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Leseprobe

 

 

 

 

LESLIE P. DAVIES

 

 

DER KÜNSTLICHE MANN

- Galaxis Science Fiction, Band 51 -

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DER KÜNSTLICHE MANN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

 

Das Buch

England im Jahr 2017...

Das Land wird von einem allmächtigen Diktator beherrscht. Die Menschen leben in einem Polizeistaat, der ihnen jegliche persönliche Freiheit genommen hat. Gegen diesen Zwang rebelliert eine Gruppe von Ärzten; sie wollen den Diktator stürzen. Ihre stärkste Waffe ist ein Mann: Hagan Arnold, der beste Agent des Geheimdienstes. Der Kampf um die Macht beginnt...

 

Der Roman Der künstliche Mann des britischen Schriftstellers Leslie P. Davies (* 20. Oktober 1914; † 06. Januar 1988) erschien erstmals im Jahr 1965; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1968 (unter dem Titel Der Mann aus der Zukunft). 

Der künstliche Mann erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden. 

  DER KÜNSTLICHE MANN

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war ein Erwachen wie an jedem anderen Morgen, eine Rückkehr ins zufriedene Bewusstwerden vertrauter Umgebung, zur Sicherheit eines von schläfrigem Sonnenschein erfüllten Zimmers, zu den leisen, fernen Geräuschen des sich regenden Hauses. Alan verschränkte die Hände hinter dem Kopf und beobachtete das langsame Tanzen der Schattenzweige an der sonnenvergoldeten Decke. Es tat gut, in den ersten Minuten des Erwachens die Vergangenheit auf den neuesten Stand zu bringen und den neuen Tag zu planen. Eine Art geistiger Inventur, ein Sammeln von Gedanken und Eindrücken.

Und der Rahmen des kommenden Tages würde der von allen vorangegangenen sein. Nur in den Einzelheiten, im Trivialen, konnte es Unterschiede geben. Er würde sich waschen, rasieren und ankleiden, um dann in die Küche hinunterzugehen, wo Mrs. Low, seine Haushälterin, mit leichter Ungeduld darauf warten würde, dass er das Frühstück hinter sich brachte, damit sie sich in aller Ruhe der Hausarbeit widmen konnte. So würde der Tag beginnen, so hatten der gestrige und vorgestrige Tag begonnen. Soweit ihn sein Gedächtnis ohne bewusste Anstrengung zurückführen konnte.

Er stieg aus dem Bett und trat an das offene Fenster, wo er sich mit den Ellbogen aufstützte. Kein Nebel heute früh, die Umrisse der Berge ringsumher deutlich und klar. Vielleicht kündigte sich Regen an. Lee würde sich freuen. Lee, der nebenan wohnte und, wenn er nicht in seinem Atelier war, im Garten arbeitete. Der auch jetzt, hinter der niedrigen Ligusterhecke, auf dem Kiesweg kniete, die Ölkanne über der alten Mähmaschine erhoben.

»Höchste Zeit, dass du dir eine neue anschaffst«, rief Alan hinunter. Lee hob den Kopf. Sein schwarzes Haar war ungekämmt wie eh und je.

»Wir können nicht alle wohlhabende Schriftsteller sein«, erwiderte Lee Craig lächelnd. »Es gibt auch Leute, die auf ihren Geldbeutel achten müssen. Im Augenblick sind die Finanzen im Craig'schen Haushalt ein wunder Punkt. Sybil spricht von einem neuen Hut. Ich hätte einen neuen Anzug nötig.« Er stand auf und presste eine Hand auf den Nacken. »Das Resultat steht von vornherein  fest. Ich muss noch eine Weile mit meinen alten Sachen auskommen.« Er berührte den Rasenmäher mit dem Fuß. »Und die Kiste da muss mindestens noch einen Sommer Dienst tun.«

»Kein Nebel heute«, meinte Alan, den Blick wieder auf die Berge gerichtet. »Könnte Regen geben.«

»Wär’ nicht schlecht.« Lee drehte sich nach einer Besichtigung des Horizonts wieder um und schaute zu Alan hinauf, wobei er die Augen mit der Hand beschattete. »Du scheinst gerade erst aus dem Bett gestiegen zu sein. Achtbare Bürger haben schon eine Stunde Arbeit hinter sich.«

Alan grinste.

»Ich sehe aber nicht, dass du dich zu Tode quälst.«

»Kommt schon noch.« Lee steckte die Ölkanne in die Hüfttasche seiner fleckigen Hose, packte den Rasenmäher an den Handgriffen und mähte eine Bahn durch das Gras. »Da hätte doch längst einer Gras erfinden können, das ein paar Zentimeter wächst und dann aufhört«, sagte er und reckte sich. »Ich trinke eine Tasse Kaffee mit dir, wenn du fertig bist.«

Alan nickte und trat vom Fenster zurück. So begann fast jeder Tag, mit kurzem, freundlichem Geplauder mit seinem nächsten Nachbarn. Das war Lee Craig, freischaffender Graphiker, um die Vierzig, hochgewachsen, mit schlaksigen Gliedern, die wie bei einer Puppe an seinem schlanken Körper befestigt zu sein schienen; mit schmalem Gesicht, brauner Haut, die über deutlich abgezeichnete Knochen gespannt war, schiefem Lächeln und einem fast stets ungekämmten schwarzen Haarschopf.

Alan stand mit nacktem Oberkörper am Waschbecken und ließ Wasser einlaufen. Er dachte darüber nach, wie angenehm es war, einen Mann wie Lee zum Freund zu haben. Und Lees Frau Sybil... Er drehte den Hahn zu. Sekundenlang wollte ihr Bild nicht Gestalt annehmen. Dann fügte es sich zusammen; grellfarbene Kleider, kurzes, dunkles, an den Schläfen mit Grau durchzogenes Haar, eine Art spröder, porzellanhafter Schönheit.

Als er sich das Gesicht mit dem rauen Handtuch abrieb, spürte er an einer Schläfe ein Prickeln. Er schaute von der Seite her in den Spiegel. Die schmale Narbe trat in der sie umgebenden Röte weißlich hervor. Er drehte den Kopf, um die Narbe an der anderen Schläfe zu betrachten. Sie war längst nicht so auffallend.

Das Gesicht, das ihm entgegenstarrte, gehörte plötzlich einem Fremden. Er suchte nach einem Erkennungspunkt. Das war der Alan Fraser, den die Welt sah. Eine kräftige Nase, voller Mund, Augen so anonym wie das Gesicht, und ein Gesicht wie jedes andere. Glatte Haut - trotz der sechsunddreißig Jahre - und jetzt, nachdem die Rötung vom Frottieren langsam verging, seltsam farblos. Nur das Haar hob es aus der Durchschnittlichkeit heraus - dicht, glänzend, üppig und rötlich-braun. Vertraute Züge, die sich nicht zu einem vertrauten Ganzen vereinigen wollten. Alan öffnete stirnrunzelnd den Wandschrank, um seinen Elektrorasierer herauszunehmen.

Als er das Badezimmer verließ, warf er die Tür versehentlich mit unnötiger Kraft zu. Mrs. Lows Stimme drang von unten herauf.

»Fertig, Mr. Fraser?«

»Zwei Minuten noch«, rief er hinunter. Im Schlafzimmer, vor dem Schrank, während er überlegte, was er anziehen sollte, fragte er sich, ob auch andere Menschen diese merkwürdigen, beunruhigenden Augenblicke erlebten, in denen ihnen das eigene Gesicht plötzlich fremd erschien. Das musste wohl ein normaler Vorgang sein.

In der Küche lehnte Lee an der offenen Hintertür, eine Tasse in der Hand, und nickte stumm. Mrs. Low, unter weißer Schürze und rosa Bluse imposante Wölbungen verbergend, brachte vom Herd einen vollen Teller, stellte ihn auf den Tisch und rückte das Besteck zurecht.

»Der Speck ist zu knusprig«, entschuldigte sie sich. »Tut mir leid. Ich weiß, dass Sie ihn lieber weich wollen. Ich dachte, ich hätte Sie schon früher gehört.«

»Er beugte sich zum Fenster hinaus«, warf Lee ein. »Im tiefsten Negligé. Wenn das der richtige Ausdruck ist. Mit Worten kann ich nicht so gut umgehen. Wie geht es mit dem Buch voran, alter Knabe?«

Neben Alans Teller lag ein Brief. Er musste von seinem Agenten sein - niemand sonst konnte ihm schreiben.

»Ich habe die ersten Kapitel skizziert«, erwiderte er zerstreut, während er den Umschlag aufschlitzte.

»Wenn mich die Herren entschuldigen«, sagte Mrs. Low von der anderen Tür her, »fange ich mit den Schlafzimmern an.«

Alan lehnte den Brief an die Milchkanne. Kitch schrieb, dass er eine Kurzgeschichte für vierzig Guineen an die Zeitschrift tomorrow verkauft hatte. Alan zog die Stirn kraus. Weniger als erwartet, aber für das Notwendigste würde es wohl reichen, einige Wochen lang. Kitch erwähnte auch, dass er dringend den ersten Kapiteln des Romans entgegensehe. Alan schob den Brief in die Tasche.

»Wir sind also immer noch beim Skizzieren«, meinte Lee beiläufig. »Und wann fangen wir ernsthaft an?«

»Ist ja noch Zeit.« Der Speck war mehr als knusprig, das magere Fleisch hart und brüchig. »Ich möchte mich erst einfühlen, bevor ich richtig mit dem Schreiben anfange.«

»Verstehe schon. Mir geht es ähnlich. Zuerst habe ich eine grobe Skizze im Kopf und dann bringe ich die ersten Versuche aufs Papier, fast instinktiv. Wovon soll denn das Buch handeln?«

Alan musste nachdenken. Im Laufe der vergangenen Wochen hatte er sich immer mal wieder Notizen über den Hintergrund gemacht. Im Augenblick existierte nur eine Vielzahl von Einfällen. Aber eines stand fest...

»Es wird ein biographischer Roman«, sagte er.

Der andere spitzte kritisch die Lippen.

»Eigentlich nicht dein Gebiet, Alan. Ich meine, mit deinen utopischen Geschichten hast du doch Erfolg. Warum also einen Wechsel riskieren?« Er stellte die leere Tasse in das Spülbecken. »Aber als fairer Mensch will ich zugeben, dass du es schaffen könntest.« Er drehte sich um und zog die Braue hoch. »Du kannst ja beides verbinden. Die Biographie eines Marsmenschen. Ist dir schon ein Titel dafür eingefallen?«

»Ich schreibe nicht über Marsmenschen, nicht einmal für die Magazine.« Alan schüttelte den Kopf. »Und den Titel habe ich auch noch nicht. Nicht einmal Namen, selbst für den Helden nicht.«

Das sonnenbeschienene Rechteck der Tür wurde dunkel.

»Gerüchtweise hieß es, dass jemand meinen Rasen mähen will«, erklärte Sybil nach ihrem lautlosen Eintreten. Sie verschränkte nackte, braune Arme vor dem allzu engen, hellblauen Kleid und betrachtete ihren Mann anklagend. »Ich habe mir schon gedacht, dass du hier bist.« Sie wandte sich Alan zu und lächelte. »Wie geht es dir, Alan?«

»Gut.« Er wies mit einem Kopfnicken zum Herd. »Kaffee?«

»Du verwechselst mich mit einem andern«, erwiderte sie. »Ich bin nicht der Meister von Bewdey im Kaffeetrinken.«

»Ich vertrödle nicht meine Zeit, wie du anzudeuten scheinst«, sagte Lee würdevoll. »Ich habe mit Alan sein neues Buch besprochen und ihm meinen Rat zuteilwerden lassen. Wir haben beschlossen, dass es eine Romanbiographie fünfzig Jahre in der Zukunft werden soll.«

Alan schob seinen Teller beiseite.

»Warum gerade fünfzig Jahre?«

Lee beachtete die Unterbrechung nicht.

»Bis jetzt haben wir uns noch nicht für einen Titel entschieden. Wir warten, bis wir für die Hauptfigur einen Namen gefunden haben. Dann nehmen wir diesen Namen als Titel. Ein starker Name ist nötig - ein wuchtiger Name, der an breite Schultern und an ein kantiges Kinn denken lässt.«

Alan erhob sich.

»Die Notizen liegen auf meinem Schreibtisch«, meinte er ruhig. »Warum zerreißt du sie nicht und schreibst das blöde Ding selber?«

Er und Lee verstanden einander. So war es immer gewesen.

»Noch ein Wort und ich tu’s«, sagte Lee nachdenklich.

Sybil trat zurück ins Sonnenlicht.

»Raus mit dir!« Sie hob den Arm. »Rasen mähen!«

Lee gab sich zerknirscht und ging folgsam mit.

Alan betrat den Korridor. Dort erlebte er einen seltsamen Augenblick der Unentschlossenheit. Die rechte oder die linke Tür? Die Welt ordnete sich wieder. Im Arbeitszimmer, auf dem Weg zum Schreibtisch, überfiel ihn leichtes Schwindelgefühl. Mrs. Low tauchte plötzlich auf, ein Glas Wasser in der einen Hand, zwei weiße Tabletten auf der anderen. Alan nahm sie automatisch, legte sie auf die Zunge und trank Wasser nach. Er ließ sich im Sessel nieder. Das Schwindelgefühl war verflogen. Draußen summte der Staubsauger. Mrs. Low war wieder an der Arbeit.

Das Bündel Notizblätter lag auf dem Schreibtisch zwischen Kalender und Schreibmaschine. Den ewigen Kalender mit seinem Lederrücken zu verstellen, war die erste Aufgabe. Während er das magnetische Rechteck weiterschob, fiel ihm eine früher getroffene Entscheidung ein. Ein Tagebuch über den Fortschritt des Romans zu führen, war eine gute Idee. Er zog nach einigem Suchen aus einer der Schubladen ein kleines Notizbuch heraus, schlug es auf und schrieb auf die erste Seite: Montag, 16. Juni 1967. Er schrieb langsam. Dann griff er nach den Notizen. Während er sie studierte, suchte er in seiner Tasche nach Zigaretten, zündete sich eine an und hustete, als der warme Rauch in seine Kehle drang. Es war das erste Mal, dass er die Skizzen in einem Zuge durchlas. Der Mangel an einem fortlaufenden Zusammenhang enttäuschte ihn. Recht wenig Material für einen Roman, fand er. Die einzelnen Bemerkungen wollten sich nicht zu einem verständlichen Ganzen zusammenfügen. Einige waren so vage gehalten, dass er sich kaum erinnern konnte, sie niedergeschrieben zu haben. Unbarmherzig kürzte er die allzu wortreiche Beschreibung einer namenlosen Dorfkirche. Ohne an die Zigarette zu denken, strich er kräftig auf allen Blättern und begann von neuem zu lesen, was übriggeblieben war.

Ein Kind, geboren in einer Holzhütte in einem Ort ohne Namen. Nicht in einem heimeligen Dorf wie Bewdey. Es gab nur eine Anzahl alter Hütten und ein einsames Gleis, das durch eine Wüste zum fernen Horizont zielte. Australier, schrieb er an den Rand und fügte ein Fragezeichen hinzu.

Alan drückte die Zigarette aus und lehnte sich zurück. Er versuchte sich das Kind vorzustellen. Es wollte ihm nicht gelingen. Er spürte auch den Mangel an Selbstvertrauen, den Zweifel an seiner Fähigkeit, sich an einen Roman heranzuwagen.

Aber Kitch traute es ihm zu, und offensichtlich auch Lee. Lee hatte immer recht. Sein Gedanke, Biographie und Utopie zu verbinden, war gut. Es war nicht das erste Mal, dass Lee Unterstützung in Form einer Herausforderung anbot. Seine Idee, den Roman vor einem Hintergrund spielen zu lassen, der fünfzig Jahre in die Zukunft reichte, war eine Herausforderung.

Wie würde die Welt nach einem halben Jahrhundert aussehen? Würden die nächsten fünfzig Jahre das Leben so stark verändern, wie es die vergangenen fünfzig Jahre getan hatten? Alan malte sich Bilder aus. Alles in allem hatte die Menschheit in den letzten fünfzig Jahren nur einen kleinen Schritt vorwärts getan. Die nächsten fünfzig konnten nichts allzu Revolutionäres bringen. Und Lee würde ihm mit seinen Kenntnissen helfen können, diese Dinge in die Zukunft zu projizieren.

Alan verließ das Zimmer. Mrs. Low, die mit einem Lederlappen den Spiegel blankrieb, drehte sich lächelnd um und fragte: »Wieder festgefahren, Mr. Fraser?«

Er bekämpfte milden Ärger über diese gewohnheitsmäßige Frage, weil er wusste, dass sie nur versuchte, damit ihr Mitgefühl und Verständnis zu zeigen. Er kannte sie so gut wie sich selbst. Abgesehen von den wenigen, im Krankenhaus verbrachten Monaten hatte es nie eine Zeit gegeben, in der Mrs. Low nicht ebenso Bestandteil seines Daseins gewesen wäre wie seine Kleidung, das Haus, in dem er wohnte, ja sogar die Luft, die er atmete. Zuerst war sie seine Hebamme, dann seine Krankenpflegerin gewesen und amtierte jetzt als Haushälterin.

Er lächelte sie an.

»Ausnahmsweise bin ich einmal nicht festgefahren, Mrs. Low. Ich glaube sogar, dass ich einer guten Sache auf der Spur bin. Aber das erfordert noch allerhand Nachdenken.«

Sie warf einen Blick auf die Uhr.

»Wenn Sie einen Spaziergang machen wollen, bleiben Sie nicht zu lange fort. Ich mache Ihnen, wie üblich, um elf Uhr etwas zu trinken.«

»Bis dahin bin ich zurück«, versprach er, öffnete die Tür und trat in die Sonne hinaus.

Lee hatte seinen Rasen fertig gemäht. Die Luft war erfüllt von dem kräftigen Geruch nach frischgeschnittenem Gras. Alan ging den Kiesweg entlang und lehnte sich mit den Armen auf das Gartentor. Die Straße, die beiderseits einen Bogen beschrieb und sich dem Blick entzog, war leer. Bevor er sich auf das kleine Abenteuer eines Spaziergangs einließ, blieb Zeit für das Vergnügen einer zweiten Inventur.

Das war Bewdey, wenig mehr als ein kleines Dorf, wo er geboren war und sein ganzes Leben verbracht hatte. Die Berge, die Bäume, die weiten Felder und die wenigen Häuser waren ihm so vertraut wie die Linien in seiner Hand. Zur Rechten, hinter der Kurve verborgen, das kleine Postamt, wo Peter Clamp - immer der volle Name - hinter dem Schalter, wo es auch Limonade zu kaufen gab, auf Kunden wartete. Und danach - nichts als die Landstraße, die sich zwischen Hügeln dahinwand, um schließlich in die Hauptstraße nach Cradhill einzumünden.

Und zur Linken... George Tarvins Gemischtwarenhandlung und das Polizeigebäude, in dem Constable Cowen allein residierte. Das Landhaus, wo der Major wohnte, auch ganz allein, Clove Cottage, das schon seit ein paar Jahren leer stand, und Rose Cottage, früher jeden Sommer an Fremde vermietet, jetzt für dauernd von Tony Verity, einem Maler, bewohnt. Und nach dem kleinen Ort wurde die Straße schmäler, grasüberwachsen, weil nicht benutzt, um vor den verrosteten Toren der Old Oak Farm zu enden, die seit mehr als zehn Jahren leer stand und immer mehr verfiel.

Das war Bewdey - war die Geschichte seines Lebens. Jenseits der Berge gab es eine Welt, aber sie spielte keine Rolle. Er war hier geboren; es genügte ihm, hier zu leben und zu sterben.

Alan öffnete das Gartentor und überlegte kurz. Nach rechts, ein Spaziergang vorbei an dem kleinen Postamt? Oder in die andere Richtung, mit der Möglichkeit, sich mit dem Major zu unterhalten, oder mit Tony Verity, oder mit George Tarvin im Eingang zu seinem Laden? Er wandte sich nach links, ging langsam auf den verlassenen Bauernhof zu und genoss die Morgenfrische.

Als er ein Fahrzeug hinter sich herankommen hörte, trat er aufs Grasbankett, ohne sich umzudrehen. Er wusste, dass das nur der Lieferwagen aus Cradhill sein konnte, der seine tägliche Fahrt zu Tarvins Laden unternahm. Der klapprige, ehemals grüne Wagen mit verblassten Buchstaben am Aufbau, Liffy & Brand, Lebensmittelgroßhandel bremste, als er Alan erreichte. Fred beugte sich hinaus, grinste breit und rief: »Beine vertreten, Mr. Fraser?«

Alan kehrte auf die Straße zurück und beschleunigte das Tempo, um mit dem langsam rollenden Lieferwagen Schritt zu halten. Es machte ihm Spaß, sich ein paar Augenblicke mit dem stets gut gelaunten Fred Tolley zu unterhalten.

»Ich muss meine karge Freizeit ausnützen«, erwiderte er.

»Ihr Leben besteht ja nur aus Freizeit«, gab Fred fröhlich zurück. »Was macht die Schriftstellerei?«

»Zum Leben reicht es immer noch.«

»Wollten Sie es nicht mal mit einem Roman versuchen?«

»Ich bin gerade in den ersten Wehen«, erklärte Alan ernsthaft.

»Das klingt fast so, als hätten Sie eine Hebamme nötig«, rief Fred über die Schulter zurück, während er davonfuhr. Alan hob die Hand, als der Wagen mit einer kleinen Staubwolke hinter sich um die Biegung verschwand.

Bis er sie erreichte, war das Fahrzeug verschwunden. Nach der nächsten Kurve tauchten die Häuser auf, als erstes das von Major Holt auf der rechten Seite, und der Major selbst, zuerst von der Hecke verborgen, der sich von seinem kleinen Steingarten aufrichtete und mit ausholender Geste die Brille abnahm, bevor er mit einem Taschentuch aus der Brusttasche einer dicken Tweedjacke sein großes, gerötetes und schwitzendes Gesicht wischte.

»Heiß«, sagte Major Holt kurz. »Verdammt heiß. Was?« Er steckte das Taschentuch wieder ein, stemmte große Hände in die Hüften und betrachtete den Garten. »Verdammtes Unkraut. Kaum rupft man es aus, treibt der Wind neuen Samen von den Feldern herüber.«

Alan streckte sich, um über die Hecke schauen zu können.

»Sie halten ihn aber fein in Ordnung«, meinte er großzügig. »Wie heißt die blaue Blume da?«

»Welche?« Er folgte der Richtung von Alans Blick. »Die da. Enzian glaube ich. Beim Einkauf haben sie mir irgendeinen verdammten lateinischen Namen gesagt.« Er setzte die Brille wieder auf. »Keine Zeit für solche Sachen. Was macht das Schreiben?«

Alan vergalt Kürze mit Kürze: »So einigermaßen.«

»Verflixte Art, sich den Lebensunterhalt zu verdienen«, erklärte der Major freundlich, aber ohne Lächeln. Die militärische Starre seines Gesichts lockerte sich fast niemals auf. »Nicht mein Geschmack.« Er schüttelte den Kopf. Sein schütteres weißes Haar glänzte in der Sonne. »Was Handfesteres. Wie? Sicheres Einkommen. Pension.« Er schaute auf die Uhr. »Zeit für meinen Vormittagsschluck. Kann ich Sie einladen?«

Alan erklärte ihm, dass Mrs. Low seine Rückkehr mit einem Aperitif erwartete, bedankte sich für das Angebot und setzte seinen Spaziergang fort. Von Tony Verity war nichts zu sehen, aber durch das offene Fenster des Wohnzimmers, das er in ein Atelier verwandelt hatte, drang seine Stimme in rauem Gesang. Weiter vorn kehrte Tarvin geschäftig seinen Hof. Würziger Geruch drang aus der offenen Tür.

Tarvin stützte sich auf seinen Besen.

»Herrlicher Morgen, Mr. Fraser.« Der Wind spielte mit seinem schwarzen Haar. Er hatte eine breite, flache Nase und ein wettergegerbtes Gesicht, das beim Lächeln viele Fältchen zeigte.

»Dem Major scheint es zu heiß zu sein«, sagte Alan.

»Das liegt an seinem Bauch«, erwiderte Tarvin grinsend. »Zu viele Süßigkeiten. Dabei fällt mir ein: Sie könnten Mrs. Low sagen, dass ihre Biskuits eben angekommen sind. Sie weiß schon Bescheid.«

»Wird gemacht«, versprach Alan.

Nach weiteren fünf Minuten erreichte er das Ende der Straße, wo sich Brombeerhecken alle Mühe gaben, ineinander zu wachsen, wo zwischen Schutt Gras wuchs und das schiefe, aber immer noch massive Tor den Weg versperrte. Inmitten wildwachsender Sträucher beleidigten die verlassenen Hofgebäude vor dem Hintergrund der Bäume das Auge. Dahinter ragten steil die Berge auf, rot, gold und braun. An das Tor gelehnt, auf einer Erhebung, von der aus fast das ganze Tal zu überblicken war, konnte man eine Weile ausruhen, die warme Sonne auf den Schultern spüren und an nichts Bestimmtes denken. So hatte er es unzählige Male gemacht.

Aber diesmal kam es anders. Ein Gedankengang begann mit Tarvins Nachricht für Mrs. Low, kam auf Mrs. Low selbst, was erfreulich und gemütlich war, kehrte dann aber zu Tarvin zurück und zu dem Backwerk, das angeblich eben eingetroffen war. Und das führte zu Fred und seinem kleinen, grünen Lieferwagen. Das war ungemütlich und fast erschreckend, weil da etwas ganz und gar nicht stimmte.

Der Lieferwagen hatte ihn auf dem Weg zu Tarvins Laden überholt. Es gab keine Nebenwege und keine Durchfahrt hier oben, und der Lieferwagen war auf seiner Rückkehr nicht an ihm vorbeigekommen, das wusste er genau. Er hatte das Tal nicht verlassen und war auch nirgends zu sehen gewesen. Die Straße war völlig leer gewesen.

Der Lieferwagen war verschwunden.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Lee lachte zuerst laut, weil er die Sache offenbar als lustiges Rätsel betrachtete und keinen Grund zur Aufregung sah. Alans betroffene Miene brachte sein Gelächter zum Verstummen.

»Die Phantasie des Schriftstellers«, sagte er. »Sucht Geheimnisse, wo keine sind. Macht aus Mücken Elefanten...«

Aber dann wurde er ganz ernst, was bei ihm höchst ungewöhnlich war.

»Also gut, alter Junge«, sagte er. »Stellen wir fest, ob wir klarkommen, damit du ruhig schlafen kannst. Freds Lieferwagen kommt hinter dir heran, während du die Straße hinaufgehst...«

»Ich habe ein paar Worte mit ihm gewechselt«, warf Alan ein.

»Er überholt dich, und du gehst weiter, bis zum Bauernhof...«

»Ich bin stehengeblieben und habe mich mit Major Holt unterhalten. Und mit Mr. Tarvin.«

»Das ist die Lösung«, erklärte Lee siegesgewiss. »Fred fuhr zurück, während du dich mit dem Major unterhalten hast. Oder während deiner Unterhaltung mit Tarvin.«

Alan schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sie standen auf Lees Rasen. Sybil lehnte mit verschränkten Armen am Eingang und hörte aufmerksam zu.

»Er kann doch vorbeigefahren sein, ohne dass du ihn bemerkt hast«, meinte sie. »Was allzu vertraut ist, übersieht man oft. Außer...« Sie schwieg bedeutungsvoll.

»Daran habe ich auch gedacht«, erwiderte Alan leise. »Das war keine von meinen Bewusstseinsstörungen. Ich bin mir ganz sicher.«

Lee machte ein verlegenes Gesicht. Sybil murmelte etwas von Essen vor sich hin und verschwand im Haus.

»Wann war die letzte Ohnmacht?«, erkundigte sich Lee.

»Das ist schon lange her.« Alan legte die Hand an die Stirn. »Wann es war, weiß ich nicht mehr. Heute früh wurde mir ein bisschen schwindlig, aber das verschwand sofort wieder.«

»In letzter Zeit scheint es dir besser zu gehen.« Lee nickte langsam. »Wir wollen nicht, dass unser Gleichmaß gestört wird.« Er schnippte mit den Fingern, als ihm etwas einfiel. »Es gibt eine Möglichkeit, das Rätsel zu lösen...«

»Wie?«

»Komm mit«, sagte Lee. Er führte Alan ins Haus. In der Diele nahm er den Telefonhörer ab.

»Peter Clamp? Hier Craig. Können Sie mich mit der Firma verbinden, bei der Fred Tolley arbeitet? Den Namen weiß ich nicht mehr - Richtig... Nein, die Nummer habe ich nicht. Schlagen Sie nach.« Er blinzelte Alan zu. »Wofür bekommen Sie denn Ihr Gehalt?«

Er lehnte sich an die Wand und pfiff tonlos vor sich hin, während er wartete.

»Hallo?«, sagte er schließlich. »Mein Name ist Craig. Ich spreche von Bewdey aus. Können Sie mir Mr. Tolley geben?« Er wandte sich an Alan. »Sie holen ihn. Zurückgekommen ist er also.« Er lauschte. »Fred? Lee Craig am Apparat. Passen Sie auf, wir haben da ein kleines Problem...«

Alan trat an die Tür und schaute auf die leere Straße hinaus. Das war keine Bewusstseinslücke gewesen. Er kannte sich gut genug damit aus, um das zu wissen. Es gab eine Zeit und einen Ort, wo man etwas tat, und dann eine andere Zeit und manchmal einen anderen Ort, wo man etwas anderes tat. Dazwischen war nichts. Nur das Wissen von einer unerklärlichen Lücke. Aber stets die Erkenntnis, dass vom Leben ein kleines Stückchen fehlte. An diesem Vormittag jedoch konnte er über jede Sekunde Rechenschaft ablegen. Es hatte keine Lücke gegeben. Er bemerkte, dass Lee neben ihm stand.

»Nach Freds Schilderung hast du dich mit dem Major unterhalten, als er zurückfuhr«, sagte Lee gleichmütig. Er legte die Hand auf Alans Schulter. »An deiner. Stelle würde ich mit Dr. Crowther darüber sprechen, wenn er heute Nachmittag kommt. Nur zur Sicherheit, verstehst du?«

Alan bewegte unentschlossen die Schultern. Es hatte keinen Sinn, zu widersprechen. An der Stirn spürte er eine Enge. Er presste die Finger gegen die Schläfen und fühlte den harten Puls.

»Mach dir keine Sorgen«, riet Lee. »Crowther kennt sich aus. Wenn du willst, spreche ich vorher mit ihm. Wenigstens brauchst du dann nicht noch einmal alles zu erzählen.«

 

Der Arzt kam. gegen drei Uhr. Alan, der seit dem Mittagessen im Bett gelegen hatte, stand auf, als er das Auto halten hörte, und trat ans Fenster. Crowther, wie immer ohne Hut, massig, mit kahlem Schädel, breiter Stirn und seltsam wächsernen Zügen, stieg aus der kleinen, schwarzen Limousine und holte seine Tasche heraus. Lee wartete schon auf ihn. Die beiden gingen langsam zum Haus, während Lee Bericht erstattete. Der Arzt zeigte eine besorgte Miene.

Zehn Minuten später, nachdem die übliche Untersuchung abgeschlossen war, sagte Dr. Crowther: »Craig hat mir von dem Vorfall heute Morgen erzählt.« Er legte das Stethoskop in die Tasche zurück.

Alan knöpfte sein Hemd zu, ohne etwas zu erwidern.

Der Arzt klappte seine Tasche zu.

»Ich weiß, dass ich das schon gefragt habe, aber träumen Sie oft?«

Alan schüttelte den Kopf.

»Fast nie.«

»Und wie steht es mit Ihrem Gedächtnis? Können Sie sich an die Einzelheiten des Unfalls erinnern, sehen Sie das andere Auto auf sich zukommen, sehen Sie die Flammen?« Er brach ab. »Verzeihen Sie. Ich musste Ihre Reaktion prüfen.« Er ließ sich in einem Sessel nieder. »Alles, was ich tue oder sage, ist nur zu Ihrem Besten. Ich habe Sie in diese Welt hineinbefördert und mich seither um Sie gekümmert. Aber ich muss wissen, wie deutlich Ihre Erinnerungen sind.«

»Zehn Jahre sind eine lange Zeit«, meinte Alan ruhig.

»Sie wollen sagen, die Erinnerung verblasst. Einerseits gut, andererseits schlecht. Ihr Bewusstsein hat sich das Vergessen beigebracht, aber bei Ihrem Unterbewusstsein ist das wieder etwas ganz anderes.« Er beugte sich vor, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Von Zeit zu Zeit versucht es, Sie wieder daran zu erinnern. Aber Ihr Bewusstsein weist es zurück. Es wendet Narkose an und dadurch kommt es zu einer Bewusstseinsstörung.

Ich weiß, dass wir das alles schon hundertmal durchgekaut haben. Jetzt sieht es aber so aus, als hätten wir ein neues Stadium erreicht. Die Bewusstseinsstörungen unterscheiden sich in der Dauer. Bis jetzt schwankten sie bei Ihnen zwischen einer halben Stunde und zwei Tagen. Allem Anschein nach werden sie immer kürzer und die Pausen dazwischen immer länger. Ein gutes Zeichen. Heute früh dauerte die Störung nur einige Sekunden.« Er lehnte sich zurück, befriedigt von seiner Diagnose. »Das müsste Sie eigentlich beruhigen, nicht wahr?«

»Jawohl«, sagte Alan steif.

»Machen Sie sich keine Sorgen.« Der Arzt erhob sich schwerfällig und griff nach seiner Tasche. »Ich hinterlasse bei Mrs. Low einen neuen Vorrat an Tabletten. Morgen komme ich wieder vorbei.« Sein Lächeln prägte herablassende Falten in schlaffe Backen. »Ich glaube nicht, dass Ihnen klar ist, welches Interesse ich Ihrem Fall entgegenbringe. Ich fahre nur deshalb in die Wildnis, um Sie sehen zu können. Sie müssen sich also schon an meine Anweisungen halten.«

Als er fort war, ging Alan ins Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Arbeiten konnte er allerdings nicht. Irgendetwas störte ihn, eine unbestimmte Sorge, die sich zwischen seine Gedanken drängte. Mit dem Lieferwagen hatte das nichts zu tun, weil er dafür die Erklärung des Arztes akzeptieren musste. Es war etwas anderes. Etwas, das nicht so war, wie es sein sollte...

Lee kam herein und wollte wissen, was Dr. Crowther gesagt hatte. Alan berichtete kurz.

»Das wäre also erledigt«, sagte Lee und beugte sich über Alans Schulter. »Zurück zum Roman?«

»Richtig.« Alan hielt ihm die Zigarettenpackung hin. »Ich wollte dich um deine Unterstützung bitten.«

Lee ließ sein Feuerzeug aufschnappen.

»Ich fühle mich geschmeichelt Fang an.«

»Wie wird es in fünfzig Jahren sein?«

»Eine harte Nuss.« Lee holte mit dem Fuß einen Stuhl heran und setzte sich. »Trotzdem, vielleicht ist es gar nicht so schwierig. Nur eine Frage, wie man die heutigen Probleme in die Zukunft hineinprojiziert. Und unser größtes Problem...«

»Die Bevölkerungsexplosion?«

»Ich dachte an den Kalten Krieg. Aber vielleicht hast du recht. Wir sprechen vom Jahr...« Er schloss die Augen.

»2017«, ergänzte Alan.

»2017. Hat einen besonderen Klang. Wie wird es dann aussehen? Übervölkerung, wobei die Versorgung mit Nahrungsmitteln ein noch größeres Problem ist als die Raumfrage. Offensichtlich also irgendeine Art ständiger Rationierung. Rationierung bedeutet Personalausweise und massenhaft Akten. Jeder wird eine Nummer haben, die man vermutlich häufiger gebraucht als die eigenen Namen. John Henry Nummer Soundso. Einverstanden bis jetzt?«

»Eine Art Super-Wohlfahrtsstaat.« Alan schnitt eine Grimasse. »Aber logisch. Weiter.«

»Was noch? Geburtenkontrolle für die Masse. Unausweichlich. Das bedeutet strenge Kontrolle des Staates. Sogar eine Art Polizeistaat. Wie hört sich das an?«

»Sprechen wir vom Kalten Krieg«, sagte Alan. »Wird Rußland immer noch schwanken, für welche Seite es sich entscheiden soll?«

»Während China die eigentliche Schurkenrolle übernimmt. Inzwischen wird es sich aber auf Kosten der angrenzenden Länder, vielleicht sogar einschließlich Indiens, ausgedehnt haben. China in Asien. Sino-Asien. Wie klingt das? Hast du schon einen Namen für deinen Helden?«

»Noch nicht. Alles der Reihe nach.«

»Ich hätte gedacht, das wäre der Anfang. Aber wie du meinst. Also die Sinoasiatische Volksrepublik. Kurz Sinoa.«

»Verborgen hinter einem Bambusvorhang«, ergänzte Alan. Mrs. Low brachte die Tabletten für den Nachmittag.

»Prost«, sagte Lee, als Alan das Wasser trank. »Mrs. Low, was werden Ihrer Meinung nach die Menschen in fünfzig Jahren anziehen - welche Kleidungsstücke?«

»Was sie anziehen werden?« Sie blieb an der Tür stehen. »In fünfzig Jahren? Darüber habe ich noch nie nachgedacht, Mr. Craig. Die Sachen werden wahrscheinlich sehr auffallend sein. Grelle Farben, glänzende Stoffe. Und knapp, ohne Zweifel. Wünschen Sie noch etwas, Mr. Fraser?«

»Kunstfasern«, meinte Alan, als sie gegangen war. »Alles verfügbare Land wird für Nahrung benötigt, nicht für Naturfasern. Und Tabak gibt es auch nicht.«

»Kein schönes Bild«, sagte Lee. »Und der Krieg?«

»Kein Krieg. Die Chinesen - oder vielmehr Sinoasiaten - werden nur damit beschäftigt sein, Lebensraum für ihre explodierende Bevölkerung zu finden. Der Krieg würde Atomwaffen und die Verseuchung riesiger Landstriche durch Radioaktivität bedeuten. Konventionelle Waffen werden nur bei der üblichen Polizeiarbeit verwendet, also nicht besonders weiterentwickelt. Die Sinoasiaten werden einen Krieg mit gewöhnlichen Waffen nicht riskieren, weil er zu einem Atomkrieg werden könnte. Der gegenwärtige Nervenkrieg wird also weitergehen, vermutlich mit zusätzlichen Feinheiten.«

»Agententätigkeit großen Maßstabs«, ergänzte Lee nachdenklich. »Gehirnwäsche und alles Einschlägige. Ein frischer, fröhlicher Spaß... Du lässt mich weit hinter dir, alter Knabe. Meine Hilfe brauchst du bestimmt nicht. Dir fallen genug schreckliche Dinge ein.«

»Ich gehe nur schnell zum Laden«, erklärte Mrs. Low von der Tür her. Sie trug einen unnötigen schwarzen Mantel und hatte einen Korb über dem Arm. Alan nickte und gab Mr. Tarvins Mitteilung weiter. Lee schaute auf die Uhr und stand auf.

»Ich wusste gar nicht, dass es schon so spät ist. Meine bessere Hälfte vermutet mich bei harter Arbeit im Atelier Mit ein bisschen Glück müsste ich mich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Leslie Purnell Davies/Apex-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Leslie Purnell Davies.
Bildmaterialien: Christian dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Tony Westermayr (OT: The Artificial Man).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2024
ISBN: 978-3-7554-6810-3

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