REX GORDON
DER ZEITFAKTOR
- Galaxis Science Fiction, Band 48 -
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DER ZEITFAKTOR
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
Das Buch
Amerikanische Wissenschaftler haben eine Zeitmaschine konstruiert. Mit dieser schicken sie eine Film-Kamera hundert Jahre in die Zukunft. Doch die Aufnahmen aus jener Zeit vermitteln ein Bild des Schreckens: Die Erde ist durch einen Atomkrieg verwüstet; nur wenige Menschen haben die Katastrophe überlebt - jeder ist des anderen tödlicher Feind.
Muss die Zukunft tatsächlich so aussehen? Oder gibt es eine Möglichkeit, den Ablauf der Ereignisse zu beeinflussen? Der Astronaut Howard Judgen begibt sich auf die gefährliche Reise durch die Zeit - ins Ungewisse und Unbekannte...
Der Zeitfaktor von Rex Gordon (geboren am 25. Februar 1917 in Preston, Lancashire; gestorben im Februar 1998 in Falmouth, Cornwall) erscheint in der Reihe GALAXIS SCIENCE FICTION aus dem Apex-Verlag, in der SF-Pulp-Klassiker als durchgesehene Neuausgaben wiederveröffentlicht werden.
DER ZEITFAKTOR
ERSTER TEIL
Erstes Kapitel
Wir kamen aus den Felsentunneln des Synchrotrons, traten in die strahlende Morgensonne hinaus und hatten einen weiten Blick über Lake Valley.
Ein Mann kam von der Parkschneise, auf der wir unsere Wagen abgestellt hatten. Er schob sich zwischen Sara und Strassen, legte eine Hand auf meine Schulter und sagte: »Konferenz, Judgen.«
»Was für eine Konferenz?«, fragte ich.
»Galbraith wird anwesend sein«, antwortete er, »und alle wichtigen Leute werden ebenfalls daran teilnehmen.«
Er nahm mich mit zu seinem Wagen.
Er war der Mann, der von irgendwo aufgetaucht war und mich begrüßt hatte, als ich gestern Abend in der Universität eingetroffen war. Seinen Namen hatte er nicht genannt. Wahrscheinlich hatte er noch keine Zeit gehabt, mich über seinen Aufgabenbereich zu informieren.
Mit den wichtigen Leuten waren Sara Francis und Strassen anscheinend nicht gemeint. Sie blieben zurück, als er die Wagentür geschlossen, den Motor gestartet und den Wagen auf die sich zur Universität hinaufschlängelnde Bergstraße gelenkt hatte.
»Neugier ist in dieser Gegend wohl nicht gestattet«, sagte ich. »Und die Leute stellen keine Fragen...«
»Was wollen Sie wissen?«
»Ihren Namen«, antwortete ich. »Falls Sie Ihren Namen für sich behalten wollen, so möchte ich gern wissen, unter wessen Kommando ich stehe – Ihren Dienstgrad, wenn das der richtige Ausdruck ist.«
»Carl Reckman«, sagte er. »Militärischer Abwehrdienst.«
Er lenkte den Wagen in eine der zahlreichen Kurven.
»Was hat die Abwehr mit dieser Angelegenheit zu tun?«
»Die Arbeit wird jetzt unter Aufsicht der militärischen Abwehr durchgeführt. Das hat sich als notwendig erwiesen. Fragen Sie den Senator.«
»Den Senator?«
»Sie werden ihn kennenlernen«, war die knappe Antwort.
Ein Hubschrauber stand auf dem Grasstreifen zwischen den Universitätsgebäuden. Auch zwei schwere Wagen mit Fahrern in Uniform standen da, und ich fragte mich, ob auch das Oberkommando daran teilnehmen würde.
Wir stiegen aus, und Reckman führte mich eine breite Marmortreppe hinauf.
»Die Konferenz findet im Vorführungsraum statt«, sagte er. »Deshalb haben wir uns die Universität ausgesucht. Sie bietet mancherlei Vorteile.«
Der Mann vor der Tür sah sich auch Reckman genau an, ehe er uns eintreten ließ. In dem Raum brannte Licht. Ich sah einen Projektor und eine Leinwand. Galbraiths großer grauer Kopf fiel mir auf, bevor ich noch seine gebeugte und erschreckend unordentlich gekleidete Gestalt wahrgenommen hatte. Es waren noch drei weitere Männer im Raum, und einer davon trug die Uniform eines Generals.
Der Eindruck, den Galbraith bei der ersten Gegenüberstellung auf mich gemacht hatte, lässt sich nur schwer beschreiben. In der Raketenbasis gab es Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker aller Sparten, und ich hatte angenommen, Galbraith wäre einer von ihnen. Aber das war er nicht. Er war so wichtig wie alle, und doch ein anderer. In mancher Hinsicht wirkte er gemütlicher und weniger angespannt. Allerdings war das, was er unter einer normalen Umgangssprache verstand, mit wissenschaftlichen Fachausdrücken gespickt, und er setzte es als selbstverständlich voraus, dass sie jeder mühelos begreifen könne.
»Das sind Reckman und Major Judgen«, stellte er uns vor und blickte nach dem Mann am Projektor, der gerade einen Film einlegte. »Können wir anfangen?«
Es dauerte noch kurze Zeit, bis Reckman mich den anderen vorgestellt hatte.
»Das ist Sekretär Stephens, Major. Der Major ist unser Freiwilliger, Mr. Stephens. Wenn jemand in Frage kommt, dann ist er es. Senator, das ist Major Howard Judgen...«
Ich hatte General Bridger erkannt und salutierte. Nicht weil ich ihn persönlich kannte. Ich hatte nur sein Bild gesehen – und wer kannte das nicht? Sein Anblick, schon seine Anwesenheit, verrieten mir, dass es sich um ein Projekt von einiger Wichtigkeit handeln musste.
»Sind Sie ein Freiwilliger, Major?«, fragte der General.
»Das weiß ich noch nicht, Sir«, sagte ich. »Das heißt, ich habe keine Ahnung über meine Verwendung als Freiwilliger.«
Er grinste und sah mich jovial an. So benahmen sich wohl alle Generale einem Major gegenüber.
Sekretär Stephens machte Galbraith, der dem Vorführer schon das Zeichen zum Verdunkeln des Raums gab, darauf aufmerksam, dass wir noch nicht Platz genommen hatten. Als wir saßen, meinte er: »Ich weiß nicht, weshalb wir uns diesen Film ansehen sollen, Professor. Filmaufzeichnungen und -auswertungen sind doch eine Angelegenheit der diesbezüglichen Experten.«
»Experten können nicht darüber entscheiden, ob wir das nächste Mal an Stelle von Kameras einen Menschen auf die Reise schicken, Mr. Stephens«, sagte Galbraith und sah den General an meiner Seite an. Er gab damit bekannt, wer diese Entscheidung zu fällen habe. Ich fragte mich, weshalb der Sekretär und der Senator überhaupt anwesend seien. Doch wie Reckman schon gesagt hatte, fand ich es bald heraus. Wir nahmen also Platz, und Galbraiths Persönlichkeit – oder was es auch war – trat in Aktion. Er behandelte uns wie Leute, die nichts zu sagen hatten und mit allem einverstanden waren.
Der Senator und der Sekretär waren verärgert, denn was Galbraith ihnen mitzuteilen hatte, war mehr oder weniger ein Kostenvoranschlag.
»Wie soll ich das dem Bewilligungsausschuss beibringen?«, fragte der Senator. »Ich kann doch nicht nur sagen, dass alles lediglich eine Sache der Buchhaltung ist und es im Wesentlichen darauf ankommt, einen Kostenaufwand von hundert Millionen Dollar zweck- und sinngemäß anzulegen.«
»Sagen Sie dem Ausschuss, dass alles einer strengen Geheimhaltung unterliegt«, entgegnete Galbraith. »Das ist nicht übertrieben. Wenn der Ausschuss Fragen stellt, erzählen Sie ihm die Wahrheit und sagen, dass nicht einmal wir genau wissen, was gespielt wird.« Er nickte dem Mann am Projektor zu, der das Licht ausmachte, und fragte: »Warum sollten wir das auch erklären können?«
Wir saßen im Dunkeln vor der Leinwand, nicht so sehr wie eine Konferenz, sondern eher wie Schüler in einem Hörsaal, die an einer Vorlesung teilnahmen. Dann wurde es auf der Leinwand lebendig.
Ich erkannte das Bild wieder, denn aus dieser Szene war ich gerade gekommen. Es handelte sich um das große unterirdische Laboratorium am Ende des Synchrotrons. Aber Galbraith musste es auch den anderen erzählen.
»Von hier aus wird das Synchrotron in Gang gesetzt und gesteuert«, sagte er. »Wie Sie sehen, halten wir, der Stab, uns alle auf der einen Seite der Absperrwand auf. Für alles, was um die Zielscheibe herum passiert, ist jene Robotmaschine verantwortlich, die Sie auf der anderen Seite sehen können. Selbst die Kamera, der wir diese Aufnahmen verdanken, kann mit einer Schutzvorrichtung versehen werden, wenn wir es für nötig halten.«
Das Bild zeigte die Mitarbeiter innerhalb des Laboratoriums. Galbraith, der das Experiment leitete und überwachte, war selbst im Bild zu sehen. William Strassen stand in der Nähe der Absperrwand. Sara Francis saß vor einem Kontrollpult und beobachtete die vielen Skalenscheiben und Schalter des Synchrotrons.
Die Kamera hatte die flinken Bewegungen ihrer Hände eingefangen, schwenkte dann auf eine Wanduhr über ihrem Kopf und zeigte, dass es zum Zeitpunkt der Aufnahme drei Minuten vor zwölf Uhr gewesen war.
»Dies ist ein neues Experiment«, erklärte Galbraith. »Unser letztes und lohnenswertestes Experiment, wenn man das so nennen kann. Darum habe ich Sie zu mir gebeten. Das Mädchen heißt Sara Francis, eine junge Assistentin. Wir haben sie ausgewählt, weil sie über ein bemerkenswert rasches Auffassungsvermögen verfügt und die Klaviatur des Synchrotrons meisterhaft beherrscht. Sie wird in diesem Film später noch einmal auftreten.«
Die Kamera machte wieder eine Schwenkung – die Perspektive des Laboratoriums veränderte sich –, und wir blickten über die Absperrwand hinweg. Auf der Leinwand war das Zielgebiet des Synchrotrons zu sehen. Aber die Zielscheibe, wenn das die richtige Bezeichnung war, war eine andere Kamera, außerdem eine Gruppe Instrumente, die auf einer Säulenplatte unter einer Glasglocke standen.
Die andere Kamera war mit der Linse auf das Laboratorium zurückgerichtet und die Linse der Kamera, die den Film aufgenommen hatte, der uns jetzt vorgeführt wurde.
»Die beiden Kameras beobachten sich gewissermaßen gegenseitig«, sagte Galbraith, »und ebenso die beiden Uhren.«
Auf der Leinwand erschien eine Großaufnahme der Kamera und der Instrumente unter der Glasglocke. Ida erkannte zunächst eine Uhr, deren Zeit mit der der Wanduhr übereinstimmte. Die anderen Instrumente waren ein Thermometer, ein Barometer und ein Strahlungsmesser, die ihre Messwerte registrieren konnten.
»Wir haben die Absicht, diese Instrumente durch einen Menschen zu ersetzen«, sagte Galbraith.
Im Halbdunkel des Vorführungsraums, nur in dem von der Leinwand reflektierten Lichtschein, beobachteten wir interessiert die Vorgänge. Wir sahen Sara bei ihrer Arbeit am Kontrollpult, die Uhr an der Wand des Laboratoriums – zwölf Uhr mittags – und dann wieder die Glasglocke im Zielgebiet auf der anderen Wandseite mit der zweiten Kamera und den Instrumenten darin.
Zunächst schien nichts zu passieren. Glasglocke und Instrumente sahen so leblos aus wie die Wirkung des auf sie gerichteten Synchrotrons. Dann begann sich einer der Zeiger zu bewegen. Es war die Uhr.
Nur wenige Sekunden waren vergangen, und doch zeigte die kleine Uhr zwischen den Instrumenten drei Minuten über die volle Stunde an. Dann konnte man die Bewegung der Zeiger mit den Augen verfolgen. Sie drehten sich immer schneller. Der Strahlungsmesser schlug ein wenig aus, aber die Dosis war noch ungefährlich.
»Was soll denn das?«, fragte Sekretär Stephens. »Oder handelt es sich um eine Zeitrafferaufnahme?«
Die Kamera gab ihm die Antwort. Die Einstellung auf der Leinwand veränderte sich; wir sahen wieder Sara am Kontrollpult und die Wanduhr hinter ihr. Es war zwei Minuten nach zwölf Uhr, aber als sich die auf das Zielgebiet gerichtete Kamera einschaltete, waren die Zeiger der Uhr zwischen den Instrumenten auf ein Uhr vorgerückt, und ihre Geschwindigkeit nahm weiter zu.
Dann passierte noch etwas. Es war, als bilde sich um die Glasglocke herum ein Nebelschleier, eine Wolke. Sie erschwerte die Beobachtung der zweiten Kamera und der Uhr zwischen den Instrumenten in der Glasglocke. Ich konnte nur noch sehen, dass die Zeiger auf drei Uhr zeigten; dann wurde die Wolke dichter und undurchsichtiger.
Wir sahen eine nebelhafte Sphäre von etwa anderthalb Meter Durchmesser, in der die Glasglocke völlig verschwand. Die Sphäre wurde dunkler, pechschwarz, und der Betrachter blickte in die Tiefe des Universums.
Galbraith hatte davon gesprochen, die Instrumente durch einen Menschen zu ersetzen. Aber Instrumente, Uhr und Kamera waren im schwarzen Nebel verschwunden, und ich kann nicht sagen, dass mir der Gedanke, an ihrer Stelle zu sein, Freude bereitete. Ich wusste auch nicht, wie und ob das möglich war.
»Wie Sie sehen, sind die Instrumente verschwunden«, sagte Galbraith. »Das Experiment dauerte anderthalb Stunden. Nachdem wir die entsprechenden Schaltungen am Synchrotron vorgenommen hatten, kehrten die Instrumente wieder zurück. Betrachten Sie nun die Aufzeichnungen der zweiten Kamera.«
Er gab dem Vorführer Anweisung, den Film zu stoppen, der gerade eine Szene im Laboratorium zeigte, und den Film der zweiten Kamera einzulegen, die die Rückkehr aufgenommen hatte.
»Und Sie haben einen Freiwilligen, der sich unter die Glasglocke, ins Zielgebiet des Synchrotrons, setzen und in diesem schwarzen Nebel verschwinden will?«, fragte der Senator. »Zu welch einer seltsamen Handlung wollen Sie die Regierung veranlassen? Soll sie künftig auch Selbstmorde genehmigen?«
»Wenn aus den Aufzeichnungen der Messinstrumente hervorgeht, dass ein Mensch diese Behandlung überleben kann, dann wird er überleben«, sagte der General. »Major Judgen und seine Kollegen wurden während einer Spezialausbildung stärksten seelischen und körperlichen Belastungen ausgesetzt.«
Im Vorführungsraum wurde es hell, dunkel, hell und noch einmal dunkel. Dann erschienen die Aufnahmen des nächsten Films auf der Leinwand. Der Film war von der zweiten Kamera in der Glasglocke aufgenommen worden.
Der zweite Film begann mit der Ausgangsszene des ersten. Da waren Galbraith, Strassen, die am Kontrollpult sitzende Sara, die Wanduhr über ihrem Kopf – zwölf Uhr –, alles aus der Perspektive aufgenommen, die mir beschieden gewesen wäre, wenn ich auf der heißen Seite der Absperrwand gesessen und mir das Laboratorium durch die Spiegel darüber angesehen hätte.
Aber diese Kamera blieb unbeweglich. Wir mussten selbst aufpassen, sahen Sara auf ein Wort von Galbraith ihre Tätigkeit am Kontrollpult ausüben, wobei die Zeiger der Wanduhr ihre Geschwindigkeit erhöhten.
Ich sah hin, und sah noch einmal hin. Die Zeiger drehten sich immer schneller. Als Strassen auf der Leinwand sichtbar wurde, fiel mir etwas an seinen Bewegungen auf. Er hatte etwas an der Robotmaschine zu tun und ging von der einen Seite des Laboratoriums zur anderen. Plötzlich bewegte er sich mit einer phantastisch anmutenden Geschwindigkeit.
»Moment!«, sagte Sekretär Stephens. »Da stimmt etwas nicht. Wenn es zutrifft, dass sich die Zeit in dieser Glasglocke beschleunigt hat, dann müsste die Wanduhr im Laboratorium ja langsamer gehen und nicht schneller.«
»Darum habe ich Sie ja zu dieser Vorführung eingeladen«, sagte Galbraith.
»Aber er hat recht«, warf der Senator ein. »Wenn die Zeiger beider Uhren, aus zwei verschiedenen Perspektiven aufgenommen, ihre Geschwindigkeit erhöhen, so stellt diese Tatsache Ihr ganzes Experiment in Frage, Professor.«
»Ich würde Ihrer Meinung sein, wenn wir etwas mehr über die Zeit wüssten«, sagte Galbraith. »Doch anscheinend wissen wir nichts...«
»Jedenfalls war bisher eine Minute immer nur eine Minute«, murmelte Bridger.
Sogar Reckman meldete sich schüchtern zu Wort. »Unsere Experten haben sich darüber die Köpfe zerbrochen«, sagte er. »Sie sprachen von relativen und divergierenden Zeitelementen.«
Galbraith sagte nichts dazu. Ich nahm an, dass er keine Lust hatte, sich mit Experten der Abwehr auf eine Diskussion einzulassen. Er hatte die Sache vereinfacht und zu verstehen gegeben, dass er keine Antwort wusste.
Doch Argumente und Fragen verstummten angesichts dessen, was auf der Leinwand geschah. In dem anderen Film war die Kamera, aus deren Perspektive wir jetzt blickten, von einer schwärzen Wölke eingehüllt worden. Aber die Kamera hatte es nicht so aufgezeichnet. Was das Laboratorium und die Uhr einhüllte, die zwanzig Minuten vor drei anzeigte, war ein leuchtender, perlenartiger Nebel, der die Silhouetten von Sara, Galbraith und Strassen nach und nach verwischte.
Dann sahen wir auf der Leinwand nur ein flackerndes Licht und anschließend eine totale Finsternis.
»Überbelichtet und unterbelichtet«, sagte Galbraith.
Es wurde wieder hell.
»Hier beginnt der rätselhafte Teil«, erklärte Galbraith.
Auf der Leinwand lösten sich Licht und Dunkelheit in rascher Folge ab. Dieses wechselhafte Lichtspiel wurde langsamer und erinnerte mich an ein Fernsehgerät, dessen Bildröhre sich langsam erwärmte.
Das Bild wurde ruhig, flackerte immer weniger und blieb schließlich stehen.
Ich hörte, wie alle unwillkürlich einatmeten, und ich hörte auch mich geräuschvoll Luft holen.
Der Film zeigte, auf den ersten Blick, nicht mehr die gleichen Szenen, die wir zu Beginn des Experiments gesehen hatten. Und dann, auf den zweiten Blick, war es zu sehr das gleiche Bild, das geradezu phantastische Dimensionen hatte.
Wir schienen aus der völligen Dunkelheit einer Höhle nach außen zu blicken.
Ich kann nur die Einzelheiten dieser Szene beschreiben. Es war der entscheidende Beweis, der den Grund meines Hierseins und die Anwesenheit von General Bridger, Reckman, des Sekretärs und Senators erklärte.
Die Szene, die nur von der Kamera aufgezeichnet sein konnte, war ein Blick über Felsen und Gesteinstrümmer. Die Außenwand des Laboratoriums, wenn es noch das Laboratorium war, schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Die Felswand war offen. Und draußen, jenseits der Trümmer, sah man nicht mehr die Berge um Lake Valley, sondern in weiter Ferne zerklüftete und eisbedeckte Berggipfel.
Das sah man auf den ersten Blick; auf den zweiten erkannte man die nähere Umgebung der Höhle. Die Felsen und Gesteinstrümmer im Vordergrund hatten, obwohl die auf dem Bild dunkel waren, sehr viel Ähnlichkeit mit der Absperrwand. Man sah die Splitter der Spiegel und Dinge, die gewiss kein Gesteinstrümmer und gewiss nicht natürlichen Ursprungs waren. Sie sahen eher so aus wie die verstreut herumliegenden Einzelteile einer elektrischen Apparatur.
Aber am wichtigsten und auch am deutlichsten zu sehen war das umgestürzte und demolierte Kontrollpult. Es sah aus, als sei ein schwerer Gegenstand von der Decke gestürzt, der von dem Kontrollpult abgeprallt war.
Nicht genug damit, sah man in dieser Szene der Verwüstung ein menschliches Skelett.
Das Bild veränderte sich nicht. Es blieb auf der Leinwand stehen, und wir starrten es an, bis Galbraith uns sagte, dass der Film zu Ende sei. Verblüffend war, dass die Kamera, die Uhr und die Instrumente wesentlich länger auf der anderen Seite verharrten, als sie wirklich aus dem Laboratorium verschwunden waren.
Aber Galbraith kam nicht darauf zu sprechen und erzählte uns, während wir schweigend im dunklen Vorführungsraum saßen, andere interessante Dinge.
»Es ist bedauerlich, dass Sara Francis diese Aufnahmen bereits gesehen hat«, sagte er ruhig auf seinem Platz am Ende der ersten Sitzreihe. »Wir hatten keine Ahnung, dass die Kamera eine Szene wie diese aufnehmen würde. Wir wussten auch nicht, dass ein Skelett erscheinen würde, in dem wir ihr eigenes Skelett erkannten...«
Ich empfand ein jähes Gefühl des Entsetzens. Ich saß da, starrte das Bild auf der Leinwand an, hörte Galbraith zu und wusste, dass er keine Märchen erzählte. Ich dachte an das Mädchen, mit dem ich mich vor einer knappen Stunde unterhalten hatte, an seine Jugend, seine Lebensfreude und Begeisterung, als es sich mit Strassen über arbeitstechnische Probleme unterhielt. Doch Galbraith sprach unerbittlich weiter und belegte alles mit exakten wissenschaftlichen Antworten, die eine Frage gar nicht erst aufkommen ließen.
»Leider mussten wir es ihr sagen«, erklärte er. »Wir mussten sagen, dass wir eine Röntgenaufnahme von ihr machen müssten, um ihr Skelett mit dem des Filmstreifens zu vergleichen. Sie ist sehr intelligent. Sie hat zusätzlich genaue Angaben gemacht, um uns vor einem Irrtum zu bewahren, wie sie das nannte. Sie weiß noch nicht restlos alles, verfügt auch nicht über das medizinische Wissen, um Zweifelsfragen zu klären. Eins weiß sie mit Sicherheit: dass ihr Skelett noch nicht sehr alt ist. Andererseits weiß sie nicht, dass wir ziemlich genau das Alter des Skeletts feststellen können. Demnach müsste diese sintflutartige Katastrophe in der Umgebung des Laboratoriums und darin selbst in ein bis zwei Jahren stattfinden – oder wahrscheinlich viel, viel früher.«
Ich war wie gelähmt, nicht nur ich, sondern auch die zivilen Repräsentanten, vielleicht sogar General Bridger. Gebannt starrten wir das Bild auf der Leinwand an. Der Senator fand zuerst die Sprache wieder.
»Um Himmels willen!«, sagte er. »Sie haben diesen Film aus. einer Kamera Ihres Synchrotrons genommen und nichts dagegen, dass das Mädchen auch weiterhin im Laboratorium arbeitet? Schicken Sie es nach Hause! Sie werden dem Mädchen doch nicht noch einmal den Zutritt zum Laboratorium gestatten?«
Der Senator sagte es mit einer Betonung, als rechne er damit, dass das Synchrotron, die Universität und Lake Valley überhaupt jeden Augenblick in die Luft fliegen können. Ich denke, dieses Gefühl hatten wir insgeheim alle. Immerhin war es eine Filmaufnahme. Und das Skelett, falls es tatsächlich Sara Francis, einer jungen Sara Francis gehörte, war eine verdammte Sache. Es war eine Drohung, mehr als eine Drohung, die jenseits alles Begreiflichen lag.
»Moment!«, sagte Galbraith. »Ich habe Sie zu dieser Konferenz gerufen, um Ihnen mitzuteilen, dass wir etwas unternehmen müssen. Aber was? Dies ist ein wissenschaftliches Phänomen, dem wir nur wissenschaftlich begegnen können. Wir müssen mehr herausfinden und haben auch bereits etwas mehr herausgefunden.«
»Finden Sie heraus, was Sie wollen!«, brüllte der Senator. »Schließen Sie dieses verdammte Synchrotron und lassen es dem Erdboden gleichmachen!«
Galbraith sprach weiter, nicht weil er den Senator noch mehr reizen wollte, sondern stur und hartnäckig, so als habe der Senator überhaupt kein Wort gesagt.
»Die erste Frage ist, ob es sich tatsächlich um die Zukunft handelt«, sagte er. »Es dürfte schwierig sein, die Natur und die Beschaffenheit dieser Szene zu ergründen. Wir wissen nicht, ob es sich vielleicht um eine optische Täuschung handelt, und wir können uns nur dann Gewissheit verschaffen, wenn wir einen Menschen auf die Reise schicken. Doch gesetzt den Fall, es handelt sich um die Zukunft – eine Hypothese, von der wir ausgehen –, so gibt es Dinge, die nicht von der Hand zu weisen sind. Das Kontrollpult im Bild ist deutlich zu sehen. Wir können uns auch nach den Metallteilen richten, die ebenfalls verhältnismäßig deutlich sichtbar sind. Man kann sagen, dass diese Aufnahme, von heute an gerechnet, in hundert Jahren gemacht wurde – wenn wurde der passende Ausdruck ist.«
»Sie sind verrückt, Professor«, sagte Sekretär Stephens mit gedämpfter Stimme.
»Nicht verrückt«, entgegnete Galbraith in dem dunklen Raum. »Ich tue nur das, was ich immer getan habe, und werte Erkenntnisse aus. Diese Aufnahme wurde hundert Jahre in der Zukunft gemacht, aber die Katastrophe, die diese Szene vorbereitet hat, wird sich bereits in den nächsten Monaten ereignen. Und sie beschränkt sich nicht nur auf die nähere Umgebung. Sehen Sie sich nur die Gebirgskette außerhalb der Höhle an. Aber es wird nicht heute oder morgen passieren. Die Röntgenaufnahme des Skeletts von Sara Francis stimmt mit dem Knochengerüst der Filmaufzeichnung überein – bis auf eins. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie feststellen, dass im Unterkiefer ein Zahn fehlt. Er ist nicht abgebrochen, sondern wurde von einem ordentlichen Zahnarzt gezogen. Doch heute besitzt Sara noch diesen Zahn. Sie lebt nicht in Gefahr, denke ich. Wir alle leben nicht in Gefahr, solange Sara keine Zahnschmerzen bekommt. Aber wenn sie Zahnschmerzen bekommt und das Gefühl hat, dass der Zahn unbedingt heraus muss, so haben wir damit zu rechnen, dass alles, was wir auf der Leinwand sehen, in jeder Minute passieren kann. Wir haben also nur solange Zeit zum Nachdenken, bis Sara Zahnschmerzen bekommt. Weil Sie vorhin davon sprachen, das Synchrotron zu schließen, Senator, so möchte ich meinerseits den Vorschlag machen, all seine Möglichkeiten auszunutzen und diesen Möglichkeiten vorzubeugen.«
Galbraith sagte es mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete und auch gar keinen derartigen Gedanken aufkommen ließ.
Zweites Kapitel
Ich stand wie betäubt in dem mir bekannten Büro. Durch das Fenster konnte ich den Hangar sehen, das Gebäude mit der Zentrifugalmaschine und die Raketenabschussrampen. Es war das Büro, in dem man das Resultat erfuhr, wenn man sich einer körperlichen oder seelischen Zerreißprobe unterworfen hatte. Wir alle waren der Meinung, dass die Wartezeit in diesem Büro schlimmer war als alle Testversuche zusammen.
Es war das Büro, in dem manche Hoffnungen und Ambitionen beerdigt wurden. Hier pflegte man die Leute zu verabschieden, die versagt hatten. Aber ich hatte wahrhaftig nicht damit gerechnet, dass mir so etwas passieren würde.
»Was habe ich denn verpatzt?«, fragte ich, ohne jede Einleitung. »Warum soll der Fehler an mir gelegen haben? Ich weiß ja nicht einmal, dass ich versagt habe! Wenn Sie vielleicht den Beschleunigungstest von gestern Abend...!«
Der Colonel sah mich über seinen Schreibtisch hinweg ruhig an. Er war es gewohnt, sich mit aufgeregten Männern zu unterhalten, ohne sich von ihnen beeinflussen zu lassen.
»Ich will endlich wissen, was los ist!«, sagte ich.
»Sie haben nicht versagt, Major Judgen.«
Ich starrte ihn an. Die Wände des Büros schienen näher zu rücken.
»Sie haben einen anderen Auftrag bekommen«, sagte er.
Ich dachte, so etwas könne er mir einfach nicht antun. Aber natürlich konnte er das. Kein Astronaut kann so einfach zwischen den Sternen herumfliegen; er muss tun, was man ihm sagt, und dort ankommen, wo man ihn hinschickt. Und ich war einer der wenigen, die von Anfang an mit so was Ähnlichem gerechnet hatten. Einen anderen Auftrag... das konnte nur eine Versetzung sein.
»Ich möchte meinen Dienst quittieren«, sagte ich schroff.
»Das werden Sie sich überlegen«, entgegnete er.
»Wenn Sie mich nicht gebrauchen können, dann möchte ich klipp und klar wissen, woran das liegt.«
»Wollen Sie etwas von Ihrer neuen Tätigkeit hören?«
»Nein!«
Er gab mir einen versiegelten Umschlag. »Dann sollten Sie sich das einmal durchlesen. An Ort und Stelle werden Sie mehr erfahren. Das ist alles, Major Judgen.«
Damit war ich entlassen. Als ich mich zum Gehen wandte, sagte er: »Tut mir leid, Howard.«
Ich ging hinaus. Er konnte Tut mir leid sagen! Er konnte ewig hinter seinem Schreibtisch sitzen und Männer in den Weltraum schicken, aber er gehörte wenigstens zum Raketenforschungsprogramm, während ich nun endgültig draußen war.
Ich packte rasch meine Habseligkeiten. Das tat jeder. Wenn einer seine Astronautenträume begraben hatte, machte er sich aus dem Staub, wenn die anderen noch nicht vom Dienst zurückgekehrt waren. Er verschwand einfach. Das war besser als eine rührselige Abschiedszeremonie, da war immer zu viel Gefühl auf beiden Seiten, und es kam auch allzu häufig vor.
Ich saß im Wagen, ehe ich mich noch recht besonnen hatte, und ich fuhr die Schnellstraße entlang, ehe ich noch wusste, wohin ich eigentlich fahren wollte. Ich hatte keine Angehörigen und war auch noch nicht verheiratet. Letzteres musste wohl auch bei meiner Beurteilung ausschlaggebend gewesen sein, denn man gab wahrscheinlich verheirateten Männern den Vorzug, weil irgend so eine Statistik bewies, dass Junggesellen ihre Stellungen häufiger wechselten und demnach zwangsläufig nicht so zuverlässig sein konnten. Aber das war wohl doch ein wenig an den Haaren herbeigezogen. Während ich den Wagen einfach die Straße entlangfahren ließ, kam mir der unerhört kluge Gedanke, dass der Wagen zwar in eine bestimmte Richtung fuhr, aber kein bestimmtes Ziel hatte.
Ich hielt am Straßenrand und öffnete den Umschlag, den der Colonel mir gegeben hatte:
Bericht an Prof. T. Galbraith,
Nukleonare Fakultät,
Protonen-Synchrotron Laboratorium,
Universität Lake Valley,
Lake Valley, Tennessee.
Ich öffnete die Umschlagklappe und schüttelte in der Hoffnung, dass irgendein Reise- oder Marschbefehl, schriftliche Anweisungen oder Erklärungen herausrutschen würden. Doch nichts dergleichen kam zum Vorschein. Als ich hineinblickte, war, außer dem Brief an Professor Galbraith, nichts drin.
Ich war völlig auf mich selbst gestellt. Kein Mensch hatte mir gesagt, wann und wie ich die Strecke nach Lake Valley zurücklegen sollte. Die Entscheidung überließ man mir. Vielleicht hatten sie gedacht: Der fährt ja einen Wagen und wird seine Habseligkeiten in diesem Wagen mitnehmen wollen. Darum wird er auf vier Rädern noch am besten vorwärtskommen. Aber gewöhnlich taten sie das nicht. Sie wussten zwar ziemlich genau über einen Bescheid, aber das entsprach nicht ihrer Art und Weise. Als ich nach Kap Kennedy versetzt wurde, bekam ich den Auftrag, diese Reise mit dem Flugzeug zu machen, und es blieb mir überlassen, meinen Wagen bei einer passenden Gelegenheit nachzuholen beziehungsweise, ihn als Frachtgut aufzugeben.
Teufel, dachte ich, du kannst ja mal einen Blindflug machen und für eine Woche oder vierzehn Tage ausspannen. Ich hatte lange genug in Spannung gelebt, und die Versuchung war groß.
Doch zuerst fuhr ich wieder weiter und in die nächste Stadt. Ich fand ein Hotel, ging zur Rezeption und meldete ein Telefongespräch mit Professor T. Galbraith an. Dann nahm ich in einem Sessel der Halle Platz und wartete. Für den heutigen Tag hatte ich mir noch nichts vorgenommen. Vielleicht hatten die Leute, die sozusagen mein Leben lenkten, genau gewusst, was ich tun würde...
»Professor T. Galbraith?«, fragte ich, als die Verbindung zustande gekommen war. »Hier spricht Major Howard Judgen. Ich soll mich bei Ihnen melden. Bitte, wann erwarten Sie mich?«
Die Stimme am anderen Leitungsende ergriff sofort von mir Besitz. Mit der gleichen Betonung hätte er die Lieferung eines Kühlschranks oder eines Kochherds in die Wege leiten können.
»Vielleicht morgen, Major? Können Sie wenigstens am Donnerstag eintreffen?«
Er sprach mit mir, als gehöre ich zu einer Ausrüstung, die er sofort geliefert haben und auch sofort benutzen wollte.
»So früh?«, wollte ich wissen.
»Das liegt an Ihnen, Major.« Er schien überrascht zu sein. »Aber glauben Sie nicht, dass es vorteilhafter ist, wenn Sie sich erst einmal alles gründlich ansehen, bevor Sie Ihr Genick für uns riskieren?«
Drittes Kapitel
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Stanley Bennett Hough/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Zasu Menil/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Zasu Menil/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Hans-Ulrich Nichau (OT: The Time Factor).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2609-7
Alle Rechte vorbehalten