnahm und an Bill weitergab. Dann hörte sie eine Weile gar nichts. Als sie schon glaubte, die Verbindung war aus irgendeinem Grund unterbrochen, ertönte ein leises Klicken und Henry meldete sich wieder.

„Hey.“

„Hey. Ich dachte schon, Bill hätte aus Versehen aufgelegt.“

„Nein, ich habe das Gespräch auf das Telefon im Büro umgelegt.“

„Oh. Alles klar. Das ist praktisch.“

„Ja das ist es.“

„Also...“ Vanessa hatte die Telefonschnur inzwischen völlig verfitzt und versuchte nun, sie wieder aufzudrehen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Also…“, begann Henry, schien jedoch auch nicht weiter zu wissen.

Vanessa seufzte. „Das konnten wir aber schon mal besser.“

„Stimmt“, meinte Henry und sie konnte das Grinsen aus seiner Stimme heraushören.

„Also. Wie geht es dir?“

„Gut. Ich meine, der Laden läuft. Bürgermeister Barnes versucht, in der Dalton Street einen Zebrastreifen durchzusetzen. Madame Joleen bereitet den Frühjahrstanz vor. Alles beim Alten, wie du siehst. Und bei dir?“

„Ganz okay, soweit. Es regnet nach wie vor ständig, aber da ich die meiste Zeit mit Lernen oder Arbeiten verbringe…“ Sie machte eine Pause. Was wollte sie ihm eigentlich sagen?

„Da bleibt nicht viel Zeit für anderes…“

„Nein“, stimmte sie ihm zu. „Hin und wieder telefoniere ich mit Mel.“

„Ja, sie schaut ab und zu hier vorbei. Sie scheint ganz zufrieden zu sein.“

Vanessa grinste. „Na ja, solange sie mit unseren Eltern nicht über mich redet, lebt sie außerhalb der Gefahrenzone.“

„War euer Streit so schlimm?“

„Schlimmer. Aber das wird schon wieder. Meine Eltern sind da wie ein Bumerang. Ich werde sie einfach nicht los.“

„Na dann.“ Auch Henry schien zu grinsen.

„Hör mal“, begann Vanessa schließlich und holte tief Luft. „Ich wollte mit dir über neulich reden. Du warst so schnell verschwunden…“

„Ja, weißt du, mein Flugzeug ging schon so zeitig und ich wollte dich nicht wecken…“

„Okay.“ Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Danke für den Kaffee.“

„Keine Ursache.“

„Nein, ich meine, er war wirklich gut. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass er nicht mehr so sein könnte, wie früher, aber dann war er sogar noch besser. Weißt du, manchmal brauche ich einfach einen kleinen Anstoß, um aufzuwachen.“

„Wir reden hier nicht mehr über den Kaffee, oder?“ Henry schien irritiert.

„Nein“, gab sie zu. „Hier geht es um mehr als nur Kaffee. Es geht um unsere Freundschaft, und das, was daraus werden soll.“

Henry räusperte sich. „Vanessa, ich möchte nicht, dass du dich unter Druck gesetzt fühlst, wegen… einer Nacht.“

„Das tu ich nicht. Aber ich möchte gern wissen, ob wir… auf derselben Seite sind. Nicht, dass du das Buch schon beiseite gelegt hast, während ich noch bei Kapitel eins bin.“

Henry lachte kurz leise. „Na schön. Ich denke, du solltest dein Seminar beenden und wir sehen weiter, wenn du wieder da bist.“

„Oh.“ Sie war ein wenig enttäuscht. Irgendwie hatte sie sich eine andere Antwort erhofft.

„Hör mal. Ich hatte das alles nicht geplant. Und ich bin normalerweise kein besonders spontaner Mensch.“

„Schon gut. Ich denke, ich habe es verstanden“, meinte sie nun lächelnd. „Lassen wir es langsam angehen.“

„Genau.“ Er atmete erleichtert auf.

„Okay.“ Sie hatte inzwischen aufgehört, mit der Schnur des Telefons zu spielen.

„Ich sollte dann wieder zurück in den Laden gehen.“

„Okay.“

„Also dann.“

„Also dann…“ Sie überlegte kurz. Hatte sie ihm gesagt, was sie sagen wollte?

„Vanessa?“

„Hm?“

„Schön, dass du angerufen hast.“

Sie lächelte. Offensichtlich schon.

„Finde ich auch.“

„Bis bald“, meinte er und dann vernahm sie das leise Klicken in der Leitung. Zufrieden und noch immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht legte sie auf. Sie hatte plötzlich Lust auf eine Familienpackung Vanilleeiscreme.

 

***

 

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, bereute Vanessa ihre Fressattacke vom Vorabend. Ihr war übel und sie hatte einen faden Geschmack im Mund. Müde stellte sie ihren Wecker aus und kroch aus dem Bett. In der Küche nahm sie sich ein Glas Wasser. Mit einem schnellen Handgriff hatte sie nebenbei die Kaffeemaschine angeschaltet.

Der Alltag ging weiter. Vormittags hörte sie sich mehr oder weniger interessante Vorlesungen an, nachmittags kellnerte sie in einem Hotel, führte probeweise die Buchhaltung, empfing Gäste oder dekorierte Zimmer – alles im Rahmen ihrer „Weiterbildung“. An manchen Abenden glaubte sie, es vor Erschöpfung nicht einmal mehr bis zu ihrer Wohnung hoch zu schaffen. Die Arbeit nahm sie so sehr in Anspruch, dass sie immer seltener die Gelegenheit fand, mit Mel zu telefonieren. Von der Sache mit Henry hatte sie ihr noch nichts erzählt. Sie wusste selbst noch nicht, was das für sie zu bedeuten hatte. Also sollte sich Mel keine Gedanken darum machen.

 

***

 

„Hallo Mum.“ Mel nickte Elizabeth kurz zu und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer.

„Hallo Mel. Und, wie war dein Tag?“ Wie üblich folgte Elizabeth ihr.

Mel ließ ihren Rucksack neben den Schreibtisch fallen und schälte sich aus ihrer Jacke.

„Ganz okay. Wir haben heute mit klassischer Literatur begonnen. Und in Biologie fangen wir nächste Woche mit unserem großen Projekt zum Thema Ökosystem an.“

„Na das klingt doch aufregend“, meinte Elizabeth. „Ich warte dann unten mit dem Tee auf dich.“ Und schon war sie wieder verschwunden.

Mel hatte sich an dieses Ritual gewöhnt. Seufzend tauschte sie ihre Schuluniform gegen Jeans und Sweatshirt aus. Dann öffnete sie ihren Pferdeschwanz und machte sich auf den Weg ins Esszimmer. Elizabeth wartete bereits.

Mel setzte sich und nahm sich eines der Törtchen, die jeden Nachmittag bereit lagen.

„Und, was hast du heute gemacht?“, fragte sie ihre Mutter und biss dann ab.

„Heute Morgen habe ich die Zwiebeln für die Frühjahrssaat gesteckt. Sie stehen im Wintergarten. Dann habe ich Sofie eingewiesen. Sie lernt schnell. Und sie macht guten Tee.“

„Du hast Helena entlassen?“, fragte Mel überrascht.

„Nun ja“, meinte Elizabeth, „sie hat die Betten nicht richtig gemacht, obwohl ich es ihr viermal gezeigt habe.“

„Das ist tragisch“, erwiderte Mel und Elizabeth entging der Sarkasmus in ihrer Stimme.

„Ja, tatsächlich. Aber Sofie sagte, sie könne auch ausgezeichneten Kaffee kochen. Darauf habe ich bestanden.“

„Das ist sehr aufmerksam von dir, danke.“

„Hast du eigentlich mal wieder mit deiner Schwester telefoniert?“, wollte Elizabeth ganz unvermittelt wissen.

Mel leckte sich einen Krümel von der Lippe. „Sie hat im Moment unheimlich viel zu tun. Wir haben ausgemacht, dass ich sie nächstes Wochenende wieder anrufe.“

„Und, wie geht es ihr?“

„Gut…“ Mel war ein wenig irritiert. Elizabeth hatte, seit sie hier wohnte, noch nicht einmal über Vanessa gesprochen oder sich nach ihr erkundigt. „Sie arbeitet viel. Ihre Zwischenprüfungen hat sie mit Auszeichnung bestanden. Wenn sie so weitermacht, ist sie bald Millionär.“ Sie grinste.

„Oh, na wenn das so ist.“ Elizabeth nahm einen Schluck von ihrem Tee.

„Findest du nicht, ihr zwei solltet euch aussprechen? Ich meine, wenn du sie anrufst, dann hört sie dir vielleicht auch zu…“

„Wenn Vanessa mir etwas zu sagen hat, dann kann sie das jederzeit tun. Sie weiß, wo ich wohne und sie kennt unsere Telefonnummer.“

Für Elizabeth schien das Thema damit beendet. Mel seufzte kurz und nahm sich ein zweites Törtchen.

Zumindest war sie sich inzwischen sicher, von wem ihre Schwester ihre Sturheit geerbt hatte.

 

***

 

„Wie Sie alle wissen, stehen in vier Wochen Ihre theoretischen, und in sechs Wochen Ihre praktischen Abschlussprüfungen an. Deshalb werden wir in den nächsten Seminaren vor allem relevanten Stoff wiederholen, logistische Fragen klären und eine kleine Gesprächsrunde veranstalten, in der wir gerne von Ihnen wissen würden, was wir beim nächsten Mal verbessern könnten.“ Der junge Seminarleiter verteilte Bögen mit Übungsaufgaben.

„Die Unterrichtszeiten. Kürzere Seminare, längere Pausen, weniger Arbeit“, murrte Karry und hatte Mühe, ihre Augen offen zu halten. Sie war in den letzten Wochen blasser geworden und hatte stark abgenommen.

Vanessa hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Sie fühlte sich nicht besonders wohl. Es war bereits Ende März und das Wetter wurde langsam freundlicher. Vielleicht hatte sie sich irgendwo eine Frühjahrsgrippe eingefangen.

„Ich trinke inzwischen drei Tassen Schwarztee, bevor ich früh überhaupt ansprechbar bin“, pflichtete Jane ihrer Freundin bei. „Hin und wieder greife ich auch zu drastischeren Mitteln.“

„Sag bloß?“

„Eine kalte Dusche am frühen Morgen kann wahre Wunder wirken und – Um Himmels Willen!“, schrie Jane auf und stürzte herüber zu Vanessa, die von ihrem Stuhl gerutscht war. Auch Karry kam sofort zu ihr und hockte sich neben sie.

Jane schlug Vanessa sanft gegen die Wange. „He, Vanessa!“

Sie reagierte nicht.

Auch der Seminarleiter war inzwischen zu ihnen gekommen.

„Was ist denn passiert?“

Karry verzog ihr Gesicht. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist sie völlig überarbeitet.“

Jane nickte. „Sie wirkte die letzten Wochen schon immer so übermüdet.“

„Ich… ich…“ Der junge Mann fuhr sich durch die Haare. Dann griff er nach seinem Handy. „Könnten Sie bitte Thomas bei uns vorbeischicken? Hier ist jemand in Ohnmacht gefallen… Ja. Danke.“ Ganz blass im Gesicht legte er auf.

Jane war weiterhin damit beschäftigt, auf Vanessa einzureden.

„Karry. Karry, ich glaub sie kommt zu sich.“ Jane wich ein Stück zurück.

Tatsächlich öffnete Vanessa die Augen.

„Gott, was ist denn passiert?“, meinte sie leise und versuchte, sich an den Kopf zu fassen. „Ich fühle mich, als hätte ich mich gestern mit Jonny Walker verbündet.“

Karry lachte kurz. „Nein. Du bist mitten im Seminar in Ohnmacht gefallen. Klarer Fall von Schlafentzug.“

„Na ja“, widersprach Jane, „einen Arzt sollte sie trotzdem aufsuchen. Normal war das nicht. Hast du das häufiger?“

Vanessa richtete sich vorsichtig auf. „Nein, eigentlich nicht. Ich weiß auch nicht.“

Die Tür ging auf und ein Mann mittleren Alters, bei dem sich bereits andeutungsweise Geheimratsecken sichtbar machten, betrat dem Raum.

„Thomas, gut dass du kommst“, begrüßte der Seminarleiter ihn und lotste ihn herüber zu Vanessa. „Sie ist plötzlich in Ohnmacht gefallen.“

Thomas nickte und kniete sich zu Vanessa herunter.

„Wissen Sie, wo Sie sind und welcher Tag heute ist?“

Vanessa zog ihre Stirn kraus. „Sicher. Vanessa Hoffman, achtundzwanzig Jahre. Und wenn Sie auch meine Schuhgröße noch wissen wollen…“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Haben Sie Schmerzen?“

Sie schien kurz zu überlegen. „Ein wenig im Rücken.“

Jetzt nickte er und stand, Vanessa völlig ignorierend, wieder auf. „Es scheint alles in Ordnung zu sein. Sie sollten sicherheitshalber einen Termin im städtischen Krankenhaus ausmachen. Und die Teilnehmer des Seminars etwas weniger arbeiten lassen.“ Und ebenso wortlos, wie er gekommen war, ging Thomas wieder.

„Nun gut“, seufzte der junge Mann, noch immer ein wenig verwirrt. „Ich vereinbare einen Termin für Sie, Miss Hoffman. Vielleicht sollten Sie jetzt besser nach Hause gehen.“

Vanessa nickte knapp und ließ sich von Karry und Jane aufhelfen.

„Schaffst du es?“, meinte Jane besorgt. Vanessa griff nach ihrer Tasche und packte ihr Schreibzeug ein.

„Schon gut. Es geht schon wieder, danke.“

Noch ein wenig unsicher auf den Beinen machte sie sich auf den Weg aus dem Klassenzimmer.

Sie hatte schon häufig wochenlange Übermüdung durchgestanden. Doch das hier, das war… mehr als nur anstrengend. Und trotzdem schienen ihre Kollegen es zu schaffen, ohne in Ohnmacht zu fallen. Es wurde Zeit, dass die restlichen zwei Monate vorübergingen.

 

***

 

Und jetzt saß sie hier in dieser Arztpraxis und wusste zum ersten Mal in ihrem Leben nicht, was sie sagen sollte. Der Bluttest hatte sie müde gemacht, und die vielen Fragebögen waren verwirrend gewesen. Einen Magenvirus hätten sie finden sollen, oder Stress durch Überarbeitung. Aber nein, dieser Arzt hatte ihr mit einem Lächeln auf den Lippen die in seinen Augen wohl freudige Nachricht überbracht. Das passte nicht in ihren Plan. Vielleicht in ein paar Jahren, mit dem richtigen Partner. Sie wollte jetzt noch keine Kinder, und sie… war schwanger. Vanessa presste ihre Lippen aufeinander. Das hier war wie aus einem schlechten Film. Und sie mittendrin.

„Sind Sie sicher?“, hörte sie sich selbst fragen und hätte lachen können über ihr klischeehaftes Verhalten, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Natürlich war er sich sicher. Nur so zum Spaß sagte man so etwas schließlich nicht.

Der Mann im weißen Kittel, der ihr plötzlich so weit entfernt vorkam, nickte flüchtig.

„Bluttest und Ultraschall waren eindeutig. Sie sind noch jung, ich denke nicht, dass es irgendwelche Probleme geben sollte. Rauchen Sie?“

„Bitte?“ Vanessa brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er ihr nicht etwa eine Zigarette anbieten wollte.

„Ähm, nein. Aber ich trinke ziemlich viel Kaffee…“

„Nun ja, das sollten sie umgehend einschränken. Eine Tasse hier und da ist in Ordnung. Aber vor allem sollten sie viel Wasser oder koffeinfreien Tee trinken. Fenchel ist immer eine gute Wahl, oder ab und an eine Tasse Pfefferminztee.“

Engländer schienen Pfefferminz generell zu lieben, ging es Vanessa durch den Kopf. In der Schokolade, in der Soße, im Tee…

Dem Arzt schien aufzufallen, dass sie von dieser Nachricht überrascht und nun ein wenig irritiert war.

„Hören Sie, Miss Hoffman, Sie sind jetzt in der sechsten Schwangerschaftswoche. Es gibt Möglichkeiten-“

Vanessa sah entsetzt auf. „Es wegmachen zu lassen? Um Himmels Willen, nein...“

Sie runzelte ihre Stirn. „Ich bin zwar geschockt und ehrlich gesagt absolut ratlos, aber das kam mir nicht in den Sinn. Ich verdiene gutes Geld, habe ein Haus und ein nettes Leben. Ich weiß nur einfach nicht, wie ein Baby da reinpassen soll.“

Ein Lächeln war die Antwort des Arztes auf ihre aufgebrachten Worte. „Ich verstehe. Dann sollten wir uns darüber unterhalten, wie sie sich von nun an verhalten sollten.“

„Sie meinen abgesehen von dem Kaffee?“

„Genau. Ich werde Ihnen einige Vitaminpräparate verschreiben, Folsäure, B12… nur zur Sicherheit, für die nächsten Wochen.“

Vanessa nickte nur. Ihr war übel. Sie fühlte sich plötzlich wie eine Fremde, hoffte, dass sie gleich aufwachen würde oder die Zeit zurückdrehen könnte. Der Arzt erzählte immer noch etwas von Schwangerschaftsgymnastik und Atemkursen. Wie hatte das eigentlich passieren können?

„Hören Sie…“, unterbrach sie ihr Gegenüber. „Wieso bin ich eigentlich schwanger?“

Sie bekam einen fragenden Blick zurück.

„Ich meine, ich nehme die Pille. Und sie hat seit Jahren gewirkt…“ Die Stirn in Falten gezogen spielte Vanessa mit ihrem Ärmel.

„Das kann ich Ihnen so genau nicht sagen. Das stand in Ihren Unterlagen nicht drin. Haben Sie in letzter Zeit Antibiotika nehmen müssen? In seltenen Fällen kann auch eine Magendarmverstimmung oder extremer Stress die Wirkung aufheben…“

Vanessa nickte stumm. Stress also. Aber sie hatte doch früher auch schon oft Stress gehabt…

 

***

 

Das Telefon lag in ihrer Hand wie ein Stein. Es fühlte sich kalt und schwer an, genauso wie Vanessa selbst. Sie saß auf ihrem Bett und starrte auf den Hörer in ihrer Hand, unfähig Henrys Nummer zu wählen. Oder Mels. Die letzten beiden Nächte hatte sie damit verbracht, sich Vorwürfe zu machen, in Tränen auszubrechen und zu schlafen, nur um am nächsten Morgen erneut mit den Vorwürfen zu beginnen. Diese Sache mit Henry, die war wunderbar gewesen. Und jetzt wuchs sein Kind in ihrem Bauch heran. Der Gedanke hatte zunächst etwas erschreckend Abstoßendes an sich gehabt. Sie würde nach Grandon zurückkehren und ein Kind von Henry bekommen. Das war absurd. Henry mochte keine Kinder. Keine Babys zumindest, oder kleine Kinder die ununterbrochen nervten, ihre Schokoladenfinger an Polster schmierten oder einen nächtelang wachhielten. Wie sollten sie auf dieser Basis denn eine Beziehung aufbauen können?

Vanessa seufzte und legte den Telefonhörer zurück auf den Nachttisch. Sie konnte es ihm jetzt nicht sagen. Noch nicht. Zuerst einmal musste sie mit sich selbst klar kommen. Ihr fielen die Worte wieder ein, die sie dem Arzt gesagt hatte. Vanessa lehnte sich zurück. Es stimmte. Ihr Leben war doch in Ordnung. Sie verdiente genügend Geld, sie hatte ein Haus, ein Auto – finanzielle Sicherheiten. Es ging ihr gut. Sie hatte Freunde, die sie unterstützen würden. Ein Baby war doch wirklich kein Weltuntergang. Aber es kam einfach so... unerwartet. Vielleicht, wenn die Sache mit Henry etwas geworden wäre und in ein, zwei Jahren... Nein.

Sie schüttelte leicht den Kopf. Sie sollte sich jetzt vor allem darauf konzentrieren, die letzten Wochen hier zu überbrücken und diese Prüfungen zu bestehen. Und dann...

Ein Lächeln schlich sich auf Vanessas Gesicht und ihre Hand strich sanft über den noch flachen Bauch. Dann würde sie ein kleines Wesen mit nach Hause bringen.

 

***

 

„Hey Henry.“ Mel grinste breit während sie sich an der Theke niederließ.

Henry nickte ihr zu und goss Kaffee in eine große Tasse.

„Danke.“ Sie nahm sie entgegen und nippte kurz.

„Wie geht es dir so?“, fragte Henry und räusperte sich. Geheimnisse lagen ihm nicht. Ob Mel irgendetwas wusste? Hatte Vanessa ihr etwas erzählt?

Mel hob unentschlossen die Schultern. „Weißt du, es wird Zeit, dass sie endlich wiederkommt. Ich meine...“ Sie rutschte auf ihrem Hocker hin und her. „Diese letzten drei Wochen kommen mir viel länger vor, als die ersten vier Monate zusammen.“

Henry nickte. Es schien nicht so, als ob Mel irgendeine Ahnung hätte. Die Anspannung in seinen Schultern löste sich ein wenig.

„Es ist seltsam, aber in Grandon fehlt etwas ohne Vanessa.“

Mel lachte kurz auf. „Und mir fehlt Grandon. Das Leben im Luxus meiner reichen Eltern ist zur Abwechslung ja ganz schön, aber ich vermisse all die kleinen Dinge, die Vanessa und ich hatten.“

Henry zog fragend die Augenbrauen nach oben. „Wie eure Chilipommes mit Extra-Ketchup und Curry?“

„Oder die Videoabende mit zwanzig Kilo Süßigkeiten.“ Mel nahm einen weiteren Schluck Kaffee und zog die Stirn kraus. „Aber am meisten vermisse ich die Gespräche mit ihr. Mum ist immer so höflich und förmlich. Ich würde nie auf die Idee kommen, meine Hausschuhe in die Ecke zu schmeißen und die Füße auf dem Sofa hochzulegen.“

Jetzt musste Henry lachen.

„Sollte dieser Tag doch einmal kommen, wäre ich gerne dabei.“

„Versprochen.“ Mel hob ihre Finger, als würde sie einen Schwur ablegen. Dann trank sie in einem Zug ihre Tasse leer.

„Musst du schon los?“

„Ja. Mein Bus fährt gleich ab.“ Sie rutschte von ihrem Hocker.

„Na dann. Grüß Vanessa, wenn du das nächste Mal mit ihr sprichst.“

„Mach ich. Bis dann.“

Henry sah ihr einen Moment nach und schüttelte den Kopf. Vanessa hatte es ihr nicht gesagt. Sicherlich hatte sie ihn vor ihr nicht in eine peinliche Situation bringen wollen. Ganz Vanessa.

 

***

 

Es war erstaunlich warm, als Vanessa mit Karry und Jane das Gebäude verließ. Sie waren auf dem Weg zur Abschlussveranstaltung und fühlten sich in ihrem Talar irgendwie seltsam. Sie hatten es geschafft. Sechs Monate harter Arbeit zahlten sich nun aus. Aber das bedeutete auch, dass ihre gemeinsame Zeit hier vorbei war. Sie würden in die Staaten zurückkehren und jeder wieder ihrer Wege gehen. Karry in Chicago, Jane irgendwo in North Carolina und Vanessa in Pennsylvania.

Mit einem Gefühl von Ehrfurcht, Freude und Anspannung nahmen die drei ihre Plätze inmitten der anderen Absolventen ein. Der Kursleiter hieß sie kurz Willkommen. Der Präsident der Ausbildungsbehörde hielt eine längere Ansprache und anschließend wurden die Urkunden ausgeteilt. Vanessa strahlte, als sie auf dem Podium stand und auf die anderen blickte. Sie hielt hier den Schlüssel in der Hand, der endlich die Tür zur Erfüllung ihres Traumes öffnen konnte. Ein eigenes Restaurant. Sie war qualifiziert und sie hatte das Geld. In diesem Moment fühlte sie sich so glücklich, wie lange nicht.

 

***

 

„Was hältst du davon, wenn wir zusammen essen gehen?“, schlug Karry vor.

„Der neue Italiener soll hervorragendes Eis haben“, stimmte Jane zu.

Vanessa grinste. „Na dann. Aber ich bin dafür, vor dem Eis mindestens alle Pizzen durchzuprobieren.“

Gemeinsam schlenderten sie, inzwischen wieder in Jeans und T-Shirt, eine kleine Straße in Richtung Stadtzentrum entlang. Der Italiener hatte vor einer Woche neu eröffnet. Während der Prüfungstage hatten die drei weder Lust noch Zeit gehabt, ihn auszuprobieren.

Sie wählten einen Tisch auf dem Bürgersteig, der durch einen kleinen, blumenumrankten Zaun vor eventuellem Straßenverkehr geschützt wurde. An den anderen Tischen saßen vereinzelt Pärchen oder Grüppchen, die offenbar alle das gute Wetter genossen.

„Hmm...“ Vanessa zog die Karte zu sich. „Lasst mal sehen. Hier, das klingt gut: ‚Doppelkäse-Hawaii-Pizza mit extra knusprigem Rand’. Ich sterbe für Käse.“

Jane lachte und warf einen Blick über ihre Schulter. „Der Nudelauflauf sieht aber auch nicht schlecht aus.“

Karry schlug ihre Beine übereinander und lehnte sich zurück. „Wir sollten einfach ein paar Sachen heraussuchen, die uns gefallen und sie dann alle durchprobieren.“

Vanessa nickte. „Angefangen bei der Käse-Hawaii-Pizza.“

Nachdem sie ein paar Minuten über der Karte gebrütet und sich entschieden hatten, begannen sie sich über ihre Zukunftspläne zu unterhalten. Karry wollte den Betrieb ihrer Eltern übernehmen, damit er nicht in die Hände ihrer geizigen Schwagers fallen konnte. Eine kleine Hotelkette, in der Stadt verstreut. Jane wollte ein ‚Bed and Breakfast’ an einem Freeway eröffnen. Davon hatte sie schon als kleines Mädchen geträumt, nachdem sie selbst einmal in einem solchen Hotel übernachtet hatte.

Sie tauschten ihre Adressen aus und schossen ein paar Abschiedsfotos. Der Abend wurde lang und als Vanessa irgendwann nach zwei Uhr morgens ins Bett kam, war sie völlig erschöpft. Morgen würde sie packen müssen. Und übermorgen ging ihr Flug zurück nach Grandon. Zurück in ihr altes Leben. Und ihr neues.

Ihre Hand ruhte auf dem Bauch, der sich inzwischen ein ganz klein wenig wölbte. Sie wusste noch nicht, wie dieses neue Leben aussehen sollte. Aber die letzten Wochen hatten ihr genug Zeit gegeben, um nachzudenken. Anfangs hatte sie immer wieder versucht, es Mel oder Henry am Telefon zu sagen und dann gezögert. So etwas konnte man nicht am Telefon erklären. Sie würde warten, bis sie wieder zu Hause waren.

Und Henry? Auch ihm würde sie es sagen. Aber zunächst wollte sie abwarten, wie es zwischen ihnen weitergegangen wäre. Vielleicht war ihre Freundschaft stark genug, um trotz des Babys weiter zu bestehen und sich in die Richtung zu entwickeln, die sie bereits begonnen hatten. Auf keinen Fall wollte sie Henry durch das Kind an sich binden, ohne dass er wirklich eine Beziehung mit ihr eingehen wollte. Sie würde sehen, was passiert. Etwas anderes blieb ihr auch gar nicht übrig.

 

***

 

Henry war ein wenig nervös. Immer wieder wanderte sein Blick zu seiner Uhr. Sie würde heute wiederkommen. Er hatte sich bei ihrem letzten Telefonat nicht getraut zu fragen, wann genau ihr Flieger landen würde, um nicht zu aufdringlich zu wirken. Diese eine Nacht war inzwischen schon so lange her und kam ihm jetzt so unwirklich vor. Was erwartete sie von ihm? Was erwartete er von sich selbst? Waren sie jetzt zusammen oder nicht?

Ein Seufzen entwich ihm, als er zum wiederholten Male feststellte, dass seit seinem letzten Blick auf die Uhr kaum zwei Minuten vergangen waren. Er fühlte sich wie ein verwirrter Teenager, konnte jedoch nichts dagegen tun. Ob sie sich bei ihm meldete? Es war bereits später Nachmittag. Vielleicht kam sie erst heute Abend an. Oder sie war zu Hause und wartete darauf, dass er sich meldete.

„Hey Dad, halt mal kurz die Stellung. Ich komme gleich zurück.“

Ein Grunzen aus der Küche war die Antwort und Henry verschwand im Flur hinter dem Café, der die Treppe zu seinem Apartment verbarg. Zwei Stufen auf einmal nehmend erreichte er die Tür und trat ein. Für einen kurzen Moment stand er einfach nur da und kratzte sich am Kopf. Sollte er sie wirklich anrufen? Ach, verdammt. Henry griff nach dem Hörer und wählte ihre Nummer. Entweder sie war zu Hause oder nicht.

Er ließ es klingeln. Einmal. Zweimal. Nach dem vierzehnten Freizeichen legte er auf. Sich die Unterlippe leckend tigerte er durch das Wohnzimmer. Dann wählte er noch einmal. Wieder ertönte nur das Freizeichen. In Henrys Bauch machte sich ein seltsames Gefühl von Hoffnung und Nervosität breit. Was wollte er eigentlich sagen?

Die Antwort auf diese Frage wurde ihm abgenommen. Sie war noch immer nicht da. Leicht frustriert legte Henry auf und fuhr sich durch die Haare. Also gut. Er würde weiter warten.

Diesmal nicht ganz so hastig kehrte er in den Laden zurück. Und blieb im Türrahmen stehen.

„Was zur Hölle...?“

Vor ihm türmten sich unzählige Kisten auf.

„Dad?“ Henry bahnte sich einen Weg durch die Kartontürme hinter den Tresen.

„Hm?“ Ein Kopf lugte aus dem Büro hervor.

„Was ist das?“ Henry zog seine Augenbrauen nach oben und seine Stimme war ein wenig höher als sonst.

Bill zuckte mit den Schultern und murmelte irgendetwas Unverständliches, bevor er wieder im Büro verschwand.

Henry blickte sich ungläubig um. Der ganze Laden war zugestellt mit mindestens fünfzig dieser Pakete. Henry trat hinter dem Tresen hervor, um sich eine der Kisten genauer anzusehen. Sie kamen aus London. Und laut der Aufschrift enthielten sie...

„Kaffee?“

„Ich dachte, du könntest ein bisschen davon brauchen. Schließlich habe ich es versprochen...“

Abrupt drehte sich Henry um. Da stand sie. Und lächelte.

Henry öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder. Dann räusperte er sich.

„Ja, ich meine, schließlich verkaufe ich den hier.“ War ihm nichts Dümmeres eingefallen?

Vanessa grinste und sah kurz zu Boden. Henry nutzte den Augenblick, um sie zu mustern. Sie trug ein weites T-Shirt mit der Aufschrift ‚London Girl’ und eine ausgewaschene Jeans. Ihre Haare waren ein bisschen länger, als er sie in Erinnerung hatte. Als sie wieder zu ihm aufsah, war ihr Grinsen einem schüchternen Lächeln gewichen. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Sie standen einfach da und Henry war froh, dass ihre Lieferungsaktion offenbar die Kundschaft vertrieben hatte.

„Ich...“, meinte er.

„Weißt du“, begann sie gleichzeitig.

Sie lachte scheu und schüttelte den Kopf über sich selbst. Und dann machte sie einen Schritt auf ihn zu, genau in dem Moment, als auch er den Abstand zwischen ihnen überbrücken wollte. Henry schlang seine Arme um sie und zog sie eng an sich. Vanessa fing seine Lippen ein und grub ihre Hände in sein Hemd. Für eine Weile schienen sie alles um sich herum zu vergessen. Als sie sich von ihm löste, atmete sie hart und schnell. Auch er musste erst seine Atmung beruhigen. Vanessa lehnte ihre Stirn gegen seine und öffnete die Augen. Ein warmes Braun empfing ihren Blick.

„Hallo“, flüsterte sie.

„Willkommen zu Hause“, erwiderte er.

Vanessa lächelte. Sie küsste ihn erneut, diesmal sanfter und zärtlicher. Weder sie noch Henry bemerkten, dass sich draußen vor den Fenstern eine Traube von Leuten angesammelt hatte, die das Schauspiel neugierig verfolgte.

~ Kapitel 6 ~

 Sie standen noch immer ganz nah aneinander zwischen hohen Stapeln von Kartons. Vanessa grinste. Sie hatte geglaubt, sich erst durch ein langes Gespräch mit Henry arbeiten zu müssen, weil er vielleicht einen Rückzieher machen wollte. Dem war offenbar nicht so.

Henry trat einen Schritt zurück und räusperte sich.

„Und jetzt?“

„Du könntest mir einen Kaffee machen. Die Reise war ziemlich anstrengend, ich hatte bestimmt seit zwanzig Stunden keinen mehr...“

Henry ging hinter den Tresen und goss ihr einen Pot Kaffee ein.

„Davon habe ich ja bis zum nächsten Jahrtausend genug“, meinte er und schob ihr die Tasse zu.

„Genau, und...“ Vanessa wollte gerade etwas sagen, als ihr sein seltsamer Gesichtsausdruck auffiel. Sie folgte seinem überraschten Blick und entdeckte nun ebenfalls die Versammlung der Bürger von Grandon vor dem Café, die gerade auseinanderging und so tat, als wäre sie nur zufällig hier. Henry ging zu den Fenstern und zog die Jalousien zu.

„Jetzt brauchen wir es wenigstens niemandem mehr selbst zu erzählen“, lachte Vanessa.

Henry schüttelte den Kopf, amüsiert, dass sie es so leicht nahm. Dann trat er an sie heran und wurde ernst.

„Vanessa?“

„Hm?“ Sie stellte ihre Tasse ab.

„Wie... soll es jetzt eigentlich weitergehen?“

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Dann legte sie ihre Hand auf seinen Arm und lächelte. „Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Aber wir könnten damit anfangen, das Date nachzuholen, welches du vor einem halben Jahr vorgeschlagen hast.“

Henry schien erleichtert. „Gut.“

„Es war deine Idee - was schlägst du vor?“

„Kino?“, fragte er zögernd.

„Damit liegst du bei mir immer richtig. Hast du eine Ahnung, was morgen Abend läuft?“

Henry zog ein wenig hilflos die Schultern nach oben. „Nein.“

Vanessa winkte ab. „Ist sowieso egal.“

„Wieso?“

„Na, weil wir bestimmt mit anderen Dingen beschäftigt sind“, grinste sie.

Henry gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Da wir das geklärt haben - wie war eigentlich dein Seminar? Also, die letzten Wochen so?“ Er ging hinter den Tresen zurück und begann, nebenbei die Tafel mit dem Tagesangebot zu säubern.

„Oh, ganz okay. Ziemlich stressig.“ Vanessa nahm einen weiteren Schluck Kaffee. „Jedenfalls habe ich jetzt verschiedene Zeugnisse, die meine absolut einwandfreie Qualifikation für alles bestätigen, was auch nur im Entferntesten mit einem Restaurant zu tun hat. Managen, Kellnern, Putzen, Werbung, Diplomatie...“

„Dachdecken“, warf Henry ein schrieb etwas auf die dunkle Fläche der Tafel.

„Auch das. Schornstein reinigen, Wirbelstürme fernhalten, Wunder vollbringen...“

„Ich seh’ schon, du wirst meine Hilfe gar nicht mehr brauchen.“

„Untersteh dich!“, meinte Vanessa und drohte ihm mit einem Kaffeelöffel. „Für den ganzen Elektrikerkram bist du zuständig. Die Stunden habe ich geschwänzt.“ Henry hatte ihr schon immer geholfen, wenn es um die Elektrik ihres Hauses ging. Oder anderer Handwerkerarbeiten.

„Na dann. Ich nehme fünfzehn Dollar fünfzig die Stunde.“

„Gibt es Rabatt bei guter Führung?“

„Immer“, erwiderte er und beugte sich über den Tresen, um sie zu küssen. Es gefiel ihm, wie sich ihre Wangen leicht röteten.

„So gerne ich dir weiter beweisen würde, wie gut ich mich führen kann... Ich sollte dann langsam nach Hause gehen. Melanie kommt in zwei Stunden von der Schule und wir müssen zu unseren Eltern, um ihre Sachen zu holen.“

„Trotz des Streits?“

„Gerade deshalb.“ Sie seufzte. „Noch geht Mel zur Schule.“

„Na dann. Sehen wir uns morgen?“

„Ich brauche doch mein Frühstück“, grinste sie. „Und wir haben ein Date.“

„Richtig. Ein Date.“

Das hörte sich irgendwie seltsam an. Neu. Fremd. Gut.

Vanessa stand auf und ging zur Tür. „Bis dann.“

Er sah sie mit einem warmen, liebevollen Ausdruck an. „Schön, dass du wieder da bist.“

Sie warf ihm ein letztes Lächeln zu und ging, mitten durch eine Menge von Leuten, die noch immer vorgaben, gerade zufällig dort gewesen zu sein und es nicht wagten, ihr irgendwelche Fragen zu stellen...

 

***

 

Vanessa saß wartend auf den Stufen ihres Hauses, als sie Mel entdeckte, die auf ihrem Heimweg die Straßenseite wechselte. Als die jüngere Hoffmanschwester Vanessa entdeckte, breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus und sie begann, loszulaufen. Stürmisch umarmten sie sich, unendlich erleichtert, nach einer halben Ewigkeit wieder zu ihrem alten Leben zurückzukehren. Beide fingen gleichzeitig an zu sprechen, lachten dann und umarmten sich erneut.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, wieder zu Hause zu sein“, sagte Mel überschwänglich.

„Multipliziere es mit sieben und addiere die größte Zahl, die dir einfällt. Dann kommst du in die Nähe meiner Erleichterung, dass das Seminar vorbei ist und ich dich wiederhabe.“ Vanessa schob Mel vor sich her ins Haus. „Also. Wir haben eine halbe Stunde, bevor wir wieder losmüssen. Zieh dich um und erzähl - wie geht es dir?“

Mel schlüpfte aus ihrem Pullover und nuschelte etwas von ‘Ganz gut’ und ‘Nicht mehr so aufgebracht’. Dann tauchte sie wieder auf.

„Ich meine, wir haben fast nie über dich geredet. Aber sie scheinen sich wirklich abgeregt zu haben. Immerhin haben sie ihre Launen nie an mir ausgelassen.“

„Das ist gut. Sonst hätten sie mich aber richtig wütend erlebt.“

„Oh, das Ganze ist noch steigerbar?“, meinte Mel mit einem Hauch Ironie in der Stimme.

Vanessa ignorierte den Kommentar. „Und sonst? Wie geht es Jessi?“

„Prima.“ Mel hielt zwei Kleider hoch und Vanessa wählte eines aus. „Sie hat sich entschieden, nach der High School auf das Bradford College in Pittsburgh zu gehen und hat angefangen, sich Unterlagen zuschicken zu lassen.“

Vanessa nickte erfreut. „Und bei dir? Hast du dir auch Gedanken gemacht?“

„Mh.“ Mel streifte sich das Kleid über und drehte sich um, so dass Vanessa es hinten zubinden konnte. „Ich habe mir von verschiedenen Colleges in der Nähe Unterlagen zuschicken lassen. Vielleicht können wir uns die Tage mal zusammen hinsetzen und die Broschüren anschauen?“

„Aber sicher.“ Vanessa freute sich, dass Melanie sie in diesen Fragen noch immer zu Rate zog. Sie kramte in Mels Schmuckkiste auf der Kommode nach einer passenden Kette und legte sie ihr um. Dann fuhr sich Mel durch die Haare und drehte sich um.

„Na, für fünf Minuten?“

„Hervorragend! Komm, tratschen wir im Auto weiter.“ Vanessa ging ins Wohnzimmer und holte ihre Handtasche. Sie selbst war schon seit über einer Stunde fertig - in einem Twinset, welches elegant die leichte Bauchwölbung verdeckte. Mel zog im Laufen noch ihre Schuhe an und folgte ihrer Schwester.

Auf der Fahrt nach Hartford erkundigte Vanessa sich nach John.

„Du würdest staunen“, begann Mel. „Er hat sich ganz schön entwickelt. Hatte ein paar Schwierigkeiten, mit der Schule, aber Henry hat ihn an der kurzen Leine gehalten. Inzwischen ist er ganz umgänglich geworden.“

„Unterschätze nie die Macht von Grandon!“, warf Vanessa ein.

Mel grinste. „Oder Henry. Du hättest sehen sollen, wie er ihn Anfang des Jahres an einem Arm durch die Straßen geschleift hat, weil John irgendeinen Briefkasten mit Silvesterknallern hochgehen lassen musste. Ich glaube, schon allein wegen dieser Peinlichkeit ist er ruhiger geworden.“

Vanessa lachte. „Du hast nicht zufällig Videoaufzeichnungen?“

„Leider nicht“, meinte Mel mit echtem Bedauern. „Aber lass dir die Sache von Henry erzählen. Er baut dann immer so ein grimmiges Grunzen ein.“

„Wo du gerade von Henry sprichst...“ Vanessa richtete ihren Blick konzentriert auf die Straße und rutschte auf ihrem Sitz hin und her. „Ich glaube, da gibt es Neuigkeiten.“

Und dann erzählte sie Mel die ganze Geschichte - von jenem Freitagabend, an dem sie Streit gehabt hatten, über den Besuch in London bis zu ihrem Wiedersehen. Den Fakt, dass sie mit Henry geschlafen hatte und nun schwanger war, ließ sie aus, auch wenn ihr Gewissen dabei aufschrie.

Mel war ziemlich überrascht.

„Warum hast du am Telefon nichts gesagt? Ich habe mich schon gewundert, wieso Henry so seltsam war in den letzten Wochen...“

„War er das?“

„Ziemlich.“

„Na ja... Ich dachte irgendwie, dass ich über so etwas nicht am Telefon reden sollte. Außerdem wusste ich ja selbst nicht genau, was aus uns wird.“

„Na, das sind doch mal Neuigkeiten...“ Mel lehnte sich in ihrem Sitz zurück, noch immer ein wenig irritiert. Sie hatte von all dem nichts gemerkt. „Und?“

„Was und?“

„Liebst du ihn?“

Vanessa seufzte. „Ich glaube, es ist noch ein bisschen früh, um es Liebe zu nennen. Ich weiß ganz ehrlich selbst nicht, was ich genau empfinde. Aber er bedeutet mir wirklich viel.“

„Das ist doch ein guter Anfang.“ Mel grinste und schüttelte dann den Kopf, als könne sie es immer noch nicht glauben.

„Aber tu mir einen Gefallen...“, bat Vanessa.

„Jeden, solange ich nicht wieder den Bojangles singen und auf dem Tisch tanzen muss, so wie vor drei Jahren zu deinem Geburtstag...“

„Nein, obwohl mich das auf tolle Ideen bringt.“ Vanessa warf ihr einen frech grinsenden Seitenblick zu. Dann wurde sie ernst. „Bitte sag unseren Eltern nichts davon. Von mir und Henry, meine ich. Das ist noch zu frisch.“

„Okay.“ Mel zuckte mit den Achseln. „Es gibt doch genug anderes, über das wir reden können.“

„Zum Beispiel meine hervorragenden Abschlusszeugnisse. Das stimmt sie vielleicht milde.“

„Wozu?“

„Ich will nicht, dass sie mir für dein letztes Schuljahr den Unterhalt für dich streichen. Du kannst nichts für unseren Streit und sollst auch nicht darunter leiden.“

„Ich glaube nicht, dass sie das tun würden. Besonders Dad. Dazu hat er mich viel zu lieb.“

„Aha.“

„Nein, ehrlich. Ich glaube, er hat sich richtig daran gewöhnt, dass ich wieder bei ihm wohne. Ein paar Mal war ich zum Abendessen bei Andrea - Mum erzählte mir später, dass Dad ständig fragte, wo ich bin, ohne dabei kontrollsüchtig zu sein. Und er hat mir den Globus geschenkt.“

„Den Kinsey-Globus?“ Vanessa zog staunend ihre Augenbrauen nach oben. „Den er von seinem Großvater bekommen hat? Das Unikat, welches ich als Kind nicht mal anfassen durfte?“

„Genau den.“ Mel huschte ein Grinsen übers Gesicht. „Allerdings weiß ich nicht, ob ich ihn mit nach Hause nehmen darf oder ob er zu meinem Shafton-Mobiliar gehört.“

Vanessa schüttelte den Kopf. „Nicht zu fassen...“

„Was?“

„Er muss dich wirklich lieb haben.“

„Du sagst das so ehrfürchtig“, meinte Mel.

„Und das ist noch eine Untertreibung. Aber das sind wirklich gute Voraussetzungen für unser Abendessen heute.“

Da musste Mel ihrer Schwester zustimmen.

 

***

 

„Hallo Sofie“, begrüßte Mel das Hausmädchen, welches ihnen die Tür öffnete.

„Hallo Mel.“ Die junge Frau lächelte sie an. „Guten Abend, Miss Hoffman.“

„Ach, Vanessa ist völlig in Ordnung. Miss Hoffman klingt so... alt“, winkte sie ab, während sie Sofie ihren und Mels Mantel gab. Das Hausmädchen nickte und brachte sie zur Garderobe.

„Wie ich sehe, versteht ihr euch gut.“

Mel nickte. „Kaum zu glauben, aber Sofie ist jetzt schon über zwei Monate hier.“

„Ich vermute, daran bist du nicht ganz unschuldig.“

„Wer hätte das gedacht, aber ich übe guten Einfluss auf Mum aus.“

„Wenn man vom Teufel spricht“, murmelte Vanessa zu Mel rüber und lächelte ihrer Mutter mühsam entgegen. Es war plötzlich, als wäre ihr Streit erst gestern gewesen.

„Mel, Vanessa. Schön euch zu sehen.“ Auch Elizabeths Lächeln wirkte aufgesetzt. Sie umarmte Mel und wandte sich dann Vanessa zu.

„Hallo Vanessa. Wie ich sehe, bist du gut wieder auf amerikanischem Boden angekommen. Wie geht es dir?“

„Gut, Mutter, und selbst?“ Oh, wie sie diese Art Gespräche hasste...

„Sehr gut. Dein Vater erwartet uns bereits im Esszimmer. Es gibt Kaninchenbraten.“

„Das klingt gut“, versuchte Mel, die künstlich warme Stimmung zu lockern.

„Nicht wahr?“ Elizabeth ging vor ihnen her ins Esszimmer. Vanessa warf Mel einen hilflosen Blick zu, den diese ebenso hilflos erwiderte.

„Daniel, Mel und Vanessa sind hier.“

Daniel sah von seiner Zeitung auf. „Oh, hallo. Mel, schön dich zu sehen.“

Mel umarmte ihren Vater. „Hi Dad.“

Daniel erhob sich. „Vanessa, wie geht es dir? Lass dich ansehen. Gut siehst du aus.“

„Ich finde, sie hat ein bisschen zugenommen“, warf Elizabeth ein und Vanessa wurde für einen Moment blass. Dann warf sie ihrer Mutter ein eisiges Lächeln zu.

„Das liegt am guten europäischen Essen. Aber danke für das Kompliment, Mom.“

„Lasst uns anfangen“, schlug Daniel vor, bevor noch irgendjemand etwas sagen konnte. Mel setzte sich und blickte ihre Schwester warnend an. Sie wollte nicht, dass der Abend in einem Desaster endete. Wenn Elizabeth sich nicht zurück halten konnte, dann musste Vanessa eben die bissigen Bemerkungen herunterschlucken.

Der Abend verlief alles in allem ganz gut. Elizabeth hörte nicht auf, kleine Sticheleien fallen zu lassen oder hin und wieder gespielt überrascht die Augenbrauen nach oben zu ziehen, wenn Vanessa von ihren Erfolgen auf dem Seminar erzählte. Daniel verhielt sich freundlich gegenüber ihr und Mel und Vanessa war ihm dankbar dafür. Nach drei Gängen und einer Käseplatte - Elizabeth hatte ihre Vorliebe für französische Gewohnheiten entdeckt - konnten sie endlich die Tür des Anwesens hinter sich schließen und nach Hause fahren.

„Hast du gemerkt, dass sie mich kaum angesehen hat?“, bemerkte Vanessa auf dem Weg zum Auto.

„Ja.“ Mel ging zur Beifahrertür und stieg ein.

Vanessa öffnete ihre Tür. „Und dass sie deinen Namen stets zuerst genannt hat?“

„Auch das.“

Vanessa stieg ein und ließ den Motor an. „Aber ansonsten war es nicht die Hölle, die ich erwartet hatte...“

„Das denke ich auch.“

„Du bist so einsilbig...“

„Müde“, murmelte Mel und sank in ihren Sitz zurück.

„Na dann“, meinte Vanessa und fuhr los. „Ab nach Hause.“

„Home Sweet Home...“, murrte Mel noch und schlief auf der Fahrt ein.

 

***

 

Nachdem Mel müde ins Bett gefallen war - Vanessa erinnerte sie dreimal daran, ihre Schuhe auszuziehen - ließ sich die ältere der Hoffmans auf dem Sofa nieder, um Andrea anzurufen.

Es klingelte viermal, bevor sie ranging.

„Barton, hallo?“

„Hallo Schätzchen.“

„Vanessa? Oh mein Gott, du bist wieder da. Wie geht es dir?“

„Diese Frage habe ich heute einfach schon zu oft gehört.“

„Aber nicht von mir, deiner besten Freundin, die dich seit einem halben Jahr nicht gesehen hat. Und dein letzter Anruf ist auch schon so lange her, dass die Neandertaler ihn hätten mithören können.“

„Tut mir echt Leid“, grinste Vanessa. „Ich hatte wahnsinnig viel zu tun. Dafür komme ich jetzt mit bedruckten Blättern wieder, durch die ich eine saftige Gehaltserhöhung anfordern könnte. Oder ein eigenes Restaurant aufmachen.“

Stille am anderen Ende der Leitung. Dann ein girrendes Lachen. „Ist das dein Ernst?“

„Ja. Ich habe verschiedene Zeugnisse und Urkunden bekommen. Und außerdem ein halbes Jahr lang gutes Geld verdient. Ich denke, es wird Zeit, dass ich meine Pläne wieder auskrame...“

Diesmal ertönte am anderen Ende der Leitung ein Quietschen das irgendwo zwischen totalem Enthusiasmus und halber Ohnmacht angesiedelt war.

„Das ist ja großartig. Ich meine... Dein eigenes Lokal. Vanessa, weißt du was das heißt?“

„Nein, sag es mir.“ Vanessa wechselte den Hörer ans andere Ohr.

„Dein Traum. Wirklichkeit. Ich hatte schon geglaubt, du wagst es nie...“

„Ganz ruhig, Andrea, du redest in unvollständigen Sätzen. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen Mittag auf einen Kaffee. Ich komme auf der Post vorbei. Dann können wir über alles reden.“

„Und ein bisschen tratschen.“ Andrea war ganz aus dem Häuschen.

„Das an erster Stelle“, stimmte Vanessa zu. „Aber jetzt sollte ich schlafen gehen.“

„Tu das. Dein Jetlag muss furchtbar sein.“

„Es hält sich in Grenzen. Aber mal sehen, wie es mir morgen geht...“ Vanessa gähnte.

„Okay. Schlaf gut. Bis morgen.“

„Gute Nacht, Andrea.“

„Ja. Ein eigenes Restaurant. Wow.“

„Gute Nacht, Andrea!“ Vanessa musste lächeln.

„Oh. Gute Nacht, Süße.“

Dann legte sie auf.

Vanessa behielt den Hörer noch eine Weile in der Hand. Wenn alles gut ging, dann würde sie morgen Andrea von ihrem Plan erzählen, das Maritime‘s in der Bafford-Road zu kaufen. Wenn der Besitzer bereit war, das Lokal in ihre Hände zu geben, dann konnte sie daraus ein wunderschönes Restaurant mit ihrer individuellen Note machen. Ein paar Umbauten hier und da, kleine Änderungen... Aber das würde sie morgen mit Andrea besprechen. Sie war ihre beste Freundin und hatte diesbezüglich sicherlich ein gutes Bauchgefühl. Für heute sollte sie tatsächlich ins Bett gehen.

Vanessa stand auf und löschte das Licht im Wohnzimmer. Dann sah sie, dass bei Mel noch Licht brannte und die Tür halb offen stand. Leise schlich sie ins Zimmer. Da lag sie, ihre Mel, endlich wieder zu Hause und bei ihr - und hatte noch ihre Schuhe an. Vorsichtig streifte Vanessa sie ihr von den Füßen und stellte sie neben dem Bett ab. Dann löschte sie das Licht und schloss die Tür.

Wenige Minuten später fiel sie todmüde in ihr eigenes Bett, das sich noch nie so gut wie jetzt angefühlt hatte, und schlief ein.

 

 

***

 

Als Vanessa am nächsten Morgen aufwachte, war es erst halb sechs. In London wäre jetzt Mittagszeit und Vanessa knurrte der Magen. Verdammter Jetlag!

Nachdem sie eine Minute lang an die Decke gestarrt hatte und sich fragte, ob sie mal wieder streichen sollte, setzte sie sich schließlich auf. Der Vorteil des Jetlags war eindeutig, dass sie ohne die morgendliche Übelkeit aufstehen konnte. Also zog sie sich ein weites T-Shirt über, welches sie vor Jahren bei einem Baseballspiel gekauft und noch nie getragen hatte. Dann schlüpfte sie in ihre weiche Trainingshose und ging nach unten. Ihr Gepäck lag noch immer halb ausgepackt im Wohnzimmer. Mit einem tiefen, missmutigen Grunzen ging Vanessa daran vorbei in die Küche. Dann seufzte sie. Der Kühlschrank war völlig leer. Wo waren die Mainzelmännchen, wenn man sie wirklich brauchte?

Eine Weile stand Vanessa vor dem ebenfalls leeren Küchenschrank und runzelte die Stirn. Dann nahm sie einen Zettel und hinterließ Mel die Nachricht, dass sie bei Henry frühstücken würde. Nachdem sie sich ihre Handtasche vom Sofa geangelt hatte, verließ sie das Haus. Die Stadt war an einem Sonnabendmorgen um diese Uhrzeit wie ausgestorben. Vanessa genoss es, niemandem weiter zu begegnen, denn ihr war irgendwie nicht nach Smalltalk.

Auch bei Henry’s war noch nicht viel los. Das kleine Glöckchen bimmelte friedlich, als sie das Café betrat. Henry stand tatsächlich schon hinter dem Tresen und sortierte frische Muffins auf die Auslage. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Außer Vanessa waren nur vier weitere Gäste da - ein älteres Pärchen, das zu Grandon gehörte wie Eternal Flames zu den Bangles und ein weiteres Paar, das wohl auf der Durchreise sein musste, denn sie hatte die beiden noch nie zuvor gesehen. Vielleicht waren sie auch neu hergezogen.

Go, Blackheads, Go?“, lenkte Henry ihre Aufmerksamkeit auf sich und sah sie stirnrunzelnd an.

Vanessa war einen Moment verwirrt, blickte dann an sich runter und grinste. „Das gehört zu meinen Jugendsünden an einem Wochenende in Chicago. Sie hatten damals nur noch die XXL und ich wollte unbedingt eins haben.“

Sie beugte sich über den Tresen und küsste ihn. „Guten Morgen.“

„Morgen...“ Er sah noch einmal kopfschüttelnd auf ihr Shirt. „Und wieso kramst du deine Jugendsünde gerade heute aus? Ist das ein versteckter Hinweis?“

Sie lachte. „Nein. Aber meine Sachen sind entweder auf einem großen Wäschehaufen in der Küche oder noch in den Koffern. Ich kann ja schlecht nackt durch die Stadt laufen.“

„Hätte ich gar nichts dagegen“, murmelte Henry und grinste. „Wieso bist du eigentlich schon so früh auf?“

„Jetlag.“

„Ah.“

„Mein Magen meinte, es wäre Zeit fürs Mittagessen.“

„Na dann. Was darf’s denn sein?“ Henry wischte sich seine Hände an einem Handtuch ab und schon die Vitrinentür der Muffinauslage zu.

„Mmh...“ Vanessa überlegte eine Weile. „Toast und Rührei. Mit Tomaten. Und Salat. Und einer Portion Pommes mit Chili.“

„Wir haben auch noch zwanzig Kilo Gurken im Lager.“

„Mach dich nur lustig. Wenn du dich von Flugzeugessen und Elizabeths Hasenbraten ernähren müsstest, würdest du auch nach Henrys Frühstück schreien.“ Sie öffnete die Vitrine und nahm sich einen Blaubeermuffin mit Schokoguss.

„Du weißt, dass wir dafür eine Zange haben?“

Sie grinste. „Das habe ich wohl in den letzten sechs Monaten vergessen.“

Er schüttelte den Kopf. „Hoffnungslos.“

„Wo bleibt mein Frühstück?“

„Sklaventreiber.“

Sie warf ihm einen mitleidvollen Blick zu. „Wir leben nun mal in einer Dienstleistungsgesellschaft...“

„Dann erweise mir bitte den Dienst, nicht unbedingt meine Gäste zu vergraulen, während ich dein Frühstück mache.“

„Damit kann ich leben“, grinste sie und Henry verschwand in der Küche.

 

***

 

Zwei Stunden und einige Portionen später hing Vanessa über dem Tresen.

„Wieso hast du mich nicht nach dem sechsten Toast gestoppt?“, jammerte sie. „Oder nach dem dritten Teller Pommes.“

Henry musste bei ihrem Anblick schmunzeln. „Das habe ich. Aber du wolltest nicht auf mich hören.“

Vanessa stöhnte. „Mentale Notiz: Henrys Ratschläge ernst nehmen.“

„Gute Einstellung.“ Henry reichte ihr ein Glas Wasser.

„Danke.“ Sie nahm einen Schluck und richtete sich auf. „Ich hasse Jetlags.“

„Das wird schon wieder.“ Er stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tresen ab.

„Ja“, meinte sie und beugte sich zu ihm und grinste. „Ich könnte ein bisschen Ablenkung gebrauchen.“

Henry erwiderte ihr Grinsen. Dann schrak er hoch und machte einen Schritt zurück. Vanessa folgte seinem Blick zur Tür. Es war Mel, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.

„Stör ich?“, fragte sie unschuldig und setzte sich neben Vanessa.

„Nein“, meinte Henry und räusperte sich. „Wir haben nur...“

„Schon gut.“ Vanessa legte ihre Hand auf seine. „Sie weiß Bescheid.“

„Oh.“ Wie hätte er auch etwas anderes erwarten können?

Mel grinste noch immer. „Ein bisschen komisch ist es schon.“

„Hm?“ Er sah sie verwirrt an.

„Na ja. Jetzt muss ich meinen Kaffee nicht mehr bezahlen...“

„Wer sagt das denn?“ Henry entging, dass sie ihn auf den Arm nahm.

Vanessa hob abwehrend die Hände. „Meine Idee war das nicht.“

Dann lachte Mel. „Schon gut, Henry. War nur ein Scherz.“

„Oh.“ Er bedachte erst sie und dann Vanessa mit einem skeptischen Blick. „Ich schwöre, ihr könntet mental auch Zwillinge sein.“

„Ja, da bin ich stolz drauf“, stimmte Vanessa zu und legte ihrer Schwester einen Arm um die Schulter.

„Genau.“ Mel lehnte sich kurz an. „Und jetzt hätte ich gerne ein Frühstück. Toast und Rührei.“

„Lass mich raten...“ Henry zog eine Grimasse. „Mit Tomaten. Und Salat. Und einer Portion Pommes mit Chili.“

Mel sah ihn einen Moment lang an. „Gute Idee.“

Henry stöhnte auf und verschwand erneut in der Küche.

 

***

 

Später ging Vanessa mit Andrea zum Mittagessen. Sie sprachen über die sechs Monate in London, über Melanie, über Andreas Urlaub bei ihren Eltern in North Dakota und Vanessa erzählte ihr, dass sie das Maritime’s kaufen wollte. Andrea gefiel die Idee und ihr kamen spontan gleich ein paar Ideen, was Vanessa alles mit dem Lokal anfangen könnte.

Dann wollte Andrea wissen, was an den Gerüchten über sie und Henry dran war, die durch die Stadt gingen. Vanessa lachte und erzählte auch ihr die ganze Geschichte - diesmal mit allen auch nicht jugendfreien Details. Die Schwangerschaft allerdings verschwieg sie auch ihrer besten Freundin, was gar nicht so leicht war, wenn man plötzlich auf mexikanisches Risotto keine Lust mehr hatte und stattdessen chinesisches Terriaky-Hühnchen wollte. Vanessa schob ihre Appetitlosigkeit auf die Fressorgie am Morgen. Nach dem Essen kamen sie wieder auf die Restaurantpläne zu sprechen.

Andrea hatte lustige Bilder von großen Menükarten und weltbekannten Speisen im Kopf. Sie kannte das Maritime’s gut und sprach von einer möglichen Erweiterung der Küche und zusätzlichen Speisekammern. Vanessa lachte. Sie hatte das alles hier vermisst.

 

***

 

Als Vanessa an diesem Sonnabendnachmittag nach Hause kam, spürte sie einen erneuten Anfall von Jetlag. Mel war bei Jessi, also entschloss sie sich, den Stecker des Telefons herauszuziehen und es sich auf dem Sofa bequem zu machen. Die Kissen sahen tatsächlich verlockend nach Entspannung aus. Vanessa hatte sich kaum hingelegt, als die Müdigkeit auch schon die Oberhand gewonnen und sie mit sich genommen hatte.

 

***

 

Ein Klingeln ließ sie hochschrecken, benommen und orientierungslos.

Vanessa rieb sich die Augen und sah auf die Uhr. Zehn nach Sieben!

„Vanessa?“ Es klingelte erneut. Dann ein Klopfen. Sie kannte die Stimme, war sich im Moment jedoch nicht sicher, wem sie sie zuordnen sollte. Noch immer ein wenig verwirrt taumelte sie zur Tür und öffnete. Es war Henry.

„Wie siehst du denn aus?“, entfuhr es ihm und er ließ seinen Blick von ihren zerzausten Haaren und dem verschlafenen Gesicht über die zerknitterten Sachen bis zu ihren nackten Füßen wandern.

„Oh Gott...“, murmelte sie. „Henry, ich... Woah.“

Sie fuhr sich über das Gesicht und schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können.

„Tut mir wahnsinnig Leid. Ich habe verschlafen.“

„Verschlafen?“ Er brauchte einen Moment, dann begriff er. Sie sah ihn mit kleinen, müden Augen an. Dann drehte sie ihm den Rücken zu und tapste in die Küche. Er folgte ihr. Sie goss sich ein Glas Wasser ein und nahm einen großen Schluck.

„Hör mal“, meinte er. „Wenn du zu müde bist, dann können wir das auch verschieben.“

Vanessa schüttelte den Kopf. „Gib mir fünf Minuten. Oder zehn. Dann bin ich wieder ansprechbar. Verdammte Zeitzonen...“

Henry musste leise lachen. „Gut. Der Film beginnt um acht. Das sollten wir schaffen.“

„Um acht?“, wunderte sich Vanessa. „Ich dachte, sie fangen immer um sieben an...“

„Hier schon“, grinste er. „Aber ich habe uns Karten in Shafton besorgt. Und danach einen Tisch beim Italiener reserviert.“

Vanessa pfiff durch die Zähne. „Und dann schlägst du vor, unser Date zu verschieben? Niemals...“

Sie näherte sich ihm und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Zehn Minuten...“

„Okay.“ Er sah ihr nach, wie sie nach oben ging, und ließ sich dann in der Küche nieder. In einer Ecke stapelte sich ein großer Berg Wäsche. Am Kühlschrank hing eine Liste mit Dingen, die dringend eingekauft werden mussten. Sie war bereits einen halben Meter lang - und der Stift baumelte direkt daneben.

Neun Minuten und vierzehn Sekunden später kam Vanessa die Treppe heruntergeeilt, in einem hübschen violetten Sommerkleid und einer schwarzen Strickjacke. Wie sie es in der kurzen Zeit geschafft hatte, wusste Henry nicht, aber sie sah bezaubernd aus. Ihre Haare hingen ihr offen und gebändigt über die Schulter und ihre Schlaffältchen hatten einem frischen Lächeln Platz gemacht.

„Fertig“, meinte Vanessa und zog den Riemen ihrer Sandale straffer.

„Na dann“, erwiderte Henry und folgte ihr nach draußen.

Die zarte Mailuft war kühl, aber nicht kalt. Auf dem Weg nach Shafton sprachen sie über Vanessas Zukunftspläne für das Restaurant und über die Ereignisse in Grandon, die sie verpasst hatte. Bürgermeister Barnes hatte wohl inzwischen über hundert neue Regelungen aufgestellt, was Rasenhöhe und Regenlautstärke in Dachrinnen betraf. Dass Henry extra zu den Stadtratsbesprechungen gegangen war, um sie später auf dem Laufenden zu halten, fand Vanessa süß, doch das würde sie ihm sicher nicht sagen. Henry war nicht der Typ Mann, der ‘süß’ als Kompliment auffasste.

 

***

 

Der Film war gar nicht schlecht. Eine romantische Komödie mit einem Hauch Action - und trotz des Mangels an bekannten Schauspielern wirklich unterhaltsam. Wenn sie nicht alles täuschte, dann hatte sich sogar Henry, der Filmmuffel, amüsiert und am Ende gehofft, dass alles gut ausgehen würde.

„Na ja“, meinte er später, als sie in Richtung des Restaurants liefen. „Er war schon ganz okay.“

Vanessa grinste. „Das habe ich an deiner Hand gemerkt, die in der letzten Szene plötzlich ein bisschen stärker zugegriffen hatte.“

„Oh. Tut mir Leid.“

Er legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie näher zu sich. Schweigend gingen sie weiter und genossen die Gegenwart des anderen. Nach wenigen Minuten hatten sie den Italiener erreicht. Henry hielt ihr die Tür auf und Vanessa lächelte still.

Ein junger Kellner führte sie zu ihrem Tisch und brachte ihnen Wasser und Weißbrot. Dann verschwand er mit einer knappen Verbeugung wieder. Vanessa griff nach der Karte.

„Warst du schon mal hier?“, fragte sie und überflog die Vorspeisen.

„Nein.“ Auch Henry sah in seine Karte. „Aber meine Eltern waren früher oft hier. Mein Vater hat mir häufig davon erzählt.“

Vanessa wirkte plötzlich ein wenig betroffen. „Das ist wirklich schade.“

„Was?“

„Dass deine Mum nicht mehr lebt.“

Henry lächelte matt. „Ich behalte sie in guter Erinnerung.“

„Das ist gut.“

Sie sahen sich an und in Henrys Blick lag Dankbarkeit für ihr Verständnis. Dann räusperte er sich.

„Also, was hältst du von einer Pestoplatte als Vorspeise und danach der Pasta Torriagi?“

Vanessa suchte das Gericht auf der Karte und nickte dann. „Klingt gut.“

„Möchtest du Rotwein?“

Sie überlegte kurz. Würde es verdächtig klingen, wenn sie ablehnte?

„Nein, heute nicht“, meinte sie schließlich und hoffte, er würde nicht nachfragen.

Tat er nicht. Stattdessen schlug er seine Karte zu und legte seine Hand auf ihre, was ihr einen warmen Schauer den Rücken runterlaufen ließ.

„Vanessa?“

„Hm?“

„Du sagtest, du willst sicher sein, dass wir auf derselben Seite sind.“

Sie zog kurz die Stirn in Falten und erinnerte sich dann an ihr Telefonat. „Ja.“

Er wandte seinen Blick nicht von ihr ab. „Okay. Ich möchte, dass du weißt, wie glücklich ich über das hier bin. Du bedeutest mir wirklich viel und ich möchte nicht, dass wir uns wegen irgendeinem Missverständnis oder aus einer Laune heraus wieder trennen.“

Vanessa wusste nicht, was sie sagen sollte. Seine Worte berührten sie und sie war erstaunt, dass er so ehrlich zu ihr war. Normalerweise sprach Henry nicht über seine Gefühle, abgesehen von seiner tiefen Abneigung gegen Bürgermeister Barnes.

„Das...“ Ihr Mund war trocken. „Das möchte ich auch nicht.“

Sie lächelte und er drückte ihre Hand sanft ein wenig fester.

~ Kapitel 7 ~

 Sonntagvormittag fuhren Mel und Vanessa zum nächsten WalMart, um endlich wieder den Kühlschrank und das übrige Küchenmobiliar zu füllen. Am Ende gaben sie mehr als vierhundert Dollar aus, doch das Waffeleisen und die sprechende Küchenuhr, die Vanessa unbedingt mitnehmen wollte, waren nicht ganz unschuldig daran. Es dauerte eine Weile, ehe sie alles im Auto verstaut hatten, und gleich zweimal so lange, ehe sie es in Grandon wieder ausgeladen hatten.

Vanessa begann, die Regale ihrer Schränke mit Lebensmitteln zu füllen, während Mel weiterhin damit beschäftigt war, Tüten ins Haus zu tragen.

„Wozu sagtest du, brauchen wir acht Packungen Rice Crispies?“, stöhnte Mel und stellte zwei Packungen Toilettenpapier neben dem Bad ab.

„Wenn die große Hungersnot ausbricht, brauchen wir uns darum keine Sorgen machen!“ Vanessa schob eins nach dem anderen fünf Gläser Erdnussbutter ins Regal. Dann sortierte sie diverse Joghurtbecher, Brotaufstriche und Dips in den Kühlschrank, gefolgt von verschiedenen Saftflaschen und einem Kilo Tomaten. Nachdem sie eine Großfamilienpackung Schokoriegel verstaut hatte, seufzte sie und war sich sicher, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihre Heißhungerattacken zu offensichtlich wurden. Sie musste dringend einen günstigen Zeitpunkt finden, um mit Mel über das Baby zu reden. Lange würde sie es auch nicht mehr verstecken können.

„Und was willst du bitteschön mit zehn verschiedenen Teigmischungen anfangen?“ Mel stellte weitere Tüten auf dem Küchenfußboden ab.

„Backen.“

„Backen?“ Mel massierte sich den rechten Oberarm.

Vanessa nickte. „Das kann doch gar nicht so schwer sein, oder? Und frische Schokocookies sind einfach das Beste!“, schwärmte sie.

„Na dann...“ Mel verschwand, um sich der letzten Ladung anzunehmen.

Vanessa brachte einige Hygieneartikel ins Bad und überlegte, wo sie die acht Zahnpastatuben unterbringen sollte. Vielleicht war sie heute doch ein wenig zu übermütig einkaufen gegangen. Achselzuckend stopfte sie die Tuben in eine Schublade zu den Handtüchern und ging zurück in die Küche, um den Tiefkühlschrank mit Pizzen, Lasagnen und Paellapfannen zu füllen.

„So“, schnaufte Mel und ließ zwei Tüten fallen. „Das waren die letzten.“

„Hey, kein Grund sie so achtlos hinzuschmeißen“, empörte sich Vanessa.

„Marshmallows“, meinte Mel nur und kickte von außen gegen eine Tüte.

„Ah.“

Mel krempelte ihre Ärmel hoch und stemmte die Hände in die Hüften. „Und jetzt?“

„Dein Kram...“ Vanessa zeigte auf einen Stapel Blöcke und Kugelschreiber, mit denen Mel sich für die letzten Wochen des Schuljahres eingedeckt hatte.

„Und wo sind meine Post-its? Und die Karteikarten?“ Mel wühlte in zwei noch unausgepackten Tüten.

„Keine Ahnung. Versuchs mal hier unten.“ Sie schob eine weitere Tüte mit dem Fuß unter dem Tisch und Mels Richtung. Mel verschwand unter dem Tisch und tauchte wenig später wieder auf, verschiedenfarbige Post-its und weiße Karteikarten in der Hand.

„Gefunden.“

„In einem geordneten Haushalt geht nichts verloren“, meinte Vanessa und stapelte Schachteln mit Oreo-Cookies gleich neben den Nutri-Grain-Riegeln übereinander. Dann begann sie, Colaflaschen im untersten Fach neben der Spüle zu verstauen.

„Seit wann leben wir geordnet?“, wollte Mel wissen und ging in ihr Zimmer, um dort all ihre Schulsachen auf das Bett fallen zu lassen. Als sie wieder kam grinste Vanessa nur und legte die vielen übrig gebliebenen Tüten zusammen.

„Seit ich ‘Leben mit Feng-Shui - wie Sie ihr Chi ins Fließen bringen’ gelesen habe.“

Mel runzelte die Stirn. „Das hast du nie gelesen.“

„Eben.“

„Ah.“

Sie mussten beide grinsen. Dann stopfte Vanessa den Tütenhaufen in den Schrank mit den Putzmitteln und klopfte sich die Hände ab.

„Fertig.“

„Mission Weltuntergangsvorbereitung beendet“, ergänzte Mel und salutierte scherzhaft.

Vanessa ließ sich auf einen Stuhl sinken und seufzte. „Erinnere mich daran, dass wir das nie wieder tun.“

„Keine Sorge, das werde ich!“, versprach Mel und rieb sich die Oberarme, um die Muskeln zu entspannen.

 

***

 

Später am Abend hockten sie zusammen vor dem Fernseher und sahen ‘Frühstück bei Tiffany’s’. Sie hatten den Film so oft gesehen, dass sie die Dialoge auswendig kannten und sich jetzt einen Spaß daraus machten, andere Gespräche darüber zu setzen und sich lustig zu machen.

Vanessa hielt einen Eimer Popcorn auf dem Schoß und nuschelte etwas Unverständliches über eine der Frisuren.

„Was?“ Mel sah ihre Schwester von unten an. Sie hatte sich vor die Couch gehockt und streckte gemütlich die Füße von sich, die Arme um ein Kissen verschränkt.

„Nischo wischtisch.“ Vanessa schluckte das Popcorn runter.

„Wie war eigentlich dein Date gestern?“, wollte Mel auf einmal wissen.

„Wie kommst du denn jetzt darauf?“

„Einfach so“, meinte Mel achselzuckend.

Vanessa legte ihre Füße auf den kleinen Couchtisch und lächelte. „Schön.“

Mel sah sie erwartungsvoll an. „Und weiter?“

„Na ja, wie ein Date eben.“

„Ach komm schon, Nessa. Wo ward ihr? Hat er dich nach Hause gebracht? Was hatte er an?“

Vanessa lachte und stopfte sich mehr Popcorn in den Mund, um Zeit zu gewinnen. Dann erzählte sie Mel von ihrem gestrigen Abend.

„Am Ende hat er mich nach Hause begleitet und mich an der Tür verabschiedet.“

„Ah“, grinste Mel. „Dabei habt ihr nicht zufällig den Blumentopf vom Geländer gestoßen?“

Vanessa strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Nein.“

„Dann war das wohl eine streunende Katze.“

„Genau“, grinste Vanessa.

„Es ist gut zu wissen, dass du glücklich bist“, meinte Mel, griff über ihre Schulter in den Popcorneimer und wandte sich wieder dem Film zu.

Vanessas Lächeln verschwand. War sie glücklich? Na ja, sie war zumindest nicht unglücklich. Die Sache mit Henry lief wirklich gut. Gestern Abend hatte sie noch lange wachgelegen und das Kribbeln in ihrem Bauch genossen. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, aber sie war tatsächlich verliebt in Henry. Nach all den Jahren, die sie sich gekannt hatten und Freunde gewesen waren, hatte sie sich verliebt. Dass er ihr wichtig war und sie eine starke Zuneigung zu ihm empfand, war ihr schon lange klar geworden, aber dass sie beim Gedanken an ihn so euphorisch werden konnte und er automatisch ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberte, wenn er sie ansah... Das war neu. Und es machte die Lage noch viel komplizierter.

Vanessa hatte das Gefühl, es nicht ertragen zu können, sollte er sie wegen des Babys abweisen, oder noch schlimmer, nur deswegen mit ihr zusammen bleiben. Sie wusste, dass er wirklich viel für sie empfand. Aber ob das schon ausreichte, um eine Familie zu gründen?

Und dann war da noch Mel. Jetzt wäre eigentlich ein guter Zeitpunkt, um mit ihr darüber zu reden. Aber Vanessa hatte Angst. Nachdem sie ein halbes Jahr bei ihren Eltern gelebt hatte, könnte sie sich auch verändert haben. Vielleicht waren sie gar nicht mehr so unzertrennlich, wie früher. Was, wenn ihre Freundin und Schwester ihre Entscheidungen plötzlich in Frage stellte... Vanessa seufzte und versuchte, nicht an die Konsequenzen zu denken. Solange niemand von dem Baby wusste, war es irgendwie noch unwirklich und weit weg. Sie hatte doch noch genügend Zeit...

 

***

 

Ihre Entscheidung, die Schwangerschaft noch eine Weile für sich zu behalten, verstärkte sich am nächsten Tag. Vanessa kam in ihrer Mittagspause zu Henry, der gerade die Muffin-Wünsche von vier Sprösslingen aufnahm. Die Kleinen waren zwischen fünf und neun und eindeutig Geschwister.

Vanessa setzte sich auf ihren Stammhocker und beobachtete Henry dabei, wie er die Stirn kraus zog, weil das jüngste - ein kleines Mädchen mit rotblonden Haaren - ihre Meinung plötzlich änderte und statt Schokorosine Erdbeerzitrone wollte. Henry grummelte und packte den Muffin um. Als der älteste bezahlte und Henry stolz das Geld gab, stellte der fest, dass es zehn Cent zu wenig waren. Betreten sahen sich die Kinder an.

„Müssen wir dir einen zurückgeben?“, wollte der Größte wissen und war offenbar bereit, seinen zu opfern.

Henry sah ihn kurz verblüfft an.

„Nein“, räumte er dann ein. „Aber wehe ihr kleckert oder krümelt meinen Laden voll.“

Strahlend nahmen die vier die Papiertüte entgegen und stürmten aus dem Laden, um sich draußen über die Muffins herzumachen. Vanessa blickte den vier rotblonden Haarschöpfen nach und lächelte.

„Süß, oder?“

Henry warf ihr einen missmutigen Blick zu. „Alles was an denen süß ist sind die zuckerverklebten Finger. Der Rest geht einem auf die Nerven.“

Vanessas Lächeln erstarb. „Du bist kein Fan von jungem Gemüse, hm?“, meinte sie so scherzhaft sie konnte.

„Nicht, wenn es laut und hektisch ist, nein.“ Er legte die Muffinzange neben die Auslage und wischte sich die Hände an seinem Handtuch ab.

Damit stand es fest. Henry wollte keine Kinder. Dass hatte er schon damals, kurz vor Johns Ankunft in Grandon, klar gemacht. Vanessa schluckte den Kloß runter, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte, und setzte ein Lächeln auf.

„Bekomme ich ein Stück Pflaumenkuchen?“

„Klar“, meinte er und seine Laune schien sich zu bessern, als er ihr kurz darauf einen Teller mit Kuchen zuschob. Nachdem er zwei Gästen im Café Kaffee nachgegossen hatte, gesellte er sich zu ihr.

„Hast du schon mit Mr. Simmens gesprochen wegen des Maritime‘s?“

„Nein.“ Vanessa stocherte in dem Stück Kuchen rum. „Ich wollte erst einmal ausrechnen, wie viel ich im Höchstfall zahlen kann.“

„Das ist vernünftig“, stimmte Henry zu.

Sie aß ein Stück von ihrem Kuchen. Henry machte ihn immer mit etwas Zimt zwischen den Pflaumen und den Streuseln. Sie liebte Zimt.

„Und wie läuft es sonst im Restaurant?“

„Gut. Die Vertretung hat sich hervorragend um die Buchhaltung gekümmert. Ich mache also genau da weiter, wo ich vor London aufgehört habe.“

„Also hast du den ganzen Tag nichts zu tun und faulenzt?“, neckte er sie.

„Ha!“ Sie zielte mit ihrer Kuchengabel auf ihn. „Von wegen. Ich renne zwischen dem Restaurant und meiner Waschmaschine hin und her, um endlich den Berg in der Küche abzuarbeiten. Mel hat inzwischen schon eine Flagge gehisst, damit sie den Weg zu ihrem Zimmer überhaupt noch findet.“

„Das ist ein tragisches Schicksal.“

„Genau. Sie könnte traumatisiert werden und später eine Waschphobie entwickeln.“

Henry lachte kurz und Vanessa fühlte sich besser. Er war noch immer der alte Henry. Er war ihr Henry. Und auch wenn er fremde kleine Kinder nicht sonderlich mochte, hatte sie die Hoffnung, dass es bei einem eigenen Kind ganz anders aussehen würde.

 

***

 

Inzwischen war Vanessa schon wieder zwei Wochen in Grandon und hatte sich eingelebt. Das Gespräch mit Mr. Simmens war so gut verlaufen, wie es nur gehen konnte, und ein von Vanessa engagierter Anwalt kümmerte sich um den Kaufvertrag.

Nachdem dieser Stein ins Rollen gebracht worden war, kehrte für Vanessa der Alltag wieder ein. Sie hatte die Wäscheberge in die Knie gezwungen, ein weiteres Freitagsessen überstanden und zwei weitere Dates mit Henry genossen, obwohl sie beide viel arbeiteten und sich sonst nur im Café sehen konnten. Es war Samstagabend und Melanie hatte sie zu einem Mittagessen bei ihren Eltern überredet. Vanessa stand vor ihrem inzwischen wieder gefüllten Kleiderschrank und ging die verschiedenen Outfits durch. Nach vier Kleidern, zwei Twinsets und einem Kostüm entschied sie sich schließlich für ein burgunderrotes, loses Kleid, das sie leicht umspielte und einer dunklen Strickjacke. Sie drehte sich vor dem Spiegel um sich selbst. Nichts war zu sehen.

Dann ging sie nach unten und wartete auf Mel.

„Bist du fertig?“

„Gleich... Ich kann meine Ohrringe nicht finden.“

„Welche?“ Vanessa ging zur Kommode im Flur.

„Die grünen mit den silbernen Anhängern...“ Mel schien geräuschvoll in ihren Schreibtischschubladen zu suchen.

Vanessa öffnete die oberste Schublade der Kommode und zog die gesuchten Schmuckstücke hervor.

„Hab sie.“

Mel kam zu ihr und nahm die Ohrringe entgegen. „Danke.“ Sie steckte sie an. „Ich frage besser gar nicht, woher du das wusstest?“

Achselzuckend ging Vanessa vor ihr her zur Tür. „Ich habe sie mir letzte Woche ausgeborgt, zu dem hellgrünen Rock und dem dunklen Pullover.“

Mel gab ein gespielt missmutiges Grunzen von sich, während Vanessa die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ und zum Auto ging.

„Ich hab ja wirklich nichts dagegen, wenn du meine Sachen borgst…“, begann sie schließlich.

„Schon gut“, winkte Vanessa ab. „Das nächste Mal leg ich sie zurück.“

„Danke.“

 

***

 

„Bist du soweit?“ Vanessa sah Mel fragend an.

Die lachte leise. „Ich stehe hier nicht vor der Tür meiner Eltern und habe Angst, zu klingeln...“

„Ich habe keine Angst“, verteidigte sich Vanessa. „Ich habe Erfahrung!“

„Ah. Dann bewege deinen erfahrenen Finger endlich zum Klingelknopf.“

„Schon gut...“ Vanessa klingelte.

Nach einer Weile hörte sie Schritte. Diesmal war es Elizabeth, die ihnen die Tür öffnete. Sie wirkte erstaunlich gut gelaunt, irgendwie fröhlich.

„Kommt rein, ihr zwei.“ Sie trat einen Schritt zurück, um sie hereinzulassen.

„Sofie!“, rief sie dann. „Sofie! Hast du das Klingeln nicht gehört?“

Sofie kam herbeigeeilt und nahm die Mäntel der beiden. „Tut mir Leid, Miss Hoffman, in der Küche war es so laut.“

„Na, macht nichts. Geh lieber wieder zurück, bevor etwas anbrennt.“

„Ja, Miss Hoffman.“ Und mit einer leichten Verbeugung war sie wieder verschwunden.

Vanessa und Mel tauschten einen Blick, der dieselbe Frage enthielt: Was ist heute mit Mum los? Sie entschuldigte es normalerweise nicht, wenn ein Dienstmädchen seinen Aufgaben nicht nachkam. Und dem Türklingeln zu antworten gehörte eindeutig zu Sofies Aufgaben...

„Was wollt ihr trinken? Einen Martini, Vanessa?“ Sie ging ins Wohnzimmer und bedeutete den Beiden, Platz zu nehmen.

„Nein, danke. Heute nicht.“ Vielleicht würde es ein zweites Mal funktionieren, Alkohol abzulehnen ohne eine Erklärung abliefern zu müssen.

„Nun gut. Dann einen Sherry?“

Offenbar nicht bei Elizabeth. Vanessa lächelte matt. „Nein, danke Mum. Ich hätte lieber ein Wasser. Ich musste heute bereits mit einem Gast anstoßen und der Sekt war ziemlich schwer.“ Das war die erstbeste Ausrede, die ihr einfiel. Elizabeth schien es hinzunehmen, denn sie stöpselte die Sherryflasche wieder zu und goss ihr und Mel Wasser in ein Glas.

„Wo ist Dad?“, wollte Mel wissen, als sich Elizabeth setzte und Daniel nicht auftauchte.

„Oh, er ist gestern nach Hong Kong geflogen, zu einem Kunden.“

„Ah.“ Vanessa nippte an ihrem Wasser.

„Und, wie war eure Woche?“, begann Elizabeth eine leichte Konversation.

„Ganz nett“, meinte Vanessa nur und fragte sich ernsthaft, was hinter der guten Laune ihrer Mutter steckte.

„Wirklich in Ordnung“, stimmte Mel zu.

„Hast du dich wieder eingelebt?“, erkundigte sich Elizabeth bei Mel. „Du fehlst uns hier sehr, weißt du.“

„Na ja...“ Mel zog unbewusst ihre Schulterblätter zusammen. „Es gibt doch kein schöneres Bett, als das zu Hause, nicht?“

„Aber keine Sorge“, scherzte Vanessa. „Die guten Manieren aus euren Knigge-Kursen hat sie noch nicht abgelegt. Neulich hat sie ihre Pommes mit der Gabel gegessen!“

Elizabeth spitzte ihre Lippen. „Nur zu deiner Information, wir haben Melanie jede erdenkliche Freiheit gelassen. Sie musste keineswegs irgendwelche Manieren erlernen.“

„Mum“, versuchte Mel, sie zu beruhigen. „Das war doch nur ein Spaß.“

Bevor einer der drei etwas sagen konnte, kam Sofie ins Wohnzimmer. „Das Essen ist fertig, Miss Hoffman.“

„Nun denn.“ Elizabeth erhob sich. „Lasst uns essen.“

Mel und Vanessa folgten ihr ins Esszimmer. Es gab eine Bouillabaisse, Salat mit Croutons und eine Fischplatte. Elizabeth schien ein französisches Kochbuch geschlachtet zu haben. Vanessa wurde beim Geruch des Fisches übel, doch sie nahm schnell einen Schluck Wasser und setzte sich, sodass ihr der Geruch der Bouillabaisse in die Nase stieg, der wesentlich angenehmer war.

Elizabeth wartete, bis auch Mel saß.

„Guten Appetit“, meinte sie dann.

Das Essen verlief recht schweigsam. Vanessa hatte keine Lust, irgendwelche Kommentare über das Essen zu machen. Elizabeth schien sich in ihrer Laune wohl zu fühlen und Mel war einfach nur froh, dass es keine Sticheleien gab.

Als Sofie das Dessert hereinbrachte - kleine Crèpes mit heißen Himbeeren - wurde Elizabeth wieder gesprächiger.

„Nun, Vanessa, wie du ja erwähntest, wirst du bald Restaurantbesitzerin sein?“

Vanessa legte ihre Gabel beiseite. „Ja. Ich kaufe ein altes, stillgelegtes Lokal in Grandon.“

„Hast du dich auch gut abgesichert?“

„So sicher wie das Grün von Kermit dem Frosch.“

„Vanessa, darüber scherzt man nicht.“

Sie seufzte. „Natürlich bin ich abgesichert. Mehrfach. Und Cliff & Roberts prüfen den Vertrag ganz genau, bevor wir irgendetwas unterschreiben.“

„Das ist gut“, meinte Elizabeth beruhigt. „Unterschätze nie die Last eines schlechten Vertrages.“

„Bist du jetzt ein Glückskeks?“

Elizabeth warf ihr einen missbilligenden Blick zu.

„Bist du dir sicher, dass du das alles ganz allein schaffen kannst? Es gibt so viel zu bedenken, nicht nur wirtschaftlich.“

„Ich weiß, was ich tue“, unterbrach Vanessa ihre Mutter. „Fang nicht an, mir das schlecht zu machen.“

Doch Elizabeth ließ nicht locker. „Da du ja jetzt mit zusätzlicher Arbeit eingedeckt bist, wirst du sicherlich wesentlich weniger freie Zeit haben.“ Sie schnitt sich ein Stückchen Crèpe ab und schob es sich vornehm mit der Gabel in den Mund.

„Ach“, winkte Vanessa ab. „Immer noch genug, um die Wiederholungen von den Waltons zu erwischen.“

„Ich meine das ernst, Vanessa.“

„Worauf willst du hinaus, Mum?“, fragte Vanessa leicht genervt.

„Dass du ab jetzt kaum noch Zeit für Mel haben wirst und sie deshalb zu uns ziehen wird.“

„Wie bitte?“, riefen Vanessa und Mel gleichzeitig.

„Mum...“, wollte Mel widersprechen, doch Elizabeth schnitt ihr das Wort ab.

„Nein, Mel, ich weiß dass du zu deiner Schwester hältst, aber wenn du darüber nachdenkst, wirst du erkennen, dass es so besser ist. Du wärst wieder bei uns und hast hier viel mehr Platz als bei vanessa. Die letzten sechs Monate haben gezeigt, dass du dich hier wunderbar entwickelst.“

Vanessa lachte hysterisch auf. „Mum, komm mal wieder runter. Mel ist ein freier Mensch und wird sich nicht von euch unterdrücken lassen. Sie kann sich weiterhin bei mir entwickeln.“

„Du hast gar keine Wahl, Vanessa. Daniel und ich haben das bereits entschieden.“

„Ach ja?“ Vanessa schob ihren Teller von sich. Sofort kam Sofie, um ihn mitzunehmen. „Ich glaube nicht, dass das allein eure Entscheidung ist.“

„Ist es doch“, meinte Elizabeth bestimmt.

„So?“

„Ganz Recht. Andernfalls würden wir unsere Unterhaltszahlungen abbrechen.“

Vanessa sog hörbar die Luft ein.

„Mum, das ist nicht dein Ernst!“ Mel sah Elizabeth entsetzt an.

„Ich fasse es nicht.“ Vanessa stand auf und warf die Serviette auf den Tisch. „Du willst Mels Zukunft zerstören, nur um dich an mir zu rächen?“

Elizabeth setzte sich noch etwas gerader hin. „Das hier hat nichts mit dir zu tun, Vanessa, sondern damit, dass Mel so die Türen für ihre Zukunft geöffnet werden. Sie ist eine Hoffman und sie sollte stolz darauf sein.“

„Das bin ich doch“, warf Mel ein, verärgert weil Elizabeth über sie hinwegsprach, als wäre sie gar nicht da. „Aber dazu muss ich doch nicht hier leben.“

Elizabeth stand auf und machte einen Schritt auf Mel zu. „Mel, Schätzchen, eines Tages wirst du uns dankbar sein.“

„Nein.“ Vanessa verschränkte die Arme vor der Brust. „Das wird sie nicht, denn sie wird nicht zu euch ziehen. Dann streicht doch den Unterhalt. Ich habe in den letzten Monaten genügend Geld zusammengespart, um den Rest des Schuljahres und die ersten Semester am College zu finanzieren.“

„Aber du kaufst ein Restaurant“, meinte Elizabeth trocken.

„Diesen Traum habe ich jetzt schon so lange, er kann auch noch ein wenig länger warten. Aber du wirst Mel nicht vorschreiben, wie sie zu leben hat!“

Elizabeth zog ihre Augenbrauen hoch und legte einen Arm um Mel. „Mel gehört hier her.“

„Mum!“ Mel befreite sich aus ihrem Griff. „Wieso fragst du nicht mal danach, was ich will?“

Sofie kam etwas näher zu Mel. „Vielleicht sollten Sie wirklich auf das hören, was Mel möchte.“

Elizabeth warf dem Dienstmädchen einen eiskalten Blick zu und Sofie wusste, dass sie besser den Mund gehalten hätte.

„Pack deine Sachen und geh. Du bist entlassen.“ Elizabeth warf ihr einen letzten geringschätzigen Blick zu und wandte sich dann wieder an Vanessa. „Also?“

Vanessa schüttelte wütend den Kopf. „Komm Mel. Wir gehen.“

Mel sah hilflos zwischen ihrer Schwester und ihrer Mutter hin und her. Vanessa nahm ihre Handtasche und verließ das Esszimmer. Mel sah Elizabeth an. Wut funkelte in ihren Augen.

„Wie konntest du nur!“, meinte sie schließlich und folgte ihrer Schwester durch die große Halle nach draußen. Wieso musste dieses Essen wieder in einem einzigen großen Streit enden? Wieso konnte Elizabeth Vanessas Leben nicht so akzeptieren, wie es war, und ihres auch? Mel stieg neben Vanessa ins Auto. Vanessa sagte kein Wort und fuhr los.

„Es tut mir Leid“, begann Mel nach einer ganzen Weile, doch Vanessa schüttelte den Kopf.

„Das hier hatte nichts mit dir zu tun, Mel. Es war Elizabeths neuste Idee, mich dafür zu bestrafen, dass ich kein Hoffmanleben führe, wie sie es sich wünscht.“

„Aber was machen wir jetzt?“

Sie seufzte. „Wie ich bereits sagte. Es ist kein Problem, dein letztes Schuljahr zu finanzieren.“

Mel wurde in ihrem Sitz immer kleiner. „Aber das Restau...“

„Steht auch in zwei oder drei Jahren noch dort“, vollendete Vanessa den Satz. „Und Mr. Simmens wird es sicherlich auch dann noch an mich verkaufen.“

Mel sah sie schuldbewusst an. Vanessa lächelte ein wenig.

„Deine Chance auf ein gutes College deiner Wahl soll dir niemand verbauen. Das ist momentan viel wichtiger.“

Damit war für Vanessa das Gespräch beendet. Mel fühlte sich nicht wirklich besser, aber es gab nichts, das sie hätte tun können. Von zu Hause wegziehen und nicht mehr bei ihrer Schwester wohnen? Das wollte sie nicht. Nicht jetzt und nicht wenn sie aufs College ging.

 

***

 

Eine halbe Stunde später fuhr Vanessa in die Einfahrt vor ihrem Haus und hielt an.

„Mel, hör mal“, meinte sie. „Ich würde ganz gerne noch mal bei Henry vorbeifahren. Der Abend war einfach...“ Sie ließ den Satz unvollendet, doch Mel verstand.

„Ein bisschen Trost holen, hm?“

Vanessa nickte. „Kann ich dich allein lassen?“

„Klar.“ Mel ließ sich von ihrer Schwester umarmen und stieg dann aus. Vanessa sah ihr noch nach, wie sie im Haus verschwand und machte sich dann auf den Weg zum Coffee Culture. Da um diese Zeit nicht mehr viel los war, parkte sie direkt vor dem Laden.

Er war bereits menschenleer, als sie eintrat.

„Hallo Fremder“, meinte Vanessa und setzte sich.

„Hey.“ Er gab ihr einen Kuss. „Du siehst müde aus.“

Sie nickte. „Der Abend war mal wieder wunderbar gewesen.“

„Streit mit deiner Mutter?“ Er trocknete einen Becher ab und stellte ihn zu den anderen ins Regal.

Vanessa schnaubte kurz auf. „Ich glaube, dafür gibt es kein Wort. Wenn ein Streit wie ein lästiges Insekt ist, dann war das heute ein chemisches Insektenspray, nur dazu geschaffen, alles andere auszurotten.“

Henry legte eine Hand auf ihre, um sie zu beruhigen. „Auch ein Insektenspray verflüchtigt sich irgendwann.“

Vanessa nickte müde. „Vielleicht. Aber lass uns über was anderes reden. Hast du noch Schokodonuts?“

Er lachte. „So spät noch?“

„Ich habe schrecklichen Heißhunger auf Frustschokolade.“

Henry verschwand kurz in der Küche und kam mit einem Teller zurück, auf dem ein Schokodonut lag.

„Engel“, murmelte Vanessa und biss ab. „Das ist auf jeden Fall besser als Minicrèpes.“

„Hm?“

„Schon gut“, winkte sie ab. Dann beobachtete sie Henry dabei, wie er nacheinander die Tische abwischte und begann, die Stühle hochzustellen.

„Denkst du nicht manchmal, dass du keine Lust mehr auf das alles hast?“

„Was?“ Er sah sie fragend an.

„Na ja.“ Sie machte eine ausschweifende Geste über die Tische. „Das hier. Würdest du nicht manchmal lieber etwas völlig anderes tun?“

„Nein“, antwortete Henry ohne zu überlegen. „Das ist mein Familienerbe. Sicher gibt es auch weniger schöne Seiten an dem Job, aber das ist es, was ich kann.“

Vanessa verstand, was er meinte. Sie seufzte.

„Ist alles in Ordnung?“ erkundigte er sich und stellte den letzten Stuhl hoch. Dann kehrte er zur Theke zurück und holte eine Sprühflasche und einen Lappen hervor, um die Barhocker abzuwischen.

„Ich weiß auch nicht.“ Vanessa biss sich auf die Unterlippe. „Manchmal glaube ich, dass es völlig egal ist, ob wir gerade tun, was wir tun. Wir können sowieso nicht alles kontrollieren.“

Henry sprühte die ersten beiden Hocker ein und wischte sie ab.

„Nein. Aber es ist auch nicht wichtig, immer die Kontrolle zu haben. Den Überblick zu behalten, reicht schon.“ Er grinste und bedeutete ihr, kurz von ihrem Platz aufzustehen. Vanessa rutschte von dem Barhocker herunter.

„Ich sollte nicht so viel darüber nachdenken“, meinte sie und Henry nickte zustimmend. Dann wollte er ihren Hocker einsprühen, doch das Reinigungsmittel war alle.

„Recht hast du“, erwiderte er und hob dann die Sprühflasche hoch. „Ich geh mal schnell die Flasche nachfüllen.“

„Ich lauf nicht weg“, sagte sie. Henry ging hinter ins Lager und sie konnte ihn kramen hören.

„Was hältst du eigentlich davon, wenn wir uns nächste Woche Madame Joleens neue Show anschauen?“, drang seine Stimme dumpf aus dem Lager.

„Ich weiß nicht. Wenn sie schlimmer wird, als die letzte, dann auf jeden Fall.“

Ihr Donut war inzwischen alle. Also angelte sie sich eine ihrer großen, gelben Lieblingstassen und nahm sich die Kaffeekanne mit dem koffeinfreien Kaffee. Ein kleiner Rest war noch drin.

„Madame Joleen hat jedem, der es hören wollte, erzählt wie viel Erfahrung sie inzwischen gesammelt hat und dass ihr neues Werk wesentlich professioneller ist.“

Vanessa schenkte sich ein und stellte die Kanne auf den Tresen. Im Stehen nahm sie einen Schluck. Der Kaffee war sogar noch warm!

„Das kann ja nur bedeuten, dass sie sich schrecklich blamiert. Ich bin dabei.“

„Okay. Die Premiere ist am Dienstag.“ Henry kehrte mit einer vollen Flasche zurück und sprühte die restlichen Hocker ein. Dann wischte er kurz drüber und ging hinter die Theke zurück.

„Im Theater?“ Vanessa wollte sich setzen, doch das Polster war noch feucht.

„Nein, beim Stadtpavillon.“ Er nahm ihren Teller weg und stellte ihn in die Küche.

„Ah, dafür hat sie also die ganzen Gestecke bestellt, wegen der sie sich heute Morgen mit Bürgermeister Barnes stritt.“ Sie nippte an ihrem Kaffee.

„Wahrscheinlich.“ Henry grinste. Dann stellte er die Kaffeekanne zurück, um auch die Theke abwischen zu können. Als er bemerkte, dass es die koffeinfreie Kanne war, lachte er kurz auf.

„Du hast Heißhunger auf Schokolade und trinkst koffeinfreien Kaffee. Man könnte meinen, du bist schwanger.“

Plötzlich hörte er das Zersplittern einer Tasse auf dem Boden. Erschrocken sah er, dass Vanessa sie hatte fallen lassen. Dann blickte er sie an und erkannte das Entsetzen in ihrem Blick. Gerade als er ihr sagen wollte, dass es bloß ein Scherz war, schlich sich eine Ahnung in sein Bewusstsein. Sein Blick wanderte zu ihrem Bauch und ruhte eine Weile darauf. Konnte das ein? Fragend glitt sein Blick zurück zu ihr. Sie hatte die Lippen fest zusammengepresst.

„Oh Gott“, murmelte er nur, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Vanessa stand einfach da und wusste nicht, was sie tun sollte. Es zu leugnen war sinnlos, doch als sie seinen Blick sah, glaubte sie, alles würde sich in ihr zusammenkrampfen. Sie wollte etwas sagen, konnte jedoch nicht. Dann schluckte sie und spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Es war vorbei. Henry wollte keine Kinder, er hasste Kinder. Vorsichtig machte sie einen Schritt rückwärts.

Henry rührte sich nicht.

Vanessa hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie musste hier raus!

„Ich...“ Ihre Stimme versagte. „Es tut mir Leid“, flüsterte sie und drehte sich um. Sie verließ das Café, ohne ihn noch einmal anzusehen, stieg in ihr Auto und fuhr heim.

Zu Hause ging sie nach oben und schälte sich aus dem Kleid. Sie streifte sich ein bequemes Shirt über, kroch in ihre Lieblingspyjamahose und ging wieder nach unten, um Mel gute Nacht zu wünschen. Doch als sie im Wohnzimmer stand, verließen sie plötzlich alle Kräfte. Sie brach weinend neben der Couch zusammen und verkrampfte ihre Hände zu Fäusten.

Das war alles zu viel. Erst Elizabeth, die immer wieder ihr Leben schlecht machte, etwas an ihren Plänen auszusetzen hatte und ihr nicht einmal einen Kaufvertragsabschluss zutraute. Und dann die ungewisse Zukunft mit Mel, ihre aufgeschobenen Pläne und das Baby... Und Henry. Sie hatte ihn verloren, da war sie sich sicher. Und dieses Gefühl des Verlustes tat so weh, dass sie kaum atmen konnte.

Vanessa zog ihre Knie an und schlang die Arme darum. Die Tränen rannen ihr die Wangen herunter. Und obwohl sie wusste, dass das kleine Wesen in ihrem Bauch nichts dafür konnte, verfluchte sie es in dem Moment, nur um sich danach schrecklich schuldig dafür zu fühlen. Vanessa spürte, wie die Hilflosigkeit sie einhüllte und schließlich völlig verschlang. 

 

*Fortsetzung folgt*

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.03.2016

Alle Rechte vorbehalten

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