Die zitternden Hände versuchten vergeblich, sich ein wenig zu beruhigen, während sie das Klappmesser im Koffer versteckten. Gepäckkontrollen gab es so gut wie keine beim Einchecken, und die waren ohnehin nur oberflächlich. Wer hatte schließlich auch Interesse daran, etwas von Italien nach Australien zu schmuggeln? Umgekehrt vielleicht, schließlich gab es dort seltene Tierarten, die sonst nirgendwo auf der Welt vorkamen. Aber niemand würde im Gepäckstück eines Passagiers der Ersten Klasse ein Mordwerkzeug vermuten. Und selbst wenn: Ein Messer im Koffer musste ja noch kein Beweis für ein geplantes Verbrechen sein. Taschenmesser besaßen schließlich auch viele Leute, dieses hier war nur … ein bisschen größer.
»Bist du bereit?«, fragte eine Stimme aus dem Hintergrund. Kopfnicken.
»Solange nichts schiefgeht!«
»Es kann nichts schiefgehen!«, erwiderte die Stimme sanft und beruhigend. »Kein Mensch wird etwas vermuten. Wir haben schließlich unser perfektes Opferlamm parat, nicht wahr? Man wird den guten alten Mr. Mayfield für tot erklären und wir werden reich!«
Das Schlagen der Wanduhr zur vollen Stunde ließ beide kurz aufschrecken, ehe sie über ihre eigene Angst amüsiert lachten.
»Mach den Koffer zu, es wird Zeit. Unser Schiff wartet!«
Shaun Reed gab sich größte Mühe, die Menschenansammlung vor ihm möglichst zu meiden. Allerdings war es wohl ein hoffnungsloses Unterfangen, sich während dieser gesamten Schiffsreise möglichst weit vom Rest der Passagiere abzukapseln. An sich hatte er ja auch nichts gegen Menschen oder Gesellschaft, nur waren ihm dabei homöopathische Dosen an Interaktion lieber. Ein abendliches Gespräch an der Bar oder während des Dinners? Kein Problem. Bordanimation und herumhüpfen auf der Tanzfläche? Lieber nicht. Manchmal fühlte er sich einfach alt, dabei wurde er erst vor ein paar Wochen 32. Vermutlich lag es ein Stück weit auch an der Einsamkeit, die ihn in letzter Zeit wie ein Mantel umgab. Es war Jahre her, seit er zuletzt eine feste Partnerin hatte. Geschweige denn Liebe, wie auch immer man dieses Wort definierte. Er hatte einen guten Bekannten, der ihm bei der Recherche und der Korrektur seiner neuen Bücher half. Charly, ein netter und bescheidener Kerl. Er hätte ihn ja gerne mitgenommen, aber dazu reichte sein Geld nicht. Es war schon teuer genug, diese eine Passage Erster Klasse nach Australien zu buchen. Aber vornehm ging die Welt zugrunde, solch eine Fahrt sollte man schließlich genießen. Außerdem wollte Shaun die Welt sehen, etwas erleben und sein wohlverdientes Geld verprassen. Er hatte nicht umsonst mehrere beinahe-Bestseller geschrieben. Kriminalromane, versteht sich. Die drei Jahre Polizeidienst mussten schließlich zu irgendetwas nützlich sein, waren sie doch schmerzhaft genug.
»Ihr Ticket, Sir?«
Die charmant lächelnde Frau am Schalter ließ Shaun aufschrecken. Er lächelte nervös und holte sein Ticket aus seinem Sakko hervor. Die Dame überprüfte die Angaben auf einer Passagierliste, dann lächelte sie ihm abermals zu und deutete zu einem Treppenaufgang.
»Dort geht es zur Gangway hinauf. Sie können aber auch den Aufzug nehmen, der ist direkt daneben. Eine angenehme Reise, Mr. Reed!«
Shaun erwiderte das Lächeln in der für ihn typisch-charmanten Art und ging mit seinen beiden Koffern zur Treppe. Er hatte sich geschworen, ein bisschen mehr für seine Gesundheit zu tun. Neben weniger Alkohol stand hierbei vor allem mehr körperliche Betätigung auf dem Plan. Er war nicht dick, im Gegenteil. Er empfand sich im Grunde genommen sogar ein bisschen zu dünn, ein paar Muskeln hätten ihm mit Sicherheit gut zu Gesicht gestanden. Während seiner Zeit bei der Polizei in Southampton war Shaun noch weitaus kräftiger, aber beim Beruf des Schriftstellers handelte es sich nun mal um eine sitzende Tätigkeit ohne jegliche Bewegung. Durch die großen Fenster des Terminals war bereits das majestätische Schiff sichtbar, das nun für die nächsten Wochen sein Zuhause werden würde. Eine lange Zeit, aber Shaun wollte es nicht anders. Fliegen war ein Graus für ihn, zumindest auf längeren Strecken. Es eilte ihn ja keiner, an seinen Büchern konnte er dank Reiseschreibmaschine überall arbeiten. Noch nie hatte er Australien oder Neuseeland besucht, zudem war es der ideale Ort für seinen nächsten Roman, den sein Verleger eigentlich schon seit Wochen erwartete. Ein Mord inmitten einer Reisegruppe während einer Reise ins Outback, etliche Meilen vom nächsten Dorf entfernt. Noch war es lediglich eine grobe Idee, die Details würden ihm hoffentlich während der Reise einfallen. Aber streng genommen liefen seine Krimis ohnehin immer nach demselben Stil im Sinne von Wer ist der Täter? ab. Seine Lehrer erwarteten lediglich eine überraschende Auflösung am Ende. Und wechselnde, am besten exotische Schauplätze. Er war gewiss keiner der großen Autoren dieses Genres, aber der Umsatz stellte sich meist dennoch als zufriedenstellend heraus. Vor der Gangways hielt Shaun noch einmal inne. Er blickte hoch zu den Aufbauten des Dampfers, dann trat er an Bord. Der Kapitän und die Offiziere begrüßten ihn und die anderen Gäste mit einem freundlichen Lächeln, während die Passagiere der Touristenklasse wohl nur von der zweiten Riege empfangen wurden.
»Willkommen an Bord der Galileo Galilei!«, rief eine junge Stewardess mit starken italienischen Akzent. Shaun lächelte ihr zu, auch wenn sie gar nicht in seine Richtung blickte, sondern stattdessen scheinbar die Gäste hinter ihm in Fokus hatte. Neugierig drehte er sich um und erblickte einen älteren, durchaus adretten Gentleman, der nach einem typischen Unternehmer aussah. Neben ihm lief eine blonde, durchaus attraktive und vor allem weitaus jüngere Frau, die problemlos als seine Tochter durchgehen konnte. Vielleicht war sie ja auch. Oder eine Geliebte, eine Sekretärin oder beides zusammen. Wer wusste das schon, bei diesen wohlhabenden Lebemännern. Beide schienen jedenfalls wie auch er aus England zu stammen.
Shaun versuchte sein Glück vergebens an der überfüllten Rezeption, die lediglich mit einem jungen Mann und einer mit großen Augen in die Menge blickenden jungen Dame besetzt war.
»Signore? Dürfte ich Sie zu ihrer Kabine führen?«
Wieder schreckte Shaun kurz auf und blickte in das Gesicht eines jungen Pagen. Fast schien es ihm so, als würde ihn das gesamte Schiffspersonal durchweg aus den Gedanken zu reißen und zu erschrecken.
»Ähm, natürlich. Hier, mein Ticket!«
Der Page warf einen Blick auf die vermerkte Kabinennummer, eilte zur Rezeption und orderte lautstark auf Italienisch die Schlüssel herbei. Zumindest war es das, was Shaun sich zusammenreimte. Jedenfalls reichte ihm der junge Herr an der Rezeption genervt die Schlüssel und wandte sich dann wieder der Touristenmeute zu. Der junge Page kehrte lächelnd zurück, nahm sich die Koffer und eilte voraus.
»Folgen Sie mir bitte, Signore! Mein Name ist übrigens Massimo, falls ich Ihnen noch irgendwie helfen kann!«
Shaun nickte dem eifrigen Pagen zu und hatte große Mühe, mit ihm Schritt zu halten, während sie einen endlos anmutenden Korridor entlang liefen. Vor einer der unzähligen Türen blieb Massimo schließlich stehen, stellte die Koffer ab und schloss die Türe auf, ehe er das Gepäck wieder aufnahm und vor das Bett stellte.
»Kabine 480, bitteschön!«
»Danke schön, Massimo! Ich muss sagen, ein toller Service!«, lobte Shaun den Pagen, der in diesem Augenblick Gesellschaft von einem drahtigen Herrn bekam, der seiner Uniform zu urteilen wohl der Bootsmann war. Hinter ihm lief ein junger Mann mit langen, zotteligen Haaren.
»Nur für Persönlichkeiten wie Sie!«, erwiderte Massimo mit erwartungsvoller Haltung. Nickend zog Shaun seine Geldbörse hervor und überreichte dem jungen Mann einen der Scheine, die er eigentlich abends für Drinks ausgeben wollte. Aber es schmeichelte ihm einfach zu sehr, dass man ihn und seine Werke mittlerweile scheinbar selbst in Italien kannte!
»Ihre Kabine, Mr. Fayad! Und ihr Vater hat die nebenliegende Kabine, wie besprochen, ja? Um den Papierkram kümmere ich mich, keine Sorge! Tut mir leid, dass Sie solche Unannehmlichkeiten hatten!«, sprach der Bootsmann, dem Shaun mit einem Ohr neugierig zuhörte, seinem neben ihm stehenden Passagier gut zu, ehe er ihm die Kabine aufschloss, sie wieder hinter dem jungen Mann verschloss und dann eilig ums Eck verschwand.
»Werden wichtige Gäste immer vom Bootsmann betreut?«, fragte Shaun den Pagen neugierig, da er eine solche Praxis zuvor nie gesehen hatte. Massimo lachte.
»Nein, Signore! Aber Mr. Fayad und sein Vater scheinen persönliche Freunde des Bootsmanns zu sein. Gibt es noch etwas, Signore?«
»Nein. Aber Danke schön, Massimo, und noch einen schönen Tag!«
Shaun warf dem Pagen noch ein kurzes Lächeln zu, ehe er die Kabinentüre erschöpft von der Anreise nach Genua hinter sich verschloss.
»Besondere Persönlichkeit!«, äffte Massimo sich selbst gehässig nach, während er den Geldschein einsteckte. »Keine Ahnung, wer der Kerl war. Aber der Trick funktioniert immer!«
Die Passagiere an Deck jubelten den Menschen am Pier zu, als würden sie niemals wieder nach Genua zurückkehren. Wer weiß, vielleicht waren ja wirklich einige Auswanderer dabei. Auch wenn es Shaun nicht einleuchtete, wieso man diese schöne Gegend hier verlassen wollte. Er hatte die letzten Wochen in Italien verbracht und dort mehrere Kurzgeschichten verfasst, die sein Verleger an eine Londoner Tageszeitung weiterreichte. Sie erschienen dort wohl als Mehrteiler. Auch wenn er sich fragte, wer zur Hölle heutzutage noch immer solche Geschichten in der Zeitung las. Nur am lange erwarteten Roman haperte es weiter.
Die Schiffssirene der Galileo Galilei ließ einige der Passagiere an Deck zusammenzucken, dann spielte die Kapelle am Pier ein Musikstück und der gigantische Dampfer legte langsam zu seiner Überfahrt ab, die ihn zunächst zum Sueskanal führte. Shaun zündete sich eine Zigarette an und warf einen letzten, melancholischen Blick auf das schöne Genua. Schiffsabfahrten hatten für ihn seit jeher eine besondere Stimmung. Sie bedeuteten einen Aufbruch ins Neue, ein weiteres Kapitel. Er hatte bereits viele solcher Fahrten hinter sich, meistens mit englischen Schiffen. Letztes Jahr, im Sommer 1967, mit der Pendennis Castle nach Kapstadt, davor mit der altehrwürdigen Queen Mary nach New York. Wäre er nicht auf Italienreise gewesen hätte sich Shaun für diese Reise wohl auch ein englisches Schiff ausgesucht, Anbieter gab es auf dieser Route schließlich so einige. Noch. Denn die Konkurrenz durch Flugzeuge wurde immer größer. So groß, dass ein Ende dieser Ozeandampfer-Epoche seinen Anfang zu nehmen schien. Die Galileo Galilei war fünf Jahre alt, ein wahres Design-Schmuckstück im Stil der Zeit. Seine schwimmende Unterkunft teilte sich Shaun mit nicht weniger als 1700 Passagieren, hinzu kamen noch die über 600 eifrige Besatzungsmitglieder. Eine schwimmende Stadt, ein Mikrokosmos, der all diese Leute für die kommenden Wochen beherbergen würde. Um sie herum einen großen Teil der Überfahrt nichts als Meer. Scheinbar geschützt vor all dem Unheil, das außerhalb dieses Dampfers auf dieser Welt schlummerte.
Es sei denn, das Unheil war bereits an Bord.
»Noch war sich Amanda nicht darüber bewusst, dass sie dieser vermeintlich so schöne Urlaub das Leben kosten würde. Viel zu spät bemerkte sie die Schritte hinter sich, die langsam näher kamen. Es war ein Fehler, die Gruppe für einen Spaziergang zu verlassen. Keiner würde etwas bemerken, niemand war hier. Außer ER. Ihr Herz raste, als sie innehielt und sich schließlich langsam umdrehte. Ihre angsterfüllten Augen starrten ihren Mörder wie erstarrt an. Sie wollte schreien, doch dazu kam sie nicht mehr, da sich die Axt schon in diesem Moment genau in ihren Schädel bohrte. Sie … «
»Ach, das ist doch Scheißdreck!« Missmutig legte Shaun den Kugelschreiber auf den von Notizen und angefangenen Kapiteln überhäuften Notizblock. Er hatte eigentlich darauf gehofft, hier auf dem Promenadendeck ein paar gute Ideen für die vermaledeite Stelle im Manuskript zu finden, an der er nun schon seit einer Ewigkeit festhing. Die bislang wichtigste Passage: Der Tod der wohlhabenden, jungen Erbin Amanda Arthur. Was dachte er sich nur dabei, einen Krimi im verdammten Outback zu schreiben? Sein Metier waren eigentlich triste Szenerien in englischen Großstädten. Aber wie sagte sein Verleger neulich? Die Leser wollen auch mal etwas Neues. Abwechslung, exotische Orte! Pah, wenn ihnen etwas nicht passte, sollten sie halt Poirot oder Maigret lesen. Shaun hatte bereits einen Krimi in New York spielen lassen, einen zweiten auf einer Reise an Bord der Mauretania und einen dritten in Paris. Das waren Orte, mit denen er wenigstens vertraut war. Vielleicht war ja wirklich diese Reise notwendig, um ihm die nötigen Impressionen zu geben. Zur Not würde er das Ganze eben umschreiben und daraus Mord in Sydney machen. Todesfall im Opernhaus, sowas in der Art. Vielleicht nicht so spannend wie der vorherige Entwurf, aber zumindest ein klein wenig realistischer.
»Oh, Kellner? Könnten Sie mir noch einen Vesper reichen?«
Der vorbeieilende, mit der falschen Berufsbezeichnung betitelte Steward nickte höflich, ehe er in der nächsten Türe verschwand. Hoffentlich wusste er überhaupt, was ein Vesper eigentlich war. Ein einfacher Martini hätte es ja auch getan. Es konnte Shaun eigentlich auch egal sein, trotz der fehlenden Inspiration hatte er gute Laune. Es war angenehm warm und der Blick aufs Mittelmeer konnte einem selbst die dunkelsten Gedanken vertreiben. Aus einer der Lounges im Schiffsinneren drang leise italienische Musik auf das Promenadendeck hinaus. La
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2023
ISBN: 978-3-7554-3859-5
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Widmung:
Für Lisa.
Mit großem Dank an Lena für die lieben Ratschläge und die Unterstützung. Zudem Danke an Michelle für die Ideen und Verbesserungen beim Schreiben.