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Leseprobe

 

 

 

 

RUDOLF H. DAUMANN

 

 

Protuberanzen

 

 

KOSMOLOGIEN – SCIENCE FICTION AUS DER DDR, Band 17

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

PROTUBERANZEN 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

Ein deutscher Wissenschaftler macht eine katastrophale Entdeckung: Die Ultrastrahlung der Sonne beginnt die Kohlensäure der Luft zu zersetzen, und ein Prozess läuft an, der in absehbarer Zeit zur Vereisung der Erde führen muss.

Pläne werden entwickelt und kühne Projekte in die Wege geleitet, um die Erde vor dem Kältetod zu retten und der Menschheit das Überleben zu gestatten. Aber es sind auch verantwortungslose Kräfte am Werk, die aus der drohenden Katastrophe Profit zu schlagen versuchen...

 

Rudolf Heinrich Daumann (* 02. November 1896 bei Neumarkt/Schlesien; † 30. November 1957 in Potsdam) war ein deutscher Autor von Science-Fiction- und Abenteuerromanen. Sein Roman Protuberanzen erschien erstmals im Jahre 1940.

Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe KOSMOLOGIEN - SCIENCE FICTION AUS DER DDR.

  PROTUBERANZEN

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Unsinn, mein lieber Wiedensohl!«, sagte laut eine helle, frische Stimme. »Leibhaftiger Unsinn, hier in diesem elenden Südseenest eine anständige Kneipe finden zu wollen. Wir hätten besser daran getan, im Hotel zu bleiben und uns hübsch auf das Ohr zu legen.«

»Abwarten, Rudolf Bracke!« Die Worte klangen dunkler, ruhiger. »Astronomen haben sonst mehr Geduld als wir hitzigen Flieger. Dicht am Molo soll ein nettes Lokal liegen, in dem sogar eine leibhaftige Europäer-Kapelle spielt. Wir müssen hier bald am Hafen sein!«

»Eine ägyptische Finsternis in der Südsee!«, erklärte wieder der erste Sprecher. »Wozu mögen in diesem verdammten Papeete nur die großen Straßenlampen über dem Makadam hängen, wenn man sie nicht anbrennt?«

»Französische Großmannssucht!«, stellte der andere fest. »Wenn die großen Touristendampfer auf Tahiti-Nui anlegen, dann erstrahlt das ganze Städtchen in magischer Beleuchtung. Aber für die polynesischen Mischlinge, die paar verkaterten Kolonialbeamten und uns drei Deutsche lohnt sich die Geldausgabe an so einem kommunen Wochentag nicht. Die echten Eingeborenen gehen mit den Hühnern schlafen...«

»Ich bezweifle überhaupt, dass es auf Tahiti noch reinblütige Tahitianer gibt«, wandte Rudolf Bracke ein. »Was uns bisher in Papeete vor Augen kam, waren recht unangenehme Mischungen zwischen Braun und Gelb und Schwarz und Weiß.«

»Französische Kolonialpolitik!«, meinte Robert Wiedensohl lachend. »Die Herren in Paris wissen, dass sich nichts so leicht beherrschen lässt wie ein Bastardvolk. Doch im Innern der Insel soll es noch unverfälschte Tahitianer geben. Dort drüben schimmert übrigens Licht!«

»Dann hin zum rettenden Pol! Der Manager im Hotel Orohenu hat mir auch hoch und heilig versichert, dass es dort ein prima Spatenbräu geben soll. Marsch, marsch, Wiedensohl! Mich dürstet es fürchterlich!«

Bald stolperten die beiden Nachtwanderer die Treppe zu einer Veranda hinauf, über der eine blakende Petroleumlampe hing, und fanden an einem der runden Marmortische Platz. Ein farbiger Diener erschien, die Kellnerschürze wie einen Sarong um die Hüfte geschlungen, verneigte sich unzählige Mal, schleppte einen grell leuchtenden Karbidbrenner herbei und nahm auch die Bestellung entgegen.

Nach einer Weile kam er wieder und servierte die Bierflaschen in einem Sektkühler, stellte hohe, schmale Gläser auf die Tischplatte und überreichte dann sogleich auf einem angesprungenen Teller die Rechnung.

»Donnerwetter, Wiedensohl!«, entfuhr es Bracke. »Das echte herrliche Getränk aus der Champagne, Mumm extra dry, könnte auch nicht teurer sein.«

»Warum kommt man auch auf den spleenigen Gedanken, in dieser verlassenen Ecke des Stillen Ozeans ausgerechnet süffiges Spatenbräu zu trinken!«, neckte ihn der andere. »Bei Ihrer Vermögensanlage aber können Sie sich ja den Scherz leisten. Der Stoff sieht übrigens recht trinkbar aus. Prosit, Herr Doktor!«

»Prosit, Herr Chefpilot!... Schmeckt wirklich famos! He, Boy, stell gleich noch zwei Flaschen kalt! Und da ist das Geld!«

Er warf dem Braunen mit dem üppig gekräuselten Haar einen Geldschein zu und lehnte sich dann bequem in dem Rohrstuhl zurück. Um seine schmalen Lippen lag ein richtiges Jungenlachen. Seine schlanken Hände fuhren von den Schläfen aufwärts über die hohe Stirn und durch das dichte Blondhaar. Er mochte die dreißig Jahre noch nicht erreicht haben. Der bequeme Sportanzug lag lose um seine schmalen Schultern und die schlanken Hüften. Sein Gefährte saß breit und wuchtig ihm gegenüber, den Rücken zum Park, der sich bis an das Meeresufer erstreckte. Eine kurze Haarbürste bedeckte den runden Schädel. Unter einer stark gewölbten Stirn lugten gemütliche Braunaugen über die starken Wangenpartien. Für einen braven Gastwirt aus einer deutschen Kleinstadt hätte man den kühnen Chefpiloten Robert Wiedensohl halten können, wenn man nicht in seinen massigen Schultern und seinem starken Nacken die gebändigte Kraft geahnt hätte.

»Warum sind Sie eigentlich Astronom geworden, Herr Bracke?«, fragte er unvermutet sein Gegenüber.

»Wie kommen Sie zu der überraschenden Frage?«, wollte Bracke wissen. »Ich könnte ebenso gut antworten: Warum sind Sie, Wiedensohl, Flieger geworden? Eigentlich sehen Sie aus wie ein echter hannoverscher Bauer.«

»Bin ich ja auch meiner Abstammung nach!«, erwiderte der Pilot. »Und wenn ich mir genug Moneten zusammengeflogen habe und die alten Knochen bei einer gerissenen Rolle ins Zittern geraten, setze ich mich zwischen Harz und Aller irgendwo in ein gottverlassenes Nest, züchte Herdbuchvieh, Kartoffeln und Saubohnen und will bei zwanzig Bienenstöcken meine Piepe in Ruhe schmauchen.«

»Das könnten Sie doch jetzt schon tun! Oder hat Ihnen die Fliegerei so wenig eingebracht?«

»Nein! Aber die Knochen zittern noch nicht. Sie haben wieder nur die Hälfte meiner Ausführungen ausgewertet, Herr Astronomius. Doch ich wollte etwas wissen, und nun haben Sie mich ins Kreuzverhör genommen. Warum also sind Sie Astronom geworden?«

Doktor Bracke nahm erst einen ausgiebigen Schluck des schäumenden braunen Trankes, ehe er antwortete: »Tja, was Sie mich eben gefragt haben, das sagt meine ganze hohe Verwandtschaft auch immer. Warum Astronom? Und diesen lapidaren Satz mit Augenaufschlag und Vorwurf. Der Rudolf Bracke könnte doch bereits heute wie sein Vater Direktor einer Großbank sein und Geld scheffeln. Stattdessen treibt er eine so brotlose Kunst! Nun, sicher bin ich erheblich mathematisch belastet. Aber eben das reizte mich, meine Veranlagung an interessanteren Gebieten zu versuchen als nur an angewandter Prozent- und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Astronom sein, heißt nämlich Rechner sein!«

»Sie haben mich nicht ganz verstanden«, unterbrach ihn Wiedensohl. »Ich habe gegen den ehrenwerten Beruf der Sternguckerei durchaus nichts einzuwenden. Als Bankmensch könnte ich mir Sie noch viel weniger vorstellen. Aber wenn ich Sie so in Ihrer jungenhaften Schlaksigkeit dasitzen sehe, versetze ich Sie in Gedanken in eine mondäne Bar oder auf einen Golfplatz, in ein schickes Tanzlokal oder als junger Lord hingelümmelt in den Clubsessel des Vestibüls eines sehr vornehmen Hotels. Stattdessen treiben Sie sich wie ein übermütiger Schuljunge, der seinen Pensionseltern ausgekratzt ist, hier in dem finsteren Papeete herum, kriechen morgen durch Urwald und Felsstürze hinauf auf den Drohenu, nur um eine Sonnenfinsternis zu beobachten.«

»Und nun sagen Sie bloß noch: Haben Sie denn das nötig?« Bracke lachte auf. »Prosit, Wiedensohl! Sie sind ein wahrhaft philiströser Wolkenkitzler!«

»Wieder falsch verstanden!«, brummte der Flieger. »Ein Astronom, ein Mensch, der es mit den ewigen Sternen zu tun hat, muss, so nehme ich wenigstens an, einen ernsten und gesetzten Eindruck machen, wie...«

»...Professor Doktor Albin Hegar!«, setzte der andere seine Betrachtung fort. »Wenn ich das Alter meines hochverehrten Lehrmeisters erreicht haben werde, wird sich auch die nötige wissenschaftliche Würde einstellen. Vorläufig aber liebe ich neben meiner Gelehrsamkeit auch noch das Leben, wogegen auch ein Herr Wiedensohl hoffentlich nichts einzuwenden hat.«

»Nein, der freut sich sogar darüber!« Der Pilot hob sein Glas und trank ihm zu. Er horchte einen Augenblick lang auf das Rauschen der Südsee, dann eine längere Weile auf ein plötzlich aufklingendes Klavierspiel, das aus dem Innern des Hauses drang. »Musik!«, sagte er mit einem Ton der Anerkennung. »Und wenn ich mich nicht täusche, nicht einmal schlechte!«

»Sehr gute sogar!« Die beiden lauschten den perlenden Läufen. »Die Deutschen Tänze von Franz Schubert, direkt meisterhaft gespielt. Freilich ist der Klimperkasten da drinnen den Fingern, die ihn zum Klingen bringen, nicht kongenial.«

Sie tranken in kleinen Schlucken weiter den Gerstensaft und lauschten den Melodien, bis der letzte Ton verklungen war. Nach einer Pause des Schweigens lachte Rudolf Bracke fröhlich auf: »Wiedensohl, können Sie sich eigentlich einen größeren Kitsch denken als das Gemälde: Unter dem Kreuz des Südens und dem Triangulum australe sitzen am rauschenden Stillen Ozean zwei ergriffene Männer bei einem Topp Bier zusammen und hören zwischen Palmensäuseln und Wellenplätschern die Deutschen Tänze. Wenn wir Professor Hegar das berichten, dann wird er sagen: Narretei! Endlich wieder mal ernst werden, Bracke!«

Wieder erklang das Instrument. Nach einem kurzen Vorspiel begann eine rührende Stimme zu singen. Ergriffen hörten die beiden Gefährten die sehnsüchtige Melodie, und sie erwachten aus ihren Träumen erst, als drinnen lärmender Beifall auf brauste.

Eine Menge Stimmen schrien durcheinander; Gläser klangen und zerbrachen. »Eine besoffene Bande von Tahitianern und dazu Schubertlieder?« überlegte Bracke laut. »Wiedensohl, hier stimmt etwas nicht!«

Der Kellner hatte inzwischen das zweite Pärchen der silberverkapselten Literflaschen gebracht. Als ihn die beiden nach der Sängerin fragten, grinste er augenzwinkernd: »Oh, nichts als eine hübsche Chanteuse! Serr hübsch und serr frisch hier in Papeete! Monsieur

Hamenene, großer Mann von Vanillezucht, gibt schönes Fest für kleines Mädchen.«

»Ist es eine Deutsche?«, wollte Bracke wissen.

»Ich nicht wissen! Ich gar nichts nicht wissen!«, sagte er schnell und verschwand wieder im Innern des Hauses.

»Wollen wir uns den Zauber einmal ansehen?«, fragte Wiedensohl.

»Lieber nicht! Vielleicht erleben wir eine Enttäuschung. Reisende Künstlerin in der Südsee? Das ist gerade keine Empfehlung!«

Der Lärm der Feier drang immer lauter heraus zu den beiden Schweigenden. Johlendes Gelächter übertönte alle Einzelheiten. Wiedensohl sprang auf: »Da hat doch jemand Hilfe! gerufen?«

Plötzlich fiel ein greller Lichtschein durch eine hohe Tür, die hastig aufgerissen worden war. Eine schmächtige Gestalt in einem langen weißen Kleid rang mit einem fetten Mann, der sie in seine Arme zu ziehen versuchte. Nun hatte sie sich ihm entwunden und rannte flink wie ein Wiesel über die Veranda auf die beiden Deutschen zu. Doch der Farbige war trotz seiner Korpulenz schneller als die Fliehende. Mit einem brutalen Griff packte er sie bei der Schulter. Das Kleid zerriss. Mit einem Fetzen Chiffon in der Hand stand er einen Augenblick lang verdutzt da. Da warf sich schon Wiedensohl zwischen ihn und die Verfolgte: »Stopp, Junge! Was geht hiervor?«

Ein braungelbes Gesicht verzog sich zu einer Wutfratze. Zwei grobe Fäuste stießen nach dem Gesicht des Piloten; die ausgestreckten Daumen zielten nach seinen Augen. Ein schneller Schritt rückwärts verschaffte Wiedensohl die nötige Distanz. Dann zuckten seine Arme nach vorn, und dumpf knallte eine Serie von Schlägen in das schwammige Gesicht. Wie ein Mehlsack plumpste der Mischling zusammen; schlaff lag er auf dem mit Matten bedeckten Fußboden.

»Alter Freund, so darfst du Wiedensohl nicht kommen!«, brummte der Pilot und betrachtete kritisch sein Opfer. »Daumen in die Augen! Den chinesischen Trick kenne ich. Und dabei sieht der Mensch beinahe manierlich aus!« Er musterte den tadellosen Frackanzug, die blinkenden Lackschuhe, die wohlgestärkte Hemdbrust und die protzige Perle, die er in. der Krawatte trug. »Wer ist das?«, fragte er den Kellner, der, gutturale Klagetöne ausstoßend, herbeigeeilt war.

»Großer Herr Olui Hamenene! Oh, ganz tot?«, stöhnte er.

»Nur ein bisschen groggy! In zehn Minuten steht er wieder auf. Und wer ist der Herr Hamenene?«

»Reichster Mann in Papeete! Alle Vanille sein! Viel Perlenhandel. Mächtiger als ganzer Resident!«

»Reichtum verpflichtet! Dann soll er sich ein bisschen zivilisierter benehmen. Und was macht das Täubchen?« Er wandte sich an Bracke, an dessen Brust das Mädchen hing, das von einem hysterischen Weinkrampf befallen zu sein schien.

Viel war von der Schluchzenden noch nicht zu sehen, so eng hatte sie sich an den Mann gepresst. Zwei schlanke, fast dünne Arme, ein tizianroter Lockenschopf und eine nackte, perlweiße Schulter, mehr konnte der Pilot vorläufig nicht ausmachen. Sorgsam drängte jetzt Bracke das Mädchen in einen Stuhl und hielt die beiden Hände fest, die sich nervös öffneten und schlossen. Fast ein Kindergesicht, tränenüberströmt, mit einem kecken Stupsnäschen wurde jetzt sichtbar. Der Mund war ausdrucksvoll geformt, und kräftig wölbten sich die Lippen, die immer noch vor Schreck zitterten.

»Helfen Sie mir!«, bat die rührende Stimme zwischen dem Schluchzen. »Ach, helfen Sie mir doch!«

»Keine Bange, Kindchen!«, brummte Wiedensohl. »Immer mit der Ruhe!... Aha, da ist wohl der Chef des Hauses?«, wandte er sich einem verlegen lächelnden Manne zu, der sich jetzt in den Vordergrund schob. »Was hat der ganze Zauber eigentlich zu bedeuten?«

Er musste seine Frage auf Französisch wiederholen, ehe er verstanden wurde. Dann aber brach eine wahre Flut von Beschwörungen und Vorwürfen über ihn herein: »Sie haben Monsieur Hamenene doch hoffentlich keinen Schaden getan?... Ein Missverständnis alles! Nichts als ein großes Missverständnis, meine Herren! Diese Dame ist bei mir als Pianistin engagiert. Sie verstehen doch?... Und ihrer großen Kunst zu Ehren gab Herr Hamenene heute ein wirklich hervorragendes Souper. Er hat ihr dabei etwas stürmisch seine Verehrung zum Ausdruck gebracht. Sie fasste die Sache schief auf. Vielleicht ist sie die Glut südlicher Menschen noch nicht gewöhnt... Nur einen Kuss... was ist das schon?... nur einen Kuss wollte er von ihr haben. Nichts weiter! Da floh sie...«

Wiedensohl betrachtete das Gesicht des Burschen, den er zusammengeboxt hatte, und lachte fröhlich auf: »Hat anscheinend noch einen unverdorbenen Geschmack, das Mädchen. So eine Froschschnauze, da kann man schon davonlaufen!«

Das Mädchen hatte sich inzwischen einigermaßen gefasst: »Das war abgekartetes Spiel, Herr Barthelmy!«, rief es herüber. »Keinen Tag länger bleibe ich hier! Dieses Scheusal da verfolgt mich vom ersten Tag an, als ich hier mein Engagement antrat. Und Sie wollten sich einen dicken Kuppelpelz verdienen, Barthelmy!«

Der kleine Franzose war die hämische Liebenswürdigkeit selbst: »Mademoiselle Veith, Sie sind in meinem durchaus anständigen Lokal als Pianistin und Stimmungssängerin engagiert. Auf zwei Monate lautet der Vertrag. Vierzehn Tage sind erst vorüber. So ein kleiner Scherz berechtigt Sie nicht zum Kontraktbruch!«

Herr Hamenene schien wieder langsam zu sich zu kommen. Mit idiotischem Ausdruck hockte er auf den Matten und stöhnte einige Mal, ehe er die ersten Worte formen konnte: »Wenn sie nicht will, dann gib mir mein Geld zurück, Barthelmy!«

»Der Fall liegt klar!«, schnitt Bracke alle weiteren Diskussionen ab. »Herr hochehrenwerter Lokälchen-Besitzer, wollen Sie der Dame sofort ihre Effekten aushändigen, die fälligen Gelder auszahlen und... na, auf ein Zeugnis über Wohlverhalten und so weiter verzichten Sie wohl in Anbetracht der besonderen Umstände, Fräulein...«

»...Renate Veith!«, stellte sich die Schluchzende vor. »Helfen Sie mir bloß, damit ich hier herauskomme!«

»Wird gemacht!«, stellte Wiedensohl gelassen fest. »Also erst mal die Koffer...«

»Bitte! Bitte!« dienerte der Franzose. »Die Dame kann sofort mein Haus verlassen. Aber Zahlungen leiste ich nicht! Ich habe die Überfahrt von Batavia hierher getragen... Die Gage von vierzehn Tagen langt kaum, um diesen Betrag zu decken!«

»Behalten Sie Ihr dreckiges Geld!«, schrie Renate Veith. »Nur heraus hier aus dieser Spelunke!«

Eine halbe Stunde später standen die beiden Freunde mit ihrem neuen Schützling auf der Straße und stolperten durch die Finsternis auf ihr Hotel zu. Wiedensohl fragte unterwegs: »Wie kann so'n lüttes Mädchen eigentlich in so eine verflixte Situation geraten?«

Die Pianistin schien den Schrecken vollkommen überwunden zu haben: »Von wegen lüttem Mädchen! Ich habe meine 23 Jahre schon hinter mir!«

»Sieht man Ihnen aber nicht an!« neckte Bracke.

»Als Musikbeflissene muss ich eben ein gewisses ätherisches Äußeres haben!« verteidigte sich Renate Veith. »Außerdem waren meine Studienjahre mehr mit trockenem Brot als mit nahrhaftem Speck gesegnet. Und was ich bisher verdient habe, hat nur gelangt, um meine Schulden zu bezahlen.«

»Wie kommen Sie eigentlich hierher?«, wollte Wiedensohl wissen.

»Ich wollte die Welt sehen!«, antwortete Renate. »Für den großen Konzertsaal reichen meine Gaben nicht aus. Aber in guten Hotels und ersten Karawansereien sucht man solche Kräfte, wie ich mir einzubilden erlaube, eine zu sein. In Alexandrien, Colombo, Singapur und Batavia bin ich immer sehr anständig bezahlt und behandelt worden. Auf Java erhielt ich ein blendendes Angebot für Papeete. Denken Sie sich: die Südsee, das ewig blaue Meer, die frohen Naturkinder... musste das nicht locken?... Und so kam es eben, dass Sie mich erretten konnten!«

Etwas spöttisch klang der letzte Satz. Bracke ärgerte es, und er fragte: »Und was hätte das mutige Mädchen gemacht, wenn wir nicht gerade auf der Veranda gesessen hätten?«

»Ja, das weiß ich auch nicht! Jedenfalls aber habe ich doch durch meine Flucht zwei kühnen Meisterwerken der Schöpfung dazu verholfen, ihren Mannesmut zu zeigen. Und damit habe ich auch in Papeete des Guten genug getan. Wo bringen Sie mich denn eigentlich hin?«

»Zunächst einmal in unser Hotel zu Madame Brignard. Morgen wollen wir dann weiter sehen!«, bestimmte Bracke. »Was werden Sie tun? Für Ihre Fähigkeiten dürfte sich auf Tahiti kaum ein neues Tätigkeitsfeld finden.«

»Das wollen wir lieber dem kommenden Tag überlassen. Schief liege ich ja wieder einmal gehörig! Aber es ist noch immer jutjejange, jutjejange...!« sang sie plötzlich fröhlich. »Und was haben Sie hier zu suchen?«

»Wir gehören zur deutschen Solarexpedition, die in einigen Tagen die totale Sonnenfinsternis beobachten soll. Unser Chef wird sich wundern, was wir ihm da zu nachtschlafender Zeit ins Hotel bringen. Er ist manchmal etwas knurrig, der Professor Hegar...«

Bracke konnte seine Betrachtungen nicht weiter fortsetzen. »Hegar?«, schrie Renate Veith erschrocken auf und blieb stehen. »Albin Hegar aus Rönneberg?«

»Gerade der nämliche!« bestätigte Wiedensohl.

Energisch wandte sich Renate und packte nach den Koffern, die ihre beiden Helfer trugen. »Kehrt marsch! Mein braver Onkel Albin und seine verdorbene Nichte Renate? Der kriegt einen Kollaps, wenn er mich hier auf Tahiti wiedersieht.«

»Ach, Sie sind die Renate Veith?« feixte Bracke.

»Die bin ich! Die des Herrn Professors onkelige Unterstützung strikt abgelehnt hat, weil er meinem Vater nicht helfen wollte. Sie werden es verstehen, wenn Sie orientiert sind!«

»Sehr gut! Aber nun kommen Sie mit! Gerade jetzt! Denn Professor Hegar wird sich freuen, ein Missverständnis aufklären zu können, das beinahe eine schicksalhafte Tragödie heraufbeschworen hätte. Vorwärts, wir sind gleich in unserem Hotel!«

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Sie standen bereits davor. Mildes Licht drang durch die mit Insektengaze bespannten Fensteröffnungen. Es war das offizielle Unterkunftshaus des Residenten, das der deutschen Solarexpedition für die Zeit ihres Aufenthalts in Papeete zur Verfügung gestellt war. Im Speisesaal saß allein Madame Brignard, die das Unterkunftshaus zu betreuen hatte, bei einer Tasse starkem, süßem Kaffee und begrüßte die Eintretenden freundlich: »Monsieur le Professeur arbeitet noch auf seinem Zimmer. Er kommt aber dann zu einem Schwarzen noch herab«, sagte sie, während sie neugierig das Mädchen musterte.

»Fein! Er ist also in seinem Element und wird daher recht umgänglich sein!«, stellte Bracke fest. »Schwarzer Kaffee nach 24 Uhr, das bedeutet eine schlaflose, durcharbeitete Nacht. Wollen Sie mich auch mit genügend Koffein versorgen, Madame Brignard? Halt, vorher brauchen wir noch ein gutes Zimmer für Mademoiselle Renate Veith, eine Verwandte des Herrn Professors.«

»Aber sofort! Eine Überraschung für Herrn Hegar? Oh, er wird sich sicher sehr freuen!«

»Was ich zu bezweifeln wage!«, sagte Renate Veith. »Kaffee könnte ich auch eine ganze Kanne gebrauchen. Aber erst umziehen! Wenn mich mein Onkel in diesem ramponierten Gesellschaftsschwenker sieht, dann gibt es gleich in der ersten Minute ein heiliges Donnerwetter!«

Sie verschwand mit Madame Brignard durch die Hintertür. Wiedensohl hatte sich bereits eine Tasse vollgegossen, schob einen Würfel Zucker zwischen die Zähne und sog das belebende Getränk langsam durch die süße Masse. Rudolf Bracke ging unruhig im Raum auf und ab. »Sozusagen eine kleine Familientragödie, die da im Hintergrund schlummert?«, fragte der Pilot.

»Teils... teils! Eigentlich nur ein bürgerliches Schauspiel, aber jetzt wäre es ja beinahe zu einer Tragikomödie der Irrungen geworden. Waren Sie vor fünf Jahren mit bei der Expedition auf dem Kljutschewskaja Sopka?«

»Nein, Bracke! Ich arbeite erst seit vier Jahren mit Hegar zusammen. Wo liegt übrigens diese unaussprechliche Gegend?«

»Der Kljutschewskaja Sopka? In Kamtschatka, da ganz weit hinter Sibirien. Hegar beschäftigt sich doch immer sehr stark mit den Vulkangasen, weil er aus ihnen Näheres über den inneren Zustand der Erde und damit der Sonne erfahren will. Der Kljutschewskaja ist ein Riesenvulkan von über 4.800 Meter Höhe, erst in der jüngsten geschichtlichen Zeit entstanden. Ich erinnere mich mit Freuden dieser herrlichen Expedition. Es war meine erste, an der ich unter Hegars Leitung teilnahm. Von Nischne Kamtschatskoje aus hatten wir den Lava- und Tuffberg erklettert. Tage vergingen, ehe wir an dem Krater standen. Fast vier Wochen verblieben wir auf der luftigen Höhe. Einen kompletten Ausbruch mit Bombenhagel, Lapilliregen und Chlorwasserstoffgasangriffen konnten wir sogar miterleben. Mindestens tausend frische Lavaproben und mehr als zweitausend Gasanalysen gewannen wir...«

»Sagen Sie mal, Doktor, was hat der spuckende Feuerberg mit der hübschen Renate Veith zu tun?«

»Allerlei, lieber Wiedensohl, wie Sie gleich sehen werden. Damals geriet ihr Vater, der Schwager Hegars, in arge wirtschaftliche Bedrängnisse. Er war Großkaufmann, verspekulierte sich in irgendwelchen exotischen Dingen... Pfeffer war es, glaube ich... die Banken gaben keinen Kredit mehr... aus!... Bankrott!«

»Und warum half Hegar nicht? Er gehört doch wirklich nicht zu den armen Mitteleuropäern!«

»Weil er keine Ahnung von der ganzen bürgerlichen Tragödie hatte. Wir saßen auf dem Gipfel des Kljutschewskaja Sopka. Alle Wochen erhielten wir durch eine Trägerkolonne die nötigen Viktualien. Was in der Welt vorging, wussten wir nicht. Post erwartete uns erst in Nischne Kamtschatskoje. Und als wir nach sechs Wochen in das kleine Fischernest zurückkehrten, hatte der pflichteifrige Postmeister alle Sendungen wieder zurückgehen lassen, weil vom Gipfel des Kljutschewskaja noch nie ein Mensch lebend zurückgekehrt war. Auch die Telegramme. Alles lag sauber bei der Zentralstelle unserer Expedition, die ihre Zelte am Fuße des Fuji in Numaza, Insel Hondo, Japan, auf geschlagen hatte. Inzwischen war es Oktober geworden, das Beringmeer füllte sich mit Treibeis. Wir saßen in Nischne Kamtschatskoje fest und konnten erst gegen Weihnachten mit einem Flugzeug nach Wladiwostok gelangen. Anfang Februar etwa hielt der Professor die Hilferufe seines Schwagers in den Händen. Sofort kabelte er die nötigen Vollmachten an seine Bank. Doch der Tragödie erster Teil hatte sich bereits vollendet. Gilbert Veith war einem Herzschlag erlegen, das Geschäft liquidiert. Die einzige Tochter des Kaufmanns, die bereits in früher Kindheit ihre Mutter verloren hatte, war verschwunden. Hegar hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um seine Nichte wiederzufinden. Es gelang nicht. Und nun taucht das Mädchen hier in Papeete auf! Wie bringen wir das dem alten Herrn bloß schonend bei?«

»Doller Film!«, brummte Wiedensohl. »Eine Geschichte, als wenn sie Raabe erfunden hätte. Das Mädchen imponiert mir. Sich so einfach durch das Leben zu schlagen... das ist gar nicht so einfach!«

»Was ist nicht einfach?«, fragte eine raue Stimme vom Eingang her. »Morgen der Transport der Instrumente auf den Drohenu?«

In der Tür stand ein hochgewachsener grauköpfiger Mann. Sein Gesicht zeigte eine gesunde Röte. Ein ungepflegter Schnurrbart hing wirr über den breiten Mund. Tiefe Falten hatten sich auf der Stirn eingegraben. Kühl und abwägend musterten die großen grauen Augen Wiedensohl.

»Der Transport der Instrumente beunruhigt mich nicht, Herr Professor«, erwiderte der Pilot. »Bis fast 2.000 Meter Höhe führt eine gute Straße auf den alten Vulkan, genau bis an die große Scharte in der Kraterumwallung. Die Lastwagen habe ich schon gechartert. Nicht einfach... das bezog sich sozusagen auf eine Familienangelegenheit!«

Der Gelehrte war inzwischen nähergekommen. Mit einem behaglichen Seufzer ließ er sich in einen Sessel gleiten und kommandierte lakonisch: »Kaffee einschenken, Bracke! Familienangelegenheiten interessieren mich nicht. Eben noch einmal die angeforderten Spektrogramme geprüft. Kein Zweifel, Bracke: Ultraviolettschwingung der Sonnenstrahlung hat sich sehr verstärkt. D1-, D2- und E1-Linien treten nach allen Beobachtungen zurück; das heißt, die Teile des Sonnenlichts, die der Erde die meiste Wärme zuführen, strahlen schwächer. Dafür auffällig das starke Hervortreten der U-Linien, Ultraviolett, Wellenlänge 294,799 millionstel Millimeter, mehr als eine Billiarde Schwingungen in der Sekunde. Bestätigt aus den Messungen von Babelsberg, Genf, Nizza, Licksternwarte. Auch die Boyden-Station bei Arequipa kommt zu keinem anderen Ergebnis. Also Schlussfolgerung?«

»Chemische Einwirkung der kurzwelligen Strahlung auf die Erde wahrscheinlich.« Bracke sprach ebenso knapp wie der Professor. »Kohlensäure wird gespalten. Zunehmende Verarmung der irdischen Luft an CO2.«

»Kennt gut mein Steckenpferd, der Bracke!«, sagte Albin Hegar anerkennend. »Verlässlicher Denker! Schlussbeobachtungen oben auf dem Drohenu. Nochmals Kaffee!«

Er schob seinem Assistenten wieder die Tasse zu. »Noch mehr von dem Herzgift?«, fragte dieser erschrocken. »Sie müssen doch auch schlafen, Herr Professor!«

»Heute nicht! Haben auf dem Drohenu Zeit genug. Muss noch vierzig Spektrogramme vom Mount Hamilton auswerten. He, Madame Brignard, einen Kirsch, bitte!«

»Wir haben da eine Überraschung für Sie!«, ging Wiedensohl gerade auf sein Ziel los. »Sie werden wohl heute nicht mehr zum Arbeiten kommen...«

»Lächerlich! Solche Überraschungen vollkommen unerwünscht«, lehnte der Gelehrte die Anbahnung zu einem neuen Gesprächsthema ab. »Bracke, morgen früh gleich kabeln: Licksternwarte, Mount Hamilton: Sofort genaue Lage der Absorptionslinien der Gebiete U, K und H, möglichst auch G nach spektroskopischen Sonnenbeobachtungen der letzten Tage erwünscht... Verstanden?«

Doch Wiedensohl ließ nicht locker: »Wir haben nämlich heute für Sie etwas entdeckt, das Ihnen sicher große Freude machen wird.«

»Was? Kohlensäuregehalt der Atmosphäre hier betreffend?«

»Lassen Sie doch jetzt endlich einmal das verdammte Kohlendioxyd!« polterte der wuchtige Chefpilot lös. »Gibt es denn für Sie gar nichts anderes mehr auf der Welt?«

»Nein! Nur noch die Wissenschaft. Die verlangt Opfer! Hat schon einem... vielleicht zwei Menschen, die mir lieb waren, das Leben gekostet!«

»Das stimmt eben nicht, Herr Professor Hegar!« wetterte Wiedensohl dazwischen. »Bracke, Doktor, so helfen Sie mir doch! Wir haben Renate Veith gefunden!«

Mit einem Ruck schob der Gelehrte den schweren Tisch zurück und sprang auf. Sein Atem ging keuchend. »Scherze! Triviale Scherze! Renate ist nicht mehr aufzufinden. Alles versucht!«

»So? Dann dreh dich bitte einmal um, lieber Onkel!«, klang es vergnügt von der Eingangstür her. »Hier siehst du mich ohne Refraktor und Altazimut, wenn ich die Worte noch richtig aussprechen kann.«

Der grauhaarige Mann wandte sich rasch um. Er musste nach der Tischkante greifen, um nicht zu wanken. Ihm gegenüber stand das Mädchen Renate in blauem Rode und grauer Bluse und machte ein trotziges Gesicht, das aber immer weicher wurde, je länger es das fassungslose, freudige Staunen sah, das aus den Zügen Hegars sprach. Renate kam mit kleinen Schritten auf ihn zu, warf plötzlich beide Arme um seinen Hals und flüsterte, als sollten es die andern nicht hören: »Warum hast du uns damals nicht geholfen? Vater ist nun nicht mehr, und ich wäre auch beinahe vor die Hunde gegangen, böser Onkel Albin!«

Da lachte der Wissenschaftler laut auf und rief: »Immer noch diese unweibliche Ausdrucksweise, Renate? Wird Zeit, dass dich dein Onkel in strenge Zucht nimmt! Wo kommst du her?«

»Haben sie dir noch nichts erzählt? Ach, Onkel Albin, da muss ich ja so viel berichten. Aber erst Kaffee her, Madame Brignard. Schöner Saustall, aus dem ich ausgekratzt bin. Mutter Brignard hat mir erst berichtet, wozu Herr Barthelmy immer so nette frische Pianistinnen für sein Lokälchen verpflichtet. Sieh mal, Onkel, das kam so... Als du uns damals nicht geholfen hast...«

»Falsche Prämisse, Mädel! Ganz falsche! Bracke, erzählen Sie, warum wir keine Ahnung hatten! Schuld war allein der Kljutschewskaja Sopka.«

»Wer?«, fragte verwundert Renate Veith. »Was ist das für ein Monstrum?«

Es dauerte eine ganze Weile, ehe ihr Bracke die Umstände der verhängnisvollen Expedition dargelegt hatte.- Ein freudiges Strahlen trat in die Augen des Mädchens. »Dann habe ich dir also bitter Unrecht getan, Onkel Albin! Ach, und ich mir auch!...« Und unterbrochen von kleinen Schluchzpausen erzählte es seine Erlebnisse seit jenem schicksalsschweren Sommer vor fünf Jahren.

»Vater hatte sehr auf deine Hilfe gerechnet. Als sie nicht kam, grämte er sich so, dass sein schwaches Herz kränker und kränker wurde. Der schwere Weg, als er mit Justizrat Wolenius seinen Konkurs anmelden musste, hat ihn getötet. Mein mütterliches Erbteil wollten mir die Gläubiger belassen. Ich verzichtete darauf. Ganze tausend Mark hatte ich noch, als ich in die Schweiz ging. Pianistin wollte ich werden. Das Geld war bald alle. Die teuren Stunden, das Leben! Mit Geld hatte ich nicht umgehen gelernt. Auf einmal saß ich parterre...«

»Mädel, der Ausdruck!«

»Nicht schön, aber er stimmt! In Nizza trat ich in eine Musikband ein... Das erste selbstverdiente Geld! Wenn man sich auch die Nächte um die Ohren schlagen musste... am Tage konnte ich doch weiter Musik studieren. Dann sagte mir ein ehrlicher Lehrer, dass ich es nie zu einer großen Pianistin bringen würde. Schön, langte es nicht für den Konzertsaal, so musste es eben für einen besseren Schwoof reichen!«

»Wieder so...«

»...ein Ausdruck! Ich weiß schon. Du wirst dich noch an manche solcher Worte bei mir gewöhnen müssen, wenn du mich länger um dich haben willst. Mein nicht ganz pensionssauberes Mundwerk hat mir übrigens bisher nicht geschadet. Ich habe ein ganz hübsches Stück Welt gesehen, ohne Gouvernante und ohne Onkels Geldbeutel. Und es ist mir immer gutgegangen... in Kairo, in Alexandrien, in Colombo, in Singapur, sogar in Schanghai war ich drei Monate engagiert. Zuletzt in Batavia, bis ich auf dieses verdammte Papeete hereinfiel. Aber hier ist es ja auch nur beim Versuch geblieben, das können dir die beiden Helden da erzählen... und dann pump' mir das Geld für ein Ticket nach Batavia... schon bist du mich wieder los!

Der Professor sah voll Güte in ihre zornigen Augen. »Immer noch die wilde Hummel Renate! Bist doch ein ganzer Kerl geblieben und auch ein sauberer! Welt kannst du auch mit mir sehen. Du bleibst bei mir!«

»Als Haustöchterchen? Kommt gar nicht in Frage!«

»Wie du willst! Ich verpflichte dich auf der Stelle als... als... Was haben wir nach dem Haushaltsplan der Expedition noch für eine Stelle frei?«

»Materialverwalter!... Küchenchef!«, sagte Bracke lachend.

»Die Küche übernehme ich!«, rief Renate fröhlich. »Aus Sparsamkeitsgründen war ich meist Selbstversorger. Aus einer trockenen Semmel und einem Lot Kaffee kann ich ein herrliches Abendbrot machen.«

Wiedensohl schüttelte sich. »Lieber nicht! Bratkartoffeln ohne Fett! Rühreier ohne Speck! Aber eine weibliche Kraft brauchen wir wirklich, Herr Professor! Wieviel Knöpfe haben Sie noch an Ihrer Jacke? Bei mir sieht es auch nicht viel besser aus. Und das Ein- und Ausgangsbuch, die Durchschriften, die Kassenführung...«

»Himmel ein Bär! Ich soll wohl Universalfaktotum bei euch werden? Aber ich habe ja noch gar nicht gefragt. Was machst du eigentlich auf Tahiti?«

Nun war es an Professor Hegar zu berichten. Und er tat es mit einer Gründlichkeit, als halte er in Rönneberg eine seiner vielbewunderten Vorlesungen.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

»Ich muss direkt bei der Erschaffung der Erde anfangen«, so begann er, »um dich mit den letzten Schlussketten meiner Lebensarbeit vertraut zu machen. Bestätigt sollen sie mir hier bei der Beobachtung der totalen Sonnenfinsternis in acht Tagen oben auf dem Drohenu werden. Du stößt also auf einer wichtigen Etappe zu uns. Woraus sich die Luft zusammensetzt, das weißt du wohl noch?«

»Ungefähr, lieber Onkel. 21 Raumteile Sauerstoff und 79 Teile Stickstoff, wenn ich mich nicht irre.«

»Nun, das sind nur ziemlich grobe Annäherungswerte. Unsere atmosphärische Luft besteht bei 1.000 Millibar Druck aus einem Gasgemisch, das sich aus 20,9 Prozent Sauerstoff, 78,1 Prozent Stickstoff, Spuren der Edelgase Argon, Neon, Helium, Krypton und Xenon und 0,03 Prozent Kohlensäure zusammensetzt. Früher, als sich eben die Erdkruste gebildet hatte und der Wasserdampf sich als Wasser niederzuschlagen begann, war die Zusammensetzung eine ganz andere. Die Atmosphäre bestand aus Stickstoff, Wasserdampf, Kohlensäure, Wasserstoff und den schweren Giften Kohlenoxyd, Schwefeldioxyd, Zyan, vielleicht auch Chlorwasserstoff. Der Sauerstoff, der eigentliche Lebensträger, fehlte. Die schweren Giftgase wurden durch das Wasser gebunden, später im schwefelsauren Kalk, in den vielen Verwitterungsprodukten, die sich in den gewaltigen Meeresbecken absetzten, unschädlich gemacht. Keine Pflanze konnte vorläufig existieren, Tiere natürlich schon lange nicht.

Da half die Allmacht der Mutter Sonne. Aus uns unbekannten Gründen enthielt das Sonnenlicht damals eine große Menge sehr kurzwelliger Strahlen. Wie heißen doch gleich die Regenbogenfarben, Renate?«

Munter wie ein Schulmädchen, das seine Lektion gelernt hat, schnurrte sie herunter: »Rot, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Dunkelblau, Violett!«

»Für einen Laien ganz gut!« freute sich der Professor. »Wir Wissenschaftler aber unterscheiden im Spektrum der Sonne einige Farben mehr: Infrarot, Rot 1, Rot 2, Orange, Gelb 1, Gelb 2, Grün 1, Grün 2, Blaugrün, Indigo, Violett, Ultraviolett. Der geniale Joséf von Fraunhofer entdeckte im Sonnenspektrum die Fraunhofer'schen Linien, dunkle Schattenstriche von einer schier unzählbaren Menge. Um ihr Auftauchen genau festzulegen, wurde das Spektralband in die Gebiete A, B, C, D1, D2, E1, E2, F, G, H, K, U eingeteilt. A entspricht dann Rot, U dem Ultraviolett. Eine Lichtwelle aus dem Gebiet A hat die Länge von 759,360 Millimikron. Ein Millimikron ist gleich... Nun, Renate?«

»Keine Ahnung!«, sagte das Mädchen. Bracke flüsterte ihr vernehmbar zu: »...gleich einem millionstel Millimeter!«

»Blasen Sie ihr nichts ein, Bracke!« schalt Hegar. »Aber es stimmt: ein Millimikron ist ein millionstel Millimeter. Ein Lichtstrahl aus dem Gebiet A schwingt 392billionenmal in der Sekunde, in der ersten Zone des Violettlichtes dagegen schon mehr als 750billionenmal. Eine Wellenlänge ist dort 393,380 Millimikron lang. Die entsprechenden Zahlen für das Gebiet U lauten 1.010 Billionen und 294,799 Millimikron. Manchmal aber ist die Lichtschwingung noch kurzwelliger, und damit erlangen diese Lichtwellen eine gewaltige Aktivität gegenüber der Kohlensäure. Wo kommt CO2, einfach: Kohlensäure, vor?«

»Im Selterswasser, Bier, Sekt...«

»Kleine Naschkatze! Aber richtig. Ferner in den Abgasen der Essen, wir atmen sie dauernd aus, bei jeder Verbrennung und Verwesung bildet sich das Gas, auch bei der Gärung. Hunderttausende von kohlensauren Quellen speien es in die Atmosphäre, und ganz unvorstellbare Mengen liefern endlich die Vulkanschlote. Aus den letzten beiden vorkommen stammten damals bei der Erdfestwerdung die ungeheuren Massen, die die irdische Atmosphäre erfüllten. Hier setzte nun die chemische Aktivität der kurzwelligen Sonnenstrahlung ein. Daniel Berthelot glückte es, experimentell das Verhalten der Kohlensäure gegenüber ultraviolettem Licht darzustellen. Sie löste sich einfach in ihre chemischen Elemente auf, also in einem Teil Kohlenstoff und zwei Teile Sauerstoff. So spendete die Allmutter Sonne der irdischen Atmosphäre die erste Lebensluft, den Sauerstoff. Nun konnten sich die Anfänge der Pflanzenwelt entwickeln, und seitdem wurde immer mehr Kohlensäure durch die Tätigkeit der Pflanzen in Sauerstoff und Kohlenstoff verwandelt. Dazu ist immer noch das Sonnenlicht notwendig; denn nur unter dessen Einwirkung können die Blattgrünkörner, die Chlorophyllkörperchen, die Aufspaltung vornehmen. Jetzt enthält die Atmosphäre nur noch drei hundertstel Prozent des geheimnisvollen Giftstoffes...«

»Sehr interessant!«, sagte Renate. »Aber, lieber Onkel, was haben diese chemisch-biologischen Überlegungen eigentlich mit Sternkunde, mit Sonnenfinsternissen und Solarexpeditionen zu tun?«

Hegar schlug sich vergnügt auf die Schenkel und rief: »Großartig, Mädchen! Genauso wie meine Herren Fachkollegen, die mir immer wieder denselben Vorwurf machen. Mein Kind, wenn man den Kosmos erforschen will, muss man sich um alle Lebensgesetze des Alls kümmern. Wissen und Vorhersehen! Das ist das letzte Ziel der Gelehrsamkeit. Wo waren wir doch stehengeblieben?«

»Die Atmosphäre enthält 0,03 Prozent Kohlensäure«, ergänzte Renate Veith.

»Du merkst auf, liebe Nichte! Also, ich fahre fort. Dieser Anteil des CO2 hat sich durch die Jahrtausende konstant gehalten, obgleich ungeheure Mengen des Kohlendioxyds durch die Verwitterung verbraucht werden, ferner die Korallentiere in den gewaltigen Riffen Millionen von Tonnen des lebenswichtigen Gases gebunden haben. Doch hat es auch schon Zeiten gegeben, wo der Anteil der Kohlensäure wuchs. Dann wurde das irdische Klima wärmer. Das geschah in der Steinkohlenzeit und am Anfang der tertiären Zeitperiode, immer dann, wenn eine Periode größter vulkanischer Tätigkeit Riesenmengen der Kohlensäure aus dem Erdinnern frei machte. Verarmte aber die Luft an diesem Zauberstoff, dann sank die irdische Temperatur. Schon ein Zurückgehen auf die Hälfte der Beimischung, also auf 0,015 Prozent, würde die durchschnittliche Jahrestemperatur, die jetzt, bezogen auf den ganzen Erdball, plus 16 Grad Celsius beträgt, um etwa 6 Grad herabsetzen. Das genügt, um der Erde eine neue Eiszeit zu bescheren. Es würde eine Weltkatastrophe bedeuten, wenn die Gletscherzungen vom Montblanc Genf berühren würden oder die der Hohen Tauern Salzburg verschluckten; wenn Skandinavien sich wieder in einen eisgepanzerten Schild verwandeln würde und über die Belte und den Sund die Lappen ihre Herden nach Jütland treiben könnten. Europa, das Herz der abendländischen Kultur, begänne matter und matter zu schlagen. Millionen müssten ihre Heimstätten verlassen... Mein Intellekt sträubt sich einfach dagegen, die Konsequenzen einer Niedertracht unserer Solarwirkungen anzuerkennen. Aber Sehen und Vorhersehen!... Was wollten Sie sagen, Bracke?«

»Nichts! Oder vielmehr, dass die Uhr bereits 2 Uhr morgens Ortszeit zeigt...«

»Lassen Sie das Pendel weiter seinen Gang gehen! Heute, nachdem eine so große Freude einige Muren von meiner verschütteten Seele weggeräumt hat...« er verbeugte sich unbeholfen gegen seine Nichte... »heute will ich einmal vorbesehen, liebe Gefährten! Seit Jahren beobachten alle Sonnenforschungsstellen eine zunehmende Tätigkeit der Sonnenenergien. Immer neue Linien im Ultravioletten des Spektrums tauchen auf. Immer kurzwelliger wird die Aktivstrahlung der Sonne. Ich sehe den Zeitpunkt kommen, wo der Kohlensäurevorrat der irdischen Atmosphäre durch die gefährlichen Billiardenschwinger zersetzt wird, wo sich der geheimnisvolle Lebensstoff in giftiges Kohlenoxyd und Sauerstoff auflöst, wo die Temperatur sinkt und wir eine neue Eiszeit erleben. Wir noch, Freunde! Die nächste Woche, die Ergebnisse der Sonnenfinsternis-Beobachtungen, werden entweder meine Ängste ad absurdum führen oder sie bestätigen. Dann aber, wenn das letztere der Fall ist, muss der Erdenbewohner beweisen, ob er das hohe Prädikat des alten Weisen verdient: Nichts ist gewaltiger als der Mensch!...«

Er schwieg plötzlich versonnen. Renate griff impulsiv nach seinen beiden Händen und sagte leise: »Du musst nicht so viel sinnieren! Es kommt ja doch, wie es muss!«

Da zerbrach die wehmütige Stimmung des Gelehrten in einem lauten:

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Rudolf H. Daumann/Apex-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Rudolf H. Daumann.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4492-3

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