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Leseprobe

 

 

 

 

 

RAYMOND GILES

 

Die Nacht der Vampire

 

 

 

 

Roman

 

 

Apex Horror, Band 63

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

DIE NACHT DER VAMPIRE 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

 

Das Buch

 

Sie hatten gehofft, das Gelübde, das sie vor so vielen Jahren abgelegt hatten, sei vergessen. War es damals doch nur ein Teil eines frühreif-kindlichen, wenn auch gespenstischen Spiels gewesen.

Vor dreizehn Jahren hatten sie sich dem Satan verschrieben. Und jetzt forderte ihr teuflischer Meister seinen Tribut, der in grausamer Rache enden und das Spiel ihrer Kindheit in die schreckensvolle Nacht der Vampire verwandeln sollte...

 

Der Roman Die Nacht der Vampire des US-amerikanischen Autors Raymond Giles (erstmals im Jahr 1969 veröffentlicht) gilt als Klassiker des Vampir- und Werwolf-Horrors und erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX HORROR. 

DIE NACHT DER VAMPIRE

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Als Altar diente ein halbfertiger, umgestülpter Sarg auf zwei Holzböcken. Rechts flackerte eine herabgebrannte Kerze. Links lag das Buch der Schatten auf dem Sockel. Ein Räucherbecken und ein Wasserwedel voll Jauche vervollständigten die Ausstattung. Dazwischen waren dreizehn silberne Messer aufgereiht. In der Mitte des Altars stand ein offenes Tabernakel samt Kelch und Hostienteller, obenauf die schwarze Skulptur einer Fledermaus, die sich auf ihre gefalteten Flügel stützte. Aus ihrem Schädel ragten Teufelshörner.

Ein schmaler Zwischenraum trennte den Altar von der Wand mit dem großen Bleiglasfenster. An manchen Stellen drang milder Sternenschimmer durch die bunten Butzenscheiben. Das matte, gelb flackernde Licht der Altarkerze erreichte kaum die dreizehn Gestalten, die im Halbkreis vor dem Altar saßen.

Der Dreizehnte im purpurnen Kapuzenmantel saß dem Altar unmittelbar gegenüber. Links und rechts schlossen sich je sechs Gestalten im Viertelkreis an ihn an. Alle waren schwarz vermummt und hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Nur das Funkeln ihrer Augen war zu sehen. Keiner sprach ein Wort. Keiner regte sich.

Die Stille des Todes hing im Raum. Und doch schwang ein heimliches, pulsierendes, anschwellendes Zittern durch diese Stille. Es strömte von der purpurroten Gestalt zum Altar und strahlte von dort auf die zwölf schwarzen Kapuzenmänner zurück. Es kreiste durch den Raum, schwoll an, schmiedete sie an den Altar und verschmolz sie zu einem einzigen geballten Willen.

Komm zurück!, befahl das gemeinsame Denken. Komm zurück nach Sanscoeur...! 

Komm zurück!, lockte es, komm zurück, komm zurück, komm zurück... 

Die Schwingung verebbte. Die Glut im faulig riechenden Räucherbecken glomm rot auf.

Die Minuten verstrichen.

Endlich bewegte sich die Gestalt im Purpurmantel. Der Dreizehnte erhob sich und trat auf schmalen, nackten Sohlen mit drei Schritten an den Altar heran. Mit schriller, angespannter Stimme stöhnte er: »Bring sie zurück!«

»Bring sie zurück, oh, Höllenfürst!«, ächzten die Zwölf.

»Liefere sie unseren Händen aus!«

»Unseren Händen, oh, Höllenfürst!«

»Liefere sie unseren Zähnen aus!«

»Unseren Zähnen, oh, Höllenfürst!«

»Liefere sie unseren Zungen aus!«

»Unseren Zungen, oh, Höllenfürst!«

»Auf dass sich deine Diener die Bäuche mit dem Blute jener vollschlagen können, die dir abtrünnig wurden!«

»Mit dem Blut der Abtrünnigen, oh, Höllenfürst!«

Der Dreizehnte krümmte sich wie unter Schmerzen zusammen. Wieder herrschte tödliches Schweigen. Nur das bisweilen heftige, aber unterdrückte Schluchzen des Dreizehnten zerriss die Stille. Die Kapuzenmänner verharrten unbeweglich wie die Statue des Fledermausteufels auf dem Tabernakel.

Wieder löschte die unheimliche Schwingung jede Individualität aus und schmolz die Vermummten zu einer Einheit zusammen. Gleich einem mächtigen, unhörbaren Herzklopfen zitterte sie durch den Raum.

»Komm zurück!«, flüsterte der Dreizehnte leidenschaftlich.

»Zurück nach Sanscoeur!«

Die schwarzen Zwölf erhoben sich von ihren Stühlen. Gekrümmt vor Anspannung, zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelnd, stolperten sie zum Altar. Einige fielen auf die Knie.

»Komm zurück! Komm zurück nach Sanscoeur! Komm zurück. Komm zurück, komm zurück!«

Drohend und demütig flehend hoben sie die Hände. Der Chor entartete in eine schrill heulende Kakophonie. Sie bettelten und beschworen, lockten und befahlen. Mit ihnen schien noch eine andere Stimme zu sprechen. Sie kam aus der Zimmermitte und gleichzeitig aus weiter Ferne. Lautlos sagte sie: »Komm zurück, komm zurück! Komm zurück nach Sanscoeur!« 

 

»Komm zurück!«

Duffy Johnson folgte dem Ruf. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Ob der Ruf aus seinem Kopf kam oder von der Straße zu ihm drang, wüsste er nicht. Er wusste nur, dass er unwiderstehlich war.

»Nicht, Duffy«, hörte er Roxanne sagen.

Sie hatte recht. Er wusste, dass Grauen und Tod ihn erwarteten. Und doch war er in letzter Zeit immer wieder dem Ruf gefolgt.

»Fahren wir heim, Duffy«, schluchzte Roxanne.

»Wir sind daheim«, hörte er sich sagen. »Daheim in Sanscoeurville.«

»Nein, Duffy, nein!«

Roxanne folgte ihm nach. Sie klammerte sich an seine Hand und hielt ihn zurück. Er spürte keinen Boden unter den Füßen. Ihm war, als ob er schwebte. Kein einziger Stern schimmerte am tintenschwarzen Himmel. Trotzdem erkannte er die Bäume des kleinen Parks genau, den sie durchquerten, mit der Bibliothek auf der einen Seite und dem Ausgang zur Hauptstraße auf der anderen. Er sah alles so deutlich wie am helllichten Tag.

»Komm zurück!«

Er schleppte Roxanne hinter sich her durch den Park. Verschwommen begriff er, dass ihn ein Alptraum gefangen hielt. Als Psychiater betrachtete er Träume gewöhnlich als Freunde und nicht als Feinde. Aber seine kalte Angst spottete jeder vernünftigen Überlegung. Er fühlte sich in den Schlund eines mächtigen Untiers gezogen. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, und die üble Ausdünstung seiner Furcht schnürte ihm die Luft ab.

Weshalb nur diese Furcht? Zwar hatte weder er noch Roxanne jemals den Wunsch gehabt, nach Sanscoeurville zurückzukehren, aber dass es dort etwas zum Fürchten geben könnte, hatte er nie gewusst oder sich nie eingestanden. Oder hatte er es in seinem tiefsten Inneren doch geahnt? Hatte er vielleicht in all den Jahren, seit er Sanscoeurville verlassen hatte, diesen Ruf erwartet? Durch sein Gehirn spukten die Worte, die er vor dreizehn Jahren gesprochen hatte:

»Der Teufel kennt kein Pardon!«

Die Erinnerung löste eiskaltes Entsetzen in ihm aus. Aber die Schwüre von einst konnten kein Gewicht mehr haben. Sie waren bei einem makabren Spiel gesprochen worden. Zugegeben, es war ein kindisches, verwerfliches und schmutziges Spiel gewesen, aber eben doch nur ein Spiel. Seit Jahren hatte er nicht mehr an diese Schwüre gedacht. Und jetzt sollte er dafür bezahlen? Lächerlich. Oder sollte das Entsetzliche...?

»Komm zurück!«

Wie hypnotisiert ging er weiter. Wieder hatte er das Gefühl, von einem nächtlichen Ungeheuer verschlungen zu werden. Die Straße war eine Asphaltzunge, die Häuser links, und rechts die Zähne. Er und Roxanne würden zermalmt und verschluckt werden. Sie mussten für alle Zeiten in einer unvorstellbaren Hölle verschwinden. Und er war unfähig, diesem Schicksal auszuweichen. Er musste blindlings diesem Ruf folgen.

»Komm! Komm!«

Sie waren am Ende des bescheidenen Geschäftsviertels angelangt. Vor ihnen gähnte schwarze Leere. Nie zuvor war eine Nacht so undurchdringlich gewesen. Roxanne grub Duffy die Nägel in die Hand und bettelte weinend: »Geh nicht weiter! Geh nicht weiter! Bitte, Duffy, kehren wir um!«

»Unmöglich.«

»Doch. Wir hätten gar nicht erst nach Sanscoeurville fahren dürfen! Wir müssen abreisen und dürfen niemals wiederkommen!«

»Aber sie rufen mich, Roxanne...«, ächzte er.

»Ich weiß es! Hör nicht hin, Duffy! Verschließe deine Augen, deine Gedanken!«

»Ich kann nicht! Ich muss weiter...«

Und dann sahen sie, wohin es ihn zog.

Er blickte nach Süden und sah Sanscoeur in dem schwarzen Schlund liegen. Er musste über die Stadt und den Wald und über den Teich von Sanscoeur blicken, und dennoch sah er das Haus so deutlich, als stünde er dicht davor. Er sah die dicken Säulen und die mächtige Flügeltür, er sah jeden Ziegel, jeden Stein, die hohen Türmchen und Giebel und die unbeleuchteten Fenster.

Sanscoeur.

Wie ein Ungeheuer erhob es sich aus dem Schoß der Erde, eine scheußliche Ausgeburt, die sich an Blut und Seele mästen wollte. Wen er nach Sanscoeur ging, war er bestimmt verloren.

Aber er tat, was er tun musste.

»Nein!«, schrie Roxanne bei seinem ersten Schritt. Sie riss so heftig an seiner Hand, dass er herumgedreht wurde und beinahe in die Knie ging.

Er betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal. Erst jetzt ging ihm die tiefere Bedeutung ihres Aussehens auf. Ihr dunkles Haar erinnerte ihn an einen dichten Pelz. Ihre Pupillen schimmerten rötlich, und ihre schrägen Augenbrauen wuchsen in der Mitte fast zusammen. Mittelfinger und Ringfinger ihrer Hände waren gleich lang, und ihre Nägel, die sich in sein Fleisch gruben, dick und blutrot. In ihrem zum Protest geöffneten roten Mund schimmerten scharfe Zähne.

Entsetzt und ungläubig starrte er sie cm. Er hatte gedacht, dass das Grauen vor ihm läge, und nicht hinter ihm. Aber was er hier sah, war bedeutend schlimmer als alles andere. Das war Roxanne, die Frau, die er geliebt und geheiratet hatte. Jetzt begriff er, dass sie gar keine Frau war, sondern ein satanisches Wesen, das kein Recht hatte, überhaupt auf Erden zu existieren.

Wieso habe ich diese Zusammenhänge nicht früher erkannt? dachte er verzweifelt. Roxanne war immerhin der letzte Sproß der Sanscoeurs.

 

»Komm!«

Wie ein überraschender Nadelstich bohrte sich das Wort in ihr Gehirn. Es war ohne jeden Anlass aus dem Nichts aufgetaucht. Vermutlich war es aus ihrem Unterbewusstsein aufgestiegen wie eine Luftblase aus den Tiefen eines dunklen Teichs.

Bonnie Wallace schüttelte ihre rotgoldenen Locken und schob das Wort achtlos beiseite.

»Bonnie!«, rief Rodney aus der Küche.

Sie gab keine Antwort. Am Abend hatte sich eine unerklärliche Schwermut über sie gesenkt, und sie wünschte, sie hätte Kopfschmerzen vorgeschützt und wäre daheim geblieben. Sie war durchaus nicht in der Stimmung für Rodneys Gäste. Die ersten Besucher würden in Kürze erscheinen, durchwegs mondäne, elegante Leute, mit denen er sich dauernd umgab. Und sie als Gastgeberin stand natürlich im Blickpunkt.

Sie kannte diese Snobs bis zum Überdruss!

Sie trat an ein offenes Fenster. Ausnahmsweise war die Luft über San Francisco klar und bot ihr einen schönen Rundblick auf die weit ausgedehnte Stadt, auf eine der Brücken und auf die Bucht.

Wie war sie eigentlich hier gelandet?, fragte sie sich.

Die Antwort war ganz einfach und ergab sich rückblickend von selbst. Zu Hause hatte sie nichts gegolten. Sie war nichts weiter als das schöne Mädchen gewesen, das jeder haben konnte. Deshalb hatte sie vor dreizehn Jahren ihre Heimatstadt verlassen, um ein ganz großer Filmstar zu werden. Natürlich war ihr das nicht gelungen, obwohl sie mit vielen einflussreichen Männern geschlafen hatte. Und natürlich hatte sie dann eben rasch geheiratet.

Die Ehe war kein Erfolg gewesen - oder doch? Zu ihrem Glück hatte Bonnies sehr reicher Mann ihr nach zweijähriger Ehe eine beachtliche Summe zuerkannt, von deren Zinsen sie leben konnte.

Ein Jahr später hatte sie wieder geheiratet. Diese Ehe hielt fast drei Jahre lang. Dann war ihr Mann mit dem Auto tödlich verunglückt. Seit damals hielten manche Leute sie für vermögend.

Nach einem Jahr hatte sie nochmals geheiratet und ihren dritten Mann nach achtzehn Monaten verlassen. Dreimal verheiratet, zweimal geschieden, einmal verwitwet; und mit jeder Ehe war sie reicher geworden.

Weshalb nur fühlte sie sich so niedergeschlagen? Mit ihren dreißig Jahren sah sie aus wie eine Fünfundzwanzigjährige. Aller Voraussicht nach würde sie noch jahrelang eine Schönheit bleiben und selbst später noch lange Zeit hübsch und anziehend sein. Und sie hatte ihr Leben genossen. Sie war in Rennwagen durch Europa gebraust, mit Düsenmaschinen in den Orient geflogen und auf griechischen Jachten durchs Mittelmeer gekreuzt. Und sie hatte geliebt, wenn man das so nennen konnte. Jeder ihrer Ehemänner hatte zumindest ab und zu Verständnis für ihre ausgefallenen Wünsche gezeigt und zwischen den einzelnen Ehen... na ja.

»Komm!«

Wie eine Flamme brannte sich das Wort in ihr Denken ein.

Aber wohin sollte sie kommen? Und zu wem?

»Bonnie!«

Sie drehte sich um. Rodney stand neben ihr. Auf seine blonde, jungenhafte Art sah er sehr gut aus. Er reichte ihr ein Glas Whisky.

»Ich rief dich, aber du hast nicht geantwortet. Geistesabwesend?«

»Wird wohl so sein.«

»Was ist los mit dir, Bon?«

»Wie? Ach nichts.« Sie hasste es, Bon genannt zu werden.

»Warum zuckst du so heftig zusammen?«

»Mir ist kalt! Kein Wunder, in diesem dünnen Fähnchen.«

»Aber es ist sehr warm, Liebes...«

Sie hörte ihm nicht zu. Unbändige Sehnsucht, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr empfunden hatte, stieg plötzlich in ihr auf.

Rodney zog sie in die Arme. »Bonnie... Herzchen...«

Ihre Sehnsucht verwandelte sich augenblicklich in Entsetzen. Natürlich konnte sie nie mehr nach Sanscoeur zurück und verspürte auch nicht das leiseste Verlangen danach! Angenommen, jemand hatte erfahren, was sie damals getrieben hatten - obwohl sie seitdem auch nicht gerade als Unschuldsengel gelebt hatte. Die perversen Spiele von einst ließen sich vielleicht damit entschuldigen, dass sie noch ein halbes Kind gewesen war. Trotzdem wollte sie um nichts in der Welt jemanden treffen, der davon wusste.

 

»Komm zurück!«

Zachary Hale lag auf dem Bett, rauchte eine orientalische Zigarette und lächelte.

Und lauschte.

Er vernahm den Ruf ganz deutlich, der ihn vor zwei Stunden aus dem Schlaf gerissen hatte.

»Komm! Komm zurück nach Sanscoeur!«

Nach Sanscoeur oder nach Sanscoeurville? Er konnte es nicht sagen. Vielleicht war das nicht so wichtig, aber manchmal erwiesen sich genau diese feinen Unterschiede als wesentlich. Er wusste das am besten. In den Augen der Welt war er ein noch junger, ungemein erfolgreicher Architekt. Parallel dazu aber verlief seine zweite Karriere, zu der diese seltsamen Beschwörungen passten.

Er lächelte, war aber viel zu klug, um sich selbst zu verheimlichen, dass er Angst hatte. Reglos lag er in seinem weißen Pyjama da, rauchte, beobachtete das Morgenrot, das durch sein Fenster kroch, lauschte und dachte nach.

Vor dreizehn Jahren hatte er gewisse Eide abgelegt. Zwar war es dabei ziemlich kindisch und dilettantisch zugegangen, aber immerhin waren es bindende Schwüre gewesen. Dreizehn Jahre lang hatte er versucht, diese Fesseln zu sprengen. Dreizehn Jahre lang hatte er gehofft und geglaubt, es sei gelungen, seine Seele freizukaufen.

Jetzt war er sich dessen nicht mehr ganz so sicher.

Er dachte an die anderen. Ob sie den Ruf ebenfalls vernommen hatten? Waren sie in jüngster Zeit von halbvergessenen Träumen geplagt worden? Hoffentlich nicht. Er wünschte ihnen alles Gute. Vermutlich hatten seine damaligen Freunde längst jedes Interesse an der schwarzen Magie verloren. Er war wohl der einzige, der sich unablässig bemühte, sie alle vor der Verdammnis zu bewahren. Wenn auch die anderen den Ruf nach Sanscoeurville hörten, dann waren sie wehrlos.

Der Gedanke machte ihn nervös, und er stand auf. Er war mager und drahtig, dunkel und nicht groß. Er ging zum Fenster und blickte auf die Place Vendome hinab. Der Frühnebel lag über Paris. Er lauschte dem Straßenlärm und starrte die Säule in der Mitte des Platzes an.

»Komm zurück!«

Der Ruf drang von einer abgelegenen Kleinstadt im Staate New York über Tausende von Meilen zu ihm. Im Augenblick lag die Gefahr in weiter Ferne und konnte ihm nichts anhaben. Aber er war noch nie vor dem Bösen geflohen, sondern hatte es mit seinen eigenen magischen Künsten bekämpft. So mancher Hexer, Magier und Dämon hatte gelernt, ihn zu fürchten.

Trotzdem hatte er jetzt Angst wie selten zuvor.

Dieser Ruf galt ihm persönlich. Wich er ihm aus Feigheit aus, dann fand ihn der nächste Ruf umso schwächer und ängstlicher vor. Nichts bewies, dass jene Schwüre, die er und andere vor dreizehn Jahren abgelegt hatten, hinter dieser magischen Beschwörung standen. Sollte es aber doch der Fall sein, dann würde er erst wieder Ruhe finden, wenn er diesem Ruf folgte.

Präsentierte die Vergangenheit ihm die Rechnung, dann erging es jenen fünf Leuten, an die er eben erst gedacht hatte, bestimmt nicht anders. Im Gegensatz zu ihm waren sie jedoch unfähig, sich abzuschirmen. Die Verteidigung war seine Aufgabe, denn er hatte sie damals dazu angespornt, jene verfluchten Schwüre zu leisten.

Ja, er hatte eine Verpflichtung.

»Komm zurück!«

»Ich komme!«, sagte er laut.

 

Ein letztes Mal flackerte die Kerze auf und erlosch. Es roch nach heißem Wachs. Das Licht hinter den bunten Fensterscheiben vertiefte sich, reichte aber nur bis zum Altar mit der Skulptur des schwarzen Fledermausteufels. Aus dem Räucherbecken stieg schwacher Geruch auf.

Die Dreizehn hatten sich in den Schatten ihrer Mäntel und Kapuzen zurückgezogen. Links und rechts von dem purpurrot bekleideten Dreizehnten saßen je sechs reglose, schwarze Gestalten. Wieder waren eine Beschwörung und eine schwarze Messe beendet. Sobald wieder sieben oder mehr Sektierer zusammentrafen, würden die Riten wiederholt werden, bis sie endlich den gewünschten Erfolg erbracht hatten. Im Augenblick aber mussten sie zum Aufbruch rüsten.

Dazu bedurfte es einer stummen Vereinigung mit den Mächten der Unterwelt. Vorher war noch eine kurze Sammlung nach der Teufelsanbetung und den bösen Wünschen nötig, auf die sie alle Kraft konzentriert hatten. Reglos wie Bildwerke aus schwarzem oder rotem Stein hockten die verstummten Gestalten vor dem Altar.

Plötzlich durchrieselte jeden einzelnen neue Kraft, als hätte der Teufel selbst ihn an der Schulter berührt. Den Anfang machte der Dreizehnte. Die scharlachrote Gestalt erhob sich und stieß einen lauten Seufzer aus. Ein verhülltes Haupt nach dem anderen hob sich. Nackte Sohlen schlurften über den Boden.

Der Dreizehnte ging zum Altar. Sein linker Nachbar folgte ihm, dann der rechte Nachbar; nach und nach bildeten sie eine Reihe. Sie zogen eine volle Runde um den Altar. Dann ging der Dreizehnte zum Fenster voran. Die anderen drängelten hinterher.

Einer löste den Riegel in der Mitte des Fensters. Zwei andere stemmten die beiden Fensterflügel weit auf. Der Himmel schimmerte im Licht von Mond und Sternen. Frische Luft drang in den Raum und vertrieb den Pesthauch.

Der Dreizehnte bückte sich und hob den schmalen, nackten Fuß auf das Fensterbrett.

Die purpurne Gestalt schrumpfte zusammen und beugte sich vor, als wollte sie aus dem Fenster stürzen. Gleichzeitig hoben sich die seitlichen Falten des Mantels wie mächtige Schwingen. Sie falteten und spreizten sich wie Flügel. Dabei wurde der Rumpf immer kleiner. Dann waren die Schwingen geschlossen, der Mantel fiel ab, und im selben Augenblick stürzte ein dunkles Etwas aus dem Fenster.

Im freien Fall breitete es Flügel aus dünner Haut aus, die sich zwischen dem pelzigen Leib und den Armen und Fingern spannten. Sie blähten sich in der Luft, während das Wesen aus dem höchsten Fenster des Hauses fiel. Im Sturzflug schoss es zur Erde und streifte beinahe den Boden. Dann schwebte es nach oben, segelte über die Baumkronen hinweg, kreiste durch die Nacht und stieß dabei einen pfeifenden Triumphschrei aus.

Die anderen folgten. Auch sie stürzten sich aus dem Fenster, entfalteten die Schwingen, bis schließlich alle zwölf dem Dreizehnten gefolgt waren. Höher und immer höher flogen sie, über den Turm hinweg und tief hinein ins Gefunkel der Sterne. Ihre schnarrenden Stimmen und ihr ersticktes, satanisches Gelächter zerrissen die Nacht.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Blutwitterung.

Frisch und voll und salzig setzte sie sich in ihrer Nase fest, zauberte ihr den Geschmack auf die Zunge und rief einen unstillbaren Durst hervor, bis ihre Kinnbacken knirschend nach einem Mahl verlangten, das warm und roh und unaussprechlich war.

Roxanne stöhnte laut auf und rollte sich an die Bettkante. Sie vergrub die Finger im Kissen und biss fest in den Stoff. Dieses leidenschaftliche Verlangen stellte jedes andere Gefühl in den Schatten. Es war stürmischer als ihre Liebe zu Duffy. Nichts glich diesem wahnwitzigen Hunger, zu dem sie verdammt war.

Er überfiel sie mindestens einmal im Monat und hielt manchmal eine volle Woche an. Zeitweise war er zu vage, um Hunger genannt zu werden. Dafür dauerte er dann umso länger und quälte sie wie ein ständiges heimliches Leiden. Sie hatte alles versucht, um sich davon zu kurieren - Alkohol, Sex, Psychotherapie, sogar Drogen, die Duffy ihr bewilligt hatte. Aber nichts hatte geholfen.

Der Hunger hatte ihre Ehe untergraben.

Sie wimmerte im Dunkeln. Halb hoffte sie, Duffy könnte es hören, halb fürchtete sie es. Er hatte ihr aufgetragen, ihn sofort zu wecken, wenn der Hunger sie nachts überfiel. Jetzt sehnte sie sich nach Hilfe, aber was konnte er für sie tun? Er würde ihr gut Zureden und ihr ein Schlafmittel reichen und vergebens versuchen, sich die Verzweiflung nicht anmerken zu lassen, die sich bei jeder Wiederholung dieser Szene vertiefte.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf.

Himmel, wie sie Duffy hasste!

Das stimmte natürlich nicht. Sie liebte ihn. Wenn ihr ein Leben außer dem eigenen etwas bedeutete, dann war es seines. Aber sie hatte ihn enttäuscht. Sie wusste, dass sie sein Leben zerstörte. Daher vermochte sie den Schlafenden jetzt anzustarren und minutenlang in grenzenlosen, bitteren Hass zu versinken.

Seine Pyjamajacke stand offen. Ihr Blick blieb an seiner nackten Kehle haften. Roch sie etwa sein Blut? Ihre Kiefer zuckten beim Gedanken an warmes Fleisch, an ein klopfendes Herz und zarte Innenorgane... ehe er auf wachte, könnte sie...

Sie wich weit von Duffy ab. Übelkeit überfiel sie, als sie sich bei ihren fürchterlichen Gedanken ertappte. Behutsam stand sie auf und ging zum Fenster. Ihre Knie zitterten. Draußen lagen die stillen Straßen Manhattans und der Mond...

Rasch wandte sie sich vom Fenster ab. Ein Blick auf den Mond genügte, der sich hinter einer Wolke verschob, um ihren Hunger erneut aufflammen zu lassen. Sie flüchtete aus dem Zimmer.

Im dunklen Flur roch sie die Katze. Himmel, wie sie die graue Perserkatze hasste. Die Katze hasste sie übrigens nicht weniger.

Das war auch eine von Roxanne Sanscoeur Johnsons merkwürdigen Eigenschaften: ihr verblüffender Geruchssinn. Anfangs hatten ihr die Ärzte nicht geglaubt. Aber man hatte sie auf die Probe gestellt, und sie hatte jeden Beweis geliefert. Ohne die geringste Schwierigkeit konnte sie die verschiedenen Fleischsorten am Geruch unterscheiden, ebenso Süßwasser von Salzwasser und selbst mehrere Arten von Gras und Getreide. Zeitweise erkannte sie einen Menschen, der hinter ihr stand, an seinem unverwechselbaren Geruch. Und ob ein Mann oder eine Frau in ihrer Nähe war, roch sie fast immer.

Jetzt roch sie die Angst der Katze.

Schnell ging sie in die Küche und machte Licht. Manchmal half Alkohol gegen ihren Heißhunger. Zumindest redete sie sich das ein. Sie nahm eine Flasche Whisky aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch. Dann holte sie sich ein Glas und ein paar Eiswürfel aus dem Kühlschrank und setzte sich hin, um zu trinken.

Nach dem ersten tiefen Schluck starrte sie die Hände an. Ihre Mittelfinger waren auffallend lang und ihre Nägel hart und rosig. Wie Krallen. Sie schluchzte auf, goss sich nach und stürzte den Whisky rasch hinunter.

Dabei hatte sie einmal geglaubt, geheilt zu sein.

Schon als Studentin hatte sie sich zum ersten Mal mit Duffy verabredet. Ihre Eltern waren damals längst tot, ebenso ihre Großmutter, und Sanscoeur war verkauft. Sie hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte. Nur Duffy, den kannte sie flüchtig. Sie erinnerte sich an ihn noch aus der Kindheit und wusste, dass er in der Stadt als Psychiater arbeitete.

Die Heilung hatte ans Wunderbare gegrenzt. Bei der ersten Sitzung mit Duffy schien ihr Leiden bereits kuriert zu sein, aber das hatte sie für sich behalten. Sie brauchte einen Vorwand für regelmäßige Besuche und gestattete Duffy gerne, ihre Seele zu durchleuchten und ihr die Auswirkung ihrer Umgebung und ihrer Kindheitserlebnisse zu erklären. Sie sei ein intelligentes Kind gewesen, hatte er ihr gesagt, aber einsam und leicht zu beeindrucken. Man munkelte, dass es bei den Sanscoeurs Werwölfe gegeben hätte und Madame Sanscoeur eine Hexe gewesen sei.

Sie hatte ihm uninteressiert zugehört. Sie wusste ja bereits, dass sie geheilt war.

Nach sechs Wochen hatte sie Duffy gestehen müssen, dass ihr nichts mehr fehlte. Sie hatte beinahe drei Monate gebraucht, ihn davon zu überzeugen, dass sie ihn wirklich liebte und sich nicht bloß als ehemalige Patientin an ihn klammerte. Schließlich hatten sie geheiratet.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Raymond Giles/Apex-Verlag. Published by arrangement with the Estate of Raymond Giles.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Gretl Friedmann (OT: NIGHT OF THE VAMPIRE).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4380-3

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