Nach nur wenigen Sekunden erkenne ich den alten Song, der gerade im Radio ertönt. Ein Lied, das Erinnerungen in mir weckt, obwohl es Jahre vor meiner Geburt veröffentlicht wurde. The Promise You Made, ein Liebessong aus den 80ern. Dennoch ist es sehr stark mit der Zeit verbunden, in der ich ungefähr zehn Jahre alt war. Wahrscheinlich wohl, weil ich schon damals die Musik der 70er und 80er weitaus mehr geliebt habe als das, was an Neuerscheinungen im Radio lief. Und so saß ich oft in meinem Zimmer, vergaß zu den Klängen von Cyndi Lauper, Mike Oldfield, Fleetwood Mac oder auch der bezaubernden Kate Bush die Probleme der Schulzeit. Mobbing, Einsamkeit und das oft recht langweilige Leben in dem kleinen Kaff vor den Toren von Reutlingen. Genauso wie sie.
Lucy. Meine damals beste Freundin, die ich aus Zufall bei einem kleinen Ausflug kennenlernte. Sie teilte meine Liebe zur Musik genauso wie die Einsamkeit und das Gefühl, bei den Anderen nicht wirklich willkommen zu sein. Zwei Außenseiter, die zumindest für die kurze Dauer ihrer Treffen nicht mehr alleine waren, sich verstanden fühlten. Lucy hatte einen Discman, dessen Batterien immer viel zu schnell leer waren. Ich höre heute noch ihr Fluchen, wenn er ausgerechnet während eines von ihr geliebten Songs den Geist aufgab. Fast ausschließlich Lieder der 80er, fast ausschließlich über Liebe und zumeist ein klein bisschen kitschig. Time After Time, Especially for You, ein paar französische Songs von France Gall oder Desireless und eben auch The Promise You Made von einer Band mit dem genial-doofen Namen Cock Robin. Wessen Idee auch immer das war.
Die Musik war neben dem Schreiben und dem Geschichtenerzählen unser gemeinsamer Draht, der uns wie verwandte Seelen aneinander schweißte. So sehr, dass wir unsere Treffen wie Geheimnisse behandelten und keiner je davon wissen sollte. Was nicht schwer war, da Lucy auf eine andere Schule ging und so keinen meiner Klassenkameraden kannte. So wurde unser Treffpunkt zu einer eigenen kleinen Welt, einem Treffpunkt für zwei traurige Seelen, die zusammen lachen konnten und glücklich waren. Ein Versprechen, das wir uns gaben. Quasi The Promise We Made.
Manchmal sang Lucy bei den Liedern mit oder versuchte, mich zum Tanzen zu überreden, womit sie aber zumeist scheiterte. Nachdem sie das Musikvideo von Wuthering Heights gesehen hatte, wollte sie auch so ein rotes Kleid haben und damit durch die Gegend tanzen. Verrückt genug dazu war sie, langweilig wurde es mit ihr jedenfalls nie. Lucy hatte eine Fantasie, die für hunderte Bücher gereicht hätte. Doch dazu bekam sie nie eine Chance. Vielleicht wollte sie das aber auch gar nicht. Die Aufmerksamkeit, ihre Texte für jedermann sichtbar. Sie war wie ein scheues Reh, fühlte sich ohne die Gegenwart anderer Menschen wohler. Oder, um Greta Garbo zu zitieren: Sie wollte allein sein. Unbemerkt, in Ruhe gelassen von all den Leuten, die ihr Leben oft schwerer machten.
Einst fragte sie mich, was ich später machen wolle. „Schreiben. Und bei dir sein!“, lautete meine Antwort. „Das mit dem Schreiben schaffst du schon!“, entgegnete sie damals in ihrer typisch liebevollen Weise. Fast so, als ob sie schon wusste, dass es zu meinem anderen Wunsch nicht kommen würde.
Die Jahre vergingen, es ist wieder jemand an meiner Seite. Könnte mich Lucy sehen, so hoffe ich, dass sie zufrieden wäre. Darüber, dass ich noch immer schreibe. Die Hauptfigur in meinem ersten Buch nach ihr benannt und an sie stark angelehnt habe. Und dass ich mit meiner Liebe Sarah glücklich bin.
Denn sie ist vielleicht nicht mehr hier, doch sicherlich nicht fort.
Sondern nur an einem anderen, mir noch unbekannten Ort.
Dort, wo all die Menschen sie nicht stören,
um zu Schreiben und Musik zu hören.
Tag der Veröffentlichung: 26.07.2023
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