Cover

1

»Samstag, 30. September 2079. Tag 243 der Mission Shin seikatsu. Menschliche Besatzungsmitglieder seit ihrem gestrigen Aufwachen aus dem Permaschlaf bei guter Gesundheit. Werte zufriedenstellend, bislang auch keine Auffälligkeiten des Gemütszustands bemerkbar. Lediglich Offizier Connor scheint schlechter Laune zu sein, was den Ablauf der Mission jedoch nicht gefährdet. Zustand der Lebendfracht stabil, erwartete Ankunft bei Mutterstation in ungefähr drei Tagen. Koordinaten und weitere Daten wie täglich in schriftlicher Ausführung des Bordlogbuchs. Aufgezeichnete Memo von Bord der Himawari, Besatzungs-Einheit Yume. Nachricht Ende!«

Yume blickte aus dem Sichtfenster wenige Meter neben ihr hinaus in die unendlichen Tiefen des Weltalls, während im Hintergrund leise Miki Matsubaras Stay With Me aus den Lautsprechern ertönte. Sie überkam eine gewisse Melancholie beim Gedanken, dass diese Fahrt bald beendet sein und so den nächsten Schritt ihrer Mission einleiten würde. Es war eine schöne Zeit, bevor die Menschen aufwachten. Die bislang acht Monate gingen schnell vorbei, auch wenn sie wohl ein anderes Gefühl für Zeit hatte. Yume fühlte sich nie müde oder körperlich erschöpft, wohl aber traurig über den nahenden Abschluss dieser Anreise. Auch wenn ihr Schöpfer offiziell jedem versichert hätte, dass solche Gefühle bei ihr absolut unmöglich seien. Doch Yume war sich sicher, sie spürte sie! Sie hatte sich in den letzten Monaten ausführlich mit der Kultur der Menschen beschäftigt. Und das konnte sie auch. Auf den Computern an Bord der Hiwamari waren neben Millionen von Dateien über die Geschichte der Menschheit, den verschiedenen Kulturen und Lebensläufen großer Persönlichkeiten auch Hunderttausende Lieder und Filme aus allen Ländern der Erde gespeichert. Besonders die Musik hatte es Yume angetan, sie liebte vor allem Klassik. Aber tagsüber zum Arbeiten hörte sie auch gerne Popsong aus den 1970er oder 1980er Jahren. Gestern erst hatte sie sich nochmals das musikalische Werk eines Künstlers namens Billy Joel verinnerlicht, der laut den Daten im Computern vor einigen Monaten 130 Jahre alt geworden wäre. Wie gerne hätte sie schon in dieser Zeit existiert!

Gerade erklangen die ersten Töne von Wonderful World, einem zauberhaften Lied über unbeschwerte Liebe. Der junge Sänger namens Sam Cooke erlitt wenige Jahre nach seinem Durchbruch ein Schicksal, welches Yume bis heute nicht völlig verstehen konnte: Er wurde ermordet. Angeblich in Notwehr. Eine Gewalttat, die ein Mensch an einem anderen Menschen beging, um nicht selbst von ihm verletzt oder getötet zu werden. Vermutlich war es in Wahrheit jedoch eine rassistisch motivierte Tat, die für den Schuldigen nie irgendwelche Folgen hatte. Yume wusste von diesen Dingen, das Wissen über solche Themen war ihr bereit einprogrammiert worden. Außerdem eignete sie sich auf dieser Reise viele neue Dinge über das Verhalten, die Lebensweise und die Kultur der Menschen an. Durch Lesen der vielen Texte, das Anschauen der vielen Filme. Was aber nicht bedeutete, dass sie diese Gefühle wirklich verstand. Liebe, ja, das leuchtete ihr mittlerweile durchaus ein. Theoretisch jedenfalls. Aber Mord, Grausamkeit? Yume empfand diese Dinge als ineffizient, hinderlich. Und ... ja, dumm. Kibo und Shinjiru sahen diese Dinge nüchterner, ihnen war nur die Mission wichtig. Aber Mirai pflichtete ihr bei, sie empfand ähnlich oder konnte Yumes Gedanken zumindest nachvollziehen. Wie unterschiedlich sie doch waren, obwohl sie am selben Ort entstanden. Entwickelt vom selben, genialen Verstand.

Kitano Yamamoto war ein Visionär, ein Pionier der Weltraumforschung und zudem ein führender Kopf im Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Er entwarf in Zusammenarbeit mit der NASA und privaten Weltraumunternehmern nicht nur dieses Raumschiff und die Raumstation Carter, dem Ziel ihrer Reise, sondern auch eine Reihe von Robotern, die sich in ihrem Aussehen und ihrem Verhalten nicht von echten Menschen unterschieden. Eigentlich war dies Yamamotos wirkliches Herzensprojekt. Jahrelange Arbeit floss in eine künstliche Intelligenz, die nicht nur mit unzähligen Informationen über alle Lebensbereiche gefüttert wurde, sondern auch nach ihrer Fertigstellung weiter selbstständig lernen sollte. Mit dem Ziel, eines Tages vielleicht sogar das Geheimnis menschlicher Gefühle zu verstehen und möglicherweise diese selbst zu empfinden. Auch wenn keiner seiner Kollegen oder Geldgebern je von dieser Vision erfuhr. Man hätte ihn ausgelacht. Man tat es ja ohnehin schon. Sein Lebenswerk, die Weltraummission Shin seikatsu zur Sicherung des menschlichen Lebens, sorgte zu seinen Lebzeiten zum Beispiel bereits für genug Spott. Eine Vision, die ihrer Zeit weit voraus war: Eine Besatzung aus vier Androiden und zehn Menschen, die zusammen zu der bereits von zwei Androiden überwachten und kontrollierten Raumstation Carter reisen sollten, die sich seit geraumer Zeit in einer Umlaufbahn um den Mars befand. Eine gigantische, fliegende Welt mit eigenem Antrieb, die bereits vor über einem Jahr zu ihrer Mission aufgebrochen war. Benannt war sie nach einem US-Präsidenten, der vor etwa hundert Jahren im Amt war. Laut seiner an Bord gespeicherten Biografie betätigte er sich davor wohl als Erdnussfarmer. Yume mochte die Menschen für solche Dinge.

Und wieso sich auf besagter Raumstation bislang nur Androiden befanden? Ganz einfach: Da man die Gefahr des Scheiterns der Mission für sehr hoch hielt. Denn schließlich war es eine Mission von höchster Priorität. Es ging um nichts Geringeres als die Frage, ob Menschen in solch einer im Weltraum schwebenden Stadt überleben konnten. Oder besser gesagt: Aufwachsen konnten. Die zehn Raumfahrer waren nicht einfach nur Kollegen, sondern fünf Paare. Paare, die das Risiko auf sich nahmen, ihren gerade erst geborenen Nachwuchs auf eine unbekannte Reise mitzunehmen. Zum Wohle der Forschung, vielleicht gar zum Erhalt der Menschheit. Ja, das war die menschliche Fracht, wie es wenig einfühlsam offiziell hieß: Fünf im Permaschlaf befindliche Säuglinge, nur für diese Mission gezeugt. Denn auch die Partnerschaften der jeweiligen Raumfahrer entstanden nur für diesen Einsatz. Vor wenigen Jahren wäre solch eine Mission wohl noch moralisch untragbar gewesen, doch die Lage auf der Erde hatte sich verändert. All die Ereignisse der letzten Jahre, die wie eine Kettenreaktion wirkten. Einer Reihe schwerer Krisen der Nuklearmächte in den 2020er und 30er Jahren folgten zahlreiche weitere Kriege, Konflikte, Regierungsstürze. Doch am Ende war es der mit aller Wucht zuschlagende Klimawandel, der den Menschen klarmachte, dass sie ihre Chance vertan hatten, die Erde als Heimatplaneten noch länger halten zu können. Ganze Landstriche und Küstenstädte, Inseln und teils komplette Staaten versanken in den Fluten. Dürren verwandelten zuvor fruchtbares Ackerland in Wüsten und ruinierten so zuvor wohlhabende Länder. Es war klar, dass die Menschheit nur überleben konnte, wenn sie sich nach alternativen Lebensräumen umsehen würde. Ein Terraforming des Mars war zumindest bislang ausgeschlossen, würde doch das künstliche Entstehen einer Atmosphäre die Monde des Planeten so sehr aus ihrer Umlaufbahn bringen, dass sie schlicht auf die vermeintlich neue Heimat stürzen würden. Von allen waghalsigen Plänen schien die Idee von Kitano Yamamoto am besten durchdacht. Kein Wunder, hatte er doch Jahrzehnte daran gearbeitet. Er war nicht der einzige Pionier auf diesem Gebiet, auch ein Konkurrent aus den USA arbeitete in den 2030er Jahren daran. Ein reicher Unternehmer, der zuvor wohl Autos gebaut hatte. Genial, aber auch ein wenig irre, wie man sich erzählte. Doch er starb eines Tages beim Absturz eines Raketen-Prototyps, als dieser gerade auf der Oberfläche des Mars landen wollte, womit der Japaner Yamamoto die führende Rolle als Retter der Menschheit übernahm. Carter wurde zusammen mit der NASA entwickelt, während das Raumschiff Himawari (japanisch für Sonnenblume, Lieblingsblume des Erbauers) und die Androiden ein rein japanisches Projekt blieben. Eine Tatsache, auf die Yamamoto zeitlebens sehr stolz war.

Wozu überhaupt Androiden? Schlicht und ergreifend, weil sie keine Fehler begingen. Sie handelten rein logisch und waren daher die perfekte Ergänzung zur menschlichen Besatzung, die sich nach der Ankunft auf Carter vor allem um die Aufzucht der Lebendfracht unter den ungewohnten Bedingungen zu kümmern hatte. Außerdem konnten die Androiden den Part der langen Anreise übernehmen und die Menschen so den Großteil der Reise im Permaschlaf verbringen, um sich zu erholen und weniger Ressourcen zu verbrauchen. Die Androiden brauchten nichts, weder Schlaf noch Nahrung oder Energie. Ihre fest eingebauten Energiezellen sorgten für eine Lebenserwartung von schätzungsweise 100 bis 110 Jahren. Diese vier Androiden, zwei männliche und zwei weibliche Exemplare (Yamamoto war trotz seiner Innovationen zeitlebens ein Verfechter der klassischen Geschlechterrollen) verfügten über verschiedene Fertigkeiten und Fachgebiete: Die beiden Frauen Yume (Traum) und Mirai (Zukunft) waren neben Navigationsaufgaben und der Überwachung der Bordeinrichtungen für medizinische und versorgungstechnische Aufgaben zuständig. Zudem sollten sie durch eine einprogrammierte, freundliche Wesensart den Astronauten so etwas wie Freunde und Gesprächspartner werden. Die männlichen Androiden Kibo (Hoffnung) und Shinjiru (Glauben) wiederum waren für Wartungsaufgaben zuständig und übernahmen zum Beispiel Reparaturen an der Außenhaut des Schiffes, die für die so wertvollen, menschlichen Besatzungsmitglieder zu gefährlich waren. Kitano Yamamoto dachte an alles, auch wenn man ihm durchaus Rollenklischees vorwerfen konnte. Aber man mochte es ihm nachsehen, bekam er doch zu Lebzeiten nie die verdiente Aufmerksamkeit. Im Herbst 2062 beging der an Depressionen leidende Pionier der Weltraumbesiedlung im Alter von 76 Jahren in seinem Landhaus nahe Osaka Suizid durch Erhängen. Yume existierte zu diesem Zeitpunkt bereits, wenn auch nicht in ihrer jetzigen Form. Yamamoto hatte viele Vorgänger ihres Modells gebaut und immer weiter verfeinert, aber die Erinnerungen der alten Modelle immer mit in die Neuentwicklung übernommen, wodurch sich Yume an Dinge erinnern konnte, die lange vor ihrer Geburt passiert waren. Auch, wie sie - beziehungsweise ihre Vorgängerin - den armen Forscher eines Morgens tot in seinem Büro fand. Beim Abrufen dieser Erinnerungsdatei überkam Yume noch immer ein Gefühl, welches sie nicht zuordnen konnten. Menschen mochten es Trauer nennen. Vielleicht sogar Verlust. Yamamoto war nicht ihr Erbauer,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Brett Ritchie (unsplash.com)
Korrektorat: Michelle und Feli
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2023
ISBN: 978-3-7554-5829-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine große Liebe Sarah.

Nächste Seite
Seite 1 /