HANS REIMANN
Des Teufels Phiole
Ein utoparodistischer Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DES TEUFELS PHIOLE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Das Buch
Seit im März 1968 Kanada und Grönland den Vereinigten Staaten von Amerika eingegliedert worden waren und somit die Bildung der USN veranlasst hatten (wobei England und Dänemark insofern keinen schlechten Tausch machten, als sie in Konsolidierung der nordamerikanischen Interessen in die Erdöl-Produktion einstiegen und durch entscheidende Monopole mancherlei Art entschädigt wurden), hatte sich Edmonton zu einer Großstadt entwickelt, die es sich leisten konnte, einen Vorgang wie das sogenannte Erdbeben in Townsgraves Wohnung schlankweg in den Papierkorb der Lokalchronik zu werfen, und während sich noch vor zwanzig, dreißig Jahren die gesamte Bürgerschaft die Köpfe zerbrochen und dem einen unerschöpflichen Gesprächsstoff liefernden Ereignis auf den Knien gedankt hätte, ging man heute zur Tagesordnung über. Die Sache war wohl auch zu possenhaft, als dass man viel Wesens davon gemacht hätte.
Vier Tage nach diesem Spuk in Edmonton, der die harmlos-gemütliche Stimmung einer Silberhochzeit in rücksichtsloser Weise trübte und die betagte Gattin eines Sägewerkbesitzers dermaßen verstörte, dass sie auf Wochen hinaus das Bett zu hüten gezwungen war, meldete sich ein an allen Gliedern zitternder Greis im Büro der metereotherapeutischen Station zu Winnipeg...
Hans Reimann (eigentlich Albert Johannes Reimann - * 18. November 1889 in Leipzig; † 13. Juni 1969 in Schmalenbeck bei Hamburg) war ein deutscher humoristischer Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor. Er verwendete auch die Pseudonyme Max Bunge, Hans Heinrich, Artur Sünder, Hanns Heinz Vampir und Andreas Zeltner.
Der Roman Des Teufels Phiole erschien erstmals im Jahr 1939 (unter dem Pseudonym Andreas Zeltner).
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Literatur-Klassikers als E-Book, Paperback und Hardcover.
DES TEUFELS PHIOLE
(*) Anmerkung des Verlags:
In diesem Roman wurde die wörtliche Rede nicht als solche gekennzeichnet.
Dies ist ein vom Autor ausdrücklich gewünschtes Stilmittel.
Die Handlung ist frei erfunden. Es bestehen keine Beziehungen zu irgendwelchen tatsächlichen Ereignissen.
Erstes Kapitel
Hier erfahren wir allerlei seltsame Dinge und ahnen so gut wie nichts – Herr Buller und die Chenopodiaceen – Die Worlds-News-Pictures-Corporation ist überall – Jerry Lawkestone lächelt, und das Polizeipräsidium lacht – Tom Westing läuft uns über den Weg.
Als später die Geschichtsschreiber und vereidigten Kulturforscher alles überblickten und sich mit dem fröhlichen Eifer von Leuten, die um Haaresbreite dem Tod entronnen waren, an die Sichtung und Zusammenstellung des gesamten einschlägigen Materials machten, stießen sie in den Pressearchiven auch auf diejenigen Zeitungsnotizen, deren Bedeutung man erst im letzten Stadium der Ereignisse erkannt hatte, die jedoch zur Zeit ihres Erscheinens so gut wie unbeachtet geblieben und beileibe nicht ernst genommen worden waren.
Wir bringen hier einige dieser Zeitungsnotizen im Wortlaut des Originals.
The New York Morning Call, 24. März 1970.
Gestern, Montag, wurde von unserem Berichterstatter BF 86 eine seltsame Begebenheit aus Edmonton (Kanada) gemeldet. Während der Silberhochzeitfeier im Hause des Sägewerkbesitzers Roger Townsgrave, 285 Saskatchewan River, bei welcher außer den beiden Jubilaren zahlreiche ehrenwerte Bürger der Stadt sowie Verwandte der Familie anwesend waren, ereigneten sich in der zehnten Abendstunde mehrere kurze Erdstöße, die das Wohnzimmer und den Salon des Sägewerkbesitzers nahezu restlos demolierten. Porzellan, Glas und Fensterscheiben gingen in Trümmer, die Uhren blieben stehen, Gardinenstangen fielen herunter, Möbel rutschten von den Wänden fort, welche tiefe Risse aufwiesen. Glühbirnen platzten mit lautem Knall, ein Ölgemälde löste sich aus seinem Rahmen, von der Büste Washingtons sprang das linke Ohr ab und der eben servierenden Zofe in eine Schüssel mit Hühnerbrühe, die im Nu zu Mayonnaise gerann. Gastgeber und Gäste, die hurtig die Flucht ergriffen, mussten zu ihrer Verwunderung konstatieren, dass außerhalb der Townsgrave’schen Wohnung keinerlei Anzeichen einer Erschütterung zu bemerken waren, auch hatten die übrigen Hausbewohner nicht die geringste Unregelmäßigkeit wahrgenommen. Lediglich ein berstendes Geräusch wie vom Zusammenbrechen eines Schrankes war in der Nebenwohnung aufgefallen. Die merkwürdige Erscheinung hat sich ausschließlich auf das Heim des als Antialkoholiker bekannten Sägewerkbesitzers Townsgrave beschränkt, der auch an diesem Abend ausschließlich Limonade stiftete. Eine Sinnestrübung infolge berauschender Getränke kommt demnach keinesfalls in Frage.
Seit im März 1968 Kanada und Grönland den Vereinigten Staaten von Amerika eingegliedert worden waren und somit die Bildung der USN veranlasst hatten (wobei England und Dänemark insofern keinen schlechten Tausch machten, als sie in Konsolidierung der nordamerikanischen Interessen in die Erdöl-Produktion einstiegen und durch entscheidende Monopole mancherlei Art entschädigt wurden), hatte sich Edmonton zu einer Großstadt entwickelt, die es sich leisten konnte, einen Vorgang wie das sogenannte Erdbeben in Townsgraves Wohnung schlankweg in den Papierkorb der Lokalchronik zu werfen, und während sich noch vor zwanzig, dreißig Jahren die gesamte Bürgerschaft die Köpfe zerbrochen und dem einen unerschöpflichen Gesprächsstoff liefernden Ereignis auf den Knien gedankt hätte, ging man heute zur Tagesordnung über. Die Sache war wohl auch zu possenhaft, als dass man viel Wesens davon gemacht hätte.
Vier Tage nach diesem Spuk in Edmonton, der die harmlos-gemütliche Stimmung einer Silberhochzeit in rücksichtsloser Weise trübte und die betagte Gattin eines Sägewerkbesitzers dermaßen verstörte, dass sie auf Wochen hinaus das Bett zu hüten gezwungen war, meldete sich ein an allen Gliedern zitternder Greis im Büro der metereotherapeutischen Station zu Winnipeg.
Er behauptete, das sei noch gar nichts, was da am Saskatchewan River geschehen sei; da könne er mit ganz anderen Dingen aufwarten.
Als man ihn, der immer zudringlicher wurde und einen Aufruhr zu entfesseln drohte, falls man seinen Angaben nicht willig Gehör schenke, dem Assistenten des leitenden Professors vorführte, gab er zu Protokoll, dass er Montag, den 24. März, in seinem Studio eine regelrechte Windhose erlebt habe.
Da er zimperlich war, redete er von einem Windbeinkleid. Er wage sich, sagte er, erst heute auf die Straße, weil er von dem Schock wie gelähmt und bis zur Stunde außerstande gewesen sei, zusammenhängend zu reden. Noch vor wenigen Minuten habe er gelallt wie ein sprachunfertiges Kleinkind. Der Sachverhalt aber sei dieser:
Er heiße Buller und lebe als ein stiller Gelehrter der University of Manitoba, der sich um nichts kümmere als um seine Sammlung.
Was das für eine Sammlung sei?
Chenopodiaceen.
Was man sich darunter vorzustellen habe?
Platterdings das Ergiebigste und Reizvollste auf botanischem Gebiete.
Petersilie oder Senfgurke?
Oho, er bitte striktestens, ihn ernst zu nehmen.
Und der Zusammenhang mit der Windhose?
Eben deshalb sei er ja hier, denn seines Erachtens falle die Windhose ins Ressort der Metereotherapeutik.
Inwiefern?
Man werde es alsbald erfahren. Also, er habe in seinem Studio gesessen und auf dem Spirituskocher eine selbsterfundene Kolloidmasse gekocht...
Und die Windhose?
Rawwlrawwlmullmibammblmitobuschlumummu...
Er fing wieder an zu lallen wie ein sprachunfertiges Kleinkind. Man besprengte ihn mit Salmiak, er kam zu sich und fuhr fort:
Und als ich so in meinem Studio saß...
Bitte wann?
In der zehnten Abendstunde, und seine Gattin habe in der Küche eine Konserve geöffnet, und das Radio sei angestellt gewesen und habe einen nicht unschneidigen Marsch geschmettert...
Was das mit der Windhose zu tun habe?
Er sei bereits mittendrin. Also, er habe in seinem Studierzimmer gesessen und habe seine Lieblinge neu geordnet, als da seien chenopodium album, atriplex, hortensis, spinacia oleracia, tetragonia...
Danke, das genüge.
Wohl einige tausend Arten, übersichtlich geordnet, in mühseliger Arbeit zusammengetragen und jede einzelne Pflanze sorgsam zwischen eigens zu diesem Behufe gefertigtem Cellodiaphan gepresst.
Und die Windhose?
Auf einmal, er habe grade eine ungewöhnlich anmutige basella in Händen gehalten, sei ein Sturm von unvorstellbarer Gewalt ausgebrochen, habe sämtliche Chenopodiaceen erfasst und in einer bis zur Decke des Zimmers reichenden Walze so lange und so heftig herumgewirbelt, dass nur noch armselige Fetzen übriggeblieben seien.
Auf wie lange er die Dauer des vermeintlichen Sturmes schätze?
Oh, er glaube, drei Minuten sei nicht zu hoch gegriffen, und im übrigen sei es kein vermeintlicher, sondern leider ein sehr, sehr wahrnehmbarer Sturm gewesen, den er nicht anders als mit dem Ausdruck Windbeinkleid zu bezeichnen vermöge.
Der Assistent tauschte einen Blick mit der nachstenographierenden Sekretärin.
Eine Windhose im Zimmer, mein Lieber? – sagte er dann lächelnd. Das gibt es nicht.
Der alte Herr begann aufs Neue zu lallen und schien einem Kollaps nahe.
Die Sekretärin flößte ihm ein Glas Portwein ein, der Gelehrte erbat ein zweites Glas Himbeerwasser (denn dafür hatte er es gehalten), schüttete es hinunter und hauchte:
Mein Lebenswerk ist vernichtet, meine einzigartige Sammlung ein Trümmerhaufen...
Die Fenster hatten Sie offen?
Nein, eben nicht, sondern dicht geschlossen. Meine Gattin ist Zeuge. Ich habe noch nie gelogen. Ich hin bereit, alles zu beeiden.
Der Botaniker Buller wurde mit tröstlichen Worten abgespeist und empfahl sich. Er mochte sich aber sodann Kollegen und Bekannten anvertraut haben, denn etliche Tage später erschienen, allerdings im Unterhaltungsteil der Zeitungen, ausführliche Schilderungen des Vorfalls, die Witzblätter bemächtigten sich des Stoffes, und wochenlang bildete die Windhose im stillen Studio ein ergiebiges Thema für Scherzbolde und Karikaturisten.
Dann wuchs Gras über die Sache, das Rad der neuen Welt rollte weiter, es verstrichen Jahre.
Da leistete sich die Natur einen neuen Streich.
Shenectady Observer, Abendausgabe vom 7. September 1974.
Heute Vormittag erschien der Farmer Mr. Percival Pitkins, Besitzer einer Tierzucht am rechten Hudsonufer in der Nähe von Troy, bei der Seismischen Beobachtungsstation Shenectady, Bezirk Adirondack, und sagte aus, dass sich merkwürdige Anzeichen bemerkbar gemacht hätten, die offenbar auf beginnende Tobsucht bei seinen Tieren hindeuteten und nach Vermutungen gebildeter Nachbarn mit den außergewöhnlichen Wettererscheinungen Zusammenhängen müssten. Sämtliche Hühner, Kaninchen, Hunde, Gänse, Ziegen und Kühe seien ohne ersichtlichen Grund unruhig geworden und wie besessen rückwärts im Kreis herumgelaufen. Auch auf dem Hudson hätten die Wildgänse versucht, rückwärts zu schwimmen, wären schließlich in umgekehrter Richtung, den Schwanz voran, davongezogen, ohne etwa vom Winde dazu gezwungen gewesen zu sein. Auch die Fische, behauptete der Farmer, schwammen rückwärts. Wie uns von zuständiger Seite bestätigt wird, war das Wetter völlig ruhig, fast windstill, allerdings von einem ungewöhnlich schwülen Charakter, die Luft enthielt bei hochsommerlicher Hitze starke Feuchtigkeit. All diese Angaben werden einwandfrei bezeugt von mehreren Nachbarn des Pitkins und von zwei Vermessungsbeamten aus Albany, die an dem Tage in Shenectady beschäftigt waren. Eine Erklärung für das Phänomen war bisher von keiner zuständigen Stelle zu erlangen, indessen besteht in wissenschaftlichen Kreisen, soweit wir uns bisher unterrichten konnten, kein Zweifel darüber, dass tatsächlich die Besonderheit der Witterungsverhältnisse auf Tiere einer gewissen Sensibilitätsgruppe die geschilderten Wirkungen ausübte. Bei einer soeben erfolgten Rückfrage an Mr. Pitkins erfahren wir nachträglich, dass sich die Anfälle ebenso rasch, wie sie auftraten, wieder gelegt haben, dass es sich also nur um vorübergehende krampfartige Zustände in der Tierwelt gehandelt haben kann.
Schließlich wurde eine Lokalnotiz aus dem nächstfolgenden Jahr ans Tageslicht befördert:
The Chicago Peoples Voice, 15. Januar 1975.
Am gestrigen Mittwoch wurden die Stockyards von einer unerklärlichen Erscheinung heimgesucht, die zu enträtseln bis zur Stunde nicht gelang. Ohne die geringsten Anzeichen eines Blizzards, bei völliger Windstille, wurden die Zwischenwände des Schlachthofs emporgehoben, alle Gitter in die Luft geschleudert und die großen Eingangstore umgelegt. Wände und Gitter schwebten in etwa sechs Meter Höhe eine Weile in der Luft und sausten dann jäh, ohne sichtbaren Antrieb, mehrere hundert Meter weiter, dann stürzten sie ebenso jäh zu Boden und richteten erheblichen Schaden auf Hausdächern und in den Straßen an. Menschenleben sind glücklicherweise nicht zu beklagen, indessen mussten 38 Personen mit mehr oder weniger schweren Verletzungen in ärztliche Behandlung gebracht werden. Die schwersten Verheerungen wurden durch die brüllend und rasend ausbrechenden Tiere hervorgerufen, welche alles niedertrampelten, was ihrer Flucht im Wege stand. Es gelang, den größten Teil der Ausreißer wieder einzufangen. Die Panik wurde gesteigert durch das Auftreten eines grünlichen Gases, das in geruchlosen, aber deutlich sichtbaren Schwaden über die Stockyards hinzog und sich bei Mensch und Tier lähmend auf die Atmungsorgane legte, ohne Erstickungen hervorzurufen. Ein zufällig anwesender Kameramann der Worlds-News-Pictures-Corporation konnte einige fesselnde Szenen drehen, aus denen man Näheres über die Ursache des Phänomens zu ersehen hofft. Der Sachschaden wird auf rund 80.000 Dollar beziffert.
Außer den staatlichen Archiven, den Polizeiämtern und den wissenschaftlichen Instituten hat ein einziger Mensch diese Zeitungsnotizen in seiner Wohnung hängen, gerahmt und am Rande mit kleinen Bleistiftbemerkungen versehen.
Eine Meldung aus Shenectady vom 07. September 1974 wurde am gleichen Tage dem Polizeipräsidium New York übermittelt.
Sie kam an auf Apparat 347.
Jerry Lawkestone bediente ihn seit anderthalb Jahren.
Sie war allerlei gewöhnt. Selten hatte jemand beobachtet, dass sich ihre Augenbrauen ein klein wenig in die Höhe zogen. Wenn es geschah, wusste jedermann, dass eine Sensationsmeldung ein getroffen war.
Das war ein willkommener Anlass, Jerry anzusprechen und sich etwas mehr verraten zu lassen, als unbedingt zur Meldung gehörte. Je weniger die Beamtin zu Privatgesprächen geneigt schien, umso eifriger mühte man sich darum. Aber auch dann sagte Miss Lawkestone nicht viel mehr als Ja oder Nein.
Die Art, wie sie das sagte – meiner Seele, das konnte man nicht lernen. Das war mehr, als manche begabte Schauspielerin in fünfzig Jahren zu erlernen imstande ist.
Als die Meldung aus Shenectady einlangte, zog Jerry die Augenbrauen hoch. Dann lachte sie. Das ganze Zimmer 19 der Telegrafenabteilung im New Yorker Polizeipräsidium geriet aus den Fugen. Jerry hatte gelacht, und es klang, wie wenn zwei feingeschliffene Sektkelche aneinanderstoßen.
Sie lachte noch, als sie von den verrückten Tieren des Farmers Pitkins am Hudson erzählte. Zimmer 19 bog sich vor Vergnügen.
Am Abend war Jerry mit Tom Westing und Pat Hughes verabredet.
Es war Sonnabend, und Sonnabendabends trafen sie sich des Öfteren, obwohl es nicht so einfach war, sich zu dritt gleichzeitig freizumachen.
Tom Westings Tätigkeit begann im Allgemeinen, sobald sich der Tag neigte, denn die Worlds-News-Pictures-Corporation hatte sich neuerdings in den Kopf gesetzt, Aufnahmen zu zeigen, die nach Sonnenuntergang zustande gekommen waren. Bei natürlichem Licht hatte die Welt keinerlei Bildwirkungen mehr zu bieten. Unterseebootmanöver bei Nacht, Feuersbrünste bei Nacht, Senatorwahlen bei Nacht, Strandfeste bei Nacht, militärische Paraden bei Nacht, Fünfuhrtees bei Nacht, Sonnenaufgang bei Nacht, ein Tag aus dem Leben des Präsidenten bei Nacht... für die Worlds-News-Pictures-Corporation schien die Welt nur noch bei Nacht zu existieren.
Und immer musste Tom Westing heran. Er hatte sich zum Spezialisten für Nachtaufnahmen entwickelt und verstand sich auf Tricks, die ihm keiner nachmachte. Er brachte es fertig, überhaupt ohne Licht zu drehen. Wenigstens behaupteten das seine Kollegen mit ehrlichem Neid.
An allen anderen Tagen, also Nächten, war er Feuer und Flamme für seine Arbeit. Er drehte, was und wann man wollte. Nur an jenen Abenden, da er mit Jerry hätte zusammen sein können, fluchte er wie ein bei einer Schwarzfahrt erwischter Tramp.
Es war sogar vorgekommen, dass Toms unaussprechliche Flüche auf den Tonstreifen geraten waren. Man hatte sie später mit Mühe überdecken müssen. Auf diese Weise hatten in den Wochenschauen zuweilen die Explosionen oder anderweitige Geräusche zwanzigmal so laut gekracht und gedonnert wie in Wirklichkeit. Eine zusammenbrechende Mauer bei einem Hausbrand machte einen Lärm wie normalerweise sonst eine in die Luft fliegende Gasanstalt: dann wussten die Fachleute, dass Tom Westing die Sache gedreht hatte.
Auch Jerry Lawkestone musste zuweilen nachtsüber Dienst tun. Kürzlich, bei einem Wettkampf des White-Hand-Gangs gegen die Whiskey-Kickers in Chicago, war im New Yorker Präsidium während der Nacht niemand aus den Kleidern gekommen. Die Meldungen hatten weniger Aufmerksamkeit wegen ihrer kriminellen Seite erregt als wegen der unendlich langen Odds, die gelegt wurden. Die Wetten standen eine halbe Stunde nach Beginn des Kampfes 5:4 für die Whiskey-Kickers. Als aber der White-Hand-Gang zwei Dutzend nicht im Programm vorgesehene Maschinengewehre auffuhr, änderte sich das Verhältnis umgehend. Jerry hatte nicht mitgewettet, aber aus Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen mochte sie ihren Platz nicht räumen. Es war kein Dienst vorgesehen für Apparat 347, folglich wäre Jerry auch von niemand abgelöst worden. Man konnte aber in diesem spannenden Match keinen Empfangsapparat unbesetzt lassen, man konnte einfach nicht. Das sah Jerry ein, und darum blieb sie.
Der einzige von den dreien, der sich seine Arbeitszeit einigermaßen nach eigenem Belieben einrichten durfte, war Pat Hughes.
Als er und Tom Westing noch gemeinsam die Schulbank drückten, hatte er sich für den Beruf eines Mineningenieurs entschieden. Sein Studium dauerte genau anderthalb Jahre, dann war er fest entschlossen, Filmstar zu werden.
Das dauerte sieben Monate und drei Tage.
Dann erklärte er endgültig und unabänderlich, für die Theologie berufen zu sein.
Das dauerte einen Monat und dreizehn Tage.
Dann hörte niemand mehr zu, wenn er einen neuen Beruf kundgab, der auf ihn wartete.
Jetzt war er Literat.
Genau genommen: Gelegenheitsdichter.
Seine Versuche, als Reporter eine einsame Höhe zu erreichen, waren nach dem dritten Artikel elend gescheitert. Er hatte der kinderlosen Gattin des Senators Norman Tomlinson vierzehn Kinder angedichtet (darunter einen Hermaphroditen) und stellte leider sehr verspätet fest, dass diese vierzehn Kinder der Gattin des Senators Phil Lorris gehörten. Man empfahl ihm, sich gründlicher nach den Familienverhältnissen zu erkundigen, bevor er sie ausschlachtete.
Dies tat er denn auch, aber er kehrte trotz nunmehr peinlichster Informationen nicht zum Journalismus zurück, hatte er doch ein neues Talent in sich entdeckt. Und nach der ersten verheißungsvollen Probe warf er sich mit Eifer auf das neue Arbeitsgebiet, er bedichtete Hochzeiten, Kindtaufen, Verlobungen und andere Familienfeierlichkeiten und merkte, dass er mit einer recht und schlecht zusammengezimmerten Reimerei anlässlich einer Kindtaufe viel, viel mehr verdiente als mit einem Artikel über vierzehn Sprösslinge, deren Mütter er verwechselte.
Pat Hughes hatte seine wahre Berufung erkannt und förderte hinfort die einschlägigen Bestrebungen zur Hebung der Geburtenzahl.
Als Jerry, Tom und Pat endlich wieder zusammensaßen, drehte sich das Gespräch um die tobsüchtigen Tiere des Mr. Pitkins in Shenectady.
Jerry Lawkestone hatte den telegraphischen Bericht nahezu wörtlich aus dem Kopf hergesagt. Es war kein Dienstgeheimnis, es stand morgen ohnehin in den Zeitungen, allerdings ziemlich klein unter »Vermischtes«.
Da ergriff Tom das Wort und lieferte eine regelrechte Reportage, einen Bericht von seinem Erlebnis in den Stockyards von Chicago.
Er war jener Wochenschaumann gewesen, der sich zufällig in Chicago aufhielt und die seltsamen Erscheinungen in den Viehhöfen kurbelte. Er hatte gedreht, was in der Negativtrommel drinsteckte, war zwischen den segelnden Gittertoren und den stampfenden Tieren herumgeklettert und hatte gedreht und gedreht, dass die Kamera dampfte. Der Celluloidstreifen hatte tatsächlich zu rauchen angefangen. Er hatte geraucht, und außerdem hatte er gerochen, und zwar wie verwestes Obst, und obendrein wäre er durch die giftgrünen Gaswolken beinahe verdorben worden.
Aber Tom hatte die kostbaren Aufnahmen gerettet.
In der Kopieranstalt wurde ihm das Negativ aus den Fingern gerissen, dann wanderte es in zweihundert farbigen Abzügen an alle wissenschaftlichen Institute.
Mehr wusste Tom nicht zu berichten, und ebenso wenig wusste er zu erklären, was er da eigentlich gesehen und gefilmt hatte.
Niemand wusste es.
Tom mopste sich. Wäre Jerry nicht dagewesen, hätte er längst gute Nacht gesagt. Er und Pat hatten sich kaum noch etwas zu erzählen. Im Gegenteil, wenn Tom rücksichtslos und ungehemmt gesprochen haben würde: sie wären als Feinde auseinandergegangen. Aber Tom liebte keine Auseinandersetzungen um Dinge, die nicht mehr zu ändern waren. Er war nun einmal der Ungeschicktere gewesen, und er trug selbst die Schuld daran.
Hätte er Jerry nicht als halbe Heilige, sondern als ein amerikanisches Mädel, bezaubernd schön, bezaubernd jung, bezaubernd angemalt, bezaubernd klug und bezaubernd taktvoll, betrachtet, dann wäre er jetzt nicht drittes Rad am Wagen gewesen. Aber er war es, und es sah nicht so aus, als werde sich das in absehbarer Zeit ändern.
Jerry war gern mit ihm zusammen, sehr gern sogar. Das war aber alles.
Ihre freien Stunden gehörten Pat.
Falls Pat beschäftigt war, kam Tom in Betracht. Das war nicht viel, doch immerhin besser als gar nichts. Diejenigen Tage jedoch, an denen Jerry mit Tom allein war, wurden von Tom als Festtage angesehen, und er suchte den Kalender so oft wie möglich um derlei Festtage zu bereichern. Leider gelang es meist daneben.
Pats Beruf war eben zu dehnbar. Er konnte dichten, wann er wollte, und er war intelligent genug, die Dichterei so einzurichten, dass er dem Mädel stets zur Verfügung stand. Es hätte schon eine dringende Verlobung im Hause eines Millionärs sein müssen, die ihn davon abhielt und an die Schreibmaschine fesselte. Aber Millionärstöchter feiern nicht Verlobung am laufenden Band.
Zweites Kapitel
Tom Westing wird beschossen – John Flippery, der Heilige, gerät aus der Fassung – Es spukt in Philadelphia – Uns wird grün vor Augen
Vier Wochen vor Beginn der Herbstmanöver 1977 war Tom von früh bis abends unterwegs.
Er flitzte von Pontius zu Pilatus, um die Genehmigung für seine Wochenschau-Aufnahmen zu bekommen, denn er hatte der World-News-Pictures-Corporation sensationelle Streifen versprochen.
Wenn Sie mir die bringen, Westing, sind Sie der größte Wochenschaumann der Staaten – hatte Mayer VII zu ihm gesagt.
Bei der Presse und in allen Filmbüros war bekannt, dass diesmal die neuen militärischen Errungenschaften, darunter ein noch nicht ausprobierter Typ von Steilfeuergeschützen, mit besonderer Sorgfalt jedem unberufenen Auge entzogen werden würden. Ohne Mayers Bemerkung hätte Tom Westing vielleicht weniger Mühe darauf verwendet, seinen Dickkopf durchzusetzen, aber die Vorstellung, dass Mayer, und sei es aus Bosheit, einen anderen Operateur zum größten Wochenschaumann erklären könne, hatte ihn auf die Beine getrieben.
Seine letzte Hoffnung war General Thompson, Kommandierender General der Artillerie, dem er immerhin genügend Humor zutraute, ausnahmsweise beide Augen zuzudrücken.
Aber Thompson hatte keinen Humor, er hatte nur Dienstvorschriften. Und niemand wusste, von wem er so reichlich bezahlt wurde, dass er diese seine Dienstvorschriften so engherzig befolgte. Vielleicht wurde er von einem altmodischen Pflichtgefühl geleitet.
Jedenfalls waren Toms Bemühungen am Ende angelangt.
Seine Bemühungen, aber nicht seine Hoffnung.
Er hatte eine lange Unterredung mit seinem damaligen Assistenten Mike Bordsley. Die Folge der Unterredung war, dass beide bei Nacht und Nebel losmarschierten.
Eines hatte Tom herausbekommen: dass die auszuprobierenden Steilfeuergeschütze zwischen Dallas und Sherman aufgestellt werden würden, in einem ziemlich unübersichtlichen Gelände.
Ein vorsintflutliches Auto, das nicht mehr als die kindliche Geschwindigkeit von 100 km auf Lager hatte, trug die zwei Männer durch die Lande. Ihr Gepäck bestand aus Blechkanistern. Wenn man deren Deckel abhob und hineingriff, hatte man die Hand voll ungekochter Erbsen. Es machte einen herrlichen Krach, und Toms Vehikel kündete sich damit schon auf 50 km Entfernung im Voraus an. Das Betonte solcher Harmlosigkeit war geradezu aufdringlich.
Von Sherman aus, das von hohen und höchsten Offizieren wimmelte, zog Tom Westing mit Mike Bordsley und einem Blechkanister zu Fuß den Red River entlang, und zwar in stockfinsterer Nacht. Als der Morgen dämmerte, hatte er endlich die einsame, halb zerfallene Hütte ausfindig gemacht, die ein Einwohner von Sherman im Gespräch beiläufig erwähnt hatte, denn Tom war pfiffig genug gewesen, sich nach einem geeigneten Platz für die Aufbewahrung seiner Erbsenzuchtsamen zu erkundigen.
Tom und Mike verschanzten sich flink und geschickt in der Hütte. Aus dem Blechkanister zauberten sie in kurzer Zeit eine Kamera mit drei verschiedenen Teleobjektiven, ein Scherenfernrohr, 2.000m Negativ, fünf Apfelsinen und vier belegte Brote.
An Hand des Scherenfernrohrs hatte Tom bald die Stellung der Geschütze ausgemacht. Sie standen, ausgezeichnet getarnt, doch für sein geschultes Auge erkennbar, in südnördlicher Schussrichtung.
Falls ihm das Glück hold war, konnte er nicht nur die Abschüsse, sondern auch, was erheblich reizvoller war, die Einschläge beobachten.
Kaum war am Morgen einigermaßen klare Sicht eingetreten, als der Höllenradau schon losging. Tom drehte, was er nur irgend ins Objektiv bekam. 100m waren im Nu durchlaufen. Tom reichte die Kamera an Mike hinüber, damit er das Negativ auswechsle. Inzwischen beobachtete er die Geschütze weiter. Es war eine Feuerpause eingetreten, man schien die Entfernung oder das Ziel zu ändern. Gerade, als Tom seine Kamera wieder in Ordnung hatte, fiel drüben der erste Schuss. Einen Augenblick schien es Tom, als ob jetzt das Feuer just auf seine Hütte gerichtet sei.
Im nächsten Augenblick schien es ihm nicht nur so, sondern es war ihm vollkommen klar.
Mit einem ohrenbetäubenden Lärm schlug das Geschoss keine zwanzig Schritt vor der Hütte ein und warf eine Fontäne von Erde, Zweigen und Grasbüscheln in die Luft.
Tom drehte sich grinsend zu seinem Assistenten um: dem braven Mike standen die rötlichen Haare senkrecht zu Berge.
Tom sah, wie Mike den Mund bewegte, verstand jedoch kein Wort. Eben war der zweite Schuss gelandet, eine Kleinigkeit mehr links, schätzungsweise neun Schritt vor Toms Luke in der Holzwand.
Mike stand auf und wollte Tom an der Schulter hochreißen, mit sich fort, aus dem Schussfeld der Artillerie, doch Tom war wie mit Eisenklammern festgenietet, der Schweiß rann ihm vor Angst von der Stirn, aber immer weiter ließ er Meter für Meter durch die Trommel laufen. Es war eine einmalige Gelegenheit. Schade, wenn er dabei draufginge! Denn dieses Negativ würde den Namen Tom Westing der Mitwelt noch jahrelang in Erinnerung rufen, und Mayer VII würde recht behalten mit seiner Behauptung, Tom sei der größte Wochenschaumann der Staaten.
Fünf Meter! – brüllte er, halb über die Schulter, zu Mike hin.
Der kauerte in einer Ecke der Hütte und tat überhaupt nichts. Nicht einmal Angst hatte er mehr, sogar dazu fehlten ihm die Nerven. Er hatte sozusagen seinen Geist aufgegeben, seit er kapiert hatte, dass die Hütte nichts anderes war als das Ziel für den noch nicht ausprobierten Typ der Steilfeuergeschütze.
Der folgende Einschlag kam nahezu lotrecht von oben und saß akkurat auf der Hinterkante des Daches.
Tom fühlte, wie ihm ein paar Holzbretter und Balken dicht am Schädel vorbeisausten, ein Trumm Erde und Moos schlug ihm ins Genick, aber eisern hielt er die Kamera mit beiden Händen und schwenkte sie sofort zu der Stelle des Einschlags hinüber, von der es Holz, Erde und Galalithziegel regnete. Dann war es aus mit dem Drehen.
Beim nächsten Schuss, der zwei Meter neben der Seitenwand saß und die morsche Holzwand wie eine Spielkarte umlegte, fiel die Kamera aus Toms Hand, sein Seidenhemd hing ihm in Fetzen vom Leibe, der Overall war nur noch ein klebriger Lappen.
Da nahm Tom einen großen Ast, der ihm vor die Füße geschleudert worden war, wickelte die Reste seines Hemdes drumherum, wartete einen abermaligen Einschlag ab, der zum Glück wieder ein wenig seitwärts saß, und sprang dann mitten durch die zusammenbrechende Wand hinaus auf die Wiese oder vielmehr das, was noch vor kurzem eine Wiese gewesen war.
Er schwenkte seine Parlamentärflagge wild durch die Luft.
Wieder heulte und brüllte es, Tom schmiss sich flach zu Boden, wartete den Einschlag ab (unverschämtes Glück! – nuschelte er vor sich hin), sprang wieder empor und wedelte abermals mit seiner weißen Fahne. Er wedelte und wedelte.
Das Feuer wurde eingestellt.
Nun kam auch Mike langsam aus den Resten der Holzhütte gekrochen. Geschehen war ihm nichts, er war nur hundert Jahre älter geworden. So pflegte er wenigstens später diese Erzählung zu beschließen, wenn man ihn fragte, ob er schon lange so weißes Haar habe.
Ein Melder auf einem Motorrad, einen Artillerieoffizier im Beiwagen, kam angeknattert.
Eine halbe Stunde später standen Tom Westing und Mike Bordsley vor dem gestrengen General Thompson, und der Krach, den die beiden vorhin in der Hütte erlebt hatten, war ein Zephir gegen das, was jetzt über sie hereinbrach.
Die Folge war eine der sensationellsten Verhandlungen, die jemals vor den Militärgerichten der Staaten stattfand. Unzählige unwiderlegliche Argumente hatte der Ankläger für seine Behauptung, dass es sich um einen der gefährlichsten Spione dieses Jahrhunderts handle. Tom Westing, dem nunmehr auch aus seinen dauernden Nachtaufnahmen ein Strick gedreht wurde, verlor zwar nicht den Humor, erlebte jedoch einige ernste Augenblicke, und als man ihn schließlich mit einer Verurteilung zu hundert Dollar Geldstrafe wegen groben Unfugs entließ, war er wochenlang der Held der Presse.
Dann aber hatte die Presse der Staaten mit einem Schlage wesentlich anders geartete Sorgen.
Da lebte in New York, 36 West, 44th Street, ein gewisser John Flippery. Er lebte ausgezeichnet, denn er hatte vor Jahren, nach dem Zusammenbruch seiner Gelatinemöbelfabrik, die Sekte Zum gläubigen Thomas gegründet, deren Heiligen, Vorsitzenden, stellvertretenden Vorsitzenden und Kassenwart er verkörperte.
Was den sittlichen Wert seiner Sekte betraf, so glaubte Mr. Flippery felsenfest daran. Was die Gläubiger seiner verkrachten Gelatinemöbelfabrik betraf, so musste er ihre Forderungen als durchaus unsittlich ablehnen und bewahrte aus diesem Grunde die Gelder seiner Sekte in einem sicheren Tresor auf, war man doch in USN schamlos genug geworden, wildfremden Menschen über das Bankkonto ihres Schuldners ohne weiteres Auskunft zu erteilen.
Mr. Flippery hielt wieder einmal eine seiner von Anhängern und Neugierigen überlaufenen Versammlungen ab, zu deren Verschönerung er ein Medium gechartert hatte.
Das Medium, eine stellungslose Masseuse aus Tennessy, war imstande, programmgemäß in Trance zu verfallen und in diesem Zustand allerlei wohlerdachte und höchst angenehme Ankündigungen von sich zu geben, die bald diesem, bald jenem Versammlungsteilnehmer eine goldene Zukunft verhießen, wofern er sich nur recht rege um die wirtschaftlichen Belange der Sekte Zum gläubigen Thomas kümmere.
Diesmal aber, und das war der Grund für die ausführliche Berichterstattung, schien der Teufel das Medium zu reiten. Als sich die Dame in dem Zustand befand, für den sie mit drei Dollar pro Stunde angestellt war, begann sie mit den üblichen Einleitungsworten, versicherte, ein selbstloser und lediglich aus Chlorophyll bestehender Geist zu sein, von höheren Mächten bevollmächtigt und beauftragt, und sprudelte den üblichen Salat. Dann aber begann das Malheur.
In einem Tempo, dem zu folgen nur das schlechte Gewissen der Zuhörer ermöglichte, tischte sie Anekdoten, peinliche Anekdoten auf, Daten, Bruchstücke von Skandalen und kompromittierenden Geschichtchen aus dem Leben der prominentesten anwesenden Gäste, dass der Saal schauderte. Weiber schrien und sanken in Ohnmacht, Herren und Männer brüllten und fuchtelten mit den Armen, während die wegen ihres unwichtigen oder zufällig unantastbaren Lebenswandels nicht Betroffenen vor Vergnügen aus dem Häuschen gerieten.
Aber der tollste Krakeel, der empörteste Einspruch, die hysterischsten Ohnmachtsanfälle bremsten nicht das seine Gedächtnisschublade auskratzende Medium, im Gegenteil: die Dame schien durch den Höllenlärm geradezu in Raserei gesteigert zu werden. Mit heller Stimme kreischte sie alles in den Saal, was zwischen Beamtenbestechung und unehelichen Drillingen, zwischen Alaska und Florida, zwischen Neufundland und Mexiko zu verschweigen war. Die Versammlung endete in unbeschreiblichem Tumult.
Dann trat der rettende Engel auf – in Gestalt von Pat Hughes, der sich unter den Zuhörern befunden hatte. Sein Name war nicht genannt worden; über ihn und seinen Lebenslauf war kein Sterbenswörtchen gefallen. Gleichwohl tänzelte er aufs Podium, als der Lärm seinen Höhepunkt erreicht hatte, und ohrfeigte das Medium so lange, bis es allen spiritistischen Neigungen bis auf weiteres entsagte.
Dass die Vereinskasse (34.600 Dollar Barbestand) vermisst wurde, beanspruchte im Zeitungsbericht eindreiviertel Zeile.
Ausführlicher nahm man Stellung zu der Frage, ob der junge Literat Pat Hughes berechtigt gewesen war, eine Frau zu schlagen. Unter anderen Umständen hätte man ihn geteert und gefedert... hier aber, da diese Weibsperson in einem goldenen Ameisenhaufen zu wühlen sich erfrecht hatte, nahm man ihn in Schutz, ja, man belobte ihn sogar öffentlich. Die Tatsache, dass er eingegriffen hatte, obwohl er selbst nicht beleidigt oder mit Unrat bespien worden war, sich also offenbar zum Rächer der öffentlichen Moral und des amerikanischen Rufes aufgeschwungen hatte, rehabilitierte ihn vollkommen.
Wie die Angelegenheit des Kameramannes Tom Westing hätte auch dieser Zeitungsbericht in Bälde keine Seele mehr beschäftigt, wenn sich nicht die merkwürdigsten Meldungen aus verschiedenen Teilen Nordamerikas gehäuft haben würden.
In Philadelphia waren am helllichten Tag aus klarer und durchsichtiger Luft kleine, hauchdünne Fäden herausgewachsen, die alsbald begannen, sich nach beiden Seiten hin endlos auszudehnen. Im Handumdrehen war die ganze Stadt von einem Netz feiner, aber zäher und unzerreißbarer Drähte durchzogen, als ob sich ein kosmisches Spinnennetz herniedergesenkt hätte. Manche Fäden nahmen ihren Anfang mitten in der Luft und hörten auch mitten in der Luft wieder auf. Man konnte nicht wahrnehmen, wo sie herkamen und wo sie endeten. Trotzdem fielen sie nicht zu Boden, sondern blieben in der Luft und bibberten zuweilen nur ganz leise. Sie waren elastisch wie gesponnenes Glas. Menschen, Tiere, Straßenbahnen, Autos und sogar die Flugmaschinen verhedderten sich in den Gespinsten, die in allen Höhenlagen, vom Erdboden bis zu 5.000m Höhe, die Stadt Philadelphia und ihre Umgebung überzogen hatten. Auf den Straßen entstanden fast an jeder Ecke unentwirrbare Knäuel von Menschen, Kraftwagen, Kandelabern, Reklametransparenten. Aus der Luft purzelten Eindecker, Doppeldecker und Hubschrauber herunter, stürzten aber nicht, sondern flatterten langsam erdwärts wie in Wasser versinkendes Papier, von den zähen Strängen immer wieder aufgehalten. Auf einem Doppeldecker war die Besatzung aus ihren Sitzen geklettert, hatte den Rumpf verlassen und saß auf der oberen Tragfläche wie eine Schar Vögel auf der Dachtraufe. Mit kindisch-amerikanischem Vergnügen erlebten sie ihren Zeitlupenabsturz. Die Philadelphia Evening Post hatte binnen dreiundzwanzig Minuten eine Legion von Reklamezetteln gedruckt, auf denen sie die neuesten Berichte über das Wunder von Philadelphia ankündigte und mit Wäscheklammern überall an den Fäden anbringen ließ. Aber keiner dieser Zettel hielt sich länger als zwei Minuten. Nach Ablauf dieser Zeit färbte er sich spinatgrün und fiel als Staub zu Boden.
Kaum hatte man die Meldungen aus Philadelphia kopfschüttelnd und mit ungläubigem Lächeln zur Kenntnis genommen, als Berichte aus Salt Lake City eintrafen, denen zufolge der Great Salt Lake zu brodeln angefangen hatte.
Die Schiffe, die sich gerade auf dem Salzsee befanden, hatten sich nur zu einem verschwindend geringen Teil aus der kochenden Lauge zu retten vermocht. Eine größere Anzahl von ihnen war, so lauteten die Berichte, ins Glühen geraten, während sich eine opalisierende Salzkruste an den Dampferwänden bildete und weiße Wolken erzeugte. Die Mannschaft rettete sich nur dadurch vorm Verbrennen, dass sie das Deck der Schiffe mit dem an Bord befindlichen Mundwasservorrat bespülte. Auf diese Weise gelang es ihr rechtzeitig, Land zu erreichen, ehe sie zu Konserven verschmorte.
Genauen Messungen nach hatte der See eine Temperatur von 158 Grad Fahrenheit erklommen.
Meilenweise zogen salzgesättigte Wolken rings über das Land und prasselten nach ihrer Abkühlung als Salzregen hernieder, der in Salt Lake City, in Ogden, in Kelton, in Logan, ja sogar noch in Lucin auf den Straßen bis zum zweiten Stockwerk der Häuser alles verschüttete, was da kreuchte und fleuchte.
Im Polizeipräsidium New York saß Jerry Lawkestone am Apparat 347 und nahm Meldung über Meldung auf. Sie ergänzte ihrerseits die Ultragramme durch die Angabe, dass zwischen den Zeilen unbekannte, in keinem Geheimcode enthaltene Zeichen erschienen, derweilen sich das durch den Empfänger zwängende Papier flaschengrün verfärbte.
Eine Bestätigung dieses Wunders lief kurz darauf von mehreren auswärtigen Funkstationen ein.
Als die Wissenschaft sich der Phänomene bemächtigte, stellte sie zunächst eine auffällige Übereinstimmung mit den merkwürdigen Erscheinungen im Januar 1975 fest: das Auftreten einer grünen Färbung an Gegenständen oder der Luft.
Man verglich die atmosphärischen Verhältnisse des Januar 1975 mit denen des Oktober 1977 und gedieh zu dem Ergebnis, dass die Vorbedingungen für kosmische Störungen nahezu die nämlichen waren.
Die Deutung eines sonst durchaus ernst zu nehmenden Gelehrten, dass es sich bei den Erscheinungen in Philadelphia um das unvermittelte Sichtbarwerden von Radiowellen handele, wurde als unseriös abgelehnt.
Immerhin boten die neuen und immer seltsamer werdenden Naturerscheinungen hinreichend Ursache, mit der Möglichkeit ernster Katastrophen für die kommende Zeit zu rechnen. Wenngleich diese Vermutungen streng geheim gehalten wurden und die Presse mit mehr oder minder dummen Späßen das Ganze als heitere Zwischenfälle hinzustellen suchte, gerieten doch durch unsichtbare Kanäle vielerlei Hinweise auf den Ernst der Lage bis an die Börse.
Der Salz-Boom, den man eben erwartet hatte, weil eine Beimengung von Salz den neuen Weitschussgranaten eine wesentlich höhere Brisanz verleihen und infolgedessen das Salz zu einem wichtigen Faktor der Rüstungsindustrie werden sollte, brach jäh in sich zusammen.
Hingegen stiegen die Aktien derjenigen Werke, die sich mit der Herstellung von Schweinfurtergrün beschäftigten, ins Himmelblaue.
Denn Grün wurde zur Modefarbe.
Man trug nur noch grüne Badeanzüge, grüne Krawatten, grüne Handschuhe, grüne Strümpfe, grüne Wäsche, grüne Mäntel, grüne Hüte, grüne Jumper, grüne Abendkleider. Man benutzte grüne Regenschirme, grüne Aktenmappen, grüne Füllhalter, grünes Zigarettenpapier, grünen Nagellack, grüne Lippenstifte. Man spielte grüne Schallplatten, man kaute grünen Gummi, und das Geriss um Laubfrösche war einfach toll.
Unter den Eingeweihten erfolgte ein besonderes, wenn auch kurzes und rasch wieder erledigtes Kopfschütteln und Aufhorchen: der junge, nicht unbegabte Gelegenheitsdichter Pat Hughes, dem man äußerstenfalls ein Bankkonto von 5.000 Dollar zugemutet hätte, stieg mit 30.000 Dollar ein.
Ein Ring aus Burma – Otschitschtschenoj statt Frascati – Jerry, Tom und die Filmstars – Eine Aktentasche mit verwunderlichem Inhalt
Man schrieb das Jahr 1981.
Jerry, die mit neunzehn Jahren im Polizeipräsidium eingetreten war und bald die Dreißig erreichte, saß nicht mehr an Apparat 347, sondern verfügte über ein Einzelzimmer mit Apparat 6.
Auch mit Tom war eine gewisse Veränderung vorgegangen. Längst hatte er sich die Nachtaufnahmen vom Halse gewimmelt, hatte seinen Assistenten Mike Bordsley, der seit dem Zwischenfall bei den nunmehr vier Jahre zurückliegenden Manövern arg am Tatterich litt, für eine normale Tätigkeit nicht mehr zu brauchen war und dauernd unter Alkohol stand, mit einer anständigen Entschädigungssumme entlassen (wie aus gelegentlichen Pressenotizen hervorging, führte Mike als Gagman ein auskömmliches Dasein in Hollywood), wurde bei feierlichen Anlässen als staatlicher Filmreporter ins Treffen geschickt, fuhr einen apfelsinenfarbenen Rapidkompressor, mied aufregende Ereignisse und fand Gefallen daran, idyllische Szenen zu drehen, die ihm keiner nachmachte, da er sie mit liebenswürdigem Humor zu würzen verstand. Ansonsten war er der alte geblieben. Man konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch, und auch er erblickte in der Welt und ihren Begleiterscheinungen nichts anderes als ein Sammelsurium höchst unverwickelter und angenehm belustigender Dinge. Seine Stellung zu Jerry war wohl das einzig unlösbare Problem für ihn. Aber sogar da wich er spielerisch aus, trottete mit ungestillter Sehnsucht einem Wunder entgegen, das er von Jerry und ihrer Entschlusskraft erhoffte, und benahm sich anständig genug, Pat Hughes nicht dazwischenzufunken, obwohl er dem Mädel im Grunde seines Herzens den Nebenbuhler missgönnte.
Pat Hughes, um vier Jahre jünger als der unlängst 30 gewordene Tom, hat sich eine verblüffende Masche beigelegt. Infolge der über Nacht erledigten grünen Mode schrumpfte sein Kapital zu einem mickrigen Häufchen zusammen. Folglich betrieb er die Gelegenheitsdichterei heftiger denn zuvor, und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Hans Reimann/Apex-Verlag. Published by arrangement with Harald Dzubilla.
Bildmaterialien: Zasu Menil/Apex-Graphixx.
Cover: Zasu Menil/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2317-1
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