Sie lächelte mich nachdenklich und abwesend an, wirkte stark wie immer. Auch wenn ihre Augen etwas anderes sprachen. In ihnen sah man die Unsicherheit, die Traurigkeit. All das, was in Lucys Leben schief gegangen war. Eigentlich fast alles.
Es war erst das dritte Treffen seit meinem Umzug vor fast einem Jahr. Ich ließ alte Sorgen, Probleme und unangenehme Erinnerungen zurück. Aber auch Freunde, schöne Momente. Und vor allem sie. Viel zu selten hatte ich im Trubel des Umzugs und der neuen Schule noch Zeit, in den alten Wohnort zu kommen. Dabei wusste ich, dass sie hier war. Jeden Tag, ob ich nun kam oder nicht. Sie saß dort auf unserer Bank außerhalb vom Dorf, Stunde um Stunde. Weil es ihr Rückzugsort war, abseits der Probleme Zuhause oder in der Schule.
„Nimm mein Pfötchen!“ flüsterte Lucy nach einer Weile möglichst positiv, aber irgendwie trotzdem nachdenklich und traurig. Ich lächelte und nahm ihre zarte Hand, die eiskalt war und sich so zerbrechlich anfühlte wie die Seele dieses Mädchens. „Nimm mein Pfötchen“, das sagte sie immer, wenn sie meine Hand halten wollte. Schon kurz nach unserem Kennenlernen zwei Jahre zuvor. Nur eine ihrer vielen Eigenarten und seltsamen Formulierungen.
Lucy atmete tief durch, sah in die Ferne und lächelte. Die Gedanken wahrscheinlich schon wieder an einem ganz anderen Ort.
„Ich hab oft an dich gedacht!“ ergriff ich nach einer Weile das Wort. Sie runzelte feixend die Stirn und stupste mich an.
„Das hoffe ich doch, kleiner Trottel!“
Ich lachte, während Lucy sich durch ihr Haar fuhr, was sie die ganze Zeit wie im Reflex tat. Es gab nichts, was sie an sich mehr liebte als ihre blonden Haare, auch wenn sie nun im Vergleich zu Früher um einiges kürzer zu sein schienen. Vielleicht noch den Sarkasmus, der oftmals dann in Zynismus umschlug und sich auch in den Geschichten abzeichnete, die sie in der Schule schrieb. „Kleiner Trottel“, von allen Spitznamen auf der Welt gab sie mir ausgerechnet diesen. Dabei war sie nur einen Monat älter als ich und zwei Köpfer kleiner.
„Ich auch an dich“ schob sie nach einer kurzen Pause nachdenklich hinterher, ohne mich anzusehen. „Sogar verdammt oft. Es ist einsam hier, ohne dich. Früher fand ich das gut, da war ich immer allein. Aber seit wir uns kennen...will ich es nicht mehr anders. Aber was ich will war ja schon immer egal...“
Ich schluckte bei ihrem letzten Satz, der so pessimistisch und innerlich zerbrochen klang. Ich war es von ihr gewohnt, ich kannte nie zuvor und nie danach einen so jungen Menschen, der schon ein dermaßen negatives Bild von dieser Welt hatte. Aber es tat trotzdem immer weh. Aus dem Munde des Menschen, der dir so viel bedeutete. Mehr noch, als Worte es je sagen konnten.
„Ich liebe dich!“ erwiderte ich leise, nachdem mir zu ihrer Aussage nichts eingefallen war. Lucy schloss die Augen und grinste, als würde sie sich gerade über meine Plumpheit amüsieren. Sie hatte einen Wortschatz, den selbst manch Erwachsener niemals erreichen würde. Lucy konnte wenn sie es wollte jeden Menschen in Grund und Boden reden. Entweder mit Charme und Witz oder einfach dadurch, dass sie sich so gebildet und poetisch ausdrücken konnte, dass ihr Gesprächspartner im Vergleich wie ein totaler Vollidiot wirkte. Was vor allem in der Schule auffiel. Eine etwas eitle und kluge Prinzessin umgeben von ungebildeten, kindischen Trotteln. Lichtjahre im Niveau entfernt. Sie liebte Klassik, Klaviermusik, Chansons, Poesie und Kunst. Dazu noch der leichte Hauch ihres französischen Akzents, den sie nie ganz loswerden konnte. Und über den ich mich wenn er denn einmal hörbar wurde gerne lustig machte.
„Ich dich auch, Petite sotte“.
„Hast du eigentlich meine Gedichte gelesen? Die, die ich dir beim letzten Treffen mitgegeben habe?“ fragte ich direkt hinterher, um von meinem rot anlaufenden Gesicht abzulenken. Lucy legte ihren Kopf schräg und sah mich fragend an, was noch ein Markenzeichen von ihr war. Es erinnerte mich stets an einen Wellensittich.
„Natürlich! Und sie sind gut! Aber...diese SCHRIFT!“
Lucy fasste sich schockiert ins Gesicht und verdrehte die Augen.
„Es ist, als hätte man einem Affen das Schreiben beigebracht! Waaah!“
Ich lachte, ehe Lucy grinsend ihren Kopf auf meine Schulter legte. Mir fiel auf, dass sie anders als sonst ihre Haare gar nicht so fein drapiert hatte, wie es sonst stets der Fall war. Makellos, mit einem kleinen Schleifchen oder irgendeiner Spange als Zierde. Doch diesmal war es durcheinander, fast ein bisschen verstrubbelt. Allgemein wirkte sie...anders. Auch wenn ich es ausblenden wollte.
„Aber inhaltlich ist es schön!“ ergänzte Lucy nach einer Weile mit sanfter Stimme. „Sind alle Texte über mich?“
Ich nickte, auch wenn sie dies überhaupt nicht sehen konnte.
„Ja. Natürlich sind sie das. Wieso?“
„Weil die Person darin viel schöner sein muss als ich!“ erwiderte sie nun wieder etwas melancholischer.
„Schöner als du gibt es nicht!“
Lucy lachte beinahe hämisch, ehe sie wieder ihren Kopf hob und mich ansah. Ihre Augen waren zauberhaft, wie Spiegel ihrer Seele. Voller Schönheit, Liebe. Zugleich auch Trauer. Ihr ernstes Gesicht wandelte sich langsam in ein Lächeln, so voller Wärme und Zuneigung. Ein Blick, der sich für immer ins Gedächtnis brennt. Ihre sanften Hände griffen nach meinen, immer noch eisig kalt wie zuvor. Dabei war es so sonnig und warm an diesem Tag. Doch vor all der Schönheit, den Schmetterlingen im Bauch, übersah ich, was mir schon zuvor auffiel. Etwas war nicht in Ordnung. Lucy war schon immer schlank und blass gewesen. Doch sie wirkte dabei nie ungesund. Viel mehr wie eine Fee oder ein sonstiges Fabelwesen aus einer fremden, schöneren Welt. Distanziert, irgendwie unnahbar. Doch dieser Zauber war nicht mehr da. Lucy wirkte kränklich, schwach. Und dennoch ignorierte ich es. Was sollte ihr schon passieren, in dem Alter?
Drei oder vier Stunden, sie vergingen wie im Flug. Wie immer, mit ihr. Einfach über alles reden, Händchen halten oder nebeneinander auf der Wiese liegen, um die Wolken zu betrachten. Selbst wenn man sich nur anschwieg war es wunderschön, solange nur sie dabei war.
„Musst du schon gehen?“
Lucys Stimme klang gütig und freundlich, wenngleich auch unendlich traurig. Trauriger als sonst, wenn wir uns verabschiedeten.
„Ja. Ich werde gleich abgeholt!“
Lucy nickte.
„Hast du noch meine Kette? Wenn du einsam bist denk an mich, dann bin ich da! Immer, egal was ist! Denke daran bitte, ja?“
Ich lächelte ihr zu, auch wenn ich den Sinn ihrer Worte nicht verstand. Natürlich hatte ich ihre Kette noch. Sie gab sie mir als Abschiedgeschenk vor meinem Umzug. Ein kleines Herz an einer schwarzen Kordel. Sie hatte es bis zu jenem Tag bei jedem Treffen an. Eigentlich ein billiges Teil, die Beilage aus irgendeiner Teenie-Zeitschrift. Aber durch sie unendlich wertvoll.
„Ich liebe dich!“
Lucy drückte meine Hände so fest sie nur konnte an sich, beugte sich vor und küsste mich. Ich umarmte sie und bemerkte, wie dünn sie geworden war. Noch viel mehr als zuvor ohnehin schon. Ich dachte mir wohl nichts dabei. Doch ihre Verabschiedung wirkte so innig, dass ich etwas hätte merken müssen. Eigentlich.
„Also, bis in ein paar Wochen?“ fragte ich so unbekümmert und fröhlich, dass Lucy für einen kurzen Moment ihren Schmerz zeigte und die lächelnde Maske kurz verschwand. Ein kurzer Blick in ihre wahren Gefühle. Sie atmete tief durch, ehe sie lachte und fröhlich nickte, als wäre alles in Ordnung.
„Ja...Ja, bis in ein paar Wochen...Kleiner Trottel!“
Ich lächelte ihr zu, ehe ich langsam in Richtung des Dorfes ging, wo meine Eltern warteten. Nach einigen Metern drehte ich mich nochmals um und bemerkte, dass sich Lucy nicht vom Fleck gerührt hatte. Sie lächelte sanft und winkte mir zu, während ich Rückwärts lief, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Ein kleines Ritual, welches wir beide oft zur Verabschiedung machten. Sie winkte weiter, ehe ich schließlich um die Ecke bog und aus ihrem Blickwinkel verschwand. Ich fragte mich oft, wie lange sie dort wohl noch stand. Oder wie sie reagierte, als ich fort war.
Lucy war stark, hatte einen Zauber an sich. Ein kleines poetisches Licht, das mich inspirierte, aber selbst nie Glück haben durfte. Geheimnisvoll, all die Sorgen mit einem Lächeln schluckend. Selbst ihre Krankheit. Und noch heute weiß ich wohl längst nicht alles über sie.
Zwei Wochen später starb Lucy.
Physisch.
Doch im Herzen nie.
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2021
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