»William lächelte, als ihm bewusst wurde, dass sein Plan gelingen, seine jahrelange Arbeit nun endlich Früchte tragen würde. All die vergeudeten Lebensstunden mit dieser Frau, die er als Gatte ertragen musste. Die vielen vorgetäuschten Liebeserklärungen, die Unerträglichkeit ihrer reinen Anwesenheit. Wie viel Arbeit es doch war, ehe sie endlich nach sechs Jahren Ehe ihr Testament geändert und ihn zum Alleinerben gemacht hatte. Aber all das Theater war nun vorbei. Bald schon würde seine Frau tot sein. Und er reich. Eine schreckliche Tragödie. Doch die kurvenreiche Landstraße in den Ort war schon immer gefährlich. Die arme Kay, sie fuhr zu schnell in die Kurve, konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen.
Tja, Unfälle passieren eben.«
Mit zufriedener Miene tippte Henry diesen letzten Satz auf seiner alten Adler Schreibmaschine und vollendete so eine weitere Krimi-Kurzgeschichte für seine neue Anthologie, die in wenigen Monaten erscheinen sollte. Nur eine letzte Geschichte fehlte jetzt noch. Und die Zeit drängte, der Verlag machte schon längere Zeit Druck. Schließlich war noch viel zu tun: Korrekturlesen, der Coverentwurf, Werbung und ein geplanter Autorenstand auf der nächsten Buchmesse, um vielleicht auch den einen oder anderen überregionalen Presseartikel zu bekommen. An sich liebte Henry das Schreiben, es war schon sein Leben lang seine große Leidenschaft. Aber die ewigen Deadlines machten ihm zu schaffen. Henry Raim, der große Schriftsteller, der in letzter Zeit viel zu wenige gute Ideen hatte. Wobei groß wohl relativ war. Sicher, er konnte mittlerweile endlich von seinem Handwerk leben und hatte schon einige Achtungserfolge, aber ein großer Bestseller blieb bislang aus. Das war auch wohl bei diesem neuen Werk nicht anders, eine Sammlung zweiklassiger Kurzkrimis würde wohl kaum die Spitze der Bestsellerlisten erklimmen.
Ein Werk noch, dann hätte er vorerst Ruhe. Und vor allem wieder einen Gehaltsscheck, den er im Moment wirklich gut gebrauchen konnte. Ein Werk noch, einfacher gesagt als getan. Auch, wenn es nur Kurzgeschichten waren, mussten sie ja dennoch gut und zumindest halbwegs kreativ sein. Auch wenn es im ausgeschlachteten Krimi-Genres wohl nichts gab, was nicht schon irgendein Autor irgendwann niedergeschrieben hätte. Henry rieb sich die Augen und warf einen Blick auf seine Uhr. Sein Job mochte manchmal unsicher, vielleicht sogar undankbar sein, und eine dauerhafte Schreibblockade konnte die kurze Karriere ganz schnell wieder ruinieren, bevor sie überhaupt richtig Fahrt aufgenommen hatte. Henry drehte das auf seinem Schreibtisch stehende Radio lauter, lehnte sich zurück und schloss die Augen, um Ideen zu sammeln. Oft brachte ihn klassische Musik auf andere Gedanken und Einfälle, wäre er nur nicht schon seit Tagen so müde gewesen.
Henry schreckte auf, als er auf einmal auf einer Parkbank mit Blick auf einen Fluss erwachte. Seine Sicht wirkte unklar, leicht verschwommen. Fast so, als würde eine Art Filter über seinen Augen liegen. In der Ferne sah er eine Person den Weg entlang schlendern, konnte sie jedoch nicht erkennen. Erst bei Vorbeigehen identifizierte er sie als junge Frau mit langen, blonden und leicht gewellten Haaren. Sie wirkte ungemein elegant, strahlte eine gewisse Noblesse aus, wirkte aber dennoch nachdenklich und fast schon zerbrechlich. Sie hielt kurz inne, als sie den Mann auf der Parkbank bemerkte, blickte ihn zaghaft mit ihren großen Augen an und nickte ihm dann lächelnd zu, ehe sie weiter ihres Weges ging. Henry erwiderte das Lächeln, obwohl sie ihn schon gar nicht mehr ansah. Fasziniert blickte er ihr hinterher, ehe sie nach einigen Meter hinter einem nebelhaften Schleier verschwand.
»Sie hörten Clair de Lune von Claude Debussy. Nach den Nachrichten spielen wir Werke von Saint-Saëns, Chopin und Rachmaninow. Bleiben Sie dran!«
Erneut schreckte Henry auf und fiel dabei fast von seinem Bürostuhl, ehe er bemerkte, dass er eingenickt war. Vielleicht hätte er bei seiner heutigen Verfassung lieber Metal anhören sollen. Andererseits hätte er dann aber auch nicht diesen interessanten Traum gehabt. Einige seiner besten Ideen kamen ihm im Halbschlaf oder eben in solchen kurzen Träumen. Manche mochten es als Eingebung bezeichnen, doch für ihn war es einfach nur Glück. Manchmal träumte er wochenlang auch nur total unbrauchbaren Mist. So wie neulich, als er nach einem Film über Dinosaurier doch glatt träumte, von einem Allosaurus verfolgt zu werden, der ihn schließlich auch einholte. Auf Henrys flehende Bitte, ihn doch am Leben zu lassen und nicht aufzufressen, entgegnete der Saurier höflich: »Och, komm schon, nur einen Bissen!«
Henry lachte, als ihm dieser Traum wieder in den Sinn kam. Was für ein Schwachsinn. Diese Dame wiederum hatte etwas unglaublich Schönes an sich. Elegant, aber trotzdem so zerbrechlich und irgendwie so unschuldig wirkend in dieser heutigen Welt, die Henry mit eher negativen Augen sah. Die Leser würden sie mögen, so viel war sicher. Er machte sich eifrig einige Notizen, während er in seinem Kopf bereits eine Geschichte für die junge Frau ausmalte, der er kurzerhand den ersten Namen gab, der ihm durch den Kopf geisterte: Mira.
Nach nur wenigen Minuten hatte Henry einen ersten groben Entwurf der ungefähren Handlung auf Papier gebracht. Die junge, unschuldige Mira, ein einsames Herz und trotz ihrer Schönheit eine sehr zurückgezogen lebende Frau, verliebt sich unverhofft während einer kurzen Begegnung in einem Park in einen jungen Mann, mit dem sie ins Gespräch kommt. Seine charmante Art hilft ihr, sich ihm zu öffnen und aus sich heraus zu kommen, sodass beide bis zum Abend auf der Parkbank sitzen und über Gott und die Welt reden. Er begleitet sie wie ein Gentleman nach Hause, schließlich sind in eben jener Gegend in letzter Zeit gleich mehrere Frauenmorde verübt worden. Mira und ihr Verehrer treffen sich fortan täglich, sie schwebt auf Wolke sieben und ahnt nicht einmal etwas, als er sie bittet, niemandem von ihren Treffen zu erzählen. Denn ER ist der Psychopath, der Frauenmörder. Der Leser weiß es, doch er kann es nicht verhindern. Und am Ende stirbt Mira, niedergeschlagen und ertränkt in eben jenem Fluss, den sie von der Bank aus täglich sah. Vielleicht würde der Stoff sogar noch für eine weitere Geschichte reichen, die dann von der Fahndung nach dem Täter erzählt. Henry grinste zufrieden, als er sich seine Notizen noch einmal durchlas. Ja, daraus könnte er etwas Gutes machen, da war er sich sicher. Eifrig kramte er einen Stapel Blätter aus einer der Schreibtischschubladen, spannte eines der Blätter in seine Schreibmaschine ein und begann als gleich mit der ersten Seite. Manche seiner Kollegen hätten wohl gelacht, wenn sie ihn mit diesem Museumsstück gesehen hätten. Natürlich hatte er auch einen Computer, an dem er auch ab und an Ideen für seine Werke speicherte. Besonders solche, die er erstmals »auf Halde legen« und erst später anfangen wollte. Aber das Schreiben auf der alten Adler war einfach anders, es war schlicht lebendiger, schöner, nostalgischer. Einfach ein Gefühl, das bei einem schnöden Computer nicht aufkam. Auch wenn es seine Nachteile hatte. Tippfehler konnten nicht einfach wie am PC gelöscht werden, zudem machte er sich langsam Sorgen, ob er noch lange genug Farbbänder für den alten Kasten bekommen würde. Aber das lag noch in der Zukunft, also konnte es ihm egal sein. Und für das Korrekturlesen war Gott sei Dank ja ohnehin jemand im Verlag zuständig. Der arme Kerl, er musste viel mitmachen. Henrys Verleger scherzte bei der Veröffentlichung des letzten Buches darüber, dass der Korrekturleser nun erst einmal einen Urlaub und eine längere psychologische Betreuung benötigen würde.
Durch die Klänge der klassischen Musik im Radio schien Henry wie beflügelt an der neuen Geschichte voranzukommen. Nach getaner Arbeit betrachtete er lächelnd seinen Entwurf der ersten zwei Kapitel und einer Zusammenfassung, die er am morgigen Tag seinem Verleger zeigen wollte. Dieser hielt es aus irgendeinem Grund für nötig, selbst bei dieser Kurzgeschichten-Sammlung vorab von jeder einzelnen Geschichte ein Essay zu erhalten, welches er dann entweder abnickte oder in seiner charmelos-direkten Art niederschmetterte. Henry atmete tief durch, warf noch einen zufriedenen Blick auf die bisher geschriebenen Seiten und stand dann auf, um sich noch etwas zu Essen zu machen, nebenbei fernzusehen und dann ins Bett zu gehen. Viel mehr gab es aktuell in seinem Leben auch nicht, seine letzte Partnerin war schon lange fort und seine wenigen Freunde wohnten mittlerweile zum Großteil weiters weg, was Treffen mit ihnen recht selten machte. Aber vielleicht brauchte der Schriftsteller ja ein Stück weit auch die Isolation. Zumindest traf es bei ihm zu. Weil seine Charaktere oftmals genauso einsam waren. So wie Mira. Armes Ding, sie dachte, dass sie ihre große Liebe gefunden hatte. Manchmal taten ihm seine Charaktere fast schon leid, so albern es auch klang. Aber seine Werke mussten einfach negativer Natur sein, es lag ihm im Blut. Nicht etwa, weil er die Menschen um sich gerne leiden sah. Im Gegenteil, ihm selbst wäre mehr Glück und Liebe im Leben recht gewesen. Aber er war einfach talentlos, was das Schreiben leichter Komödien oder gar Liebesromane betraf. Nein, sein Metier waren die Abgründe der Menschheit. Das Böse in jedem von uns.
Und so würde er es auch belassen.
»Hey, Henry!«
Henry schreckte auf, als er die charmante Stimme neben sich hörte. Er blickte sich um und fand sich erneut auf der Parkbank wieder. Wieder blickte er auf den Fluss und wieder erschien es ihm so, als läge über seinen Augen eine Art Schleier, die alles verschwommen und verzerrt darstellte. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er wieder träumte. Ein seltsames Gefühl. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihm dies in einem Traum jemals so bewusst wurde. Er hatte mal davon gelesen. Die Fähigkeit, sich beim Träumen darüber bewusst zu werden, dass man sich in einem Traum befand. Henry jedoch ist es nie passiert. Genauso wenig, wie zweimal hintereinander vom selben Ort zu träumen. Oder von derselben Person. Denn neben ihm stand wieder die junge Frau aus dem letzten Traum. Mira. Sie lächelte ihm fröhlich zu, ehe sie neben ihm Platz nahm. Henry schien es so, als könne er sogar ihr Parfüm riechen, ihre Anwesenheit und Wärme spüren.
»Ich wollte mich bei dir bedanken. Dank dir bin ich endlich wieder glücklich! Ich ... ich hätte nie gedacht, ausgerechnet hier der Liebe meines Lebens zu begegnen. Und das verdanke ich nur dir! Du bist ein Engel!«
Noch bevor Henry etwas antworten konnte, beugte sich Mira zu ihm vor und schloss ihn in ihre Arme. Er lachte verlegen, auch wenn ihm die Situation sichtlich unangenehm war. Erstens, weil ihm all das hier viel zu realistisch schien und zweitens, da er in diesem Moment an den weiteren Verlauf dieser Geschichte denken musste. Daran, wie diese vermeintliche Liebesgeschichte für Mira enden würde. Aber es war wohl besser, darauf nicht einzugehen.
Mira lächelte Henry abermals an und blickte ihm dabei direkt in die Augen. Wie schön sie doch war! Es hieß, dass man jedem Gesicht in seinen Träumen irgendwann im echten Leben begegnet sei. Meist, ohne sich darüber noch bewusst zu sein. Doch an diese Frau hätte er sich garantiert erinnert!
»Ich bin schon gespannt, wie diese Geschichte für mich weiter geht!«
Henry wachte mit Herzrasen auf, als hätte er gerade den schrecklichsten Alptraum aller Zeiten gehabt. Dabei war doch gar nichts Schlimmes passiert! Er versuchte, sich zu beruhigen und das soeben geträumte herunterzuspielen. Was ihm jedoch nicht gelang. Es war zu real, zu explizit. Als wäre seine Hauptfigur zum Leben erwacht und würde sich mit ihm über weitere Handlung des Buches - ihre Zukunft - unterhalten. Eine Zukunft, für die der Autor nichts Gutes geplant hatte. Sollte er die Idee vielleicht doch besser wieder verwerfen? Henry schüttelte hektisch den Kopf und lachte dann, während er sich selbst im Spiegel an seinem Kleiderschrank betrachtete.
»Junge, du trinkst zu viel!«
Der hinter einem gewaltigen Schreibtisch sitzende Verleger las die ersten Textentwürfe mit kritischer Miene. Was nichts zu bedeuten hatte, dieses Pokerface legte er immer auf. Egal, ob ihm das Geschriebene nun gefiel oder nicht.
»Guter Einfall!«, lobte er schließlich die Leseprobe und das Essay mit einem zustimmenden Nicken. »Eine Geschichte ohne Happy End. Düster, aber das, was ich hier sehe, ist wie immer sehr gut geschrieben! Und das Ende bietet, wie du schon gesagt hast, sogar Spielraum für eine Fortsetzung. Wenn wir damit deine Anthologie abschließen, ist das wie ein Köder für die Leser, auch noch eine zweite Anthologie zu kaufen!«
»Wird es denn eine geben?«, fragte Henry provokant. Sein Verleger lächelte.
»Ich denke schon. Die bisherigen Geschichten gefielen mir allesamt sehr gut!«
»Und diese hier ist wirklich ... okay so? Ich hatte zwischendurch so meine ... Zweifel. Ich kann auch etwas Neues anfangen, falls ... «
»Auf keinen Fall!«, unterbrach ihn der Mann hinterm Schreibtisch fast schon verzweifelt. »Mehr Selbstvertrauen, Henry! Die Geschichte ist gut, und ich will im Zeitplan bleiben. Ich will diese Story fertig geschrieben haben. Basta!«
Henry zögerte, nickte dann jedoch, schüttelte seinem Verleger die Hand und verabschiedete sich dann. Vor der Türe warf er einen scheuen Blick zu der Sekretärin, die hier seit neuestem arbeitete. Eine wunderschöne Dame namens May, die das liebenswerteste Lächeln und die wahrscheinlich zauberhaftesten Augen hatte, die er jemals sehen durfte. Bisher sprach er kaum mit ihr. Erstens war Henry viel zu schüchtern, und zweitens hatte sie garantiert schon einen Partner.
»Na, alles gut gelaufen?«, fragte sie mit ihrer typisch freundlichen Art Henry mit einem verlegenen Lächeln.
»Ja, ich ... ihm gefiel die Geschichte! Er stellte mir sogar eine zweite Anthologie in Aussicht!«
»Uhh! Und wissen Sie was?« May kramte ein Buch aus ihrer Handtasche hervor, welches Henry als seinen letzten Roman erkannte. »Einen Leser haben Sie schon! Wirklich, ihre Bücher gefallen mir von all den Autoren hier am besten!«
Henry strahlte sie fröhlich an, ohne eine wirkliche Antwort auf dieses Kompliment zu finden.
»Das ... das freut mich sehr! Sagen Sie ... ist es albern, wenn man mit einer Figur in einem Roman eine gewisse Bindung aufbaut? Oder sogar Reue hat, sie im Buch sterben zu lassen?«
May runzelte die Stirn, lächelte Henry aber weiter an. Dann lachte sie kurz.
»Na ja, ich hatte diese Situation noch nicht! Aber vielleicht ist es sogar hilfreich, als Autor Mitleid mit einer Figur zu haben, die im Buch stirbt. Damit können Sie die Tragik und den Schmerz noch besser beschreiben!«
Henry zögerte, lächelte dann aber May fröhlich zu.
»Ja, Sie haben recht! Vielen Dank für den Tipp!«
»Gern geschehen. Bis zum nächsten Mal!«
Henry winkte der Sekretärin zum Abschied zu, ehe er zu einem der Aufzüge eilte, der gerade in der Etage hielt. Mays Worte halfen ihm, wieder Selbstvertrauen in sich und die Geschichte zu haben. Er kam sich fast schon lächerlich vor, in Grund und Boden hätte er sich schämen können! Gott, wollte er ernsthaft eine so gute Geschichte verwerfen, nur weil er zwei seltsame Träume hatte? Diese Träume waren ein Ausdruck seiner Fantasie, genauso wie die junge Frau, die er sah. Mira war nicht echt.
Und heute Abend würde er sie sterben lassen.
»Miras Lächeln verschwand, als sie realisierte, dass ihr Gegenüber keineswegs scherzte. Sein so gütiges Gesicht hatte sich in eine eiskalte Fratze verwandelt. In seinem Blick war kein Anflug von Empfinden oder Mitleid zu spüren. Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte keinen einzigen Ton heraus. Mira wimmerte, schüttelte hektisch den Kopf und lief langsam rückwärts, als würde sie damit seinen Fängen entkommen. Sie hatte ihm vertraut, ihn geliebt. Wie all die Frauen vor ihr. Ihr panischer Schrei schien die Stille der Nacht regelrecht zu zerreißen, doch hören würde sie niemand. Der Stein in seiner Hand schmetterte mit voller Wucht gegen ihren Schädel. Mira stürzte zu Boden. Ein leises Wimmern und Röcheln war alles, was sie noch herausbrachte. Mira kroch blutend wie ein verwundetes Tier über die Wiese, versuchte verzweifelt, irgendwie durch ein Wunder ihrem Mörder zu entkommen. Doch es würde kein Wunder kommen. Er packte sie an den Haaren und schleifte sie bis zum Fluss, wo er ihren Kopf unter Wasser drückte. Quälend langsam dauerte ihr Todeskampf, ehe ihr Körper erschlaffte. Miras Leben endete so, wie sie es jahrelang geführt hatte: einsam. Ohne dass jemand davon Notiz genommen hätte. Dann wurde ihr Körper mit einem Fußtritt in den Fluss gestoßen, der sie davontreiben ließ. Bis zu der Fußgängerbrücke, an der sie schließlich gefunden werden würde. Mira suchte ein Happy End. Doch ihr Leben war kein Märchen.
Sondern ein Alptraum.«
Zufrieden überflog Henry noch einmal das blutrünstige Ende seiner Kurzgeschichte. Er war zufrieden, auch wenn es vielleicht doch etwas negativ schien, seine Anthologie so zu beenden. Vielleicht würde er Miras letzte Liebe irgendwo in die Mitte packen und für den Schluss eine seiner etwas lebensbejahenderen Geschichte auswählen. Aber gut war sie, daran zweifelte er nun nicht mehr. Kaum zu glauben, dass er heute Vormittag noch so selbstkritisch war und alles wegen eines Traums über den Haufen werfen wollte. Wie peinlich, dass er auch noch May mit in diese Sache hineingezogen hatte. Was musste sie jetzt von ihm denken? Ein Autor, der sich seiner eigenen Storyline unsicher ist. Gefühle für das Mordopfer in seinem Thriller entwickelt, meine Güte! Aber im Moment wollte er lieber an die positiven Aspekte dieser Sache denken. Seine Anthologie war vollendet. Und es winkte sogar eine Fortsetzung! Das müsste er groß feiern, gleich morgen würde er May, seinen Verleger und vielleicht auch einen seiner alten Freunde zu einem Abendessen in sein Lieblingsrestaurant einladen. Doch erstmal war es Zeit, noch ein wenig den Abend ausklingen zu lassen und danach Schlaf nachzuholen, von dem er in den letzten Tagen viel zu wenig bekam.
Vögeln zwitscherten und ließen Henry sanft aus seinem Schlaf erwachen. Er wurde von der grellen Sonne geblendet, über ihm der klare, blaue Himmel. Es dauerte eine Weile, ehe ihm klar wurde, dass er wieder einmal träumte. Henry lag auf einer Wiese, im Hintergrund hörte er das Rauschen eines Flusses. Vermutlich also wieder derselbe Ort wie in den letzten Träumen. Zumindest saß er diesmal nicht auf dieser blöden Parkbank. Und auch Mira war nirgends zu sehen. Kein Wunder, schließlich hatte er sie ...
Henry schluckte. Er sollte es nicht auf diese Weise formulieren. Er schloss die Augen und versuchte, diesen Traum so gut es ging zu genießen. Am besten einfach nichts tun. Nur hier liegen, die Wärme der Sonne spüren und dem Zwitschern der Vögel lauschen. Irgendwann würde er schon wieder aufwachen. Henry streckte seine Arme aus, berührte das Gras, das noch feucht zu sein schien. Zumindest fühlte es sich nass an und ... Henry schreckte auf, als seine Hand auf einmal etwas berührte. Eine andere Hand. Er drehte sich um und wollte vor Entsetzen laut aufschreien, doch er konnte nicht. Sein Herz raste, als er neben sich die blutüberströmte Leiche von Mira liegen sah. Die Wiese war vollkommen in Rot getränkt, selbst seine Klamotten waren mit ihrem Blut regelrecht aufgesogen. Ihre toten, weit aufgerissenen Augen starrten ihn direkt an, als er auf einmal eine Regung in ihrem Körper bemerkte. Noch bevor er reagieren konnte, packten Miras Hände seine Arme und zogen ihn zu sich heran.
»Warum hast du das getan? Warum hast du mich umgebracht?«
Henry sprang in Todesangst auf und taumelte einige Schritte zurück. Zu seinem Entsetzen richtete sich auch die todgeglaubte Mira auf und lief langsam auf ihn zu.
»Du Monster! Ich wollte nur glücklich sein! Du weißt gar nicht, was du damit angerichtet hast!«
Mira packte Henry am Kragen und schleppte ihn langsam in Richtung des Flusses, dessen Wasser sich blutrot gefärbt hatte. Doch kurz vorher ließ sie ab. Er stürzte zu Boden. Mira warf ihm einen traurigen Blick zu, eine Träne lief ihre Wange herab.
»Aber das wirst du noch früh genug herausfinden!«
»NEIN!«
Henry schreckte schweißgebadet von seinem Bett auf. Es dauerte eine Weile, ehe sein Puls gesunken war und er sich beruhigt hatte. Zumindest so sehr, wie er es in dieser Situation konnte. Was war nur los mit ihm? Hatte er Schlafmangel? Trank er zu viel? Wurde er langsam irre? Oder ... hatte er wirklich etwas mit seiner Geschichte ausgelöst? Aber WAS? Es ergab alles keinen Sinn. Henry griff zu der Wasserflasche auf seinem Nachttisch und nahm einen kräftigen Schluck, ehe er innehielt. Auf einmal erinnerte er sich wieder an eine flüchtige Begegnung vor einigen Wochen, die er in der Zwischenzeit längst als unbedeutend abgestempelt und vergessen hatte. Eine alte Freundin aus Studienzeiten hatte ihn dazu überredet, sie auf einen Jahrmarkt zu begleiten. Sie wollte unbedingt in das Zelt einer dieser albernen Wahrsagerinnen, die dort für ein paar Euro vermeintliche Zukunftsvisionen voraussagten, die dermaßen vage waren, dass man, wenn man es wollte, darin natürlich irgendein Stück Wahrheit sehen konnte. »Sie werden bald schon ihre Liebe finden!« Klar. Henry fragte die Wahrsagerin damals provokant, wieso sie nicht einfach die Lottozahlen voraussagen und reich werden würde. Sie redete sich heraus und schien wütend zu werden, als sie auf einmal eine Sache sagte, die Henry doch ein wenig unheimlich war: »Sie sind Schriftsteller, richtig? Passen Sie auf, worüber Sie schreiben. Aus Fiktion wird manchmal Realität. Manche Dinge, über die wir schreiben oder nachdenken, können ihren Weg in die echte Welt finden. Die Grenzen verwischen manchmal. Sehen Sie sich vor!«
Henry erinnerte, wie er damals seine Unsicherheit mit Gelächter überdeckte, ehe er seine Bekannte am Arm packte und das Zelt der Wahrsagerin verließ. Sehr zur Enttäuschung der alten Studienfreundin, die sich wohl wirklich etwas von diesem Besuch erhoffte. Er tat die Begegnung damals als Humbug ab. Die Wahrsagerin war schlicht wütend auf ihn und wollte ihm Angst machen. Bestimmt kannte sie sein Gesicht von einem Zeitungsreport, vielleicht besaß sie sogar ein Buch von ihm. Anders konnte er es sich nicht erklären, dass sie seinen Beruf wusste. Nun aber standen ihre Aussagen in einem anderen Licht.
»Gott, worüber denke ich da überhaupt nach? Henry, beruhige dich! Es war ein Traum, nichts weiter. Nur ein scheiß Traum! Du bist übermüdet, du bist zu wenig unter Leuten und du säufst zu viel!«
Henry eilte ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und füllte das Waschbecken mit eiskaltem Wasser, um darin sein Gesicht einzutauchen. Ein alter Trick, der ihm auch half, wenn er verkatert war oder schlecht geschlafen hatte. Er musste sich beruhigen, die Sache nüchtern betrachten. Seit wann glaubte er an Visionen oder Wahrsagerinnen? Henry musste bei diesem Gedanken unfreiwillig lachen. Wenn ihn jemand so gesehen hätte, absolut lächerlich.
Henry tauchte noch einmal sein Gesicht ins Wasser und blickte dann in den Spiegel, um zu sehen, ob er eine Rasur gebrauchen könnte. Zu seinem Entsetzen sah er vor sich jedoch nicht sein eigenes Gesicht, sondern Mira, die ihm blutüberströmt zulächelte.
»Guten Morgen!«
Henry schrie laut auf, wich ein Stück zurück und griff dann zum Klobürstenhalter neben der Toilette, den er mit voller Wucht gegen den Spiegelschrank schmetterte. Das Glas splitterte und verteilte sich im gesamten Badezimmer. Für einen Moment schien es Henry so, als würde er Miras schadenfrohes Lachen hören, ehe sich darüber bewusst wurde, was er gerade für ein Chaos veranstaltet hatte. Hoffentlich bekamen die Nachbarn nichts davon mit. Was war los mit ihm? Ihn plagten doch sonst nie solche Tagträume! Doch die Zweifel in ihm wuchsen immer mehr. All dies begann mit dieser dummen Geschichte über Mira. Vielleicht würde es doch besser sein, die Idee zu verwerfen. Er würde seinem Verleger einfach anbieten, eine neue Geschichte zu schreiben. Ein paar Tage würde er ja wohl noch warten können. Oder noch besser ... er würde den bestehenden Anfang der Geschichte umschreiben. So, dass Mira am Ende am Leben bleibt! Er kam sich unendlich albern dabei vor, wirklich diesen Gedankengang zu haben. Doch etwas in ihm sagte, dass nur so die schrecklichen Dinge in seinem Kopf wieder verschwinden würden.
»Das kommt überhaupt nicht infrage!« Henry blickte wie ein Schuljunge zu Boden, als sein Verleger ihm die Meinung zu seinem Vorschlag mitteilte. »Henry, die Geschichte ist brillant! Als Leser bangt man bis zuletzt mit dieser Mira, umso brutaler ist dann ihr unvermeidliches Ende! Das ist wirklich gut, die beste Geschichte von allen bisher! Ich müsste dumm sein, sie nicht im Buch abzudrucken!«
Er wedelte mit dem Manuskript herum, als würde er es Henry gleich um die Ohren schlagen wollen. Es war ein Fehler, es überhaupt mitzubringen und es ihn lesen zu lassen. Insgeheim hatte Henry wohl gehofft, dass er es nicht mögen und ablehnen würde. So wie manch verheißungsvoll beginnende Geschichte zuvor, deren Ende den kritischen Verleger nicht überzeugte. Henry zuckte mit den Schultern.
»Wenn Sie meinen!«
»Ich meine! Henry, legen Sie ihre Selbstzweifel beiseite. Dieser Text wird ein Erfolg, glauben Sie mir! Und selbst wenn nicht: Es ist nur eine Geschichte!«
Henry horchte beim letzten Satz des Verlegers auf. Ja, er hatte recht. Es ist nur eine Geschichte! Wer war er, dass er sich nun von einer erfundenen Figur aus einer seiner eigenen Storys beeinflussen ließ? Er hatte zu wenig geschlafen, brauchte ein wenig Urlaub. Ein Tapetenwechsel, eine neue Bekanntschaft. Das war alles. Henry lächelte
»Ja, da haben Sie recht!«
Henry dachte kurz darüber nach, ob er wie geplant die Einladung zum Abendessen aussprechen wollte. Sein Blick ging zur halb geöffneten Türe, durch die er May an ihrem Schreibtisch sehen konnte. Vielleicht war es besser, noch ein wenig mit der Einladung zu warten, bis es ihm besser ging. Schließlich wollte er besonders vor ihr einen guten Eindruck machen.
Henry lächelte May freudig zu, als er das Chefbüro verlassen hatte und ihren Schreibtisch passierte, an dem gerade eine nicht minder attraktive Dame stand. May erwiderte das Lächeln, was die andere Frau auf Henry aufmerksam machte. Sie musterte ihn kurz, ehe auch sie begeistert lächelte.
»Sind Sie nicht Henry Raim? Ich habe ihr letztes Buch geliebt! Diese Story mit der jungen Frau, deren Mann sie nur wegen des Geldes geheiratet hat und sie am Ende umbringt. Das war genial!«
Henry kicherte verlegen. Er hasste es eigentlich, wenn man ihn erkannte und auf eines seiner Werke ansprach. Er wusste nie, was er antworten sollte. Vermutlich war er auch deshalb bislang strikt gegen eine Lesung gewesen. Es wäre ihm peinlich, vor so vielen Leuten zu sprechen, aus seinem eigenen Buch zu lesen.
»Ja, der bin ich. Vielen Dank, es freut mich immer, wenn Leuten das Buch gefallen hat. Die Presse war diesbezüglich zumeist eher negativ gestimmt!«
»Ach, was wissen die schon? Ich wollte hier mein Manuskript abgeben, aber diese charmante Dame hier meinte, dass ihr Chef im Moment keine neuen Autoren annimmt. Na ja, kann man nichts machen. Sagen Sie, Mr. Raim ... hätten Sie vielleicht Lust, einen Kaffee mit mir zu trinken? Ich ... komme mir selbst albern dabei vor, das ist sonst nicht mein Stil. Aber man begegnet ja nicht jedem Tag einem seiner Lieblingsautoren! Oh, mein Name ist übrigens Tania Middler!«
Henry warf einen flüchtigen Blick zu May, die ihm zustimmend zuzwinkerte. Dann lächelte er die junge Dame an.
»Also, den passenden Namen für eine Autorin haben Sie schonmal! Ja, warum nicht? Sehr gerne!«
Tania strahlte über beide Ohren und lief bereits voraus, während Henry noch einmal May ein Lächeln zuwarf.
»Eigentlich wollte ich ja mal Sie einladen!«
May grinste ihn auf eine Art und Weise an, die wie immer liebenswert und freundlich war, aber nicht erkennen ließ, was genau sie darüber dachte.
»Beim nächsten Mal!«
Henry überflog das Manuskript, das Tania seinem Verleger geben wollte. Sie hatte sich regelrecht aufgezwängt, es ihm auch zu zeigen. Hin und wieder blickte er von den Seiten zu ihr auf und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Sie war eine interessante Frau, aber ihre Geschichte war wirr und voller Logikfehler. Zudem für seinen Geschmack stellenweise so brutal und blutrünstig, dass sie am Roman American Psycho sicher ihre Freude gehabt hätte. Nur war das hier nicht annähernd so gut geschrieben.
»Und, was meinen Sie?«
Henry räusperte sich. Er hatte schon gefürchtet, dass diese Frage kommen würde, sobald er das Manuskript beiseite legte.
»Nun, es hat ... sehr gute Ansätze. Ich bin mir sicher, dass Sie mit einem guten Lektor daraus einen äußerst interessanten Roman zaubern können!«
Henry biss sich auf die Unterlippe, um nicht grinsen zu müssen. Ja, zaubern müsste der Lektor tatsächlich, um hieraus etwas Vernünftiges zu machen.
»Meinen Sie wirklich?« Tania streckte ihre Hand aus und berührte Henrys. Sein Herz machte Freudensprünge beim Gedanken, dass ihn diese so schöne und sympathische Dame scheinbar so interessant fand. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch schlecht dabei, sie wegen ihres Manuskripts anzulügen. Es war schlicht furchtbar. Er würde ihr wohl die Wahrheit sagen müssen, bevor sie es doch noch in die Hände seines Verlegers gab. Am besten noch mit den Worten »Henry Raim fand es großartig!« Gott, seine Karriere wäre gelaufen. Ihm würden schon noch die richtigen Worte einfallen. Denn vom Manuskriptlesen abgesehen war ihre bisherige Unterhaltung geradezu wundervoll. Tania hatte etwas an sich, was Henry sofort all den Ärger und die Sorgen vergessen ließ. Die furchtbaren Visionen und Alpträume. Vielleicht war sie ja das Heilmittel, welches er gesucht hatte.
»Sagen Sie, lesen Sie auch Zeitung? Informieren Sie sich über das Tagesgeschehen?«, fragte Tania auf einmal mit neugieriger, aber freundlicher Stimme. Henry schüttelte den Kopf und wirkte dabei, als hätte man ihn gerade bei etwas ertappt.
»Ich fürchte nein. Also, normalerweise schon. Aber in letzter Zeit war ich wegen meiner neuen Anthologie so im Tunnel, da hatte ich weder für Fernsehnachrichten, noch für die Tageszeitung oder das Internet Zeit. Nur Radio höre ich gerne beim Schreiben, Klassik. Aber da werden immer nur in aller Kürze die wichtigsten Schlagzeilen gesendet, nichts Regionales. Wieso fragen Sie, interessieren Sie sich sehr dafür?«
»Reine Neugier!«, erwiderte Tania lachend. »Aber ja, ich lese viel Zeitung. Gerade auch für die Sachen, die hier in der Gegend passieren. Man muss informiert sein!«
»Und, in letzter Zeit etwas Interessantes hier passiert?«
Tania blickte kurz zur Decke, als würde sie nachdenken, ehe sie wieder ihr Gegenüber anstrahlte und den Kopf schüttelte.
»Nein, nicht dass ich wüsste!«
Henry lächelte verlegen, ehe er sich ein Herz fasste und der so faszinierenden Dame eine Frage stellte, die ihm schon länger auf den Lippen brannte.
»Sagen Sie, Tania … ich weiß, wir haben uns erst heute kennengelernt, aber würden Sie … vielleicht auch mit mir zu Abend essen wollen? Ich möchte den Abschluss meiner Anthologie feiern, in meinem Lieblingsrestaurant. Weil Sie mir … na ja, weil Sie mir sehr sympathisch sind. Nur, wenn Sie wollen, natürlich!«
Tania grinste über beide Ohren, als sie die stammelnde Frage ihres Gegenübers hörte. Sie sah wundervoll aus, wie sie ihn einfach nur ansah, mit ihren großen Augen und diesem zarten Gesicht.
»Was für eine Frage, und ob ich das möchte! Und … ich finde Sie auch sehr nett, Henry!«
Henry merkte regelrecht, wie er rot anlief, während er einen Kellner zu sich winkte, um von diesem Umstand abzulenken. Wie gut, dass dieses Café auch alkoholische Getränke anbot.
»Darauf müssen wir anstoßen! Zwei Gläser Sekt, bitte!«
Der Kellner nickte und verschwand wieder hinter dem Tresen. Tania schüttelte amüsiert den Kopf, holte dann einen Schminkspiegel aus ihrer Handtasche und schaute nach, ob ihr Make-up noch in Ordnung war. Am liebsten hätte ihr Henry in diesem Augenblick gesagt, dass sie umwerfend schön war. Dass er ihre Ausstrahlung bewunderte, Make-up hin oder her. Und dass sie sein Herz zum Rasen brachte, auch wenn sie erst heute in sein Leben getreten war. Vergessen waren all die finsteren Visionen, die vermeintlichen Vorboten für etwas Furchtbares. Vergessen war Mira.
Ab jetzt würde er endlich glücklich sein.
Es vergingen zwei Wochen. Zwei Wochen, in denen Henry keinen Alptraum und keine Vision mehr hatte. Zwei Wochen der Ruhe, durch die der Name Mira nichts mehr als eine Figur in einer Kurzgeschichte wurde, die sich bereits im Lektorat befand und bald schon als Teil der Krimi-Anthologie veröffentlicht werden würde. Aber auch zwei Wochen einer Liebe, die sich Henry niemals mehr erträumt hätte. Auch, wenn er noch recht jung war, eine Frau wie Tania hielt er doch immer für weit entfernte Fiktion. Etwas, das er ansehen und begehren, aber niemals lieben oder gar bei sich haben könnte. Doch nun war sie hier, ein Teil seines Lebens. Die Beziehung war noch nicht öffentlich gemacht, Tania wollte noch eine Weile warten. Doch die Stunden mit ihr waren so voller Leidenschaft und Liebe, dass ihm dies vollkommen gleich sein konnte.
An jedem einzelnen Tage überquerte er auf dem Weg zu ihr die Fußgängerbrücke über eben jenen Fluss, der dem aus seinen Alpträumen zum Verwechseln ähnlich sah. Anfangs schauderte ihm hierbei noch, doch nach einigen Tagen verdrängte er die grausigen Bilder vollkommen. Tania war die Therapie. Seine Hilfe, die er so dringend brauchte. Sein Glückselixier. Wie lächerlich ihm mittlerweile seine Hysterie bezüglich der Kurzgeschichte doch erschien.
»Schaut mal, da!«
Eine Ansammlung von Menschen versammelte sich auf der anderen Seite der Brücke, die Henry an diesem Tag wieder einmal überquerte. Sie schienen schockiert, glotzten aber dennoch. Typische Gaffer eben. Henry wollte es erst ignorieren, sich den Tag nicht von einer Schreckensbotschaft vermiesen lassen. Doch am Ende siegte seine Neugier und er überquerte die Straße, um sich zu der Gruppe von Gaffern zu stellen, die er in Gedanken gerade noch verdammt hatte. Sein Herz schien stehen zu bleiben, als er im Fluss unter ihnen einen Leichnam treiben sah. Er hing unter der Brücke und muss sich wohl irgendwo verfangen haben. Einige Leute drehten sich wieder kreidebleich um, während andere weiter unverhohlen beobachteten, wie das sich nähernde Polizeiboot die aufgedunsene Leiche aus dem Wasser zog. Henry entschied sich angewidert dazu, zur ersten der soeben genannten Gruppen zu gehören. Eine Leiche, ausgerechnet hier, ausgerechnet an diesem Tag.
»Haben Sie den Toten genauer sehen können?«, fragte ein älterer Herr eine junge Dame, die direkt neben Henry stand und sich so wie er entsetzt die Hand vor den Mund hielt.
»Sie. Es … es war eine Frau. Ich habe die langen Haare gesehen. Blond!«
Ein Schaudern durchfuhr Henrys Körper. Nein, das konnte unmöglich wahr sein! Mit einem Mal kamen all die Bilder wieder hoch. Die Alpträume, Miras blutüberströmte Leiche, die Vision von ihr im Badezimmerspiegel. Für einen Moment schien es so, als würden all die Dämonen zurückkehren. Die Wahrsagerin hatte recht: Er hatte die Grenzen zwischen Fiktion und Realität durchbrochen.
»Ach, das ist doch Unsinn!«, unterbrach eine ältere Frau sowohl das Gespräch zwischen den beiden Passanten, als auch Henrys Gedankengänge. »Das war ein Mann, das war doch deutlich erkennbar! Eben einer mit langen Haaren! Ist ja schon der dritte Tote in diesem Monat. Und alle fand man hier in der Gegend! Ein seltsamer Zufall ist das!«
Henry atmete auf, als er diese Erklärung hörte. Es war immer noch ein grausamer Fund und ein Anblick, den er vermutlich nicht wieder vergessen würde. Zumindest aber zerstreuten sich damit seine wirren Sorgen, dass aus irgendeinem Grund Mira oder eines der anderen Mordopfer aus seiner Geschichte in die reale Welt gekommen waren. Fast schon hätte er lachen müssen, wie albern konnte man sein? Immerhin wusste er nun, wieso Hellseher und Wahrsager so viel Zulauf hatten. Die Fantasie der Menschen spielten ihnen in die Hände. Einmal einen Floh ins Ohr gesetzt, schon sah man überall dunkle Zeichen und Vorahnungen. Drei tote Männer in diesem Monat. Das war eine Menge. Andererseits trieben sich gerade Nachts in dieser Gegend auch so manch zwielichtige Kreaturen herum. Es konnten Drogentote sein. Selbstmörder oder Opfer einer Auseinandersetzung zwischen zwei Kleinkriminellen. Wer weiß, ob dieser Tote überhaupt aus der Gegend kam, oder ob er nicht etliche Meilen durch den Fluss trieb, ehe er hier landete. Außerdem sprach die gut informierte Frau gerade eben ja selbst von einem seltsamen Zufall, also schien man in den Todesfällen keine Zusammenhänge zu sehen. Das hier war eben kein Kriminalroman. Nicht jeder ungeklärte Todesfall war gleich die Tat eines Serienmörders. Henry überlegte, ob er noch eine Weile der Bergung des Toten zusehen sollte. Doch damit wäre er nicht anders gewesen als jene Kreaturen, die sich auf einer Autobahn mit Handykameras bewaffnet an Unfällen ergötzten und damit noch den Verkehr aufhielten. Er warf noch einen letzten Blick auf die Szenerie, ehe er einen Blick auf die Uhr warf und seinen Weg auf die andere Uferseite fortsetzte.
Er wollte sie ja nicht warten lassen.
»Du wirkst abwesend!«
»Hmm?« Henry hob seinen Kopf und betrachtete die neben ihm auf der Wiese liegende Tania mit fragender Miene. Sie hatte vorgeschlagen, wegen des schönen Wetters nach Einbruch der Dunkelheit doch ein bisschen nach draußen zu gehen und diese laue Sommernacht zu genießen. Ausgerechnet in den Park am Fluss. Henry überlegte kurz, sie davon abzubringen und ihr vom heutigen Vorfall zu erzählen, entschied sich dann aber dagegen und willigte ein. Er wollte ihre gute Laune nicht verderben.
»Du machst mich sehr glücklich!«, lenkte Henry lächelnd vom Thema ab. Tania erwiderte sein Lächeln, lehnte sich zu ihm und gab ihm einen intensiven Kuss, wurde dann aber wieder ernst und starrte zu Henrys Erstaunen ausgerechnet zu der von diesem Punkt aus gerade noch sichtbaren Brücke, an der vorhin der Tote geborgen wurde.
»Sie haben ihn gefunden!«, merkte Tania trocken an, ohne ihren Blick abzuwenden.
»Wen?«, hakte Henry ahnungslos nach, obwohl er die Antwort schon längst kannte.
»Den Toten im Fluss. Dort hinten, an der Brücke!«
»Du … du hast also davon mitbekommen? Und wolltest trotzdem hier her? Ich hatte es extra verschwiegen, um dir nicht die Laune zu verderben!«
Tania hielt kurz inne und starrte ihr Gegenüber erstaunt an, ehe sie laut auflachte. Henry wich ein Stück zurück und stand auf, was ihm Tania gleichtat.
»Die Laune verderben? Gott, ich bin dermaßen froh, dass dieser Kerl endlich tot ist! Es war klar, dass er an der Brücke hängen bleibt. Das tun Sie immer.«
Erneut wich Henry ein Stück zurück, sein Herz begann zu rasen, während Tania langsam auf ihn zuging, ohne jedoch ihr Lächeln abzulegen. Ein Lächeln, welches nun geradezu diabolisch schien.
»Diese verdammten Machos. Ich … ich habe es satt! Ich wurde in meinem Leben lange genug unterdrückt, beleidigt! Genau darauf läuft es doch hinaus, nicht wahr, Henry? Hättest du mich bei deinem Verleger so angesehen, wenn ich unattraktiv gewesen wäre? Hättest du dich auf einen Kaffee mit einer völlig fremden Frau getroffen, die nicht dein Typ wäre? Vielleicht ja, aus Höflichkeit. Du hast mit mir schon am zweiten Treffen geschlafen, ohne irgendetwas über mich oder mein Leben zu wissen, was über Smalltalk hinausgehen würde! Keine Frage, es mag noch Gentleman geben. Als aussterbende Art. Aber dir, dir sah ich diesen Blick an. Denselben Blick, den auch alle andere hatten! Und bei Gott, dafür bekamen sie auch das, was sie verdient haben!«
Henry schüttelte angsterfüllt den Kopf, seine Augen weiteten sich wie bei einem Tier, das den Gang zur Schlachtbank erahnte. Nein, das durfte nicht sein!
»Du … DU hast die drei Männer umgebracht?«
Wieder lachte Tania, diesmal jedoch unecht und ohne jegliche Regung in ihrem Gesicht.
»Drei Männer? Ja, das sagen sie so in der Presse. Weil sie es nicht besser wissen. Es waren weit mehr, nur sind die anderen schon etwas länger her. In letzter Zeit bin ich einfach so … aktiv!«
Henry hob seine Hände und schien damit Tania beschwichtigen zu wollen, als wäre sie ein wildes Tier. Dann lächelte er ihr in der Hoffnung zu, doch noch so etwas wie Mitleid oder Gefühle in ihr zu wecken. Die Wahrsagerin hatte recht. Mira hatte recht. Doch auf eine andere Art, als er es sich jemals ausgemalt hätte. Denn er war Mira.
Henrys Lächeln verschwand, als er realisierte, dass sein Gegenüber keineswegs scherzte. Ihr so gütiges Gesicht hatte sich in eine eiskalte Fratze verwandelt. In ihrem Blick war kein Anflug von Empfinden oder Mitleid zu spüren. Er wollte etwas sagen, doch er brachte keinen einzigen Ton heraus. Henry wimmerte, schüttelte hektisch den Kopf und lief langsam rückwärts, als würde er damit ihren Fängen entkommen. Er hatte ihr vertraut, sie geliebt. Wie all die Männer vor ihm. Sein panischer Schrei schien die Stille der Nacht regelrecht zu zerreißen, doch hören würde ihn niemand. Der Stein in ihrer Hand schmetterte mit voller Wucht gegen seinen Schädel. Henry stürzte zu Boden. Ein leises Wimmern und Röcheln war alles, was er noch herausbrachte. Henry kroch blutend wie ein verwundetes Tier über die Wiese, versuchte verzweifelt, irgendwie durch ein Wunder seinem Mörder zu entkommen. Doch es würde kein Wunder kommen. Sie packte ihn an den Haaren und schleifte ihn bis zum Fluss, wo sie seinen Kopf unter Wasser drückte. Quälend langsam dauerte sein Todeskampf, ehe sein Körper erschlaffte. Henrys Leben endete so, wie er es jahrelang geführt hatte: einsam. Ohne dass jemand davon Notiz genommen hätte. Dann wurde sein Körper mit einem Fußtritt in den Fluss gestoßen, der ihn davontreiben ließ. Bis zu der Fußgängerbrücke, an der er schließlich gefunden werden würde. Henry suchte ein Happy End. Doch sein Leben war kein Märchen.
Sondern ein Alptraum.
-
»Findest du das nicht etwas dick aufgetragen?«
Kay blickte ihren Mann, der gerade den ersten Entwurf ihres Manuskripts gelesen hatte, fragend an.
»Wieso dick aufgetragen? Es ist eine Mystery-Story. Eine, die den Leser in die Irre führen soll!«
»Es ist sehr brutal!«, merkte Jim lächelnd an. »Dieser arme Henry! Und warum hast du das Mordopfer in seiner Story nach dir benannt, Kay?«
Kay lachte vergnügt. Sie wusste, dass dies ihrem Mann sauer aufstoßen würde.
»Weil ich es lustig fand! Es ist ein Markenzeichen, irgendwo in meinen Geschichten tauche ich immer selbst auf. Meistens nur in einem einzigen Absatz. Und meistens in negativer Assoziation. Ich finde das lustig! Außerdem hat das Mordopfer in Henrys Geschichte eine große Erbschaft gemacht, so wie ich!«
Kay zwinkerte ihrem Mann zu, der dies allerdings nicht besonders witzig zu finden schien.
»Glaubst du denn an dieses Zeug? An dieses Sprichwort Life imitates Art?«
»Keine Ahnung!«, erwiderte Kay mit einem Schulterzucken. »Vermutlich nicht. Und wenn doch, dann höchstens aus Zufall. Mir ist jedenfalls noch nichts aus einer meiner Geschichten im echten Leben passiert! Obwohl … meinen Märchenprinzen habe ich ja doch gefunden!«
Jim zwinkerte er ihr lächelnd zu, nahm sie in die Arme und drückte ihren Kopf an seinen Oberkörper, während er ihr Haar streichelte.
»Ja, da hast du recht!«
»Angeber. Bringst du das Manuskript morgen zur Post? Mein Verleger ist etwas altmodisch, er will die Entwürfe immer ausgedruckt haben!«
Jim nickte abwesend.
»Natürlich, Schatz. Natürlich.«
Wie automatisiert streichelte Jim die Frau, die er vor Jahren geheiratet hat. Die Frau, der er nun schon seit Jahren die große Liebe vorgaukelte. Einen Scheiß würde er tun, das Manuskript an ihren Verlag zu senden. Nein, er würde es verbrennen. Gleich morgen Mittag, wenn Kay auf dem Weg zu ihrem Tennisclub den bedauerlichen Unfall haben würde. Zu spät gebremst, die Kurve zu schnell genommen. Wie lange es dauerte, bis das alte Biest endlich ihn zum Alleinerben ernannt hatte. All die Arbeit, ihre unerträgliche Stimme, ihr Gesicht. Ihre verdammten Manuskripte. Doch das alles würde bald ein Ende haben. Bald schon würde er reich sein.
»Vielleicht stimmt es ja doch!«, murmelte Jim leise vor sich hin.
»Was denn, Schatz?«
Er lächelte seiner Frau freudestrahlend zu, ehe er sie küsste.
»Life imitates Art!«
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2023
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Sarah, Jasmin und May.