F. R. LOCKRIDGE/DELL SHANNON/
RICHARD NEELY/CHRISTIAN DÖRGE
Krimi-Winter 2022/23
Vier Romane in einem Band
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
1. F. R. Lockridge: IN DER NACHT VOR NEUJAHR (The Dishonest Murderer)
2. Dell Shannon: ALLES BÖSE ZU WEIHNACHTEN (No Holiday For Crime)
3. Richard Neely: DER MÖRDER UND SEIN SCHATTEN (The Walter Syndrome)
4. Christian Dörge: KAFKA UND DER SCHATTEN ÜBER DEM FLUSS
Das Buch
Winter - die Tage sind dunkel und kalt...
Winter - die Nächte sind länger und laden ein zum Lesen...
Dieses Buch enthält vier spannende und ausgewählte Top-Krimis aus den Krimi-Reihen des Apex-Verlags, geschrieben von internationalen Bestseller-Autoren - perfekter Lesestoff für lange Abende, für ein ruhiges Plätzchen im Schein der Herbstsonne, für die Reise: In der Nacht vor Neujahr von F. R. Lockridge, Alles Böse zu Weihnachten von Dell Shannon, Der Mörder und sein Schatten von Richard Neely und Kafka und der Schatten über dem Fluss von Christian Dörge.
Nervenkitzel und Unterhaltung pur!
1. F. R. Lockridge: IN DER NACHT VOR NEUJAHR (The Dishonest Murderer)
Erstes Kapitel
Ich habe doch wirklich keinen Grund, besorgt zu sein, redete sich Freddie Haven ein. Lohnt nicht, darüber nachzudenken; ich bin doch kein Backfisch mehr; warum gleich schwarzsehen. Nur weil es sich um diesen Mann handelt? Ich bin doch ein erwachsener Mensch – war doch schon mal verheiratet! – Ja, Jade, Ihr erster Mann, dessen Augen so fröhlich waren und in dessen Stimme immer ein zuversichtliches Lachen mitschwang, der aus dem Krieg nicht zurückgekommen war! Dies ist jetzt nicht dasselbe, kann es gar nicht sein, sagte sie sich. – Nein, es waren die Gefühle gereifter Menschen: ehrliche Sympathie, gleiche Interessen; Zuneigung, aber nicht Verliebtsein! Nicht fieberndes Verlangen, unsinnige Angst und süßer Glückstaumel.
Freddie Haven betrachtete sich im Spiegel ihres Frisiertisches. Sie griff nach der silbergefassten Bürste und strich über ihr tief rotes Haar. Freddie war gewohnt, dass es bewundert wurde und jedem gefiel. Es haftete einen Augenblick an der Bürste und fiel dann in weichen Wellen herab, lag glatt um ihren Kopf, die Enden als Locken untergeschoben. Du siehst gut aus, Freddie, sagte sie sich. Eine hübsche junge Frau bist du, mit der Bruce Ehre einlegen kann.
Selbst wenn es Bruce gewesen war, überlegte sie, wird die Sache schon eine plausible Erklärung finden. Er hatte eben seine Pläne geändert, das war alles. Hatte aus irgendeinem Grund einen früheren Zug von Washington genommen. Hunderterlei konnte ihn dazu bewogen haben, und er war nicht verpflichtet, sie über seine verschiedenen Pläne zu informieren, sofern diese nicht sie beide betrafen. Gegen zehn Uhr wollte er auf ihrem Gesellschaftsabend erscheinen, hatte er ihr versprochen. Es hatte sich bestimmt nichts geändert, was von Bedeutung war, sonst hätte er ihr Nachricht gegeben.
Sie versuchte das, was sie gesehen hatte, nüchtern zu durchdenken. Sie war im Wagen von Tante Flora heimgefahren, nach dem Tee im Hause ihrer Tante auf dem Gelände der Marinewerft. Der Wagen hatte den East River überquert und war über den Foley Square und durch die Lafayette Street gefahren, in schnellem Tempo, da nur wenig Verkehr herrschte. Sie hatte warm in ihrem Pelz im Fond des großen Wagens gesessen und uninteressiert auf die fast menschenleeren Bürgersteige geblickt, hatte kaum achtgegeben, in welcher Gegend sie sich befanden. Und dann hatte sie diesen großen Mann gesehen, der Bruce Kirkhill so verblüffend ähnlich sah. Nur ganz flüchtig hatte sie ihn gesehen, während der Wagen vor einer Verkehrsampel hielt. Und gerade in diesem Moment wechselte das Licht auf Grün, und der Wagen brauste weiter.
Ein großer Mensch war es gewesen, ebenso groß wie Bruce Kirkhill, mit offenem Mantel, der im Wind flatterte. Ihr fiel ein, dass sie gerade dadurch aufmerksam geworden war und plötzlich auf ihn achtete, während sie andere Männer, die sie unterwegs schon gesehen haben mochte, doch gar nicht beachtet hatte. Es war ein kalter Tag, nachmittags war es noch kälter geworden. Sie hatte die scharfe Kälte sehr empfunden, als sie aus Tante Floras Haus trat und durchs Werftgelände zum Wagen gegangen war. Aber dieser Mann war gegen die Kälte so gleichgültig gewesen, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, seinen Mantel zuzuknöpfen.
Es musste an seinem Gang gelegen haben, dass sie gleich an Bruce dachte. Sein Gesicht hätte sie gar nicht erkennen können.
Es war doch alles recht unbestimmt. Gewiss, der Mann hatte dieselbe Größe gehabt, und sein Gang hatte sie an Bruce erinnert. Mehr aber auch nicht. Außerdem hatte sie auf die Entfernung und bei dem flüchtigen Hinschauen bemerkt, dass seine Kleidung schäbig war. Obwohl sie es sich selbst nicht erklären konnte, kam ihr mit dem Begriff schäbig zugleich auch das Wort schlenkernd in den Sinn. Sie musste lachen. Nie würde sie Bruce das erzählen – oder eines Tages vielleicht doch, damit sie zusammen darüber lachen konnten.
Sie erhob sich, trat ans Fenster und zog einen der schweren Vorhänge zurück. Sie konnte weit die Park Avenue hinunterschauen. Die Straßenlampen sahen merkwürdig verschwommen aus. Es schneite, hatte eben zu schneien begonnen.
An ihrer Schlafzimmertür klopfte es kurz und energisch. Sie lächelte, bevor sie: »Herein!«, rief. Ganz ihr Vater, dieses kurze, gebieterische Klopfen. Er war höflich – nie im Leben hätte Vizeadmiral Jonathan Satterbee auch nur im Traum daran gedacht, ein Schlafzimmer zu betreten, ohne vorher anzuklopfen. Aber es bedeutete nicht – darüber gab es gar keine Debatte –, dass er etwa bat, eintreten zu dürfen. Vielmehr kündigte es an, dass der Admiral im Begriff war einzutreten. Bei ihrem »Komm rein, Papa!« fragte sie sich, ob wohl schon jemals ein Mensch riskiert hatte, den Admiral warten zu lassen, wenn er sein Erscheinen ankündigte. Ihre Mutter bestimmt. nicht, und auch sie selbst nicht.
Vizeadmiral a. D. Jonathan Satterbee, ein großer Mann in tadellos sitzendem Smoking trat ins Zimmer.
Er musterte seine Tochter, die ihm zulächelte.
»Inspektion zur Zufriedenheit ausgefallen, Sir?«, fragte sie scherzend
Er lächelte, ganz fein nur, wie ein Mensch, der nicht gewohnt ist zu lächeln, aber seine Züge wurden doch ein wenig, weicher.
»Sehr zufrieden.«
Der Admiral nickte anerkennend.
»Aber liebster Papa, etwas Besseres weißt du mir nicht zu sagen?«
»Liebes Kind, du siehst sehr nobel aus, sehr schön. Und du weißt es auch.«
»Und das Kleid?«, fragte Freddie. »Das Kleid, Papa?«
»Sitzt sehr gut«, meinte der Admiral. »Erkälte dich nur nicht. Wo steckt Martha?«
»Auf Freiwache«, antwortete Freddie. »Sie muss nachher an der Garderobe helfen, da habe ich ihr gesagt, sie soll sich ein bisschen ausruhen. Weshalb fragst du?«
»So, nicht auf Station«, sagte der Admiral. »Du verhätschelst sie, Freddie.«
Freddie musste lachen. Der Admiral betrachtete das Thema als erledigt.
»Sitzt meine Schleife?«, fragte er und reckte sein Kinn noch etwas höher als für gewöhnlich.
Die Schleife saß tadellos; Watkins war ein Meister im Schleifenbinden. Was Papa ganz genau weiß, dachte Freddie. Trotzdem trat sie vor ihn hin und tat so, als müsse sie die Schleife noch ein wenig geradeziehen.
Zurücktretend lächelte sie zu ihrem Vater auf, der ihr leicht und zärtlich auf den Arm klopfte.
»Bist ein gut.es Kind, Winifried«, sagte er, »verwöhnst alle Leute.«
Es war ein bedeutsamer Augenblick, deshalb nannte er sie Winifried. Sie sagte nichts, legte ihm nur für einen Moment beide Hände auf die Arme, zog sie jedoch, ehe das wie eine Zärtlichkeit erschien, wieder fort.
»Übrigens«, sagte er, »ich habe noch ein junges Ehepaar eingeladen.« Er machte eine Pause. »Diesen Verleger. Der das Buch herausbringen soll. North heißt er.«
»Natürlich, Papa«, sagte Freddie.
»Glaube immer noch, der andere Plan wäre besser gewesen«, sagte der Admiral, auf seine Tochter hinabblickend. »Hätten ein anständiges Dinner geben sollen.«
»Papa«, erwiderte sie, »so was macht immer Umstände. Glaub mir, es ist schon besser so.«
Der Admiral gab ein Räuspern von sich.
Wahrscheinlich weiß er ganz genau, dass es nicht nur um die Umstände geht, dachte Freddie. Tante Flora und Onkel William, noch nicht außer Dienst; Kapitän zur See Hammond und Frau; Tante Angela; Mrs. Burton, die Admiralswitwe, deren Gatte noch ein Jahr vor seinem Ableben zum Flottenchef befördert worden war – sie alle waren sehr kultivierte und ganz prächtige Menschen, aber völlig vom Marinegeist erfüllt. Sie alle wären zum Dinner eingeladen worden, während man die übrigen – weniger bedeutenden – Gäste für später gebeten hätte. Und in so einem Rahmen wäre natürlich Bruce Kirkhill für sie als Gastgeberin wie als Verlobte ein besonderes Problem gewesen. Hätten sie ein Dinner gegeben, so wäre es nicht denkbar gewesen, ihn nicht mit dazu zu bitten. Das heißt: für sie nicht denkbar – der Admiral hätte sich in diesem Fall in einer etwas schwierigen Lage befunden. Bestimmt aber wäre die gleichzeitige Anwesenheit Senator Kirkhills und der Admiralswitwe ein Problem geworden, denn Mrs. Burton hatte für Politiker nicht gerade sehr viel übrig.
»So ist’s doch besser, Papa«, wiederholte Freddie, und wieder räusperte sich der Admiral, wenn auch nicht so kräftig. Er ist wirklich ein lieber Mensch, dachte sie.
»Ich nehme an, du hast Nachricht von Kirkhill?«, fragte der Admiral, indem er mit Nachdruck das Thema wechselte.
»Nein«, antwortete sie, »er kommt mit dem Kongress-Schnellzug und fährt dann rasch ins Waldorf, um sich umzuziehen. So ist’s abgemacht.«
Abermals räusperte sich der Admiral. Er schien noch mehr zu wollen. Dieses Zögern passte gar nicht zu ihm.
»Sonst noch etwas, Papa?«, fragte Freddie.
»Nichts«, gab er zurück. »Ich... ich Hab’ dich lieb, Freddie. Das weißt du doch, ja? Du weißt doch, was du tun willst?«
»Selbstverständlich, darüber haben wir doch schon genug geredet, Papa.«
»Nun – er ist schließlich Politiker«, sagte der Admiral.
»Aber lieber Papa, bitte! Haben wir das nicht schon gründlich besprochen? Bruce ist Senator, ein Senator der Vereinigten Staaten.«
Diesmal kam das Räuspern ein bisschen unsicherer heraus. »Und«, fuhr Freddie fort, »du magst ihn gern. Kannst es ruhig zugeben.«
Der Admiral hob die breiten Schultern ein wenig. »Hab’ nichts gegen ihn«, sagte er. »Als Mann. Scheint ganz in Ordnung zu sein. Im Krieg gute Führung.« Er lächelte schwach. »Hab’ meine festen Grundsätze, Freddie. Wahrscheinlich ist gar nichts daran.«
Das war ihr nun schleierhaft. Sie blickte ihn fragend an und dachte erstaunt, dass der letzte Satz ihm wohl gegen seinen Willen entschlüpft sein musste.
»Woran soll nichts sein?«, fragte sie. »Was meinst du damit, Papa?«
Der Admiral brummte vor sich hin, hatte sich aber gleich wieder in der Gewalt.
»Vorurteil gegen Politiker«, sagte er wie abschließend. »Wie nennen die Zivilisten das noch? Richtig: eine Allergie.«
Sie sagte nur: »Oh!«
»Und ich habe dich lieb«, wiederholte er. »Möchte nicht, dass du einen Fehlgriff tust. – Diese verdammten Japse!«
Sie wusste, was er damit meinte. Er verfluchte den Piloten, der sich vor der Insel Okinawa mit seinem Flugzeug gegen die Kommandobrücke des Zerstörers gestürzt hatte, dessen Kommandant ihr Mann, Kapitänleutnant John Haven, gewesen war.
»Das ist aus und vorüber«, sagte Freddie. »Es kommt nicht wieder.« Sie blickte zu ihm auf. »Das mit Bruce ist kein Fehlgriff, Papa.«
Wieder ein Räuspern. Der Admiral klopfte ihr auf die Schulter. Einen Augenblick dachte sie, er wolle noch mehr sagen. Sie hatte das Gefühl, dass er noch etwas über Bruce sagen wollte und es nur nicht recht herausbrachte. Eigentlich deutete nichts Bestimmtes darauf hin, und in der Tat fragte ihr Vater sie jetzt nur noch, ob sie mit ihm nach unten gehen wolle. Sie schüttelte den Kopf; der letzte Schliff fehle noch, sagte sie.
»Könnte nicht sagen, wo«, erwiderte der Admiral, indem er sie anerkennend musterte. »Ich gehe dann schon.«
Wieder klopfte er ihr zärtlich auf die Schulter. Sie fand, dass er seine Gefühle deutlicher zeigte als sonst; ihm schien jetzt besonders viel daran zu liegen, sie spüren zu lassen, wie lieb er sie hatte. Als habe er insgeheim Angst um sie. Sie schaute ihm nach, als er durch die Tür ging.
Sie fühlte, wie die frühere Unruhe sie wieder überkam. Sie wollte sie abschütteln – nur klare Tatsachen gelten lassen. Täuschende Ähnlichkeit; Täuschung in dem, was sie hinter einem Satz ihres Vaters vermutete; Täuschung, dass seine Stimme besorgter klang als sonst. Eins führte zum andern, eins steigerte das andere. Hätte sie nicht einen großen Mann, der im hässlichen Osten der Stadt seines Weges ging, einen Mann, den sie nur kurz gesehen hatte, für Bruce gehalten, dann hätte sie sich auch alles andere nicht eingebildet. Wahrscheinlich ist gar nichts dran, hatte ihr Vater gesagt und offensichtlich gezögert, als sie ihn um eine Erklärung bat. Und er hatte ihr dann eine einleuchtende Antwort gegeben.
Sie kehrte zum Frisiertisch zurück. Mehrere Minuten vermochte sie sich zu konzentrieren, doch dann beschlich sie dieses unbehagliche Gefühl einer lächerlichen Angst wieder, ohne dass sie es abwehren konnte.
Wenn ich schon in Sorge bin, kann ich ebenso gut gleich Bruce anrufen, dachte sie, dann weiß ich wenigstens, dass alles in Ordnung ist. Er war gewiss schon im Hotel Waldorf angekommen, aber sicher noch nicht zu ihnen unterwegs.
Sie ging durchs Zimmer zu ihrem Schreibtisch, wo das Telefon stand, und nahm den Hörer ab. Da hörte sie die Stimme ihres Vaters, der von einem anderen Hausanschluss aus sprach, und wollte instinktiv den Hörer wieder auflegen.
»... einschließlich heute Abend«, hörte sie ihren Vater sagen. »Die Umstände haben sich geändert. Schicken Sie mir Ihre Rechnung und...«
Hier legte sie den Hörer auf; sie blieb aber nachdenklich am Telefon stehen.
»Einschließlich heute Abend.«
Ohne erklärlichen Grund bekamen diese Worte für sie ein bedrückendes Gewicht. Sie nahm noch einmal den Hörer auf.
Es sprach ein Mann, dessen Stimme sie noch nie gehört, zu haben glaubte.
»...bei Ihnen«, hörte sie ihn gerade sagen. »Was wir bisher ermittelt haben, sieht ganz danach aus, als ob doch etwas Wahres an der Sache ist. Aber die Entscheidung liegt bei Ihnen, er soll ja Ihr Schwiegersohn...«
»Genug«, unterbrach ihr Vater. »Es reicht. Habe Ihnen schon gesagt, was ich will. Erwarte sofort Ihre Rechnung.«
»Gewiss«, antwortete die fremde Stimme. »Gewiss, Admiral, wie Sie wünschen.«
»Guten Abend«, sagte ihr Vater. Sie hörte das Knacken, als er den Hörer auflegte.
Auch sie legte auf und blieb eine Weile regungslos stehen. Wie erstarrt stand sie da. Sie blickte ins Leere. Ihr Gehirn schien sich zuckend zusammenzuziehen, wie unter unverhofft fallenden Schlägen; so, als ob ein unsichtbares Wesen sie immerfort stäche.
Soll ja Ihr Schwiegersohn werden. Mitten im Satz hatte der Mann aufgehört, die befehlsgewohnte, vor Ungeduld scharfe Stimme ihres Vaters hatte ihm das Wort abgeschnitten. Bruce – es handelte sich auch hier um Bruce. Wahrscheinlich ist an der Sache gar nichts daran, hatte ihr Vater doch gesagt? Das hing bestimmt mit Bruce zusammen. Der Mann, den sie aus dem Fenster des Autos sah – nein, das konnte nicht Bruce Kirkhill gewesen sein!
Es begann etwas den Tag zu stören, den letzten Tag des Jahres. Es geschah etwas, das sie traf, das die Ruhe des Hauses störte. Der Tag war vergangen wie viele andere, mit dem Unterschied, dass er gegen Abend einem Höhepunkt zueilte: der Party, auf der sie das Neue Jahr mit Trinksprüchen begrüßen wollten, der Party, die – wenn auch inoffiziell – für sie und Bruce gegeben wurde. Die erste Party, die sie beide als zusammengehörige Menschen verleben sollten.
Vorhergegangen waren die nicht gerade strapaziösen Pflichten einer Gastgeberin, mit ausreichendem Personal, in einer Wohnung, die noch viel mehr Gästen bequem Platz geboten hätte. Vorhergegangen war der Lunch irrt Restaurant Colony mit Celia, die schöne Stunde mit diesem jungen Ding, das sich über fast alles so begeistert freuen konnte und zu ihr so bewundernd aufgeschaut hatte. Wenn sie an diese Blicke dachte, lächelte sie leise, und ihre unbestimmte Angst schwand für ein Weilchen. Jedenfalls würde es hübsch sein, Celia in der Familie zu haben, denn Celias Bewunderung für sie, die nicht sehr viel Ältere, die nun ihre Stiefmutter werden sollte, war unverkennbar echt. Man hätte sie mit ihren achtzehn Jahren, wenn sie Freddie Haven anschaute, für eine Achtjährige halten können. Manchmal war das fast peinlich. Kein Mensch, dachte Freddie, kann so prachtvoll sein, wie ich in Celias Augen bin.
Später hatten sie noch vergnügt einen Imbiss eingenommen, und dann war der Tee bei Tante Flora gewesen, der auch nicht eben unangenehm war, Tee hieß dort Sherry oder Whiskey, je nach Wahl. Man hatte über das kommende Wohltätigkeitsfest lang und breit diskutiert – nach demokratischen Gepflogenheiten. Das hieß, dass Tante Flora und die Admiralswitwe alle Vollmachten erhielten, das zu tun, was sie sowieso getan hätten, nämlich die Zügel in ihre energischen und tüchtigen Hände zu nehmen. Diese Zusammenkunft glich schließlich mehr einer Stabsoffiziersbesprechung als einer harmlosen Ausschusssitzung. Dass dabei überhaupt Vollmachten erteilt wurden, war eine nette Fiktion.
Und nachher hatte die allmähliche Zersetzung dieses schönen Tages begonnen, als das unklare Angstgefühl sich einstellte. Es war so, dachte Freddie, wie man es zuweilen morgens für Momente erlebte: Man wachte auf, blieb ein Weilchen ganz behaglich liegen und spürte auf einmal eine Unruhe, ein ganz unklares Gefühl, das aber drohende Enttäuschungen schon ahnen ließ. Aber solche Stimmungen waren meistens ohne Bedeutung, sie verschwanden, sobald man sich an bestimmte Kleinigkeiten erinnerte – etwa nur, dass man eine Verabredung mit jemand hatte, von der man sich nichts Erfreuliches versprach, oder dass man sich etwas vorgenommen hatte, was man nun nicht mehr wollte. Ihre jetzigen Ängste waren eigentlich kaum schlimmer, doch sie bewegten sich, ohne feste Formen anzunehmen, um einen Mittelpunkt: Bruce. Um Bruce, den sie doch unmöglich so schäbig angezogen in der elenden Gegend gesehen haben konnte. Bruce, über den ihr Vater – trotz seiner halben Andeutungen – doch nicht im Ernst schlecht denken konnte...
Freddie hob den Telefonhörer wieder ab und wählte die Nummer des Hotels Waldorf. Sie bat, sie mit Senator Bruce Kirkhill zu verbinden, und wartete.
»Senator Kirkhill ist bei uns nicht eingetragen«, sagte eine jugendliche Stimme etwas affektiert.
Das konnte nicht stimmen, sondern lag an mangelnder Aufmerksamkeit des Personals, wie Freddie höflich und ohne ärgerliche Betonung beanstandete. Jedenfalls musste es ein Irrtum sein: Senator Kirkhill hatte unzweifelhaft dort ein Zimmer reservieren lassen.
Sie wurde weiterverbunden. Eine Männerstimme, weniger interesselos, sagte: »Einen Moment bitte!«
Der Mann entfernte sich und war nach zwei Minuten wieder am Apparat. Er müsse sehr bedauern, aber eingetragen habe sich Senator Kirkhill noch nicht. Ein Appartement sei allerdings für ihn reserviert, er werde erwartet. Eine Nachricht wolle man ihm selbstverständlich, sobald er eintreffe, gern übermitteln.
»Nein, danke«, sagte Freddie. »Wohnt bei Ihnen ein Mr. Phipps – Howard Phipps?«
Man sah wieder nach. Ja, Mr, Phipps wohne im Hotel. Sie möge bitte warten. Eine jugendliche Frauenstimme sagte: »Ich verbinde mit Mr. Phipps.«
»Tut mir leid«, sagte die Telefonistin nach einer Weile, »Mr. Phipps meldet sich nicht. Wollen Sie
»Danke, bemühen Sie sich nicht weiter«, antwortete Freddie und legte auf.
Nun, aus diesen Auskünften lässt sich nur schließen, dass er einen späteren Zug genommen hat, redete sie sich zu. Daran ist doch nichts Ungewöhnliches. Sicher nichts Ungewöhnliches.
Die Uhr auf ihrem Schreibtisch zeigte kurz vor zehn. Gegen zehn legte sich doch jeder als zehn Uhr aus, nur Tante Flora vielleicht nicht. Trotzdem... Sie betrachtete sich in einem hohen Spiegel, nickte und verließ das Zimmer; sie ging die Treppe hinab. Martha und das neue Hausmädchen waren in der Diele, sie saßen nebeneinander kerzengerade auf zwei Stühlen. Als Freddie kam und ihnen zulächelte, standen sie auf.
»Weitermachen«, sagte sie im Spaß.
Martha kicherte lautlos, ihre Schultern zuckten. Die Neue zeigte ihr Erstaunen mit höflicher Miene:
»Jawohl, gnä’ Frau«, sagte Martha. Während sie sich wieder hinsetzte, zupfte sie ihre Kollegin am Ärmel. »Weitermachen«, sagte sie, wieder so lautlos kichernd. »Sie sind jetzt bei der Marine.«
Freddie trat in das große Wohnzimmer, das als Gesellschaftsraum diente. Sie hatte das Gefühl, dass Martha dem neuen Hausmädchen jetzt sagte, Mrs. Haven verstünde schon Spaß, aber bei Admiral Satterbee sei Vorsicht geboten. Sie hatte nämlich schon einmal gehört, wie Martha früher zu einer Aushilfe gesagt hatte: »Der Admiral kümmert sich um nichts, doch sobald etwas nicht stimmt, merkt er’s gleich.«
Sie sagte Watkins, dem Butler, der gerade ein Serviermädchen im richtigen Polieren von Gläsern unterwies, guten Abend und ging in die Küche, wo sie die Köchin lobte, dass das kalte Büfett wunderschön angerichtet sei. Aus einer Schüssel geeister Mayonnaise fischte sie sich eine Krabbe heraus.
»Aber Miss Freddie, da ist ja nun ein Loch!«, sagte die Köchin. Freddie schob die Krabben mehr zusammen. Die Köchin war schon lange im Haus, sie konnte bisweilen, in den gebotenen Grenzen, recht streng sein, sogar mit dem Admiral. Ein Summer ertönte gedämpft.
»Da kommen Gäste, Miss Freddie«, sagte die Köchin, und Freddie ging hinaus, um sie zu begrüßen. Sie ging ziemlich schnell, und erst als sie Tante Floras Stimme hörte, wurde ihr bewusst, dass sie gehofft hatte, Bruce wäre gekommen. Sie begrüßte Tante Flora und Onkel William, ohne sich merken zu lassen, dass sie Bruce Kirkhill viel lieber gesehen hätte. Nach der Begrüßung erkundigte sie sich taktvoll, ob der Fahrer versorgt sei, denn Onkel William vergaß ihn manchmal.
»Der Knabe hat’s gut«, versicherte ihr der Onkel. »Hab ihm gesagt, er könne inzwischen ins Kino gehen.« Er blickte seine Nichte strahlend an. »Du siehst prachtvoll aus, Freddie«, sagte er. »Wie geht’s Johnny Jump-up?«
Es kam ihr jedes Mal merkwürdig vor, wenn ihr Vater so genannt wurde. Angeblich hatten sie ihm im Pazifik diesen Beinamen gegeben. Johnny Springauf.« Eine Zeitlang war dort Admiral Satterbees schneller Kampfverband immer unvermutet aufgekreuzt und hatte die Japaner in Bedrängnis gebracht. Freddie hatte beim besten Willen nie recht glauben können, dass ihr Vater unter einem solchen scheinbar respektlosen Spitznamen bekannt gewesen war. Immerhin, wenn Onkel William den Namen gebrauchte, hatte sie wenigstens das Gefühl, dass er ihn in unsichtbare Anführungszeichen setzte.
Admiral Satterbee kam aus der Bibliothek und steuerte, nachdem er die Schwester seiner verstorbenen Frau und den Admiral William Fensley begrüßt hatte, seine Gästeschar in die Nähe von Watkins, der Whiskey servierte. Er zog Fensley aus der weiblichen Sphäre beiseite – zum zünftigen Gespräch über Marineprobleme.
»Dieser neue Flugzeugträger, Bill«, hörte sie ihren Vater zu Fensley sagen, »was hältst du von dem Typ?«
»Verteufelt große Zielscheibe«, sagte William Fensley, der sich nur für Schlachtschiffe erwärmen konnte. »Warte mal ab, wenn der...«
»...gewiss«, sagte Tante Flora, »es kommt immer auf die Kritiker an. Du weißt doch, meine Liebe, wie nett sich damals alles anließ, als der Frauenbund das Stück annahm, und wie nachher diese Herrschaften schrieben, das sei ja...«
Nach zehn Minuten ertönte wieder der Summer, und Freddie, die aufgefordert worden war, mitzuklagen über die schlechten Kritiken, die dem vom Frauenbund für das Wohltätigkeitsfest vorgesehenen Theaterstück zuteil geworden waren, richtete ihre zerstreuten Gedanken wieder auf ihre Pflichten und merkte, dass sie auch jetzt Bruce Kirkhills Stimme zu hören hoffte. Wieder vergeblich.
Jetzt kamen die Gäste rasch nacheinander, da Marineleute an Pünktlichkeit gewöhnt sind; die meisten gehörten zur Marine. Sie kamen und nahmen gefüllte Gläser in die Hand. Sogleich bestrebt, sich zu Cliquen zusammenzufinden, wurden sie von der Gastgeberin sanft und möglichst unauffällig anderen Gruppen zugesellt. Zu tun gab es genug, da das große Gesellschaftszimmer sich allmählich füllte. Auf viele Kleinigkeiten musste Freddie ständig achten. Als es aber schon auf elf Uhr ging, fand Freddie es immer schwieriger, sich im Plauderton aufmerksam zu unterhalten, immerfort lächelnd neue Gäste zu bewillkommnen und interessiert über alles Mögliche zu sprechen. Weil Bruce nicht – noch immer nicht – gekommen war.
Einige Minuten nach elf Uhr erschien ein ihr unbekanntes Paar in der Tür und blieb dort stehen, mit den ein wenig bestürzten und betont liebenswürdigen Mienen, die Leute, zur Schau tragen, wenn sie keinen der Anwesenden kennen und warten, dass man sich ihrer annehme. Zumindest machte der Herr, der eine Brille trug, so ein Gesicht. Er fuhr sich unbewusst ein paarmal mit den Fingern der rechten Hand in sein kurzes Haar, das er auf diese Weise schon ganz hübsch durcheinandergebracht hatte. Der Ausdruck im Gesicht der schlanken, elegant gekleideten Dame neben ihm war schwerer zu ergründen. Sie schien sich sehr für den Raum zu interessieren, gleichzeitig für alle Gäste und die ganze Szenerie, mit so frischer, ungetrübter Begeisterung, als sei ihr dergleichen ganz neu und müsse gewissermaßen in großen Portionen konsumiert werden. Dabei hatten ihre Blicke nichts Abschätzendes, vielmehr schien sie reine Freude an dem lebhaften Betrieb zu haben.
Lächelnd löste sich Freddie Haven aus der Gruppe, der sie sich gewidmet hatte, und wollte dem Paar, das auf Adoption wartete, entgegengehen. Da merkte sie, dass ihr Vater, der bei seiner Größe über fast alle Anwesenden hinwegblicken konnte, die beiden an der Tür schon entdeckt hatte und sich zu ihnen begab. Er schritt, zielbewusst wie stets, durch den Raum und forderte seine Tochter, als sie zu ihm hinüberschaute, durch eine kleine Kopfbewegung auf mitzukommen. So langten sie bei den neuen Gästen an der Tür gleichzeitig an. Der Herr lächelte ihnen entgegen.
»’n Abend, North«, sagte Admiral Satterbee, schon ein paar Schritte vor ihnen, mit einer Stimme, die den Befehlston noch immer nicht ganz verleugnen konnte. Er streckte die Hand aus. »Freut mich, dass Sie es noch einrichten konnten.«
Der Herr mit dem etwas verwirrten Haar ergriff die Hand des Admirals. Freddie hoffte, er werde nicht vor Schmerz zusammenzucken, denn des Admirals Händedruck war oft recht kräftig, und ganz besonders bei Leuten, die er noch nicht näher kannte. Das gehörte zu den Kleinigkeiten, die Freddie bei ihrem Vater immer mit Zärtlichkeit beobachtete. Dass er mit Menschen, die er wenig kannte, energisch umging, führte sie darauf zurück, dass er früher – oh, vor langer Zeit – schüchtern gewesen war. Wovon freilich jetzt nicht mehr die Rede sein konnte.
Mr. North zuckte aber nicht zusammen. Er zog seine Hand zurück, gab ein paar höfliche Worte von sich und sagte: »Pam, das ist Admiral Satterbee. Meine Frau, Admiral.«
»Freut mich sehr«, sagte Pamela North mit klarer, heller Stimme, als wenn jetzt Seite gepfiffen werden müsste wie auf den Kriegsschiffen, wenn ein Offizier an Bord kam.
Der große, schlanke Herr neben ihr fasste wieder in seine Haare und sagte: »Aber Pam!«
»Ach, ich musste gerade an das feierliche Anbordpfeifen denken«, erwiderte sie.
»Oh!«, sagte Admiral Satterbee. »Ach ja. Ja, natürlich.« Freddie war zu ihnen getreten, und ihr Vater sagte: »Mrs. North – stelle Ihnen meine Tochter vor. – Freddie, das sind Mrs. und Mr. North. North wird mein Buch herausbringen.«
»Miss Satterbee«, sagte Mr. North, während seine Frau lächelte und Freddie eine eigenartig beunruhigende Freude empfand, sie stärker empfand, als der Ausdruck in dem hübschen, lebhaften Gesicht dieser schlanken jungen Frau es rechtfertigte. Jedenfalls spürte Freddie – um erklären zu können, wie das kam –, dass diese Frau ganz offen Gefallen an ihr fand und es gern zeigen wollte. Also musste sie wohl noch besser aussehen, als sie selbst gehofft hatte? Aber gleichzeitig hätte sie das Gefühl, dass jene ihr überlegen war.
Kopfschüttelnd erklärte sie, ihr Papa vergäße so vieles und ginge nie in Einzelheiten. »Ich heiße nämlich Mrs. Haven.« Sie freue sich sehr, dass sie ihrer Einladung hatten Folge leisten können. Waren ihnen die Gäste alle bekannt?
Pamela North blickte mit großen Augen um sich.
»Oh nein«, sagte sie, »eigentlich niemand.« Sie machte eine kleine Pause. »Aber das ist unwichtig, weil wir sowieso beinah gleich wieder gehen müssen.«
Freddie erklärte, sie würde das sehr bedauern, und Admiral Satterbee sagte: »Unsinn! Kommen Sie einen trinken, North.«
Mr. North ging folgsam mit, seine Frau blickte die Gastgeberin an.
»Bitte bemühen Sie sich um uns nicht weiter«, sagte sie, »wir müssen wirklich gleich wieder gehen, weil wir noch eine Verabredung haben. Aber Jerry meinte...«
Sie hielt inne. Freddie Haven wartete, was noch kommen würde. Dann lächelte sie. »Nun, sagen Sie’s ruhig.« Ihr war, als sei sie mit dieser Mrs. North schon länger bekannt als nur ein paar Minuten.
»Oh«, ergänzte Pamela, »er meinte, ich sollte mir mal einen richtigen Admiral ansehen, das würde vielleicht erzieherisch auf mich wirken.« Sie sagte das ganz ohne Verlegenheit. »Als Autoren sind Admirale ja selten«, fügte sie noch hinzu. »Das heißt, früher, heute kann man das eigentlich nicht behaupten.«
»Wirklich? Erzieherisch, meinte er?«, fragte Freddie.
»Sollte es sein, ja. Hatte er früher dasselbe Haar wie Sie?«, fragte Pam.
»Ja«, erwiderte Freddie, »das Satterbee-Haar.«
»Nun könnten Sie mich ja irgendwo zwischen die Gäste platzieren«, sagte Pamela. »Muss nicht unbedingt bei einem Admiral öder so sein. Nur, weil Sie sich anderweitig um Ihre Gäste kümmern müssen.«
Das ließe sich nicht leugnen, gab Freddie Haven lächelnd zu und meinte, Mrs. North würde es vielleicht Freude machen, sich mit der um die Seniorin, die Admiralswitwe, gescharten Gruppe zu unterhalten. Ach, dachte sie, diese Mrs. North wird fast überall das Angenehme zu genießen wissen. Sie brachte sie zu der erwähnten Gruppe und freute sich – als sie nach ein paar Minuten üblicher Höflichkeitsfloskeln weiterging – über Mrs. Norths interessierte Miene, während ihr bewusst war, dass sie selbst bei der kurzen Unterhaltung ihre Befürchtungen vergessen hatte. Und als sich jetzt das Gefühl der Besorgnis wieder meldete, empfand sie es zunächst weniger schwer, nicht eigentlich mehr als Angst.
Es war schon nach elf Uhr, und Bruce Kirkhill war noch nicht erschienen.
Sie hörte eine bekannte Stimme in der Diele, entfernte sich von den Gästen, mit denen sie sprach, fast ohne Entschuldigung und ging dem Ankommenden entgegen.
»Howard!«, rief sie. »Howard, ist etwas passiert?«
Der Mann, mit dem sie sprach, war nicht größer als sie. Er hatte ein offenes, eckiges Gesicht und weit auseinanderstehende Augen. Jetzt blickte er Freddie lächelnd an, schüttelte den Kopf und zog die glatten Augenbrauen hoch.
»Passiert?«, fragte er. »Wie meinen Sie das, Freddie?«
Seine tiefe Stimme hatte Wohlklang, sie schien für seinen Körper fast zu kräftig, aber Freddie dachte jetzt nicht darüber nach, wie oft ihr das schon aufgefallen war.
»Bruce ist noch nicht hier«, sagte sie, »auch nicht im Hotel.«
Über sein Gesicht flog ein Schatten, als sei er bestürzt, aber nur für einen Moment.
»Eine Nachlässigkeit«, erklärte er. »Selbstverständlich ist er im Hotel. Ich Er hielt inne.
»Haben Sie ihn dort gesehen?«, fragte Freddie.
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, gesehen habe ich ihn nicht«, antwortete er. »Bin nämlich erst heute Morgen angekommen. Habe mich überzeugt, dass die Zimmer reserviert sind, und meins gleich in Benutzung genommen. Erst nach zehn kam ich wieder ins Waldorf, zog mich um, und da bin ich. Glaubte, ihn hier schon anzutreffen.«
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Freddie. »Das sieht ihm gar nicht ähnlich, er hat nicht einmal angerufen.«
»Aber liebes Kind, was soll unserm Chef wohl passieren? Natürlich kann er auch in Washington noch aufgehalten worden sein.«
»Und telegraphiert nicht? Oder telefoniert?«
»Na«, sagte er, »passiert wird ihm schon nichts sein.« Er lächelte. »Der Chef weiß immer seinen Mann zu stehen, das müssten Sie ja wissen, Freddie.«
»Gewiss, ja«, sagte sie, doch aus ihrem Ton klang deutlich die Sorge, die nicht schwinden wollte.
»Werde nochmals im Hotel nachfragen«, sagte er und lächelte, um zu zeigen, wie unbegründet ihre Unruhe sei. »Vielleicht war er müde und ist eingeschlafen.«
Freddie Haven führte ihn zu dem Apparat im Arbeitszimmer des Admirals und blieb neben ihm stehen, als er das Hotel anrief und nach Senator Bruce Kirkhill fragte. Jan sagte ihm etwas, und er erwiderte: »Unsinn, selbstverständlich hat er Zimmer bei Ihnen. Geben Sie mir mal den Geschäftsführer. Hier spricht der Sekretär des Senators, Howard Phipps. Es ist wichtig.«
Er drehte sich lächelnd zu Freddie um.
»Muss denen ein bisschen mit Titeln imponieren«, sagte er. »Falls – Wie bitte? – Oh...«
Er sprach jetzt schnell und energisch, doch bald war seine Verwunderung am Klang der Stimme zu hören. Abschließend sagte er: »Bitten Sie ihn, mich anzurufen, und zwar« – er blickte auf das kleine Schild am Telefon und nannte die Nummer – »Wohnung von Vizeadmiral Satterbee.«
Als er auflegte, war sein Gesicht für einen Augenblick ernst, aber im Nu wurde es wieder ganz heiter.
»Nicht da«, sagte er. »Hat sich noch nicht eingetragen. Aber seien Sie. unbesorgt, dem Chef passiert nichts. Weiß der Kuckuck, vielleicht ist er gerade eben gekommen und sucht Sie schon da draußen.« Er machte eine Kopfbewegung zum Gesellschaftszimmer. »Kommen Sie, sonst denkt er womöglich noch, Sie wollten ihn versetzen.«
Doch Bruce Kirkhill war nicht im Gesellschaftszimmer Es ging auf elf Uhr dreißig, das alte Jahr lief ab, und für Freddie ging das Fest zur Neige. Freilich waren die Gäste noch alle da, und noch war es ihr Fest. Als lächelnde Gastgeberin ging sie fortwährend von einem zum andern, aber müde war ihr Mund, der lächeln musste, müde war die Stimme, die den frohen Ton nicht mehr fand, und müde waren ihre Gedanken. Angestrengt lauschte sie, ob nicht in der Diele die vertraute Stimme erklang. Neue Gäste kamen nur noch vereinzelt.
»Zu schade!«, sagte Mrs. North. »Es war reizend bei Ihnen, doch wir müssen jetzt leider...« Sie hielt inne, setzte aber gleich hinzu: »Sie haben Kummer, Mrs. Haven, stimmt’s? Es ist doch nichts passiert?«
»Ich begann Freddie und hätte beinahe alles erzählt, da Pamela die Frage so schlicht und freundlich stellte, doch dann schüttelte sie nur lächelnd den Kopf.
»Verzeihen Sie, sicher wird alles in Ordnung sein«, sagte Pamela. »Jerry behauptet immer, ich...« Jetzt brach auch sie ihren Satz kopfschüttelnd ab. »Eine reizende Party«, fuhr sie nach kurzer Pause fort. »Wir verlassen Sie höchst ungern, aber leider...« Auch diesen Satz ließ sie unvollendet und lächelte. Jerry und der Admiral waren dazugekommen. Der Admiral warf Freddie einen schnellen, bekümmerten Blick zu. Sie sah es und machte eine beruhigende Kopfbewegung, sagte Mrs. und Mr. North die netten Worte, die von einer Gastgeberin erwartet werden, und merkte plötzlich, dass sie alles ganz aufrichtig meinte. Gern hätte sie diese liebenswürdige, schlanke Frau, die im Gespräch immer um einen Gedanken voraus war und mit so unverhohlener Freude ihr Interesse zu zeigen wusste, dabehalten, doch sie geleitete das Ehepaar durch die Diele und verabschiedete sich von ihnen an der Tür.
Das alte Jahr hatte nur noch eine Lebensdauer von knapp dreißig Minuten.
Zweites Kapitel
Freddie ging wieder ins Gesellschaftszimmer, wo Celia auf sie wartete. Sobald sie Celias Gesicht sah, wischte sie gleichsam alle Spuren von Sorge aus ihrem eigenen. Celia, schlank und noch sehr jung, hatte fast bis auf die Schultern reichendes blondes Haar und blaue Augen, in denen jetzt das Verlangen nach Beruhigung zu lesen war.
»Du machst dir Gedanken um Papa«, sagte sie. »Wo ist er denn, Freddie?«
»Wird irgendwo aufgehalten worden sein«, antwortete Freddie, so gleichmütig sie es vermochte.
»Irgendwo?«, wiederholte Celia. »Hat er denn nichts sagen lassen?«
»Ach, es wird schon alles in Ordnung sein, Ce«, sagte Freddie. »Dem Chef passiert nichts.«
»Das hat Howard dir gesagt. Aber ich weiß doch, dass Papa hier sein wollte – so früh wie möglich. Ich bin unruhig, Freddie. Curt meint allerdings –«
»Kein Grund«, gab Freddie hastig zurück. »Bestimmt nicht, liebes Kind. Curt wird schon recht haben. Howard sagt es ja auch.«
»Er hätte doch telefoniert«, sagte Celia. »Papa denkt doch sonst immer an alles, nicht wahr?«
»Aber nicht begann Freddie, merkte jedoch gleich, dass das falsch war. »Meistens«, ergänzte sie. »Es ist nichts, Ce, bestimmt.« Sie zwang sich zu lachen.
»Schließlich müssen wir ihm wohl zugestehen, dass er sich dann und wann mal verspätet, Celia. Wir können doch nicht...«
Sie hob ihre weißen Schultern und ließ sie, als unbestimmte Antwort, wieder sinken.
»Curt, du hast ja überhaupt nichts zu trinken! Ich rufe gleich Watkins her«, sagte sie dann, froh, von dem Gespräch loszukommen, zu einem großen jungen Mann, der in Celias Nähe stand, die sich ihm mit freudiger Miene instinktiv zuwandte.
Freddie hielt Ausschau nach Watkins. Sie entdeckte ein Hausmädchen, das Sektgläser auf einem Tablett herumreichte, und dirigierte es mit einer Kopfbewegung herüber.
»Wie spät ist es?«, fragte sie Curt.
»Z-zwanzig Minuten vor«, erwiderte Curtis Grainger.
Er war groß und schlank, sein Haar, so blond wie Celias, stand als kurze Bürste auf seinem länglichen Kopf.
»Beinahe Z-zeit.«
Es war kein regelrechtes Stottern, sondern nur ein Zögern vor einzelnen Wörtern. Vermutlich hat er früher doch mal ganz erheblich gestottert, dachte Freddie. Er musste sich streng in Zucht genommen haben. Wenn er ruhig blieb, hatte er einen auffallend strengen Blick. Freilich nicht, wenn er Celia ansah.
»Dein V-Vater wird das neue Jahr verp-passen«, sagte er mit einem Lächeln, das ihn knabenhaft jung machte, als er jetzt auf Celia hinabblickte und ihr einen Arm um die Schultern legte. Über sie hinweg schaute er Freddie Haven an. »Unser Kleines macht sich Kummer.«
Freddie antwortete, das wisse sie, doch es sei wirklich nicht nötig.
»Natürlich nicht«, sagte Curtis Grainger. »Habe ich Celia eben erst erklärt. Der Senator ist unverwüstlich, sagt mein Vater immer.« Er lächelte entwaffnend. »Vater schmückt gern etwas aus«, fügte er hinzu.
»Kann man wohl behaupten«, sagte Freddie.
In der Diele ertönte der Summer. Sie merkte plötzlich, dass sie gespannt horchte – wie erstarrt. Sie horchte angestrengt, als eins der Mädchen zur Tür ging und öffnete.
»Guten Abend«, hörte sie Martha sagen, und eine Stimme, die sie gut kannte, antwortete rasch und sehr deutlich: »So spät zu kommen, was? Sind denn alle schon da?«
Mit schnellen Schritten trat Breese Burnley ins Zimmer. Sie trug ein schulterfreies weißes Kleid, um den hübschen Hals eine flache, kreisrunde Brillantenkette. Wie immer, so musste Freddie auch jetzt, trotz ihrer Enttäuschung, wieder staunen, wenn sie Breese ansah, denn es war schwer, sich an eine so vollkommene, in allem so perfekte Erscheinung zu gewöhnen. Bei jeder anderen Frau wäre doch wohl, wenn sie bei Schneegestöber ankam, wenigstens eine Strähne des üppigen, kunstreich frisierten schwarzen Haares in Unordnung geraten oder eine der langen Wimpern über den dunkelblauen Augen nicht mehr ganz so hübsch gerundet, doch bei ihr gab es so etwas nicht.
»Liebe Kinder«, sagte sie, »könnt ihr mir verzeihen, dass ich mich so verspätet habe?«
Breese Burnley blickte mit einem Lächeln gleichzeitig Freddie, Celia und Curtis Grainger an und schaute dann, nur ein wenig langsamer gehend, als hätte sie eine Steigung zu nehmen, über sie hinweg, noch immer lächelnd. Es war nicht ganz einfach, sich mit Breese Burnley zu unterhalten, so rasch ging sie von einem zum andern.
»Hallo, Breese«, sagte Freddie Haven, mit dem Gefühl, als riefe sie ihr die Worte nach, obgleich Breese sich im Moment noch gar nicht weiterbewegt hatte. Auch Celia sagte mit ihrer kindlichen Stimme, ohne besondere Betonung: »Hallo«, und Curtis Grainger rief: »Hallo, B-B!« Es gelang ihm, diesem schwierigen Spitznamen ohne das geringste Stottern auszusprechen
»So spät, ihr Lieben«, wiederholte Breese, indem sie die drei noch anlächelte und doch schon über sie hinausblickte. »Und dabei habe ich mich so beeilt!«
»Noch Zeit, ein Gläschen zu trinken«, stellte Freddie ihr in Aussicht. »Ich werde gleich...«
»Aber Liebste – als hättest du nicht schon genug zu tun. Nein, das besorge ich mir selbst«, gab Breese zurück, die jetzt weiterschritt, indem sie im Vorbeigehen Curt auf den Arm klopfte, ohne stehenzubleiben. Schlank und vollkommen, unendlich verführerisch für männliche Wesen, sehr schön und ihrer Schönheit sehr bewusst. Die drei blickten ihr nach. Um Freddies Lippen spielte ein schwaches Lächeln, und Curt sagte: »Unsere einzigartige BB«, ohne sich diesmal um einwandfreie Aussprache des schwierigen doppelten B zu bemühen.
Freddies Lächeln wurde unsicher, es verflüchtigte sich. Sie spürte, dass Celia sie wieder forschend ansah.
»Du machst dir doch Sorgen – wie ich«, sagte Celia.
Es war eine Feststellung und verlangte doch eine Antwort. In den Augen des Mädchens stand die Bitte um ehrliche Auskunft.
»Ja«, sagte Freddie nur. Dem gab es nichts hinzuzufügen.
Sie durften hier, so nahe am Ausgang zur Diele, nicht stehenbleiben, so abgesondert von den übrigen Gästen. Freddie legte Celia einen Arm um die Schultern und führte sie ins große Zimmer, wo offenbar alle sehr zufrieden waren, denn sie unterhielten sich recht lebhaft. Einzelne Stimmen versuchten andere, die schon laut genug waren, zu übertönen, Onkel Williams Adjutant, der ein hübsches Mädchen gefunden hatte, blickte über seine Eroberung hinweg auf Breese Burnley, die sich dem Champagner widmete und außerdem wie Freddie bemerkte, sofort Howard Phipps entdeckt hatte. Sie sprach mit ihm, aus einiger Entfernung, und schien aufmerksam seinen Antworten zu lauschen. Anscheinend drehte sich das Gespräch um Breeses Aussehen. Freddie machte, so leise, dass niemand es hörte, ein kleines spöttisches Geräusch, das wie Miau klang.
Bruce! fuhr es ihr dann durch den Sinn, während sie Gäste anlächelte und mit einem fast vollen Glas, das sie vorsichtig trug, ihrem Vater entgegenging. Bruce! Ihr war, als müsse er den Namen hören wie eine Explosion, wenn sie so stark an ihn dachte. Bruce, wo bist du? Es überraschte sie selbst, dass sie auf lautloses Fragen eine Antwort erwartete.
Ihr Vater sprach mit Onkel William wie es hohen Rängen geziemte. Sie hörte die Worte die verdammten Roten, dann unterbrach Vizeadmiral Satterbee seine Ausführungen und überließ William Fensley sich selbst. Der war ja schließlich erst Konteradmiral, wenn auch noch aktiv:
»Habe Kirkhill noch gar nicht gesehen«, sagte Satterbee zu seiner Tochter.
Der anklagende Ton in diesem Satz war Freddies Überzeugung nach nur ein Zeichen seiner Besorgnis. Also hatte er ihr die Angst doch am Gesicht abgelesen.
»Hat mich versetzt«, sagte sie, um ihm zu zeigen, dass sie es nicht tragisch nähme. »Darf ich mit dir aufs neue Jahr trinken, Papa?«
Ihr Vater räusperte sich heftig. Er schien ärgerlich zu sein.
»Keine Entschuldigung«, sagte er. »Keine ausreichende Entschuldigung. Wo steckt er denn?«
»Bitte, Papa! Er wird irgendwo aufgehalten worden sein.«
»Hat dazu keine Berechtigung«, erwiderte der Admiral. »Wurde hier erwartet – oder etwa nicht?« Er senkte die hochgezogenen Brauen wieder. »Es sei denn...« Er besann sich anders und blickte seine Tochter prüfend an. »Entschuldige, Freddie«, sagte er. »Und mach dir keine Kopfschmerzen.«
»Ist schon gut, Papa.«
»Sonst hättest du es erfahren«, sagte der Admiral, womit er auf seine Weise deutlich genug zum Ausdruck brachte, dass sie es erfahren haben würde, wenn Bruce etwas passiert wäre. Das war nicht gerade tröstlich, doch sie brachte ein Lächeln zustande und nickte. Dann fiel ihr etwas ein.
»Du hast vorhin nicht zu Ende gesprochen«, erinnerte sie ihren Vater. »Es sei denn..., hattest du angefangen, und du wolltest dann...« Sie hatte ihn eigentlich fragen wollen, ob er mit dem Mann am Telefon über Bruce gesprochen hatte. Aber jetzt blieb keine Zeit mehr dafür. Watkins stand mit der Uhr am Fenster bereit, es zu öffnen, um sozusagen das neue Jahr hereinzulassen, mit dem donnernden Brausen der großen Stadt.
»Nichts«, sagte ihr Vater. »Vielleicht später, Winifred. Es ist gleich soweit.«
Er zog seine Taschenuhr heraus, um es ihr zu beweisen. Das leise Ticken der Uhr erschien ihr wie ein rasselnder Husten des sterbenden alten Jahres. Ein absurder Gedanke eigentlich.
Und dann ging das Getöse los: die Pfeifen der Fabriken und die Sirenen der Schiffe, die Glocken und die unter allen erkennbaren Tönen mitschwingenden unbeschreiblichen Geräusche – die vielfältigen Laute aus den Menschenmassen. Tief unten auf der Straße brüllte einer aus Leibeskräften, weiter entfernt feuerte jemand Schüsse ab. Im Zimmer ging es wie ein Beben durch die Luft, in die Gäste kam Bewegung.
Freddies Vater, der ihr gegenüberstand, hob sein Glas. Sie stieß mit ihm an. Der schwache Laut der einander berührenden Gläser war für den Moment klarer als alle anderen Geräusche.
»Ein frohes neues Jahr, Winifred«, sagte Admiral Satterbee.
»Ein frohes neues Jahr! Ein glückliches, Papa!«
Ihre Stimme blieb fest, sie beherrschte sich gut. Sie tranken, während die Glocken läuteten, die Schiffssirenen mit tiefem metallenem Ton das Scheiden des alten Jahres beklagten und das leise Klirren der Gläser sich immerfort wiederholte.
Sie leerten die ihren, Vater und Tochter, die einander so merkwürdig glichen: mit den eckigen Schultern, in der Art, wie sie standen und gingen und das an sich bedeutungslose Zeremoniell zur Jahreswende erfüllten. »Wir müssen dann einen Toast ausbringen, Freddie«, hatte ihr Vater vor vielen Jahren gesagt, vielleicht als sie das erste Mal miteinander getrunken hatten, die beiden Satterbees, nachdem die Mutter gestorben war. »Wenn du’s ehrlich meinst, musst du dein Glas austrinken«, hatte er ihr damals erklärt.
Der Admiral beugte sich zu ihr herab und küsste sie. Er küsste sie zart auf die Wange und klopfte ihr auf die bloße Schulter.
Die nächste Stunde bedeutete ihr nichts und war später aus ihrer Erinnerung geschwunden. Sie wurde wieder die Gastgeberin, die nach dem Höhepunkt noch alle in Stimmung halten musste, achtgeben musste, dass der Sekt ständig und doch ohne Hast angeboten wurde. »Nie die Menschen nötigen, aber sie auch nie vor leeren Gläsern sitzen lassen«, war eine Devise ihres Vaters. Später glaubte sie sich zu erinnern, dass Breese Burnley und Howard Phipps sich recht lange miteinander unterhalten und auch um Mitternacht gemeinsam aufs neue Jahr getrunken hatten. Sie wusste, dass Celia Kirkhill und Curtis Grainger dauernd zusammen gewesen waren, und erinnerte sich, wie oft Celia ihr fragend das Gesicht zugewandt und wie oft sie ihr mit einem Kopfschütteln geantwortet hatte. Sonderbar aber, dass ihre Nervosität, beim Warten nach Mitternacht nicht mehr so groß gewesen war. Vielleicht hatte sie in Gedanken willkürlich diese Stunde als entscheidend festgesetzt, die Stunde, bis zu der Bruce Kirkhill gekommen sein musste? Je näher diese Stunde rückte, um so nervöser war sie geworden. Als sie jedoch vorüber und nichts passiert war, hatte sich die übertriebene Angst verloren. Gedanken machte sie sich nach wie vor, aber alles ging unter in einem seltsamen Gefühl innerer Leere. Als sei sie betrogen worden, habe nach etwas greifen wollen und, anstatt den begehrten Gegenstand zu erreichen, ins Nichts gegriffen. Ohne sich etwas anmerken zu lassen, war sie zwischen den Gästegruppen hin und her gewandert, hatte Onkel William und Tante Flora zum Ausgang begleitet, als sie, um halb eins schon, sich verabschiedeten. Sie hatte sogar Onkel Williams Adjutanten durch einen flüchtigen Blick zu verstehen gegeben, dass sie es sehr nett fand, wie er pflichtbewusst nachgesehen hatte, ob der Wagen bereit, der Fahrer zur Stelle und nüchtern war.
Die festliche Gesellschaft schrumpfte zusammen, sie zersetzte sich gleichsam und formte sich bei sinkender Zahl wieder neu: Eine halbierte Gruppe gesellte sich zu einer ähnlich verkleinerten, die neue Einheit, abermals schrumpfend, verband sich mit einer anderen. Bald blieb nur noch eine übrig, zunächst ziemlich groß, doch schon bald an Zahl abnehmend. Und nicht lange, da waren es nur noch ein Dutzend Menschen. Celia, die bei den Satterbees übernachten sollte und nicht ins Hotel zurückzufahren brauchte; Curtis Grainger, der stets in ihrer Nähe blieb und sie oft mit den besorgten Blicken des Beschützers betrachtete; Breese und ihre Mutter Fay Burnley; Howard Phipps, der jetzt, in dem klein gewordenen Kreis, Breese ihrer Mutter überließ und sich um Freddie kümmerte, und außerdem ein paar Leute, denen es noch zu früh zum Schlussmachen war. Zu diesen gehörten Onkel Williams Adjutant und das von ihm entdeckte junge Mädchen.
Auch dieser Rest schmolz zusammen. Der Adjutant, ein hübscher, liebenswürdiger und sehr weltgewandter Mensch, führte sein Mädchen davon, nachdem er noch einen letzten schnellen Blick auf Breese Burnley geworfen hatte. Ein Zivilist, der bei der Marine allerdings nur als Reservist gedient hatte, empfahl sich ganz plötzlich, vermutlich gedrängt vom zu reichlich genossenen Champagner. Aus dem Dutzend Personen waren sieben geworden, die nun sagen konnten, sie seien ganz unter sich. Jedenfalls dachte Freddie das ganz instinktiv und fragte sich, weshalb, sie die Schar so zusammenhielt. Die Antwort fand sie sofort: Es, waren alles Menschen, die Bruce Kirkhill kannten. Er bildete für sie den Mittelpunkt.
Wenn es keinen Bruce Kirkhill gäbe, der jedem von ihnen etwas bedeutete, hätte sich die Gruppe kaum zusammengefunden. Sie ließ sich mit dem Ensemble einer Theateraufführung vergleichen, fand Freddie. Es waren noch anwesend:
Celia, Tochter Senator Kirkhills;
Winifred Haven, genannt Freddie, mit dem Senator verlobt;
Vizeadmiral Jonathan Satterbee, Vater der Verlobten des Senators;
Mrs. Fay Burnley, Hausdame Senator Kirkhills, Cousine seiner verstorbenen Frau und Breeses Mutter;
Breese Burnley, Fotomodell, Tochter der Hausdame des Senators und...
Freddie hielt in ihrer Betrachtung inne. Falls zwischen Breese, genannt BB, und dem Senator eine engere Verbindung bestanden hatte, spielte das jetzt keine Rolle mehr. Was Bruce getan hatte, bevor sie ihn kennenlernte, und was er in jenem Stadtviertel im Osten der Stadt getan haben mochte, regte sie nicht auf. Sie waren ja keine Kinder mehr.
Freddie setzte ihre Betrachtung fort:
Howard Phipps, Sekretär des Senators;
Curtis Grainger, in des Senators Tochter verliebt.
Die letztgenannte Rolle war ungenügend bezeichnet. Curtis Grainger, der des Senators Tochter liebte, war mehr: Er war der Sohn von Julian Grainger, dem Initiator großer öffentlicher Projekte, der kein Hehl aus der Tatsache machte, dass er in Senator Bruce Kirkhill eine Gefahr für das System der freien Wirtschaft erblickte. Die in Frage kommenden großen Unternehmer waren sehr beunruhigt über Regierungspläne zum Bau riesiger. Kraftwerke und Staudämme, jedes Projekt gewissermaßen ein zweites Tennessee Valley. Und Senator Kirkhill verkündete laut, dass er Mr. Graingers Standpunkt in diesen Dingen keineswegs teilte. Er war im Senat der führende und erfolgreichste Verfechter dieses neuen Programms. Curtis Grainger vertrat seinen Vater in New York. Anscheinend teilte auch er dessen Ansichten nicht; zumindest existierte keine ideologische Schranke zwischen Curt Grainger und der Tochter des Senators.
So saßen sie da und warteten, diese Leute, die in gewisser Weise alle miteinander verbunden waren. Sie glichen den Mitgliedern eines Ensembles, die auf den Star warten. Sie tranken sehr wenig. Warteten sie nicht alle auf den Summer vom Eingang? Die Hausmädchen waren zu Bett geschickt worden. Watkins, ein bisschen grau im Gesicht, stand da und wartete, ob für ihn noch etwas zu tun wäre.
»Gehen Sie schlafen, Watkins«, sagte der Admiral.
Der. Butler antwortete: »Danke sehr, Sir«, und ging.
»Aber wo kann er nur sein?«, fragte Fay Burnley betrübt, als hielten die übrigen ihr etwas verborgen, als wüssten alle außer ihr Bescheid.
Fay Burnley hatte eine ähnliche Sprechweise wie ihre Tochter: Sie betonte manche Worte stark, gab ihnen ein ganz besonderes Gewicht. Das hat sie doch früher nicht getan, sie ahmt wahrscheinlich ihre Tochter nach, dachte Freddie. Überhaupt glich sie ihrer Tochter in mancher Hinsicht, nur war sie nicht so vollkommen schön und vermochte nicht, wie Breese – wenn sie wollte –, so große Gelassenheit zu bewahren. Man hatte bei Fay Burnley das Gefühl, dass sie ständig bemüht wäre, keine Nervosität zu zeigen.
Sie war in den Vierzigern. Eine ganze Reihe von Jahren war sie schon Bruce Kirkhills Hausdame – besser wohl: Vertreterin der Hausfrau – gewesen. Seit dem Tod ihres Mannes, hatte Bruce einmal Freddie erzählt. Ihr Mann war vor langer Zeit Kirkhills bester Freund gewesen, und Fay war eine Cousine seiner verstorbenen Frau. »Mir schien es eine gute Idee, sie in mein Haus zu nehmen«, hatte Bruce zu Freddie gesagt. »Im großen Ganzen war es das wohl auch. BB war damals natürlich noch ein kleines Ding.«
»Wo kann er nur sein?«, wiederholte Mrs. Burnley mit Nachdruck. Ihre großen Ohrringe schwangen hin und her, die blauen Augen funkelten und glänzten unwahrscheinlich stark.
»Wir wissen es doch nicht«, sagte Breese, die ganz entspannt in einem tiefen Sessel saß, in jeder Linie ihres vollkommen schönen Körpers bereit für die Kamera.
»Er ist all right, Mrs. Burnley«, sagte Howard Phipps, »dem Chef passiert nichts. Irgendwas hat ihn aufgehalten, das ist alles. Etwas dazwischengekommen.«
»Das wissen Sie aber doch nicht«, hielt ihm Mrs. Burnley vor. Ihre Stimme klang jetzt scharf.
Phipps zuckte die Achseln, um den anderen anzudeuten, dass er diesen Angriff nicht verdient hätte.
Celia begann ganz plötzlich zu weinen. Nicht laut, die anderen sollten es gar nicht merken. Ihr kleines Gesicht schrumpfte auf einmal ein. Obwohl sie sich sehr beherrschte, merkten doch alle, dass sie weinte.
»Celia, liebes Kind«, sagte Fay Burnley. »Natürlich ist er all right.«
»Phipps«, sagte der Admiral, »rufen Sie noch mal im Waldorf an. Vielleicht ist er jetzt da.«
Phipps gehorchte dem Befehl, ging ins Studierzimmer und ließ die Tür hinter sich offen. Sie konnten ihn sprechen hören und lauschten. Zwar waren seine Worte nicht deutlich zu verstehen, aber der Tonfall genügte.
»Macht nichts«, sagte er zum Schluss, »ich rufe vielleicht später wieder an. Halten Sie die Zimmer weiter reserviert.«
Er kam kopfschüttelnd wieder herein. Sein Gesicht, das durch den starken Bartwuchs, den auch schärfstes Rasieren nicht ganz beseitigen konnte, dunkel wirkte, war sehr ernst.
»Er hat sich noch nicht eingetragen«, sagte er. Dieses noch war das rettende Wort, dem er einen gleichgültigen Klang zu geben suchte, um den Eindruck zu erwecken, dass die Verzögerung unbedeutend sei.
Admiral Satterbee räusperte sich. »Wo befindet sich der Mann nur?«
Keiner antwortete, denn keiner wusste die Antwort. Der Admiral blickte seine Tochter an – besorgt, forschend.
Celia weinte wieder. Curtis Grainger legte einen Arm um sie und zog sie an sich. Er blickte die anderen an, als fordere er Rechenschaft von ihnen.
»Wir müssen doch etwas unternehmen«, sagte er, »versuchen, ihn zu f-finden.«
»Aber wie denn, mein Lieber?«, fragte Breese Burnley.
Admiral Satterbee hielt, wie Freddie wusste, nicht viel von Breese, doch jetzt nickte er.
»Stimmt«, sagte er. »Was, Grainger?«
Er wartete, um Curtis die Gelegenheit zu näherer Erklärung zu geben.
»An die Polizei können Sie sich nicht wenden«, sagte Satterbee, als Grainger schwieg. »Der Mann ist Senator. Käme in die Zeitungen.« Er sprach das Wort Zeitungen sonderbar aus, als beschmutze es seine Zunge. »Keine Ahnung von Staatssicherheit. Uns alle mit hineinzuziehen, wie?«
»Die P-Polizei würde nicht fing Grainger jetzt an, doch der Admiral schnitt ihm das Wort ab.
»Unsinn!«, sagte er. »Zivilisten. Politiker.«
»Wir können doch nicht bloß warten«, sagte Mrs. Burnley jetzt empört. »Bloß hiersitzen!«
Der Admiral blickte sie ohne Wohlwollen an. Er hielt diesen Blick für ausreichend.
»Liebe Kinder«, sagte Breese Burnley. Ihr Ton war beinahe lustig. »Liebe Kinder, weil Bruce sich um ein paar Stunden verspätet, seid ihr alle gleich aufgeregt. Ganz durchgedreht. Redet schon von Benachrichtigung der Polizei. Ich muss mich wundern, Herrschaften. Kann sich ein Mann nicht mal verspäten? Sogar ein bedeutender Mann?« Sie blickte Howard Phipps an. »Und sogar der Chef?«
In ihrer Stimme lag nichts Ungewöhnliches, abgesehen von der sorgsam kultivierten Sprechweise. Sie vermied jede unklare Andeutung, und doch warf ihr der Admiral einen bösen Blick zu.
»Falls begann er, doch Freddie sagte gleich: »Nein, Papa, es ist schon gut.«
»Nichts ist schon gut«, sagte der Admiral zur Allgemeinheit. »Party war für ihn veranstaltet. Ihn und Freddie. Da darf kein Mann sich verspätet melden, falls nicht
»Falls nicht – was, Papa?«, fragte Freddie. »Du hast gewiss recht, leider. Aber was wolltest du noch sagen?«
»Ich weiß nicht. Dass ihm etwas Dringendes dazwischengekommen ist, meine ich. Vielleicht sitzt er in einer Klemme, verstehst du.«
»Nein«, sagte Howard Phipps ärgerlich. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Admiral. Der Chef kommt nicht in Klemmen.«
Admiral Satterbee maß Phipps mit einem geringschätzigen Blick, doch seine Antwort klang freundlich.
»War nur so eine Bemerkung. Bestimmtes weiß ich nicht, Phipps.«
»Papa, weißt du auch wirklich nichts Bestimmtes?«, fragte Freddie. »Oder kannst du dir etwas Bestimmtes denken?«
Der Admiral räusperte sich, blickte sie an und wandte die Augen rasch wieder ab.
»Sagte doch schon: nein.«
Die Worte bedeuteten endgültig Schluss davon, doch Freddie fühlte, dass sie unaufrichtig waren, eine Lüge. Der Admiral glaubte, Bestimmtes zu wissen: dass Bruce nicht bei ihnen sein konnte, weil er in einer Klemme saß.
Aber jetzt durfte sie ihn nicht weiterfragen, er ließ sich nicht drängen, auch nicht von seiner Tochter. Vor allem konnte sie nicht in Gegenwart der anderen von ihm Erklärungen zu dem Telefongespräch verlangen, das sie zum Teil mitgehört hatte. Nein, das ging nicht. Also konnten sie vorläufig nichts weiter tun als warten. Sogar Curtis Grainger bestätigte das durch sein Schweigen. Er hielt Celia eng an sich gepresst, den Kopf über den ihren geneigt. Sie weinte noch immer.
Auf einmal ertönte der Summer, er schlug nur kurz an.
Alle Gesichter wandten sich zur Tür. Auch Celia hob den Kopf und blickte hin. Phipps drehte sich im Sessel herum, Fay Burnley, die mit dem Rücken zur Tür saß, ebenfalls. Ihre Gesichter waren für einen Augenblick alle starr, ohne Ausdruck, noch leer im ersten Staunen und in unsicherer Erwartung. Sie sahen aus wie unvermutet vom Blitzlicht eines Fotographen festgehaltene Menschen.
Freddie sprang gleich auf und ging mit schnellen Bewegungen hinaus, um zu öffnen. Aller Augen folgten ihr, der schlanken jungen Frau, wie sie in stolzer Haltung dahinschritt.
Jetzt wird es Bruce sein, dachte Freddie. Er ist gekommen, endlich gekommen. Es ist ihm nichts passiert. Doch fast im selben Moment schon fühlte sie wieder die Sorge um ihn, die zur Angst wurde.
Sie erreichte die Tür und griff nach der Klinke. Etwas hielt sie davon ab, sie niederzudrücken und die Tür nach innen zu ziehen.
Es war nicht Bruce Kirkhill. Und sie hatte, das empfand sie jetzt deutlich, schon vor dem öffnen gewusst, dass er es nicht sein würde, denn Bruce klingelte dreimal kurz nacheinander, nicht so, wie es eben war: nur einmal.
Der Mann an der Tür war groß, dunkel, und trug einen dunkelgrauen Mantel. Er nahm seinen großen grauen Schlapphut ab. Sein schmales, sensibles Gesicht war jetzt tiefernst.
»Ist Miss Kirkhill zu sprechen?«, fragte er. »Miss Celia Kirkhill?«
Sie gab keine Antwort, unfähig, zu sprechen.
»Ich bin von der Polizei«, sagte der Fremde. Es kam zaghaft, fast kummervoll heraus. Er blickte Freddie an, seine dunklen Augen sprachen von Unheil. »Sergeant Blake«, ergänzte er. »Sie sind nicht Miss Kirkhill?«
Stumm schüttelte Freddie den Kopf. Dann brachte sie mit Mühe ein paar Worte heraus.
»Sie ist bei uns. Treten Sie näher. Handelt sich’s um... um ihren Vater?«
»Ich hoffe, nicht«, gab Sergeant Blake zurück. »Hoffentlich nicht, Miss...?«
»Haven«, sagte Freddie. »Mrs. Haven. Celia ist hier, Sergeant.« Und sie wiederholte: »Treten Sie bitte näher.« Sergeant Blake kam herein. Er ließ seinen Hut auf einen Sessel fallen, den Mantel zog er nicht aus. Der war feucht, wie Freddie bemerkte. Also schneite es noch. Wie konnte sie jetzt an so etwas Belangloses denken?
Sie betrat vor Sergeant Blake das Wohnzimmer. Celia war schon aufgesprungen, sie stand reit geballten Fäusten da, in der einen hielt sie ein Taschentuch. Curtis Grainger erhob sich gerade, um sich in ihre Nähe zu stellen, doch er berührte sie nicht, sondern ließ sie allein stehen, vor dem großen, düsteren Fremden im nassen Mantel, der die Versammelten mit bedrückter Miene ansah.
»Miss Kirkhill«, sagte er zu Celia. »Sie sind es doch? Die Tochter von Senator Kirkhill?«
Das junge Mädchen nickte, ganz schnell, damit er nur sofort weiterspräche.
»Es ist ein – Unfall passiert«, sagte er. »Ich bin hergeschickt worden, um Sie zu bitten
»Vater!«, rief das Mädchen. »Vater verunglückt?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Sergeant Blake mit taktvoll gedämpfter Stimme. »Deshalb bin ich ja hergeschickt worden. Wir möchten Sie bitten, einen Blick auf... auf...«
»Er ist tot?«, rief Celia. »Papa ist tot!«
Blake schüttelte rasch den Kopf,
»Wir hoffen, dass es nicht Ihr Vater ist. Allerdings ist ein Mann getötet worden. Es muss ja nicht Ihr Vater sein, Miss Kirkhill. Hoffentlich...«
Jetzt fühlte sich Freddie ganz von dunklen Wirbeln eingehüllt.
»Winifred«, sagte jemand außerhalb der Finsternis. »Winifred!« Ihres Vaters Stimme. Mit furchtbarer Anstrengung kämpfte sie sich aus dem Dunkel. Jetzt konnte sie die anderen wieder sehen: ihren Vater, der auf sie zukam, und Blake, der den Kopf nach ihr drehte. Also waren es nur Sekunden gewesen, in denen sie sich gegen die erdrückende Dunkelheit gewehrt hatte.
»Mir fehlt nichts, Vater, sei unbesorgt«, hörte sie sich sagen. In Ohnmacht fiel Celia. Grainger fing sie auf, hob sie hoch und trug sie auf ein Sofa.
Blake blickte Freddie an. In seinem ausdrucksvollen Gesicht las sie Besorgnis und eine Frage.
»Ich werde Senator Kirkhill heiraten, Sergeant«, sagte sie, indem sie ihrer Stimme Festigkeit zu geben suchte. Und sie ward sich bewusst, wie sorgsam sie den Satz als Gewissheit formuliert hatte: »Ich werde...«
»Wahrscheinlich ist der Betreffende gar nicht der Senator«, sagte Sergeant Blake. »Sie verstehen doch, dass wir nachfragen, Mrs. Haven? Sie dürfen nicht denken, dass
»Hoffentlich nicht«, sagte sie. »Ja, ich verstehe Sie, Sergeant.« Fay Burnley hatte sich über Celia gebeugt; sie hielt ihr den Kopf nach unten, rieb ihre Handgelenke und sprach auf sie ein.
»Es ist nicht dein Vater, Süße«, sagte sie. »Selbstverständlich nicht. Natürlich ist es nicht Bruce!«
»Das Mädel kann nicht mit Ihnen gehen, Sergeant, das müssen Sie doch einsehen«, sagte der Admiral im Befehlston. Aber Sergeant Blake schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid«, antwortete er, »früher oder später wird sie es doch müssen. Wenn es der Senator sein sollte, ist sie ja wohl die nächste Verwandte.«
»Jetzt geht sie jedenfalls nicht«, erklärte der Admiral. »Wir alle haben Kirkhill gekannt. Wir würden ihn auch alle – wiedererkennen. Ich werde selbst gehen.«
Sergeant Blake zögerte. Er betrachtete das reglos auf dem Sofa liegende Mädchen und kam zu einem Entschluss.
»Na schön«, sagte er. »Die Dame kann später nachkommen. Wenn es notwendig sein sollte.« Er blickte den Admiral an. »Sie würden ihn mit Sicherheit erkennen?«, fragte er.
»Ich werde hingehen«, sagte Freddie. »Ja, Vater«, erwiderte sie den Blick des Admirals. »Ich... ich kann hier nicht einfach sitzenbleiben und warten. Du und ich – lass uns beide gehen.« Sie versuchte zu lächeln. »Bitte, Papa.«
Einen Augenblick sah der Admiral sie stumm an, dann nickte er plötzlich.
»Du und ich«, sagte er, und fragte Blake: »Haben Sie einen Wagen da?«
Der Sergeant nickte.
»Also dann«, sagte Freddie. »Gleich, ja?«
Wieder nickte Blake.
»Bitte«, sagte er.
Es ging zu rasch, dachte Freddie, das Ende kam zu schnell. Es dauerte ihr nicht lange genug, den Mantel anzuziehen, nicht lange genug, im Fahrstuhl hinunterzufahren, aber viel zu schnell erreichte dann der Wagen das Leichenschauhaus. Dort mussten sie sich in einen Warteraum setzen, und jetzt kam ihr das Warten, obwohl es nur kurze Zeit dauerte, sehr lange vor. Sergeant Blake, der sie inzwischen verlassen hatte, kam zurück und hielt ihnen eine Tür auf.
Wieder wirbelte Dunkelheit um Freddie, sie kämpfte sich noch einmal durch. Sie vernahm ihre Stimme.
»Ja«, sagte sie, »es ist Senator Kirkhill.«
Dann fühlte sie ihres Vaters Arm um ihre Schultern, aber die Finsternis schwand. Sie fiel nicht in Ohnmacht, doch Körper und Gehirn schienen wie taub. Ihr war, als passierte dies nicht ihr, sondern irgendeiner fremden Person.
Drittes Kapitel
Eigentlich war es doch nicht schwer, einen Schlüssel in ein Schlüsselloch zu schieben. Wenn man ihn nur recht festhielt und langsam, entschlossen und zuversichtlich ans Werk ging, ließ er sich hineinstecken. Daran war doch nichts Besonderes, jeder tat es ein paar dutzend Mal täglich, dachte Jerry North. Man hatte weiter nichts zu tun, als ihn ganz fest in der Rechten zu halten, mit ihm voll Selbstvertrauen auf das Schlüsselloch zu zielen, ihn nach rechts zu drehen, und dann...
»Jerry«, rief Pamela, die wartend im Korridor an die Wand gelehnt stand, dass es aussah, als sei sie fest eingeschlafen. »Jerry, weshalb machst du denn die Tür nicht auf? Ich möchte gern zu Bett gehen.«
»Was tue ich denn sonst, Pamela, wenn ich mich erkundigen darf?«, sagte Jerry gravitätisch.
»Klimpern«, antwortete Pam. »Du klimperst und machst komische Geräusche. Weshalb nimmst du nicht den richtigen Schlüssel?«
»Ich...«, begann Jerry hochmütig. Dann sah er nach. »Selbstverständlich habe ich den richtigen«, sagte er, und jetzt stimmte es auch. »Du schläfst ja beinahe schon.«
»Da hast du vollkommen recht«, erwiderte sie, »ich könnte hier direkt einschlafen, so gegen die Wand gelehnt, während ich auf dich warten muss.«
Jerry schob den Schlüssel in das Schlüsselloch und drehte ihn herum.
Er stieß die Tür auf. Drei Katzen, die im Halbkreis saßen, blickten dem Ehepaar North erwartungsvoll entgegen. Pamela trat näher zu Jerry, der den Arm um sie legte.
»Trag mich über die Schwelle«, sagte sie verschlafen. »Lass uns das neue Jahr so anfangen.«
Jerry hob sie hoch. Die Katzen schnitten verwunderte Grimassen. Sherry, die blaugepunktete, ein fast unnatürlich sensibles Wesen, stieß – mit gesträubtem Fell – einen Schrei aus und verschwand unter das Sofa. Gin, von ihrer Erregung an gesteckt, knurrte fragend, blieb aber auf ihrem Platz. Nur Martini, die Mutter beider und klüger als ihre ungebärdigen Sprösslinge, saß ungerührt still, ihre riesigen, runden Augen blickten starr.
Gerald North küsste seine Frau, nicht nur oberflächlich, und umfasste ihre Schultern inniger, ehe er sie wieder auf die Füße stellte.
»Übrigens«, sagte er, »mit dem Türschloss stimmt etwas nicht.«
»Jerry«, sagte Pamela, »morgen, ja? Ich möchte gern schlafen.«
Sie schaute sich nach Martini um, die sich auf den Rücken gerollt hatte, die Beine in die Luft streckte und zwischen ihren Vorderfüßen hindurchlugte.
»Sie möchte ihr Bäuchlein gekrault haben«, sagte Pam, setzte sich auf den Fußboden und begann Martini zu streicheln. »Bist doch unsere Beste, ja – Martini ist unser bestes Kätzchen, nicht wahr?«
Da klingelte das Telefon, grässlich laut. Martini entwand sich Pamelas Händen, rollte sich auf die Füße, rannte m den Flur, von wo das Klingeln kam und blickte den Kasten an, der die Glocke von der Wohnungstür enthielt.
»Konfus«, sagte Pamela. »Es ist doch das Telefon, Martini! Jerry, das Telefon!«
Jerry hatte den Hörer in der Hand und sagte: »Ja?«
Doch die Klingelei ging weiter.
»Jerry, der andere Apparat, das Haustelefon«, rief Pam. »Wer kann da jetzt bloß...?« Und schon war sie, beinah so schnell wie Martini, in. den Flur zum Haustelefon gelaufen. »Ja, bitte?«
»Mrs. North?«, fragte eine Frauenstimme, die jugendlich, aber gespannt und hastig klang.
»Ja, am Apparat«, antwortete Pamela.
»Hier ist Winifred Haven«, fuhr die Frau, die aus dem Vestibül unten sprach, fort. »Darf ich zu Ihnen raufkommen?«
»Nanu«, sagte Pam. »Aber selbstverständlich dürfen Sie, Mrs. Haven.«
Dabei fand sie es gar nicht so leicht, das als selbstverständlich zu bezeichnen und sich das Erstaunen nicht anmerken zu lassen.
»Ich weiß, es ist unerhört«, meinte Freddie Haven, die das fühlte, »jedoch... Also ich komme.«
Pamela ging ins Wohnzimmer zurück, wo Jerry noch den falschen Telefonhörer in der Hand hielt und ihn vorwurfsvoll anblickte.
»Jerry! Mrs. Haven kommt rauf, die Tochter deines Admirals.«
Gerald North wurde mit einem Schlag wach. Er legte den Hörer auf, schaute auf seine Uhr und rief: »Was will denn die jetzt?«
»Weiß nicht. Sie ist aufgeregt. Muss was passiert sein.«
»Um drei Uhr fünfundvierzig«, sagte Jerry. »Morgens!« Schon hörten sie den Fahrstuhl auf ihrer Etage anhalten. Das Zuknallen seiner Türen schallte durch den Flur, über den sie jemand gehen hörten. Pamela öffnete die Wohnungstür, und Freddie Haven, die auf sie zukam, entschuldigte sich: »Es ist schrecklich von mir. Unverzeihlich.«
An ihren Augen, in ihrer Stimme, in ihrem Gesicht war die Erregung zu spüren, das bleiche Gesicht war gezeichnet von Ermattung und Schrecken.
»Ist schon gut«, beruhigte Pamela sie. »Selbstverständlich.« Jerry hatte sich erhoben, er war nicht mehr verschlafen. Spannung trat in sein Gesicht, als er Freddie Haven ansah.
»Ist in Ordnung«, sagte er, Pamelas Worte unterstreichend. »Was gibt’s denn, Mrs. Haven? Der Admiral...?«
Sie stand da, hielt den Mantel zusammen, als fröre sie sogar in dieser warmen Wohnung. Dem blassen Gesicht gaben nur die Lippen etwas Farbe. Das Rot ihrer Haare war so dunkel, dass es ganz anders wirkte – wie eine neue Nuance. Sie schüttelte den Kopf, ohne zu sprechen.
»Setzen Sie sich«, forderte Pam sie auf, »bitte setzen Sie sich.«
Die junge Frau schüttelte wieder den Kopf, doch nicht als Antwort. Sie sank in einen tiefen Sessel und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Aber gleich richtete sie sich wieder auf, mit einer schnellen, nervösen Bewegung.
»Bruce ist tot«, berichtete sie und blickte die beiden an. »Senator Kirkhill. Er ist getötet worden. Es ist – grauenhaft.«
»Oh«, rief Pam aus, »ich bin... ich bin...«
»Jemand hat ihn umgebracht, die Polizei hat es gesagt«, erklärte Freddie Haven. In ihren Augen stand noch das Entsetzen. »Ermordet«, fügte sie hinzu.
Pamela bereitete sofort Kaffee, Jerry brachte Cognac. Während sie auf den Kaffee warteten, wollte Freddie etwas sagen, doch Pam sagte kopfschüttelnd: »Noch nicht.«
Sie tranken Kaffee mit Cognac. Ein wenig Farbe kam wieder in Freddies Gesicht.
»Jetzt«, sagte Pam.
Es dauerte ein Weilchen, bis Winifred Haven sich von dem ausgestandenen Schrecken soweit erholt hatte, dass sie klar denken konnte. Sie versuchte zu lächeln, doch das wirkte unnatürlich, gequält.
»Ich wollte Sie um Ihre Hilfe bitten«, erklärte sie schließlich, die Worte vorsichtig wählend. »Mrs. Burnley – oder wer war es doch? – sagte mir, dass Sie... Sie wären...«
Sie wusste nicht recht weiter.
»Dass wir Detektive wären?«, fragte Pamela. »Kriminalisten oder dergleichen?« Sie schüttelte den Kopf. »Sind wir aber nicht.«
»Wir sind mit einem Polizei-Captain befreundet«, sagte Jerry. »Wir haben auch schon mit Kriminalfällen zu tun gehabt, aber Ihre Bekannte irrt sich: Detektive sind wir nicht. Ich bin Buchverleger. Und Pam ist...« Er unterbrach sich, indem er seine Frau ansah. Was war denn Pam? Hausfrau? Gewiss, aber als Bezeichnung klang das doch lächerlich. »Pam ist auch keine Detektivin«, schloss er.
Freddie Haven blickte erst ihm, dann Pamela ins Gesicht
»Ich dachte heute Abend... ich dachte, Sie hätten etwas beobachtet und es verstanden. Dass ich in Sorge war und in Ungewissheit. Nachher sagte ja jeder...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. »Ich wollte Bruce heiraten. Und nun soll er ermordet worden sein.«
Sie blickte die Norths wieder fragend an, als wären sie ihr darauf eine Antwort schuldig.
Jerry, der bisher gestanden und auf sie herabgeblickt hatte, setzte sich jetzt auf einen Stuhl.
»Mrs. Haven, hören Sie mir mal zu. Wollen Sie das?«
Sie nickte, ihn fest anblickend.
»Wenn das wahr ist«, sagte Jerry, »wenn also Senator Kirkhill ermordet wurde, wird die Polizei die Sache aufklären. Den Täter ermitteln. Und das wollen Sie doch? Deshalb kamen Sie zu uns, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein?«, fragte Jerry; er fühlte sich zurückgewiesen.
»Das stimmt nur zum Teil«, sagte sie. »Darf ich’s Ihnen erzählen?«
Jerry zögerte, er hätte am liebsten Nein gesagt.
»Natürlich«, warf Pamela ein. »Hör gut zu, Jerry.«
»Es handelt sich um meinen Vater«, sagte Freddie. »Er... ich fürchte, er... er weiß etwas, was er der Polizei nicht erzählt hat und ihr auch nicht erzählen will.« Sie sah Jerry an. »Er ist so ein lieber Mensch, aber so naiv«, ergänzte sie.
Jerry blickte sie verständnislos an. Naiv? Er wiederholte das Wort laut, und sie nickte.
»Ihr Vater?«, fragte er. Es klang ungläubig und war auch so gemeint. Vizeadmiral Jonathan Satterbee, Johnny Jump-up, war kein naives Kind. Lachhaft! Er war ein Mann mit großen Erfahrungen und Kenntnissen und hatte sich bei der Marine besonders ausgezeichnet. Im Pazifischen Ozean war er der Mann gewesen. Sein Buch über den Seekrieg im Pazifik, das Buch, in das Jerry schon Geld hineingesteckt hatte und das ihm jetzt einige Sorgen zu machen begann, war nicht geschrieben von einem naiven Mann – falls seine Tochter damit einen Menschen ohne Erfahrung und ohne Weltkenntnis gemeint haben sollte,
»Sie verstehen das nicht«, entgegnete Freddie Haven. »Ich weiß, dass es merkwürdig klingt. Er ist ein prächtiger Mensch, ein tadelloser Offizier, und ist überall herumgekommen. Aber« – sie schüttelte den Kopf – »er war immer so abgeschirmt.« Jetzt lächelte sie beinahe. »Das waren sie alle. Die Armee, die Marine. Papa ist wunderbar und eine Klasse für sich, aber in diesem Sinn gehört er zu denen.«
Sie blickte erst Gerald, dann Pamela forschend an, schüttelte den Kopf und erklärte, offenbar könnten sie das nicht begreifen.
»Es ist da alles – so vorbereitet«, erläuterte sie, »ihr ganzes Leben vorweg arrangiert. Sie leben gleichsam zwischen Mauern. Sehen Sie: Ich habe von klein auf zur Marine gehört und fast meine ganze Verwandtschaft auch. Selbst ein Mann wie Papa kommt da allmählich auf die Idee, dass er sich erheblich von der übrigen Menschheit unterscheidet. Er hat sein Leben lang einen sicheren Hintergrund gehabt und lange Zeit große Autorität. Mit Dingen des täglichen Lebens hat er sich nicht zu befassen brauchen, die nahm er als selbstverständlich hin. Richtige Menschenkenntnis hat er nicht, er kennt nur die Männer in der Marine – die anderen Offiziere bei der Marine. In der Außenwelt ist er eben... eben naiv.«
Sie hielt kopfschüttelnd inne und sagte, sie hätte sich gewiss ungeschickt ausgedrückt.
»Er hält alles für einfacher, als es ist«, erklärte sie weiter. »Dass – ach, ich weiß nicht.« Sie schwieg einen Augenblick, als müsse sie sich für die nächsten Worte erst wieder stärken. »Er mochte Bruce nicht, war gegen unsere geplante Heirat. Bruce war ein ganz, anderer Typ, er hat nicht zwischen Mauern gelebt. Und er war Politiker. Aber Politiker hasst mein Vater.«
»Nanu«, rief Jerry aus. »Mein Gott, Mrs. Haven, wollen Sie uns etwa einreden...?«
»Nein, das will sie natürlich nicht, Jerry«, schaltete sich Pamela ein. »Aber – Sie glauben, dass er irgendwie in die Sache verwickelt ist? Geht es darum? Dass die Polizei das nicht verstehen wird? Und dass er nicht weiß, wie er es erklären soll?« Langsam nickte Freddie Haven.
»So ähnlich ist es, ja. Ich weiß nicht, da war ein Mann Sie hielt wieder inne. »Ich werde es Ihnen erzählen«, fuhr sie fort. »Vielleicht können Sie mir dann raten, was zu tun ist.« Sie berichtete, wie sie mit ihrem Vater zum Leichenschauhaus gegangen war, um Bruce Kirkhill zu identifizieren, und wie sie nachher, wenn auch nur kurz, verhört wurden. »Von einem Polizeibeamten mit Namen Weigand.«
Sie blickte die Norths fragend an.
»Bill Weigand«, sagte Jerry. »Das ist der, den wir kennen.«
»Es dauerte nicht lange. Er war auch sehr rücksichtsvoll. Fragte uns nur nach dem Abend – wann wir Bruce erwartet, ob wir von ihm gehört und ob wir eine Ahnung hätten, warum...« Wieder schwieg sie. »Ach, es ist so sonderbar – grässlich. Er hatte alte Sachen an, altgekaufte. Und er... er starb in einem Hauseingang irgendwo am unteren Broadway. Man hatte ihm Chloral eingegeben. Viel. Er ist dann einfach in dieses Haustor gegangen und... und ist da nach einer Weile gestorben.«
Sie legte ihr Gesicht in die Hände, als wollte sie sich vor der Welt verbergen. Schließlich hob sie den Kopf wieder.
»Wir fanden keine Erklärung dafür«, fuhr sie fort. »Ich jedenfalls nicht. Und Vater sagte, er hätte auch keine. Dann fuhren wir nach Hause.«
Sie hatten Celia in ihrer Wohnung behalten, wo sie sich zu Bett legte; sie mussten ihr nach einiger Zeit ein Beruhigungsmittel geben. Mrs. Burnley war bei ihr geblieben, und Curtis Grainger, erbittert, weil er sich machtlos fühlte, war im Wohnzimmer hin und her gewandert und hatte fortwährend halb aufgerauchte Zigaretten in den Kamin geworfen. Als der Admiral und Freddie zurückkamen, war er abgefahren. Auf Freddies Bitte hin hatte er sich, unfreundlich und offenbar ohne Interesse, bereit erklärt, Breese Burnley nach Hause zu bringen. Howard Phipps hatte sich auch verabschiedet. Breese behauptete, er hätte mit jemand telefoniert – mit der Polizei, vermutete sie hätte über das. was er am Apparat hörte, ganz verwirrt geschimpft und sei dann gleich fortgegangen. Grainger hatte noch hinzugefügt, seiner Meinung nach sei Phipps ins Hotel gegangen, um Ferngespräche mit Washington zu führen.
Zehn Minuten nach ihrer Rückkehr waren der Admiral und seine Tochter allein im Wohnzimmer gewesen. Das dumpfe Gefühl der Unwirklichkeit, diese absolute Unfähigkeit, zu glauben, dass ihr das zugestoßen sein sollte, hatte sich allmählich verflüchtigt.
Es tut mir so leid, Winifred, hatte der Admiral, vor dem Kamin stehend, zu ihr gesagt.
Sie hatte nur genickt, weil ihr die Worte fehlten. Und wieder nur genickt, als er gemeint hatte, sie müsse zu schlafen versuchen. Dieser Mensch von der Polizei wird ja morgen herkommen, hatte Admiral Satterbee gesagt. Befürchte, der ist noch nicht fertig mit uns.
Sie hatte den Kopf geschüttelt. Nein, man war mit ihnen noch nicht fertig, aber noch immer vermochte sie ihrem Vater nichts zu sagen. So hatte sie sich abgewandt und zu der Treppe zum oberen Stockwerk gehen wollen. Ihres Vaters Stimme hatte sie zurückgehalten.
Freddie, hatte er gesagt. Sie war stehengeblieben, hatte sich umgedreht und gewartet.
Müssen vorbereitet sein, hatte er ihr erklärt. Das weißt du doch. Kann nämlich was rauskommen. Muss sogar. Müssen bereit sein, uns denen zu stellen.
Seine. Worte waren ihr sinnlos vorgekommen.
Hässliche Sachen, hatte der Admiral dann gesagt. Die dir zuwider sein werden. Über Kirkhill.«
Da hatte sie aufgehorcht. Nein, hatte sie gerufen, hässliches kann von Bruce bestimmt nicht gesagt werden. Sie war dicht vor ihren Vater hingetreten, hätte ihn fest angeschaut und gefragt: Was für Sachen?
Wieder hatte er gezögert. Dann hatte der Summer von der Wohnungstür angeschlagen, der Admiral war rasch hingegangen und hatte geöffnet. Ein Mann war hereingekommen
»Einfach so herein«, sagte Freddie zu den Norths. »Als ob er gar nicht zu warten brauchte, bis er aufgefordert wurde. Als hätte er das Recht, einfach einzutreten.«
Ein Mann von mittlerer Größe war es gewesen, den der Admiral weit überragte. Ziemlich dick, nicht gut gekleidet.
Hatte den Hut noch aufbehalten, bis er schon fast im Wohnzimmer war. Den Schnee, der auf seinem Hut lag, hatte er ganz gleichgültig auf den Teppich im Vorraum geschüttelt. Sein Gesicht war fett, wabbelig. Er hatte sich nicht rasiert an dem Tag oder nur schlecht, denn in seinen Wangenfalten standen lange Haare. Seine Augen, hellblaue, ganz auffallend hellblaue Augen, wirkten in dem dicken Gesicht klein und standen ungewöhnlich weit auseinander.
Admiral Satterbee – so berichtete Freddie – hatte gar keinen Versuch gemacht, den Mann am Eintreten zu hindern, und hatte zunächst auch kein Wort gesagt, vielmehr hatte der andere zuerst gesprochen.
Dachte mir, mein Besuch wäre erwünscht, hatte er mit einer weichen Stimme gesagt. Butterig nannte Freddie sie, weich und butterig.
Der Admiral hatte den Mann nur gemustert, sich dann umgedreht und zu ihr gesagt: Geh nach oben, Freddie. Leg dich schlafen.
Es war ein Befehl gewesen. Sie hatte gehorcht, und als sie an dem Dicken vorbeigehen musste, hatte der sie unangenehm angelächelt und mit seiner butterigen Stimme gesagt: ’n Abend, Miss. Sie hatte ihm keine Antwort gegeben und getan, als sähe sie ihn nicht. Langsam war sie die Treppe hinaufgegangen.
Ich habe Ihnen doch gesagt..., hatte sie gehört; der Dicke hatte ihren Vater gleich unterbrochen: Harry haben Sie’s gesagt, nicht mir. Ich bin nicht Harry, Admiral. Harry kommt an die Sachen nicht ran, der kann nicht zwei und zwei zusammenzählen.
Kommen Sie hier herein, hatte sie, während sie die Treppe hinaufging, ihren Vater noch sagen hören. Und: Ich weiß nicht, worauf Sie aus sind. Ich gebe Ihnen...
Na, immer schön langsam, Admiral, hatte der Dicke fast belustigt geantwortet, vom Geben hat ja noch kein Mensch was gesagt.
Da war Freddie auf der Treppe stehengeblieben und hatte gelauscht. Ihr Vater hatte den Dicken durchs Wohnzimmer in die Bibliothek geführt.
Ich muss wissen, hatte der Fremde gesagt, was ich den Polypen erzählen soll. Über diese...
Da nun die Tür zur Bibliothek geschlossen wurde, hatte Freddie nichts mehr gehört.
Bei ihrem Bericht über diese Vorgänge bemühte sie sich, den Norths alles so dunkel und doch vielsagend darzustellen, wie es auf sie selbst gewirkt hatte.
Als sie zu Ende war, blickte Jerry seine Frau kopfschüttelnd an.
»Ich verstehe nicht begann er, aber Freddie, der jetzt etwas einfiel, was sie zu erwähnen vergessen hatte, unterbrach ihn und berichtete von dem Telefongespräch zwischen ihrem Vater und einem ihr Unbekannten. Sie wiederholte, so genau sie es vermochte, was sie mitgehört hatte – ihres Vaters Worte: Die Umstände haben sich geändert und des unbekannten Mannes Antwort: ...scheint, als ob doch etwas Wahres an der Sache ist und Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Er soll ja Ihr Schwiegersohn... – »Er muss Bruce gemeint haben. Wen denn sonst?«
Jerry North nickte langsam und blickte Pamela an, über deren Gesicht ein Schatten flog.
»Erst mal das«, sagte Freddie. »Und dann dieser grässliche Mensch! Er wusste von Bruce – dass er ermordet worden war.«
»Ihr Vater schien ihn zu kennen?«, fragte Pamela.
Freddie Haven nickte, so zuwider es ihr auch war, das zugeben zu müssen.
»Am Telefon also sagte Ihr Vater, dass die Umstände sich geändert hätten? War das alles?«, forschte Pam.
Freddie dachte nach, dann antwortete sie langsam: »...einschließlich heute Abend. Die Umstände haben sich geändert.«
Sie sah die beiden wartend an, in ihrem Blick lag aufkommende Verzweiflung.
»Das muss nicht unbedingt etwas Besonderes zu bedeuten haben«, sagte Jerry, um sie zu beruhigen, aber Pamela schüttelte den Kopf.
»Selbstverständlich bedeutet es etwas. So einen Unsinn zu reden, Jerry! Allerdings braucht es nicht das zu sein, was man vermutet. Es könnte zum Beispiel – ach, alles Mögliche könnte es sein.«
Freddie und Gerald bückten Pamela fragend an.
»Na ja«, erklärte sie, »schlechthin alles. Nicht bloß, dass Ihr Vater gewusst haben müsste, dass der Senator tot war. Und dass, weil er tot war...«
Ihre weiteren Worte wurden so undeutlich, dass der Satz sein Gewicht verlor.
»Papa hat das bestimmt nicht gewusst«, sagte Freddie.
Sie sprach gedämpft, und doch war ein Unterton der Verzweiflung herauszuhören. Sie redete sich ein, dass ihr Vater es nicht gewusst hatte, weil das einfach nicht sein durfte. Denn wenn er es zu der Zeit schon gewusst hätte, müsste er ja den ganzen Abend gelogen haben, sowohl in seinen Worten wie in seiner ganzen Haltung ihr gegenüber.
»Er kann es nicht gewusst haben«, betonte sie noch einmal. »Aber – was hat er gemeint? Oder sind diese Männer...?« Die Frage war so leicht zu beantworten, dass eine Antwort sich erübrigte. Männer, die der Admiral für irgendeinen Zweck engagiert und nach Erledigung ihrer Aufgabe entlassen hatte. Männer, die sich vielleicht mit dieser Entlassung nicht abfinden wollten. Freddie legte verzweifelt den Kopf in die Hände.
Nach kurzer Zeit hob sie ihn wieder und blickte erst Pamela, dann Jerry an.
»Was kann ich tun?«, fragte sie ganz leise und angstvoll gespannt. »Ich muss doch... muss Papa helfen.«
»Gehen Sie zu ihm«, riet ihr Pamela. »Fragen Sie ihn. Fragen Sie ihn, was das alles bedeutet.«
Laut drang das Läuten der Türklingel ins Wohnzimmer. Verblüfft schauten die Norths sich an. Dann eilte Pam zur Tür und öffnete. Freddie wandte den Kopf und hielt den Atem an.
Es war ein Mann, den sie schon einmal gesehen hatte: schlank, mit schmalem Gesicht, das von dem leicht schiefsitzenden weichen Hut halb verdeckt wurde. Er nahm den Hut ab und schüttelte den Schnee auf den Fußboden des Flurs vor der Wohnungstür.
Dann lächelte er Pamela zu und meinte: »Habe bei euch noch Licht gesehen, und da dachte ich mir
Als er Freddie Haven sah, hielt er inne und blickte Pamela einen Moment verblüfft an.
»Guten Abend, Mrs. Haven«, sagte er dann. »Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu treffen.«
»Bill«, warf Pamela ein – es klang ein bisschen verlegen »wir haben gerade... gerade zusammen eine Tasse Kaffee getrunken.« Sie blickte auf den Tisch. »Mit Kognak«, fügte sie hinzu. »Du kommst gerade zur rechten Zeit.«
Der Mann mit dem schmalen Gesicht schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und blickte Jerry mit hochgezogenen Brauen an.
»Ja, so ist es, Bill, tatsächlich – Kaffee getrunken«, bestätigte Gerald North.
»Ganz recht«, entgegnete Bill Weigand, indem er hereinkam und seinen Mantel auszog. Er trug einen Smoking. Elend sieht er aus, dachte Freddie Haven, obgleich das für sie unwichtig war. Und er sah wirklich sehr müde aus.
Pamela fasste die silberne Kaffeekanne an. »Kalt«, sagte sie, »ich muss uns neuen machen. Es gibt nichts Schrecklicheres als Kognak in kaltem Kaffee.«
»Pam«, sagte Jerry, »setz dich doch hin!«
»Der Kaffee ist kalt«, wiederholte Pam, »kalt wie Eis, kälter könnte er gar nicht sein.« Sie blickte erst ihren Mann, dann Weigand an. »Oh, schon gut. Aber sprich weiter, Bill.«
»Weiter?«, fragte Weigand. »Wieso?« Er schien ganz verblüfft zu sein. »Ich kam gerade vorbei, sah Licht bei euch und dachte, wenn ihr auf seid, könnte ich mal für eine Minute reinschauen.« Er sah Jerry an. »Recht so?«, fragte er.
»Bill«, sagte Pamela, »wir haben dich gern und sehen dich sehr gern bei uns. Jetzt ist es vier Uhr früh. Wir haben die ganze Nacht getanzt. Um Himmels willen...!«
»Auf jeden Fall ist es nach drei Uhr«, berichtigte Jerry. »Nun weiter, Bill.«
Der Blick, den Captain William Weigand jetzt auf Freddie Haven warf, war so kurz, dass er kaum zu bemerken war, doch Pamela sagte gleich: »Oh!«
Ich bin im Weg, dachte Freddie, er ist extra hergekommen, um ihnen bestimmte Fragen zu stellen, und das kann er nun nicht, weil ich hier bin! Sie stand auf.
»Ich werde gehen. Wollte mich sowieso gerade verabschieden.« Sie bemühte sich, gefasst zu erscheinen, und für einen Augenblick gelang ihr das auch. »Es war sehr nett von Ihnen, dass ich herkommen durfte, Mrs. North«, sagte sie mit geradezu förmlicher Höflichkeit, »aber jetzt muss ich wirklich gehen.«
»Wovor fürchten Sie sich denn, Mrs. Haven?«, fragte Weigand. »Weshalb sind Sie so ängstlich?«
Freddie betrachtete den hageren Mann, den sie am Abend zum ersten Male gesehen hatte: im Leichenschauhaus.
»Ängstlich?«, sagte sie. »Ich bin nicht ängstlich, Captain Weigand.« Mehr wollte sie eigentlich nicht sagen, aber die Worte kamen von selbst. »Ich war erregt. Können Sie das nicht verstehen? Furchtbar erregt und erschüttert. Ich konnte nicht schlafen, mochte nicht in der Wohnung bleiben. Musste mit jemand reden. Und da dachte ich, Pam und Jerry hätten nichts dagegen, wenn ich herkäme, und sie würden...«
»Nein, Mrs. Haven, so nicht«, fiel ihr Weigand kopfschüttelnd ins Wort. »Tut mir leid, aber Sie haben die beiden doch erst auf Ihrer Party kennengelernt, vor ein paar Stunden, und die Norths gingen schon früher weg, um sich mit meiner Frau und mir zu treffen. Da erwähnten sie, dass sie Ihre Bekanntschaft gemacht hätten, aber mehr auch nicht. Flüchtige Bekanntschaft. Klar?«
Sie konnte ihn nur stumm und mit großen Augen anblicken. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Was sollte sie antworten? Sie sah, wie er wieder den Kopf schüttelte.
»Sie sollten sich ruhig aussprechen«, sagte er. »Weil... nun, die beiden berichten es mir sowieso.« Er nickte. »Oh ja, sie werden es nicht wollen und es trotzdem tun, Mrs. Haven. Weil sie nämlich auf meiner Seite sind, sofern hier von Seiten die Rede sein kann. Und auch, weil wir uns schon lange kennen. Sehen Sie nun ein, wie die Dinge liegen, Mrs. Haven? Wovor fürchten Sie sich also? Hat Ihnen jemand erzählt, die Norths beschäftigten sich mit gewissen Sachen, hätten Erfahrung darin?« Er machte eine Pause, doch sie sprach noch immer nicht »Erzählen Sie mir’s, Mrs. Haven, das ist am besten.«
»Ich...« begann sie und merkte, dass sie nicht weitersprechen konnte. Hilfesuchend blickte sie Pamela an.
»Warum diese Angst?«, fragte Weigand. Sie blickte ihn wieder an. »Doch nicht um sich selbst – oder?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein«, entgegnete sie. »Nein.«
Er maß sie mit einem langen Blick. Sie spürte, dass er einen Entschluss gefasst hatte, denn sein Verhalten änderte sich. Er bedrängte sie nicht mehr, sondern zückte nur leicht die Achseln, als verzichte er auf etwas. Sie versuchte zu erraten, was die Veränderung bewirkt haben mochte, denn es schien ihr wichtig zu wissen, wie gerade dieser Mann dachte. Aber in ihren eigenen Gedanken herrschte zu große Verwirrung.
»Dann brauchen Sie ja keine Angst zu haben«, sagte er in gleichgültigem Ton. »Gehen Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus und überlassen Sie das Weitere uns.« Er lächelte, sein schmales Gesicht sah ganz verwandelt aus; sie glaubte Sympathie darin zu lesen. »Es ist hart, das weiß ich, Mrs. Haven. Wir wollen das aber lassen – bis später. Klar?«
Sie stand auf, sich zur Ruhe zwingend.
»Es ist wirklich wahr«, beteuerte sie, »ich bin hergekommen, weil ich... weil ich mit jemand reden musste. Mit jemand, der Bruce nicht gekannt hat, einem Außenstehenden. Gewiss habe ich Mrs. und Mr. North erst gestern kennengelernt – ich wollte nur eine einleuchtende Erklärung geben. Ich hatte das Gefühl, mit Mrs. North vertraulich sprechen zu können.«
»Ganz recht«, sagte Bill Weigand und stand auch auf; nach seinem Ton zu urteilen, schien er ihren Worten zu glauben. »Mrs. North wirkt so auf die Leute«, fügte er hinzu. »Manchmal.« Er wandte sich mit heiterer Miene Pamela zu, aber sein Lächeln verschwand gleich wieder, sein Ton wurde wieder förmlich. »Ich habe einen Wagen unten stehen, Mrs. Haven. Werde Sie nach Hause fahren lassen. Schlafen Sie, ich werde morgen mit Ihnen sprechen müssen – mit Ihnen, Ihrem Vater und der Tochter des Senators.«
Er nahm seinen Mantel, schlüpfte hinein und wartete.
»Vielen Dank«, sagte Freddie Haven zu den Norths. »Dass Sie mir erlaubt haben, hier hereinzuplatzen. Ich weiß selbst nicht, warum ich das tat.«
»Ist schon gut«, erwiderte Pamela. »Versuchen Sie Ihre Sorgen abzuschütteln.« Sie machte eine Pause. »Es tut uns beiden furchtbar leid.«
Freddie Haven wollte lächeln, doch es gelang ihr nicht recht. Sie ging durch die Tür, die Weigand ihr aufhielt; sie blieb stumm, während er den Fahrstuhl heraufkommen ließ, und auch, während sie hinunterfuhren. Kurz bevor der Fahrstuhl anhielt, sprach Weigand wieder.
»Sie werden mir schließlich doch erzählen müssen, was Sie zu wissen glauben. Darüber sind Sie sich doch klar.«
Er sah sie an, und sie zwang sich, seinen Blick auszuhalten.
»Wir müssen es ja feststellen«, setzte er noch hinzu. Ohne weitere Worte, führte er sie aus dem Gebäude zu einem vor dem Eingang parkenden Wagen, wo er zu dem Mann am Steuer sagte: »Blake, fahren Sie Mrs. Haven nach Hause und kommen Sie dann wieder her.«
»Jawohl«, antwortete Blake.
Weigand öffnete die hintere Tür, Freddie stieg ein. »Gute Nacht«, sagte er, sah dem abfahrenden Wagen einen Moment nach und ging dann wieder ins Haus.
Bei den Norths klopfte er an und stieß die Tür auf. Pam und Jerry saßen noch genauso da, wie er sie verlassen hatte.
»So«, empfing ihn Pamela, »jetzt haben wir wieder heißen Kaffee.«
Weigand legte den Mantel ab und sagte zerstreut: »Gut.« Er nahm eine Tasse Kaffee an, goss etwas Kognak hinein, trank und sagte – in ganz anderem Ton – noch einmal: »Gut.« Dann erst setzte er sich.
»Ihr seid in keiner Klemme«, begann er, »ich werde euch gar keine Fragen stellen.«
Beide schauten ihn verdutzt an.
»Ja?«, meinte Jerry.
»Offiziell«, fuhr Weigand fort, »bin ich gar nicht hier. Weshalb sollte ich wohl? Offiziell habe ich auch keine Ahnung, dass Mrs. Haven hierherkam, um... um sich von euch helfen zu lassen, wie? Sich Rat bei euch zu holen?« Er schüttelte den Kopf, als Pamela etwas einwerfen wollte. »Rat. Hilfe.«
Er fixierte die beiden wieder. So müde er auch war, schien er sich doch sehr zu amüsieren.
»Bill«, rief Pamela, »du... Bill!«
Er lächelte sie nur an.
»In keiner Klemme? Was ist denn deiner Ansicht nach eine?«, fragte sie. »Wenn man mit den Hasen läuft und mit den Jägern jagt?«
»Ist sie denn der Hase?«, wollte Bill wissen.
»Und für dich«, fügte Pam ein wenig bitter hinzu, »habe ich extra frischen Kaffee gemacht! – Nein, ich denke, sie ist es nicht.«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Weigand. »Wenn sie nicht der Hase ist, wird sie auch nicht gejagt. Aber was ihr herausbekommt, könnte mir helfen. Schaden kann es nicht.«
»Es ist eine Klemme«, erklärte Jerry North ganz sachlich. »Wir haben nicht um Vertrauen geworben – es wurde uns gegeben.« Er blickte Weigand an. »Nun?«
Bill sagte, er verstünde das. Sein Ton war jetzt ganz ernst. Er wisse wohl, dass er sie zum Reden bringen könnte, er brauchte nur zu fragen. Aber ebenso wisse er, dass sie sich, wenn sie ihm Auskunft gäben, unglücklich fühlen würden. Deshalb insbesondere habe er Verständnis.
»Also seid ihr nun wieder mittendrin. Beide. Offiziell natürlich nicht, aber offiziell bin ich ja auch nicht hier, um euch das oder sonst etwas zu erklären. Könnt ihr ihr helfen, dann tut es. Wenn ihr beide den Mann ermittelt, der Kirkhill umgebracht hat, gebt mir Bescheid.« Er machte eine Kunstpause. »Wo ist denn nun die Klemme, wie?«
»Die ganze Geschichte ist eine«, antwortete Pamela, »und du wirfst uns da hinein. Fesselst uns und wirfst uns hinein. Stimmt das etwa nicht?«
Weigand lachte, wurde aber gleich wieder ernst.
»Wenn es euch lieber ist, vergesst die Geschichte. Wenn ihr wirklich glaubt, dass Mrs. Haven darin eine ungünstige Rolle spielt, braucht ihr euch nicht zu äußern. Dann vergesst, dass sie hier war, und – dass ich hier war.«
»Glaubst denn du, dass sie eine ungünstige Rolle spielt?«, fragte Jerry.
Weigand schüttelte den Kopf.
»Direkt nicht«, erwiderte er. »Wenigstens glaube ich es nicht. Vermutlich ist Kirkhills Mörder ein Mann. Ich weiß nicht einmal, ob Mrs. Haven und die übrigen – ich meine Kirkhills Tochter, seinen Sekretär und die Leute, die ihr gestern Abend auf der Party kennengelernt habt – in die Sache verwickelt sind. Eigentlich bin ich jetzt nur zu euch gekommen, um zu hören, ob euch auf der Party etwas aufgefallen ist. Eine besondere Spannung oder Unruhe, jemand, den es nicht kümmerte, dass Kirkhill zu der erwarteten Zeit nicht erschien? Oder einer, der seine Besorgnis allzu eifrig zum Ausdruck brachte? Dergleichen Beobachtungen.«
Die Norths überlegten. Jerry schüttelte zuerst den Kopf. Er hatte sich hauptsächlich bei Admiral Satterbee oder in dessen Nähe aufgehalten. Des Admirals Hauptsorge schien die Sicherung der im Hafen liegenden Kriegsschiffe gegen Luftangriffe zu sein.
»Fachsimpelei«, berichtete Jerry. »Ich wüsste nicht, dass von Kirkhill überhaupt viel gesprochen worden wäre, ich hörte nur heraus, dass er erwartet wurde und nicht gekommen war.«
»Sie machte sich aber Sorgen«, sagte Pamela. »Mrs. Haven. Wie nicht anders zu erwarten. Ich meine: Ich wusste das zuerst noch nicht, weil ich nicht wusste, aus welchem Anlass, aber jetzt scheint mir, dass ich weiß, aus welchem Grund es zu erwarten war. Himmel – worauf wollte ich eigentlich hinaus?«
»Ich glaube auch nicht, dass ihr was Besonderes beobachtet hättet. Kam ja nur vorbei und sah das Licht bei euch. Und dass ihr gerade auf der Party gewesen seid, auf der Kirkhill – fehlte, ist Zufall.« Er lächelte. »Jetzt habe ich doch mehr erfahren, als ich erwartete. Inoffiziell.«
Eine lange Pause trat ein.
»Nun«, sagte Jerry schließlich, »sie ist wegen jemand anders in Sorge. Wahrscheinlich grundlos. Und du willst uns nahelegen, dass wir dem nachgehen und soviel wie möglich ermitteln sollen. Und es dann dir unterbreiten, wie?«
»Wenn ihr wollt, ja«, erwiderte Weigand. »Wenn nicht, lasst es bleiben. Oder – sondiert das Terrain und entschließt euch dann erst. Wenn ihr glaubt, in eine unhaltbare Position zu geraten, scheidet aus.«
»Gerissen«, rief Pam, »ganz gerissen! Wenn wir dann ausscheiden, so doch nur, weil wir etwas entdeckt haben, das uns mit Misstrauen gegen Mrs. Haven erfüllt. Und dann müssen wir dir wohl – einerlei, wie du jetzt redest – das Wesentliche mitteilen.«
Wieder lächelte Weigand nur.
»Bin mir vollkommen darüber klar, dass ihr der Tochter eines Autors helfen würdet. Eines Autors, der auch schon Geld gekostet hat. Der in Ruhe und Frieden die Änderungen an seinem Werk vornehmen muss, über die ihr gesprochen habt. Stimmt’s?«
»Verdammter Kerl!«
»Trotzdem will ich euch anvertrauen, was wir bisher wissen«, sagte Bill. »Eine ganz sonderbare Geschichte. Mullins wird sagen: Vertrackter Kram!« Er lächelte. »Das ist so richtig was für die Norths, Captain, wird er sagen.«
Senator Kirkhills Leiche wurde in der letzten Nacht des alten Jahres, kurz nach 23 Uhr, gefunden. Ein Polizeibeamter, der auf dem unteren Broadway, unterhalb der Canal Street, seine Streife ging, hatte in einer öden Straße, frierend und gelangweilt, mit seiner Taschenlampe in einen Hauseingang geleuchtet wie schon vorher in fünfzig andere: ohne Bestimmtes zu erwarten oder entdecken zu wollen. Aber in diesem Torweg, der zu einer schon seit Stunden geschlossenen einfachen Imbissstube führte, war das anders. Ein großer, kräftiger Mann saß dort, mit dem Rücken gegen die Tür, die Beine lang ausgestreckt. Er sah aus wie ein Betrunkener und roch auch so, hatte der Polizist gemeldet. Aber – er war tot. Über seine Beine war schon Schnee geweht.
Es schien die alte Geschichte zu sein: ein Mensch ohne Wohnung und ohne Geld, der nur das Nachtasyl kannte, oder, wenn er mal ein paar Dollars besaß, eine Kneipe auf der Bowery, hatte in der letzten Nacht des alten Jahres tatsächlich ein paar Dollars gehabt, die er vertrank. Es hatte gereicht für mehr als genug von dem Zeug, das in schmutzigen Kneipen über schmutzige Theken an hoffnungslose Männer ausgeschenkt wird, an Männer, denen nicht einmal die rührende Hoffnung geblieben ist, die sonst der Mensch hegt: dass das neue Jahr für ihn besser sein würde. Nachdem er sein Geld vertrunken hatte, verließ er die Kneipe; er war aus der schnapsduftenden Wärme in die beißende Kälte, in den scharfen Wind hinausgetreten und ziellos durch die Straßen gewankt. War müde geworden, hatte versucht, in die Imbissstube zu kommen, ohne in seiner Stumpfheit daran zu denken, dass sie geschlossen war, und war dann im Stehen eingeschlafen, zu Boden gesunken und erfroren. So sah es auf den ersten Blick aus.
Das Leichenauto der Polizei holte ihn ab. Im Leichenschauhaus hätte er vermutlich stundenlang unbeachtet gelegen, wenn nicht ein Arzt, der von einer nächtlichen Obduktion nach Hause gehen wollte, neben dem Toten stehengeblieben wäre und ihn betrachtet hätte. Der Arzt hatte zunächst nur den flüchtigen Eindruck gewonnen, dass dieser Mann für einen Strolch von der Bowery eigentlich recht gut ernährt aussah. Als ihm dann die Hände auffielen und er sie genauer betrachtete, war er vor Verblüffung starr gewesen.
»Er hatte sich frisch maniküren lassen«, sagte Weigand, »vermutlich gestern im Lauf des Tages.«
Das genügte, um die Untersuchung in Gang zu bringen, und sobald man genau hinsah, wollte fast nichts mehr zu dem oberflächlichen Eindruck von dem Toten passen. Auch die Kleidung, die zunächst ganz echt wirkte, gab viel zu denken.
Der Mantel war schäbig, aber erst kürzlich gereinigt. Er saß auch schlecht. Vermutlich hatte Kirkhill ihn in einem Laden für getragene Garderobe gekauft und ihn, soweit sich das beurteilen ließ, erst einen Tag getragen, vielleicht sogar nur einige Stunden.
Der Anzug passte noch schlechter in das Bild. Ein ganz billiger, sehr schlecht sitzender Anzug, der jedoch noch fast neu aussah, aber so auffallend ungebügelt, dass es schien, als hätte jemand den schlechten Stoff absichtlich durch Zerren und Zerknüllen ganz aus der Form gebracht, vielleicht sogar mit dem Bügeleisen die ursprünglichen Falten herausgebügelt. Beide Hosenbeine waren ausgefranst, obwohl sonst der Anzug so gut wie ungetragen schien. Der Stoff konnte mit einer Feile aufgeraut oder mit einem Messer abgeschabt worden sein.
Die Schuhe, für die Füße des Toten zu groß, waren abgetragen und schiefgetreten, die Socken jedoch aus Seide und ganz neu. Die Unterwäsche musste teuer gewesen sein. Sie war schon mehrmals gewaschen, trug aber keinerlei Wäschereizeichen. Das Hemd war schon viel getragen und häufig gewaschen, saß aber wie nach Maß gearbeitet; es hatte auch kein Wäschereizeichen.
Der Tote war von stattlicher Figur, über 90 Kilo schwer und über 1,80 m groß, gut ernährt und gepflegt. Vermutlich hatte er viel Sport getrieben. Er war Mitte der Vierzig.
Ein seltsamer Fall. Offenbar war hier in wohldurchdachter Absicht ein äußerlich täuschendes Bild geschaffen worden. Also begann die Maschinerie der Polizei zu arbeiten: Die Meldung eines verdächtigen Todesfalles ging an das Morddezernat, Fingerabdrücke und Personenbeschreibung wurden an das Vermisstendezernat weitergegeben. Eine Beschreibung der Fingerabdrücke wurde nach Washington telegrafiert, während die Abdrücke auch im Archiv der New Yorker Polizei überprüft wurden.
Die Leiche wurde sofort seziert, da äußere Verletzungen picht erkennbar waren. Der Mann hatte vor dem Tod Alkohol getrunken und hatte einige Stunden vorher auch gegessen. Und die Todesursache war nicht Erfrieren, sondern eine Überdosis Chloralhydrat.
»Sogenannte Knockouttröpfen«, sagte Weigand, »ein ganz tückisches Zeug. Es wird manchmal benutzt, um Leute, die beraubt werden sollen, zu betäuben, für einen Mord jedoch nur selten, weil die Wirkung zu unsicher ist. Ich wüsste mich an keinen derartigen Fall zu erinnern. Aber – wenn jemand ein schwaches Herz hat, kann schon eine normale Dosis ihn töten.«
»Und das ist hier geschehen?«, fragte Jerry.
Weigand nickte. Nach Meinung der Ärzte jedenfalls, erklärte er. Das Herz sei nicht mehr gesund gewesen. Kein schwerer Herzfehler; bei vorsichtiger Lebensweise wäre der Mann daran kaum gestorben.
»Natürlich konnte er in einer so kalten Nacht besonders leicht dadurch zu Tode kommen«, erklärte der Captain. »Wenn jemand dafür sorgte, dass er ins Freie ging, und ihm dann folgte, um aufzupassen, dass er keinen geschützten Platz fand, besorgte die Kälte den Rest, da der Mann nach kurzer Zeit bewusstlos werden musste.«
Ein vorläufiger Bericht über die Obduktion hatte schon kurz nach ein Uhr früh vorgelegen.
»Vor dreieinhalb Stunden«, sagte Jerry ziemlich mürrisch und blickte auf seine Uhr.
»Ja, ja! Ich bin gleich fertig, dann verschwinde ich.«
Fast um dieselbe Zeit war die Mitteilung über die Fingerabdrücke aus Washington eingetroffen.
Der Mann, dessen Fingerabdrücke es seien, wäre im Krieg Oberstleutnant beim Heer gewesen. Sein Name: Bruce Kirkhill. Zurzeit sei er Senator für einen der westlichen Staaten.
»Und dann holten sie mich. Erreichten mich zu Hause, und ich fuhr zum Leichenschauhaus, wo ich mit Mrs. Haven und ihrem Vater sprach. Inzwischen hatte man Blake bereits in die Wohnung von Admiral Satterbee geschickt.«
Da Washington so prompt gearbeitet hatte, konnte Blake schon sehr frühzeitig in der Wohnung erscheinen. Die Washingtoner Polizei hatte auch Kirkhills Sekretärin ausfindig gemacht – »seine tippende Sekretärin«, sagte Weigand. »Sein offizieller Sekretär, wenn ihr ihn so nennen wollt, ist ein Mann namens Phipps.« Die tippende Sekretärin hatte der Polizei in Washington sagen können, dass der Senator nach New York gefahren war, wo er bei seinem zukünftigen Schwiegervater – Admiral Satterbee – an der Neujahrsfeier teilnehmen wollte. Und dass seine Tochter auch dort sein würde. Daher war Sergeant Blake sofort in die Satterbee’sche Wohnung geschickt worden, um jemand zu holen, der den Toten identifizieren konnte.
»Wo steckt denn Mullins?«, wollte Pamela wissen.
»Ist hierher unterwegs. Er hatte gestern Abend dienstfrei.« Weigand schloss seine müden Augen und öffnete sie wieder. »Wie ich auch«, setzte er ironisch hinzu.
Eine Weile schwiegen sie.
»So steht’s also jetzt«, sagte Weigand dann. Seine Stimme klang auf einmal eintönig. »Ein Senator der Vereinigten Staaten kleidet sich wie ein Strolch, trinkt in einer billigen Kneipe. schlechten Schnaps mit Chloralhydrat und stirbt im Torweg einer viertklassigen Imbissstube, während seine Verlobte ihn in der Park Avenue zu einem Fest erwartet.« Er seufzte. »Die Zeitungen werden sehr, sehr erfreut sein. Und der Chef kriegt einen Koller.«
»Morgen«, sagte Pamela verschlafen, »morgen werden wir mit dem Ad...« Sie hielt inne und verbesserte: »...mit der Admiralstochter sprechen, nicht wahr, Jerry?«
Jetzt trat eine sehr lange Pause ein.
»Ich denke, ja«, sagte Gerald North schließlich.
Viertes Kapitel
Die Polizeilimousine bewegte sich in einer rasch weißer werdenden Umwelt nordwärts, die Nacht wurde vom Schnee, der sich auf dem Pflaster häufte, mit dunstigem weißem Licht erfüllt. Der Wagen stoppte, ein wenig rutschend, vor einer Verkehrsampel, die Rot zeigte, und als er wieder anfuhr, drehten sich die Hinterräder erst eine Weile auf dem Fleck, bevor er in Fahrt kam. Im Licht der Straßenlampen wehte der Schnee wie eine Gardine vor ihm her, er tanzte in den Scheinwerferstrahlen und wirbelte so wirr umher wie die Gedanken in Freddie Havens Kopf.
Durch eine leer gewordene Stadt bewegte sich der Wagen, denn selbst die hartnäckigsten Menschen, die das neue Jahr auf den Straßen begrüßen und sich nur inmitten der Masse sicherfühlen, wo sie ihre Zweifel am Wert des Daseins niederbrüllen können, hatten inzwischen Zuflucht gesucht in der warmen Geborgenheit ihres Bettes oder im unwirklichen Milieu der bis zum Morgen geöffneten Bars. Gelegentlich fuhren Taxen oder vereinzelte Privatwagen die Fifth Avenue hinauf, sie bohrten sich gleichsam durch den Schneesturm. Ein Wagen der Straßenreinigung, in dem sonderbaren Zwielicht riesengroß, walzte breit vor den kleinen Fahrzeugen dahin und sah mit dem hochgekippten Schneepflug wie ein prähistorisches Untier aus, das einen Platz zum Grasen sucht. Um ein Feuer an einer Straßenecke standen ein paar Männer, die in ihrer dicken Kleidung übergroß wirkten. Sie hielten im Moment ihre Schaufeln mit den langen Stielen müßig in den Händen und warteten auf etwas Unbestimmtes – auf Anweisungen für ihre Tätigkeit, auf die Ankunft von irgendjemand oder irgendetwas.
Der Wagen bog nach Osten in die 23. Straße, überholte einen Omnibus, der langsam und vorsichtig gegen den Nordostwind vorwärtskroch. Er schien voll besetzt zu sein, denn einige Leute standen. Freddie Haven, die im Vorbeifahren einen Blick in das erleuchtete Gefährt warf, schien es, als seien die Fahrgäste alle festgefroren oder tot. Sie erschauerte in ihrem gut durchwärmten Wagen.
Alles war verkehrt gegangen, aber auch alles.
Es war falsch gewesen, zu den Norths zu gehen, bei Fremden Verständnis und Beruhigung suchen zu wollen, in einer Welt, die für sie jetzt so verdüstert und rätselhaft war. Sie hatte es ganz impulsiv getan. Ein unüberlegter Schritt. Ihr Vater hatte den Mann mit dem fetten Gesicht und der fetten Stimme in die Bibliothek geführt, während sie, als die Tür sich hinter den beiden schloss, noch auf der Treppe war. Und dann war ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie die Treppe wieder hinabgegangen war, einen Mantel aus dem Schrank in die Diele genommen und draußen auf dem Flur nach dem Fahrstuhl geklingelt hatte. Er kam nach einer Weile, und Ben, der Fahrstuhlführer, hatte sie – das meinte sie aber erst jetzt, vorher nicht – sonderbar angeblickt. Es schneit, Mrs. Haven, hatte er gesagt. Sie hatte nur stumm genickt. Als sie unten ankamen und die Fahrstuhltür aufsprang, hatte Ben angefangen: Wünsche Ihnen ein glück- und dann verlegen geschwiegen. Ein frohes neues Jahr, Ben, hatte sie erwidert und sich bemüht zu lächeln. War durchs Vestibül gegangen und hatte auch dem Pförtner, der sich erbot, ihr eine Taxe zu holen – es wenigstens versuchen wollte nur zugenickt.
Sie hatte Glück gehabt, wenn eine schnelle Fahrt auf falschem Weg als Glück zu bezeichnen war. Der Portier hatte sogleich eine Taxe gefunden, und erst als sie darin saß, war ihr eingefallen, dass sie nicht einmal wusste, wo diese Fremden wohnten, zu denen sie wollte. So planlos und sinnlos hatte sie sich entschlossen. Eine schlanke Frau mit offenem Blick, die so lebhaftes Interesse für sie zu zeigen schien, hatte sie deutlich spüren lassen, dass sie wusste, in welcher inneren Not sie sich befand, und dass sie ihr Sympathie entgegenbrächte. Und nur deshalb, auf Grund so ungewisser Wahrnehmungen, hatte sie sich ohne genau zu wissen, wohin sie wollte, aufgemacht, um menschliche Gesellschaft zu suchen.
Sie hatte den Fahrer vor einem Drugstore anhalten lassen, wo er wartete, während sie im Telefonbuch blätterte. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatte sie Gerald North auch verzeichnet gefunden, mit einer Adresse in der Nähe des Washington Square. Und wieder hatte sie das im Moment für ein Glück gehalten. So war sie weitergefahren.
Und es war kein Glück gewesen. Jetzt vermochte sie sich gar nicht klarzuwerden, was sie erwartet, welche Hilfe sie denn eigentlich von Pamela North erhofft hatte. Einerlei – gefunden hatte sie diese Hilfe nicht. Sie hatte nur das Gefühl, sich verraten zu haben, und sie wunderte sich, wie sehr sie das erregte, denn – eigentlich hatte sie doch gar nichts zu verbergen? Und vor wem? Die Antwort lag auf der Hand: vor Captain Weigand, dem Freund der Norths, der feststellen wollte, wer Bruce Kirkhill umgebracht hatte.
Wieder hielt der Wagen vor rotem Licht. Er wartete im Sturm, seine Scheinwerfer, strahlten in stiebende Flocken. Der Mann am Steuer, ein großer Mensch, der seinen Hut abgenommen hatte, saß unbeweglich, er drehte sich nicht nach ihr um. Sie erinnerte sich plötzlich an sein Gesicht. Es hatte so schmal und empfindsam ausgesehen, voll Besorgnis über die Nachricht, die er ihnen brachte. Und erst jetzt, da sie sich sein Gesicht wieder vorstellen konnte, empfand sie ihn sonderbarerweise als Begleiter, der diese kleine Insel der Wärme mit ihr teilte.
»Eine böse Nacht«, sagte sie und hatte doch gar nicht sprechen wollen. Mussten nicht diese an sich belanglosen Worte dem Mann wie eine Bitte um Hilfe erscheinen? Als hätte sie gesagt: Sprechen Sie doch mit mir, ich fühle mich so allein und habe Angst. Sprechen Sie doch, ich bin ganz verwirrt.
»Ja«, antwortete der Mann, indem er, ohne sich umzudrehen, wieder anfuhr.
»Sie sind doch Sergeant Blake, der uns die... die Nachricht überbrachte?«
»Ja«, erwiderte er nur.
»Captain Weigand leitet die Ermittlungen, nicht wahr?«
Blake zögerte. Er musste gerade wieder vor einer Verkehrsampel halten. Diesmal drehte er sich um.
»In diesem Fall eigentlich der Chef selber, aber das Wesentliche besorgt bei den Ermittlungen der Captain.«
»Mit Ihnen zusammen?«, fragte sie.
Er lächelte, wie sie sogar in dem Halbdunkel sah. Sein Gesicht wirkte beim Lächeln sehr anziehend.
»Mit einigen von meiner Sorte«, erklärte er. »Ein Sergeant namens Mullins ist dabei und ein Sergeant Stein. Eine ganze Reihe von Leuten.«
»Und sie werden alles aufklären?«
»Das denke ich doch«, antwortete Blake. »Früher oder später. Irgendwann jedenfalls.« Sein Lächeln verschwand. »Machen Sie sich nicht soviel Sorgen, Mrs. Haven. Sie dürfen nicht –« Er versuchte es anders: »Eigentlich gibt’s da nichts zu sagen, ich weiß. Es ist entsetzlich, in dieser Unruhe zu leben. Aber trotzdem – versuchen Sie es, weniger zu grübeln.«
Eine Weile schwieg Freddie. Blake war weitergefahren; sie befanden sich jetzt bereits in der Park Avenue.
»Ich wollte ihn heiraten«, sagte sie dann. »Wollte seine Frau werden. Und nun ist er – getötet worden. Sie sagen: Machen Sie sich nicht soviel Sorgen. Weshalb sagen Sie das?« Er schüttelte, ohne sich umzudrehen, den Kopf und blickte in den vor den Scheinwerfern wirbelnden Schnee.
»Es war falsch ausgedrückt«, entgegnete er. »Ich weiß, dass es dafür keine rechten Worte gibt. Ich hatte sagen wollen, dass ich Sie bedaure, sonst gibt’s da nichts zu sagen.«
Minutenlang sprach sie nicht. Sie waren nun schon nahe ihrer Wohnung.
»Ich bin nicht in Sorge«, sagte sie schließlich. »Auch nicht in Angst. Nur unglücklich.«
»Gewiss. Verzeihen Sie, dass ich mich falsch ausgedrückt habe, Mrs. Haven.«
Er lenkte den Wagen an den Bordstein, stieg aus und ging hinten herum, um ihr die Tür zu öffnen. Doch sie hatte das schon selbst getan und stand bereits auf dem Bürgersteig. Der Schnee legte rasch eine weiße Schicht auf ihren Pelz. »Jedenfalls danke ich Ihnen«, sagte sie.
Er verstand das falsch oder tat so, denn seine Antwort ließ sie merken, dass er den Dank auf das Fahren beziehen wollte.
»Gern geschehen. Soll ich Sie nicht noch nach oben bringen?«
»Nein. Oh nein«, erwiderte sie.
Er ging mit ihr die paar Schritte bis an die Haustür. Sie sagte: »Gute Nacht!«, und trat rasch ein.
Sergeant Blake ging zum Wagen zurück. Als er die Tür öffnete, sah er einen Mann hinter dem Lenkrad sitzen, was ihn aber nicht zu überraschen schien. Er sagte: »Hallo, Smitty!«, und schob sich neben ihn in den Wagen.
»Eine tolle Nacht«, meinte Smitty. »Sie haben’s fein, Sergeant, fahren Damen im warmen Auto spazieren?«
»Ja«, antwortete Blake, »sehr gemütlich. Na, raus mit der Sprache, Smitty.«
»Sie kennen doch Smiley?«, fragte Smitty. »Privatdetektiv. Fettes Gesicht. Wegen dessen Lizenz es früher mal Klamauk gab?«
»Ja«, erwiderte Blake.
»Na, der trieb sich hier rum«, erklärte Smitty. »Erst gingen die Gäste. Erst ein Paar, dann ein kleiner Bursche und nach ihm ein großer. Soll ich sie beschreiben?«
»Nicht jetzt«, sagte Blake. »Erzählen Sie dem Captain diese Einzelheiten.«
»Okay. Also – dann kam Smiley, schaute sich die Hausnummer an, als wäre er noch nie hier gewesen, und ging rein.«
»Ins Haus also«, warf Blake ein. »Oder haben Sie ihn weiterbeobachtet?«
»In die Wohnung ging er. Klar habe ich das beobachtet. Dann kam die Frau heraus – dieselbe, die Sie eben nach Haus gebracht haben.«
»Mrs. Haven war das. Weiter.«
»Ungefähr eine halbe Stunde später kommt Smiley wieder raus. Sieht sich nach einer Taxe um, findet keine und geht zu Fuß die Park Avenue hinunter. An der Ecke geht er auf die andere Seite. Nachdem er ein Stück gegangen ist, trifft er eine Taxe und fährt in derselben Richtung weiter.«
»Gut, ich werde das dem Captain melden. Sonst noch etwas?«
»Höllisch kalt ist mir, und Sie sitzen mollig.«
»Ja«, sagte Blake nur.
Smitty öffnete seufzend die Tür zu seiner Linken und kletterte in den Schnee hinaus. Blake schob sich hinter das Lenkrad und fuhr an.
Eigenartige Sache mit diesem Smiley, dachte er. Wie gut, dass ich Smitty hier gleich angesetzt hatte!
Freddie schloss die Wohnungstür auf und trat ein. In der Diele schüttelte sie ihren Mantel ab und hängte ihn auf. Da nur in der Diele eine Lampe brannte, dachte sie, alle schliefen. Als sie die Treppe hinaufgehen wollte, ging die Tür der Bibliothek auf. Ein Lichtstreifen Bei schräg durch das große Wohnzimmer. Ihr Vater erschien in der Tür und fragte: »Freddie?«
»Ja, ich bin’s, Vater.«
»Dachte, du lägest im Bett«, sagte der Admiral.
Im Moment war sie überrascht, doch sogleich sagte sie sich, ihr Vater konnte gar nicht gemerkt haben, dass sie fort war, es sei denn, er hätte in ihr Schlafzimmer geschaut. Zuletzt hatte er sie ja gesehen, wie sie die Treppe hinaufging. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich ganz erleichtert. Da Captain Weigand sie bei den Norths getroffen hatte und sie nun, indirekt, die Polizei von dem Besuch des Fremden bei ihrem Vater unterrichtet hatte, wäre es ihr unmöglich gewesen, ihm jetzt eine plausible Erklärung zu geben. Weigand würde zwar bestimmt ihren Vater nach dem Besucher fragen, aber bis dahin blieb ihr noch etwas Zeit.
»Ich konnte nicht einschlafen«, sagte sie, während sie auf ihn zuging.
D.er Admiral nickte und meinte, das könne er sich denken. Als sie vor ihm stand, streichelte er tröstend ihr Haar und ihre Wange.
»Du bist ganz kalt, liebes Kind.«
Sie trat ein wenig zurück, um ihm besser ins Gesicht blicken zu können.
»Wer war er, Papa?«, fragte sie. »Der Mann, der zu dir kam. Was wollte er?«
»Der Mann?«, fragte ihr Vater zurück, doch plötzlich schien es ihm einzufallen. »Ach – noch einer von der Polizei, Freddie.«
Sie sah ihn lange prüfend an, dann schüttelte sie langsam den Kopf.
»Ich habe einen Teil eures Gesprächs gehört. Ich konnte nicht anders«, sagte sie. »Es war kein Polizist.«
»Ein Detektiv«, entgegnete er. Und nach einigem Zögern: »Also gut – kein Kriminalbeamter. Ein Detektiv, den ich engagiert hatte. Er... er kam sein Geld holen.«
Ach, Vater, dachte Freddie, das ist keine Erklärung, wahrhaftig nicht. Sie sagte jedoch nichts, sondern wartete nur.
»Nichts von Bedeutung. Er hat für mich ein paar Sachen nachprüfen müssen. Im Zusammenhang mit dem Buch.«
Das passte gar nicht zu ihrem Vater. Wenn es wahr wäre, würde er keine Erklärungen geben. Sie wartete, ob er weiterspräche, und wusste doch, nach dem Ton, den er bei den paar kurzen Sätzen angeschlagen hatte, dass er nichts mehr sagen würde. Er hatte zwischen ihnen eine Schranke aufgerichtet, die zu überschreiten sie nicht versuchen durfte.
»Du müsstest im Bett liegen«, sagte er, die Schranke noch verstärkend. »Weißt du denn nicht, wie spät es ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Fünf Uhr. Nach fünf schon. Versuche zu ruhen, Winifred.« Seine Worte klangen auf einmal zärtlich. »Kind, du tust mir so leid!«
»Ja«, sagte sie, zu ihm aufblickend, »das ist so schwer zu fassen, kaum zu glauben.«
»Musst es ertragen. Du musst, Freddie!«
Es war ein Befehl, so sanft er ihn auch aussprach. Er war der Admiral, sie ein jüngerer Offizier. Einen Augenblick blieb sie noch stehen und sah zu ihrem Vater empor, stumm, weil es zwecklos war, zu reden, wenn er so ein eisernes Gesicht machte.
»Ich will versuchen zu schlafen«, sagte sie nur, und hätte doch so viel anderes sagen mögen. Sie wandte sich von ihrem Vater ab und ging langsam zur Treppe. Ihre Sorge, ihr Kummer und sogar ihre Furcht waren jetzt kaum noch fühlbar. Eine barmherzige Stumpfheit hatte von ihr Besitz ergriffen.
In diesem merkwürdigen Zustand kleidete sie sich aus, fast ohne zu wissen, was sie tat, und legte sich ins Bett. Es dauerte nicht lange, da war sie eingeschlafen.
»Entschuldigen Sie«, sagte Martha, »es ist eine Schande, wirklich, aber der Admiral sagt...«
»Schon gut, Martha«, antwortete Freddie, noch einen Augenblick still liegenbleibend. »Wie spät ist es denn?«
»Elf Uhr. Eine Schande, wo Sie so spät erst zu Bett gegangen sind und alles.« Martha hatte Tränen in den Augen, »Es tut mir schrecklich leid! Uns allen, auch der Köchin.«
»Ich weiß, Martha. Was hat der Admiral denn gesagt?«
»Ach, alle sind sie wieder hier«, antwortete Martha, während sie die Vorhänge aufzog. Sie blickte hinaus. »Und außerdem schneit’s noch«, sagte sie. »Miss Celia ist da und ihr junger Mann, Mr. Phipps und sogar Miss Burnley und ihre Mutter. Und Polizisten. Es ist furchtbar.«
Aber deine Neugier ist angeregt, dachte Freddie. Du findest es furchtbar, aber aufregend.
»Soll ich Ihnen gleich das Frühstück holen?«, fragte Martha. Freddie starrte ins Leere. Sie fühlte sich wie von einem Gewicht bedrückt, fast unfähig, aufzustehen und sich den Forderungen dieses Tages zu stellen. Die Stumpfheit war vergangen, und jetzt, während sie so da lag, überfielen sie wieder Sorge und Furcht.
Aber plötzlich schwang sie ihre langen Beine aus dem Bett; sie saß einen Moment auf dem Rand, um ihre Hausschuhe anzuziehen, und schon stand sie.
»Kaffee«, sagte sie zu dem Mädchen, »nur Kaffee. Und vielleicht Orangensaft.«
Sie ging durchs Zimmer und blickte hinaus. Der Schnee fiel noch immer dicht. Sie nahm den Morgenrock, den Martha ihr brachte, zog ihn aber nicht an. Im Zimmer war es warm. Weich floss das Nachtgewand ihr um den Körper, als sie ins Bad ging. Sie ist wirklich ein hübsches Ding, die Arme, dachte Martha. Es ist schlimm!
Als Freddie nach einer Weile aus dem Bad kam, hatte Martha Kaffee und Orangensaft, aber auch Toast und ein Ei gebracht. Während sie alles auf einen Tisch beim Fenster setzte, zog sich Freddie rasch an. Ein dunkles Wollkleid, so tiefgrün wie ihr Haar tiefrot war. Sie merkte, dass sie Appetit, beinahe Hunger auf ihr Frühstück hatte. Körperlich fühlte sie sich wieder in Ordnung.
Es war kurz nach halb zwölf, als sie ins Wohnzimmer trat. Sie ging sofort zu Celia Kirkhill, aus deren jungem Gesicht jeder Ausdruck fortgewischt zu sein schien, und umarmte das Mädchen. Sogleich begann Celia zu weinen. Sie weinte lautlos, ihr ganzer Körper bebte. Freddie hielt sie fest, sie spürte ein trockenes Brennen in ihren eigenen Augen, ohne dass Tränen kamen. Über Celias gesenktem Kopf blickte sie zu Curtis Grainger hinüber und gab ihm mit den Augen einen Wink, der bedeuten sollte: Sei lieb zu ihr. Grainger nickte, indem er gleichzeitig die Achseln zuckte. Die Frage Was soll ich denn Celia zum Trost nur sagen? lag in seiner Bewegung.
Freddie überließ Celia nun Curt Grainger; sie hielt Umschau im Zimmer und hatte das Gefühl, dass alle Anwesenden auf sie gewartet hätten. So gut es ihr gelingen wollte, lächelte sie ihren Vater an, der auch in seinem grauen Anzug noch soldatisch wirkte, und lächelte auch den übrigen zu. Fay Burnley, in korrektes Schwarz gekleidet, hatte nicht mehr den springlebendigen Ausdruck im Gesicht, so dass ihr wahres Alter krass zu erkennen war. Howard Phipps war offenbar sehr müde; als sie eingetreten war, hatte er mit gespreizten Beinen dagesessen, den Kopf in den Händen, die Ellbogen aufgestützt. Jetzt stellte er sich, wie auf ein Signal, vor seinen Stuhl. Einen Moment blieb er stehen, ging dann Freddie die paar Schritte entgegen, streckte die Hand aus und schüttelte langsam den Kopf, um anzudeuten, dass es keine Worte gäbe. Da er es zu wünschen schien und offensichtlich nett und zartfühlend sein wollte, ergriff Freddie seine Hand. Sanft umfasste er die ihre. Er ließ sie wieder los, schüttelte noch einmal den Kopf und wandte sich ab.
Dann, und erst dann, blickte Freddie Haven zu dem Tisch hinüber, der von seinem Platz in die Nähe der großen Fenster gerückt worden war. Zwei Männer standen an dem Tisch, ein dritter saß vor einem aufgeschlagenen Notizbuch. Der am Tisch war Sergeant Blake, dessen Blick jetzt dem ihren begegnete. Sein Mund formte lautlos die Worte: »Guten Morgen.«
Einer der Stehenden war Captain Weigand, der andere war größer und massiger, ihm sah man von den dreien am deutlichsten den Kriminalbeamten an, obwohl auch er in Zivil war.
Weigands Gesicht wirkte müde. Als Freddie ihn anblickte, nickte er kurz und sagte: »Guten Morgen, Mrs. Haven.« Und gleich darauf, mit etwas erhobener Stimme: »Nun, da wir so schön beisammen sind...«
Er machte eine Pause, während alle Blicke sich auf ihn richteten.
»Ich bin Kriminalbeamter«, sagte er, »mein Name ist Weigand. Ich habe den Auftrag, zu ermitteln, unter welchen Umständen Senator Kirkhill den Tod fand.« Wieder machte er eine Pause und schaute die Versammelten an. »Ich weiß, dass für einige von Ihnen die Situation schwierig ist«, fuhr er fort, »für Miss Kirkhill und Mrs. Haven, wahrscheinlich für Sie alle. Das tut mir sehr leid, aber ich kann’s nicht ändern. Ich meine: Ich bin gezwungen, Sie um Ihre Unterstützung zu bitten und Sie aufzufordern, mir alles zu sagen, was Sie wissen.« Abermals eine Pause. »Die Umstände beim Tod des Senators sind nämlich sehr schwer zu verstehen, das heißt, einleuchtend zu klären. Ich weiß nicht, ob Sie alle mit den Einzelheiten vertraut sind. Folgendes ist dazu zu bemerken.«
Er schilderte alles in nüchternen, trockenen Worten und schloss: »Es hat den Anschein, als sei der Senator an einer Art – Maskerade beteiligt gewesen. Er hatte sich für eine bestimmte Rolle gekleidet, vermutlich nach seiner Idee von einem Arbeitslosen, der in billigsten Herbergen übernachtet und Getränke schnorrt. Man fand ihn in einem – oder doch nahe einem – Stadtteil, wo Männer dieses Schlages zahlreich sind. Eine große Menge Chloralhydrat war ihm eingegeben worden, die ihn vielleicht nicht umgebracht hätte, wäre sein Herz nicht schwach gewesen.«
Er blickte wieder in die Runde. »Sie wussten doch alle, dass sein Herz schwach war?«, fragte er. »War das in weiteren Kreisen bekannt?«
Er ließ ihnen Zeit, die Frage zu beantworten, sah jedem einzelnen ins Gesicht, und einer nach dem andern schüttelte den Kopf. Da zog er die Brauen hoch, als sei er überrascht, doch Freddie hatte das Empfinden, dass dies nur gewohnheitsmäßig geschah. Sie überlegte, ob Bruce tatsächlich kein gesundes Herz gehabt hatte.
Sie schaute Celia an, weil Weigands Blick auf Celia ruhte. Das Mädchen erwiderte Freddies fragenden Blick, schüttelte den Kopf, bückte dann Weigand an und sagte: »Nein, ich wusste davon nichts. Er... Papa hat nie...« Schon ließ sie wieder den Kopf in die Pfände sinken.
»Mrs. Haven?«, fragte Weigand, doch auch Freddie sagte kopfschüttelnd: »Nein, Captain, ich habe auch nichts davon gewusst.«
Und die anderen gaben dieselbe Auskunft: Fay Burnley, die jahrelang Bruce Kirkhill den Haushalt geführt hatte; ihre Tochter, die ihn einmal, kurze Zeit nur, sehr gut gekannt hatte; Howard Phipps, der manchmal behauptet hatte, er lebte in der Tasche des Chefs; der Admiral, der des Senators Schwiegervater hatte werden sollen, und Curtis Grainger, der bestimmt gern Kirkhills Schwiegersohn geworden wäre. Keiner von ihnen wusste, dass Kirkhill herzkrank gewesen war. Das musste, sagte sich Freddie, Weigand unwahrscheinlich vorkommen.
»Offenbar ist er sehr zurückhaltend gewesen«, sagte Weigand mit tonloser Stimme.
Er erklärte ihnen, dass Senator Kirkhill vielleicht sowieso durch die Kälte zu Tode gekommen wäre. Wenn jedoch sein Tod beabsichtigt war, konnte die Person, die ihn herbeiführen wollte, des Erfolges nicht unbedingt sicher sein. Erst die Herzschwäche – wenn sie vorhanden war – konnte diese Sicherheit geben.
Er schien darüber nichts mehr sagen zu wollen und fuhr fort. Sprach kurz und bündig, ohne jede Erregung, und niemand konnte das Gefühl haben, unter Druck zu stehen. Er ist seiner Sache sehr sicher, er vertraut auf den Erfolg, dachte Freddie beunruhigt und blickte zu ihrem Vater. Sein Gesicht war ausdruckslos.
Soweit er informiert sei, führte Weigand weiter aus, war Senator Kirkhill bei der Neujahrsfeier gegen zehn Uhr erwartet worden, und im Hotel Waldorf hatte man etwa zwei Stunden früher mit seiner Ankunft gerechnet. Er war aber weder zu der Party gekommen noch ins Hotel. »Stimmt das?«, fragte Weigand, und er sah das Schweigen in der Runde als Zustimmung an.
»Anscheinend ist er«, so fuhr er fort, »schon mit einem früheren Zug aus Washington gekommen. – Wie er es vorgehabt hatte?«
Diese Frage richtete er plötzlich an Phipps, der ganz verdutzt war, aber keine Auskunft gab.
»Wohin er sich dann begab, wissen wir nicht. Er ging also an einen uns noch unbekannten Ort und veränderte sein Aussehen durch diese... Maskerade. Besuchte irgendein Lokal und trank mehrere Schnäpse. Einer war stark mit Chloralhydrat versetzt. Dann wanderte er eine Weile umher, wurde müde, brach in einem Hauseingang zusammen und starb, wie wir annehmen können, nach ganz kurzer Zeit. Das ist alles, was wir wissen – bis jetzt.«
Er unterbrach sich und blickte wieder alle der Reihe nach an.
»Ich hoffe, der eine oder andere von ihnen weiß mehr, sodass wir Lücken ausfüllen können.«
Niemand schien etwas ergänzen zu können. Doch dann sprach Phipps.
»Es war nicht wie geplant. Ich meine: seine Ankunftszeit. Er hatte ursprünglich den Kongress-Schnellzug nehmen wollen. Ich vermute, er hat nachher festgestellt, dass er noch früher fahren konnte.« Phipps schüttelte den Kopf, ehe er weitersprach. »Selbstverständlich muss er sich vorgenommen haben, früher hier einzutreffen. Um Zeit zu haben für – das, was Sie als Maskerade bezeichnen...«
»Wie ich es auch bezeichne«, entgegnete Weigand, »ich wüsste gern, ob Sie sich dabei etwas Bestimmtes vorstellen können? Keine Ahnung? Er hat nichts gesagt, dem Sie jetzt – rückblickend – einen anderen Sinn geben würden?«
Phipps schien unsicher, schüttelte aber den Kopf.
Falls Weigand sein Zögern aufgefallen war, zeigte er das jedenfalls in keiner Weise. Er nickte nur, blickte Fay Burnley an, Breese, dann Celia, die jetzt den Kopf wieder gehoben hatte und vor sich hin starrte. Ob er mir etwas am Gesicht abliest?, fragte sich Freddie. Wird er...?
»Mrs. Haven?«, fragte Weigand in diesem Augenblick.
Sie fasste einen Entschluss.
»Kann sein, dass ich ihn sah«, sagte sie, überrascht, dass ihre Stimme, auch wenn sie so leise sprach, fest klang. Sie spürte, wie aller Augen auf ihr ruhten, blickte aber nur Weigand an. »...ich dachte, das könne gar nicht möglich sein, aber vielleicht war es doch so.«
Nun berichtete sie von dem Mann, den sie auf einer Straße im unteren Manhattan gesehen hatte, dem Mann, der sie an Bruce Kirkhill erinnert hatte und es auch gewesen sein konnte. »Ich weiß es nicht«, schloss sie. »Ich wusste, dass es nicht Bruce sein konnte, aber jetzt...«
»Ganz recht«, sagte Weigand, »er könnte es gewesen sein. Das werden wir gewiss nie erfahren. Um welche Zeit war das ungefähr?«
»Ich kam kurz nach sechs nach Hause«, erwiderte sie. »Gegen sechs kann es also gewesen sein.«
Sie konnte sich nicht genau erinnern, wo sie sich gerade befunden hatte, als sie diesen Mann sah. Kopfschüttelnd überlegte sie, während Weigand wartete. Vielleicht war es in der Lafayette Street, dachte sie. Ja, wahrscheinlich dort. Aber eine genaue Ortsangabe war ihr nicht möglich.
Weigand nickte, ihn schien das nicht zu wundern.
»Sie kamen also kurz nach sechs hierher. In ihre Wohnung. Blieben Sie dann daheim? Aßen hier zu Abend?«
Die Frage schien sich logisch an die vorhergehenden anzureihen, doch Freddie empfand sie anders. So, als hätte er gefragt: Wo waren Sie, als Senator Kirkhill mit Chloralhydrat betäubt wurde? Wo waren Sie, Freddie Haven, als der Mann, den Sie heiraten wollten, umgebracht wurde?
»Ich bin nicht mehr fortgegangen«, sagte sie, »bis Sie brach den Satz ab; es hatte schließlich keinen Zweck, diesem gelassenen Mann etwas zu berichten, was er bereits wusste. »Ich habe hier zu Abend gegessen, mich darum gekümmert, dass alles in Ordnung war, und mich dann umgezogen – für die Party.«
Weigand nickte.
»Ganz recht. Sie aßen allein? Mit Ihrem Vater?«
Die Frage galt beiden. Admiral Satterbee gab die Antwort. »Ich habe in meinem Club gegessen. Wollte aus dem Weg sein, verstehen Sie? Kam fünf Minuten nach neun hier wieder an. Zog mich um. Sprach ein paar Minuten mit meiner Tochter. Kam dann hier herein.«
Also ins Wohnzimmer.
»Welchem Club gehören Sie an, Admiral?«, fragte Weigand. Admiral Satterbee sah ihn erstaunt, fast empört an. Weigand wartete ruhig und bekam die Auskunft.
»Wollen Sie das etwa noch nachprüfen?«, fügte der Admiral hinzu.
»Wir überprüfen alles, was möglich ist«, antwortete Weigand gleichmütig, ohne den gereizten Ton zu beachten. »Mr. Phipps?«
»Wo ich gewesen bin?«, fragte Phipps.
»Bitte – wenn’s Ihnen nichts ausmacht.«
»Wann?«
»Abends.«
»Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich war fast den ganzen Tag am selben Ort. In der Stadtbibliothek.«
Stumm wartete Weigand auf mehr.
»Bin Donnerstagabend von Washington gekommen«, berichtete Phipps, »mit dem Zug gegen vierundzwanzig Uhr. Fuhr zum Waldorf, überzeugte mich, dass die Zimmer reserviert waren, und fuhr gleich in meins hinauf. Nach dem Frühstück begab ich mich in die Bibliothek, wo ich wohl so gegen zehn Uhr ankam. Da blieb ich fast den ganzen Tag. Habe gearbeitet, Material für eine Rede gesammelt, die der Chef nächste Woche halten, will – wollte. Ich verließ die Bibliothek erst gegen neun Uhr abends, ging ins Hotel, zog mich um und kam hierher.«
»Ein langer Tag«, sagte Weigand.
»Das bin ich gewohnt«, erwiderte Phipps.
»Sind Sie zwischendurch gar nicht zum Essen gegangen?«
»Doch, gewiss«, antwortete Phipps. Mittags habe er in einem Automatenrestaurant auf der Sixth Avenue, hinter der Bibliothek, gegessen und abends in – einem Lokal auf der Fifth Avenue, gleich oberhalb der 42. Straße. In einem großen Restaurant.
»Und nichts davon können Sie nachprüfen«, setzte er hinzu. »Aber vielleicht die Bibliothekszettel? Tragen die eigentlich Zeitvermerke?«
»Oh ja«, sagte Weigand, ein wenig lächelnd, »jedenfalls würden wir erfahren, wo die betreffenden Bücher sich befanden.«
»Fein«, antwortete Phipps. »Wunderbar.«
Weigand lächelte wieder und fragte jetzt: »Mrs. Burnley?«
Sie behauptete, bei ihrer Tochter in deren Wohnung gewesen zu sein. »Wir haben zusammen ein bisschen zu Abend gegessen und uns unterhalten, bis es Zeit wurde, hierherzufahren zur Party. Ich sehe ja Breese so selten, Captain.«
»Haben Sie ein Hausmädchen?«
Mrs. Burnley schüttelte den Kopf, dass ihre Ohrringe wackelten,
»Ich habe selbst unser kleines Dinner zubereitet.« Sie machte eine Pause. »Hammelkotelett.«
»Und Sie waren den ganzen Nachmittag dort?«
»Oh ja«, erwiderte sie, und dann sprach Breese.
»Fay war da. Ich hatte zu arbeiten. Modell stehen. Badeanzüge. Kriegen Sie nicht schon bei dem Gedanken daran eine Gänsehaut?«
Weigand sah sie abwartend an.
»Ich kam ungefähr um sechs nach Hause«, erklärte sie weiter. »So ein grässlicher Tag! Wir, haben dann gleich gegessen.«
Weigand richtete seinen Blick auf Curtis Grainger.
»Mr. Grainger?«
»W-wieso?«, fragte Grainger. »Es ist mir egal, aber – warum?«
»Ich bin beauftragt, verschiedenes festzustellen«, sagte Weigand geduldig und unerschütterlich. »Vorwiegend belanglose Einzelheiten, doch man erwartet, dass wir nichts auslassen.«
Grainger zögerte zuerst, dann zuckte er die Achseln und berichtete. Er sei gestern Nachmittag mit einigen Herren zu einem verspäteten Mittagessen gegangen, bei dem sie lange sitzengeblieben waren. Nach vier Uhr sei er in seine Wohnung gekommen und habe ein wenig geschlafen. Gegen sechs habe er Celia angerufen und ihr vorgeschlagen, mit ihm zu Abend zu essen. Sie habe jedoch erklärt, sich, für die Party ausruhen zu wollen, da sie den ganzen Nachmittag unterwegs gewesen sei. Er sei dann noch eine Weile in seiner Wohnung geblieben, allein zum Abendessen gegangen und nur zurückgekehrt, um sich umzuziehen. »Ich holte Miss Kirkhill vom Hotel Chathaih ab und fuhr mit ihr hierher«, schloss er. »Das hatten wir vereinbart, als ich sie anrief.«
Er sah Weigand an und fügte hinzu: »Also, ich war allein, habe niemand getroffen und bin w-wahrscheinlich auch von keinem Bek-kannten gesehen worden, außer von einer Kellnerin, die sich gewiss nicht an mich erinnern wird.«
Sein Ton klang ein bisschen kriegerisch, was Weigand jedoch nicht zu bemerken schien. Er sagte nur: »Gut!«, und, sich an alle gewandt: »Ich danke Ihnen!«
Dann fasste er zusammen: »Keiner von Ihnen hat demnach eine Ahnung, weshalb Senator Kirkhill sich so kleidete, wie er es tat, und warum er dort war, wo er gefunden wurde. Keiner von Ihnen wusste, dass er ein schwaches Herz hatte. Keiner von Ihnen hat ihn gestern Nachmittag oder Abend in New York gesehen?« Er blickte Freddie an und nickte. »Abgesehen davon, dass Sie ihn vielleicht sahen, Mrs. Haven. – Keiner von Ihnen hat mit ihm sprechen können, um etwas zu erfahren, was uns jetzt von Nutzen wäre?«
Er warf wieder einen Blick in die Runde, doch niemand sprach ein Wort.
»Dann also fing Weigand wieder an, hielt aber sofort inne. Es schien, als sei ihm noch etwas Nebensächliches eingefallen. »Übrigens, kennt einer von Ihnen einen gewissen Smiley? Arthur Smiley?«
Wieder gab niemand ihm Antwort, was ihn nicht zu wundern schien.
»Ein Privatdetektiv; er hat einen Kompagnon namens Briggs. Harry Briggs.«
Offenbar hatte er das Gefühl, durch Nennung des zweiten Namens eine bestimmte Erinnerung wachzurufen. Wieder wartete er, und Freddie fand ihn sehr geduldig.
Harry, fuhr es ihr da durch den Kopf. Der Mann, der hier gewesen war, hatte doch einen Harry erwähnt. Hatte mit seiner butterigen Stimme halb scherzhaft zu ihrem Vater gesagt, er sei nicht Harry. Ja, das hatte er gesagt. Dann war also der, der ihren Vater aufgesucht hatte, dieser Smiley gewesen. Ein Privatdetektiv, ein schwammiger, fetter Mann, in dessen öliger, aber selbstbewusster Stimme eine gewisse hämische Freude mitklang. In seiner ganzen Art hatte er große Sicherheit zur Schau getragen, das Vertrauen darauf, dass er diese Wohnung betreten konnte, wann es ihm passte, und dort sagen durfte, was ihm passte.
Musste nicht der Aufruhr in ihrem Innerem jetzt deutlich zu erkennen sein? Sie bemühte sich, dass ihr Gesicht nichts verriete. Doch sie merkte, dass sie ihren Vater anblickte und ihre Augen von ihm Aufklärung verlangten.
»Mrs. Haven«, fragte Weigand, »Sie kennen Smiley nicht?«
Hier gab es jetzt nur eine Antwort, und zu der zwang sie sich: »Nein.«
Weigand blickte sie nur eine Sekunde forschend an, dann sagte er: »Gut. Ist vielleicht auch nicht wichtig. Es hatte jemand geglaubt, ihn in... hier in der Nachbarschaft gesehen zu haben.«
Er lächelte, als schenke er mit dieser Erklärung den Anwesenden besonderes Vertrauen.
»Ein sehr tüchtiger Mensch, dieser Smiley«, fuhr er fort. »In seiner Art jedenfalls. Wenn er. seinen Kopf durchsetzen will. Sehr merkwürdiges Gespann, Smiley und Briggs. Briggs könnte man glatt für einen Rechtsanwalt halten; sieht sehr respektabel aus, flößt Vertrauen ein. Ist keiner von Ihnen diesem Briggs mal begegnet?«
Er blickte wieder alle an, besonders Admiral Satterbee.
»Nein«, sagte er dann selbst, »warum sollten Sie auch?«
Jetzt wandte er sich ab und sprach mit dem Großen, der auch in Zivil wie ein Polizist aussah. Drehte sich wieder zu den andern um und erklärte, das sei zunächst alles.
»Ich möchte nur noch«, fügte er hinzu, »dass Sie sich mit Sergeant Mullins hier unterhalten. Bloß, um Kleinigkeiten zu ergänzen. Wie lange Sie den Senator gekannt haben und dergleichen.« Jetzt blickte er Celia an. »Sie selbstverständlich nicht, Miss Kirkhill.« Es klang ganz sanft. »Auch Sie natürlich nicht, Mrs. Haven. Was wir noch wissen möchten, können wir wahrscheinlich von Mr. Phipps und Mrs. Burnley erfahren.« Er richtete den Blick auf Admiral Satterbee. »Und vielleicht kann auch der Admiral aushelfen«, schloss er, ohne seinen gleichmütigen Ton zu ändern.
Fünftes Kapitel
»Jerry, die Katzen wollen rein!«
Gerald North gab einen Laut von sich, der wie Wa-a klang.
»Die Katzen«, wiederholte Pamela.
Jerry suchte Zuflucht in seinem Kopfkissen, indem er es sich ums Haupt wickelte. Mit dumpfer Stimme rief er daraus hervor: »Sag ihnen, sie sollen...« Der Rest blieb unhörbar, denn er war schon wieder halb eingeschlafen.
»Und außer den Katzen«, sagte Pam, »ist noch der Admiral da. Dein Admiral.«
Lächerlich, dass der Admiral vor ihrer Schlafzimmertür stehen und hereinzukommen versuchen sollte! »Du bist verrückt! Kein Admiral. Sind ja bloß diese...« Er war schon wieder am Einschlummern.
Sherry, die blaugepunktete, hatte die schrillste Stimme; sie klang sehr klagend. Gin, die jüngere, gab kurze, heisere Töne von sich, fast wie ein Gebell. Beide verstummten für ein Weilchen, denn Martini, die eine weiche, kehlige Stimme hatte, verlangte jetzt Gehorsam von ihren Kindern.
Wirklich, dachte Jerry, Pams Idee mit dem Admiral ist ja lachhaft.
»Sind bloß die Katzen«, sagte er laut, »der Admiral würde doch ein Wort sagen.« Er versuchte sich wieder im Kissen und gleichzeitig unter der Decke zu verkriechen. Stöhnend drehte er sich auf die Seite und öffnete ein Auge, um seiner Frau im Nebenbett einen Blick zuzuwerfen. Pam saß gegen die Kissen gelehnt, sie war hellwach.
»Worüber redest du eigentlich?«, fragte er sie. »Zu dieser nächtlichen Stunde?«
»Mittag ist es«, versetzte Pam. »Erinnerst du dich denn nicht an den Admiral? Deinen Admiral? Und den Senator? Jedenfalls warst du’s, der die Katzen nicht in die Küche sperren wollte, weil’s da angeblich zu kalt für sie ist. Aber schlaf nur weiter, ich wollte dich ja gar nicht wecken.«
Jerry öffnete das zweite Auge. Eine unangenehme Erfahrung, denn sehr viel unwillkommenes Licht fiel hinein.
»Fein«, sagte er, »wundervoll, ich werde gleich wieder weg sein.«
Pamela sah ihn an und sagte, es täte ihr leid, ihn gestört zu haben. Sieht gar nicht leidtragend aus, dachte Jerry. Wenn er sie sehen konnte, war ihm gleich viel wohler. Na, das Schlimmste war immerhin überstanden: Er war jetzt wach, hatte beide Augen offen. Plötzlich lächelte er. »Ich denke, du hast gesagt, der Admiral sei vor der Tür. Mitsamt den Katzen.« Dann fiel ihm etwas ein. »Oh!«, rief er.
»Praktisch betrachtet ist es dasselbe«, belehrte ihn Pam. »Wenn du die Vorhänge aufziehst, werde ich den Katzen Futter geben.« Sie lächelte. »Und dir auch.«
Jerry schlängelte sich aus dem Bett, schüttelte sich frierend und eilte durchs Zimmer. Er zog die Vorhänge zurück, blickte hinaus und machte: »Brrr!« Es schneite noch. Er stellte den Heizkörper an.
»Wenn du bloß Pyjamas tragen würdest«, sagte Pamela sachlich, »wenigstens im Winter.«
Jerry sagte: »Huh!«, ging rasch zurück und legte sich wieder ins Bett. »Jetzt bist du an der Reihe!«
Pamela stand auf, als ob das ein Vergnügen wäre, was Jerry interessiert beobachtete.
»Tatsächlich ist der Unterschied nur technischer Natur«, sagte er. »Ich meine, wenn das... äh... das Kleidungsstück wärmen soll, ich meine...«
»Ich weiß, was du meinst, Liebling. Gefällt es dir denn nicht?«
»Oh«, erwiderte er, »so einigermaßen...«
Pamela fand ein Negligé auf einem Stuhl. Mit ein paar schnellen, sicheren Bewegungen hatte sie sich hoffnungslos darin verwickelt. Nicht ganz so rasch fand sie wieder heraus und betrachtete es entrüstet. Sagte: »Oh!«, und krempelte die Ärmel um. Diesmal zog sie es vorsichtig an, offenbar mit gewissen Zweifeln, und triumphierte förmlich, als sie es fertiggebracht hatte. Sie betrachtete sich in einem hohen Spiegel und lobte Jerry für seinen guten Geschmack. Dann ließ sie die Katzen herein, die mit gekrümmten Rücken um sie herumstrichen.
Die Katzen folgten Pamela aus dem Schlafzimmer und kamen mit ihr wieder herein.
»Die Zeitungen«, verkündete Pam, indem sie Jerry die New York Times und die Herald Tribune gab. »Möchtest du gern Rührei?«
»Prima«, sagte Jerry.
Pam ging wieder hinaus.
Beide Zeitungen waren, wie Weigand vorausgesagt hatte, glücklich über den Mord.
Jerry fand kaum etwas von Bedeutung, was er nicht schon wusste. Unter verdächtigen Umständen, so hieß es in der Times unter anderem, wäre Senator Kirkhill aufgefunden worden. Die Polizei könnte nicht erklären, weshalb der für seine tadellose Kleidung bekannte Senator vor seiner Ermordung so altes Zeug angezogen und weshalb er sich in eine so verrufene Gegend begeben hatte. Es wären dafür verschiedene Erklärungen gegeben worden, doch da Senator Kirkhill sich schon lange einen Namen gemacht hätte durch sein Eintreten für staatliche Wohnungsbauten und die Beseitigung der Elendsviertel, wäre es denkbar, dass er – ohne vorher darüber zu reden – persönlich eine Prüfung der schlechten Wohnverhältnisse vorgenommen und diese Kleidung gewählt hätte, um sich im unteren Manhattan bewegen zu können, ohne unnötig Aufsehen zu erregen. Wahrscheinlich wäre er dann von jemand, der ihn berauben wollte, überfallen und getötet worden.
Die Times brachte noch einen langen Nachruf, den Jerry rasch überflog.
Kirkhill war ein reicher Mann gewesen, er hatte von seinem Vater ein beträchtliches – mit Erdöl verdientes – Vermögen geerbt. In jüngeren Jahren hatte auch der Sohn im Ölgeschäft noch Geld gemacht, ohne für Fragen außerhalb dieser Geschäfte besonderes Interesse zu zeigen. 1927 hatte er geheiratet, und 1930 wurde Celia geboren. Seine Frau war 1939 gestorben.
Anfang 1942 hatte Kirkhill sich um ein Offizierspatent bemüht und war im Hauptmannsrang eingestellt worden, als Spezialist für Ölfragen. In dieser Eigenschaft war er fast ständig in Washington gewesen, aber auch viel gereist, zum Teil in schwierigen Missionen. Auf einer dieser Reisen hatte er in einem Transportflugzeug gesessen, das über einer Insel im Pazifik abstürzte; er war mit dem Leben davongekommen, während mehrere Passagiere getötet wurden.
Im Herbst 1945 war er als Oberstleutnant aus der Armee ausgeschieden und zwar – was man zwischen den Zeilen lesen konnte – als ganz veränderter Mensch mit neuen Interessen. Er kehrte nicht wieder ins Geschäftsleben zurück, sondern widmete sich der Politik. Seine Befürwortung des staatlichen Wohnungsbaus war ein Beispiel für die Ideen, die er vertrat, ein zweites das noch energischer vertretene Projekt des Baus von Staudämmen und Kraftwerken. Er wurde in den Jahren seines öffentlichen Wirkens weithin bekannt als fortschrittlicher Politiker jenes Typs, der früher im amerikanischen Westen so zahlreich zu finden war, schrieb der Biograph in der Times.
Kirkhill war vom Gouverneur seines Heimatstaates anstelle eines älteren Senators, der während der Legislaturperiode zurückgetreten war, in den Senat berufen worden. Kirkhill hatte sich so auffallend hervorgetan, dass er im letzten Frühjahr für den Senat kandidieren konnte und wiedergewählt wurde. Er hinterließ als nahe Verwandte nur seine Tochter Celia und einen Bruder, George Kirkhill.
Die Herald Tribune behandelte, in etwas flotterem Stil, vorwiegend dieselben Tatsachen. Auch sie schrieb, es gäbe viele Hypothesen zur Erklärung der höchst geheimnisvollen Umstände des Todes Senator Kirkhills. Gedächtnisverlust sei ja stets denkbar, meinte die Zeitung. In einem Sonderbericht aus Washington wurde erwähnt, Senator Kirkhill sei in den letzten Wochen ungewöhnlich überlastet gewesen und habe bereits zwecks gründlicher Untersuchung eine Klinik in Washington aufgesucht. Der Leser mochte hieraus entnehmen, was ihm passte. Erwähnt wurde auch die Empörung, die er durch seine Befürwortung der staatlichen Riesenprojekte bei vielen führenden Wirtschaftlern und Industriellen hervorgerufen hatte. Jerry fiel es auf, dass hier über Kirkhills Kampf gegen die Elendsviertel nichts gesagt wurde.
Er erhob sich, duschte und kleidete sich an. Dann ging er zu Pamela hinaus. Die Katzen standen, ihre Schwänze hoch erhoben, im Kreis um einen Pappteller mit Hackfleisch. Auch das Ehepaar North
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Authors/Apex-Verlag. Christian Dörge mit freundlicher Genehmigung des Signum-Verlags.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Dr. Arno Dohm, Wulf Bergner und Norbert Wölfl (Original-Zusammenstellung).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2022
ISBN: 978-3-7554-2706-3
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