Cover

Leseprobe

 

 

 

 

VICTOR GUNN/DELL SHANNON/

JAMES MAYO/CHRISTIAN DÖRGE

 

 

Krimi-Herbst 2022

 

Vier Romane in einem Band

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

1. Victor Gunn: DAS GEHEIMNIS DER BORGIA-SKULPTUR (The Borgia Head Mystery) 

2. Dell Shannon: DIE STRASSE DER VERGELTUNG (With A Vengeance) 

3. James Mayo: DAS GRAB DES NEBUKADNEZAR (Once In A Lifetime) 

4. Christian Dörge: DER SCHNEE 

 

 

Das Buch

Herbst - die Tage werden kürzer... 

Herbst - die beste Zeit, innezuhalten und zu lesen... 

Dieses Buch enthält vier spannende und ausgewählte Top-Krimis aus den Krimi-Reihen des Apex-Verlags, geschrieben von internationalen Bestseller-Autoren - perfekter Lesestoff für lange Abende, für ein ruhiges Plätzchen im Schein der Herbstsonne, für die Reise: Das Geheimnis der Borgia-Skulptur von Victor Gunn, Die Straße der Vergeltung von Dell Shannon, Das Grab des Nebukadnezar von James Mayo und Der Schnee von Christian Dörge. 

Nervenkitzel und Unterhaltung pur! 

  1. Victor Gunn: DAS GEHEIMNIS DER BORGIA-SKULPTUR (The Borgia Head Mystery)

 

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

»Scheußliche Geschichte!«, sagte Chefinspektor Cromwell.

Seine Stimme war wutgeladen und der Ausdruck seines Gesichtes womöglich noch bärbeißiger als sonst. Der Telefonhörer flog zurück auf die Gabel. Johnny Lister, der in Hut und Mantel an der Tür stand, ließ seine Hand auf der Klinke ruhen.

»Was ist los, Old Iron?« Der Inspektor verdankte diesen Spitznamen seinem großen Namensvetter Oliver Cromwell, dessen Reiter Ironsides - Eisenseiten - genannt wurden.

»Was soll schon los sein? Mord natürlich!« Bill Cromwells Stimme war jetzt müde und verärgert. »Und ausgerechnet, wenn wir nach Hause gehen wollen! Den ganzen Abend hatte ich schon das verdammte Gefühl, als ob meine Nachtruhe hin wäre.«

Der elegante Kriminalsergeant nickte. »Ging mir genauso«, meinte er, »aber ich bin Gott sei Dank nicht abergläubisch. Ich hab’ nur an das Wetter gedacht, das sich über uns zusammenbraut. Eine widerliche, klebrige Schwüle ist das - der reinste Sirup, aber keine Luft! Haben Sie den Donner gehört? Alles in allem ein gräulicher Abend.«

Der Chefinspektor ließ sich wieder in seinen Sessel fallen und griff nach dem Telefonhörer.

»Kein Abendbrot für uns, mein Junge«, stöhnte er wehleidig, »und wie mir scheinen will, auch kein Schlaf. Wenn wir das blöde Büro doch nur fünf Minuten eher verlassen hätten! Was hätten wir uns erspart!«

»Und wo ist er ermordet worden?«, fragte der praktische Johnny.

»In der Sackville Street - ein Mann namens Kendrick.«

»Kendrick? Doch nicht der alte Augustus? Ich bin oft in der Galerie Kendrick gewesen. Eine Schande ist das! Old Gus war einer der anständigsten Kerle, die wir hatten.«

 

Mr. Francis Augustus Kendrick war kaltblütig ermordet worden. Sein Hinscheiden bedeutete für Londons Westend den Verlust eines seiner beliebtesten Originale. Old Gus, wie Kendrick liebevoll in Kunstkreisen genannt wurde, war gereizt und ruhelos gewesen, seit er am Nachmittag in London angekommen war - und an seiner Nervosität war nicht nur das Wetter schuld. Er war zu einem ganz bestimmten Zweck nach London gefahren; eigentlich hatte sich der berühmte Kunstkenner und -händler bereits seit fünf Jahren von den Geschäften zurückgezogen und lebte bereits still und friedlich auf seinem Landsitz in Cumberland.

Mr. Michael Gale, der gesetzte, würdige Geschäftsführer, der die Firma jetzt leitete, hatte sofort verstanden, dass ein großer Abschluss in der Luft lag, denn der alte Kendrick, der sowieso ein ernster, schweigsamer Mann war, gab sich heute förmlich als Trappist. Nur seine Augen blitzten so, dass man ohne weiteres auf ein Geschäft von außergewöhnlicher Wichtigkeit schließen konnte. Gales vorsichtige Fragen hatten keinen Erfolg.

»Morgen, morgen, mein lieber Michael - morgen sollen Sie alles erfahren«, hatte Kendrick mindestens ein halbes dutzendmal erklärt. »Sie müssen nicht so neugierig sein.« Und mit einem verschmitzten Lächeln hatte er eine besonders angenehme Überraschung angedeutet.

Kendrick war ein großzügiger Mann, und wann immer er ein wirklich gewinnbringendes Geschäft abschloss, hatte Michael Gale ausnahmslos eine sehr anständige Provision bekommen.

Die drei Angestellten der Kunsthandlung waren nach Geschäftsschluss nach Hause gegangen. Danach hatte Mr. Kendrick die Gelegenheit ergriffen, mit Gale die Bücher durchzusehen, und dieser machte sich um sieben Uhr bereit, das Geschäft zu verlassen.

Das Wetter war immer schwüler und drückender geworden; schwere Wolken senkten sich über das Westend. Eine unbestimmte, unheimliche Drohung hing in der Luft, und Gale zögerte mehrere Male, bevor er endlich ging.

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie mich heute Abend nicht mehr brauchen, Mr. Kendrick?«

»Gute Nacht, Gale.«

»Wenn ich vielleicht noch irgendetwas für Sie tun könnte...«

»Nach Hause können Sie gehen«, unterbrach Kendrick ihn kurz. »Ich werde froh sein, wenn das Wetter endlich losbricht. Vielleicht gibt es dann etwas Luft«, fügte er mit einem Blick auf den Himmel hinzu.

Da stand er nun auf der Schwelle seines berühmten Ladens - die Galerie bestand lediglich aus einigen Räumen über dem Geschäft ein kleiner, drahtiger, gepflegter und gutangezogener Mann, und lächelte verschmitzt vor sich hin. Seine Zähne waren von fast unglaublicher Makellosigkeit, sein langes graues Haar glänzte und stand über den Ohren wie zwei riesige Puderquasten ab. Lange Jahre war er im Westend eine bekannte Erscheinung gewesen, jetzt sah man ihn nur noch bei seltenen Gelegenheiten, wenn ihn besonders wichtige Geschäfte nach London führten.

Im Gegensatz zu seinem Chef war Gale lang und hager mit stets gebeugten Schultern. Den Regenmantel, der heute offenbar sehr nötig war, über dem Arm, entschloss er sich endlich zum Gehen.

Mr. Kendrick grinste verstohlen hinter ihm her, als er sich in den Laden zurückzog und die Tür schloss. Er dachte an Gales offensichtliche Besorgnis. Eine schöne Überraschung würde der morgen erleben!

Dann schlenderte der kleine Mann einige Zeit müßig durch den halbdunklen Laden, besah sich verschiedene Kunstgegenstände, rückte an ihnen herum und bemühte sich redlich, die Zeit bis acht Uhr zu vertrödeln.

Um halb acht kam es ihm vor, als ob er fernes Donnergrollen hörte. Er zog sich in das durch Glas abgetrennte hintere Ende des Raumes zurück und knipste die Lampe auf seinem Schreibtisch an. Die Sackville Street war jetzt in ihre übliche abendliche Schläfrigkeit versunken. Der Himmel hing voller Gewitterwolken, und eine vorzeitige Dämmerung lag über der Stadt. Bis jetzt war noch kein Tropfen Regen gefallen.

Es war vierzig Minuten nach sieben Uhr.

Old Gus in seinem Büro horchte erstaunt und verärgert auf, als ein Klingeln anzeigte, dass die Ladentür geöffnet worden war. Er hatte absichtlich nicht zugesperrt, aber dem äußeren Anschein nach war das Geschäft geschlossen, und er erwartete keine Kunden mehr. Jedenfalls nicht bis acht Uhr - und auch dann nur einen einzigen.

Er öffnete die mit einer Glasscheibe versehene Tür des Büros und blickte in den langen, dunklen und mit zahllosen Kunstgegenständen vollgestopften Raum. Zwei Kunden hatten den Laden betreten. Wie unangenehm, dachte er. Ausgerechnet jetzt.

»Es tut mir leid, meine Herren...« Er hielt erstaunt inne, als er erkannte, dass der eine der beiden Männer die Ladentür verschloss. Daraufhin wandten sich die zwei Gestalten ihm zu und kamen mit schnellen, sicheren Schritten näher.

»Mr. Kendrick?«

»Darf ich mich vielleicht erkundigen, wie Sie dazu kommen, meine Tür abzuschließen?«, fragte Old Gus in ziemlich scharfem Ton. »Das Geschäft ist jetzt geschlossen, und ich habe nicht die Absicht...«

»Nur keine Aufregung, Mr. Kendrick«, unterbrach ihn der größere der beiden Männer. »Es wird Ihnen nichts geschehen, wenn Sie genau das tun, was ich sage. Das Ding in meiner Hand ist eine Pistole mit Schalldämpfer. Ich hoffe sehr, dass ich sie nicht benutzen muss.«

»Großer Gott!«, stieß Mr. Kendrick hervor.

Es ging ihm durch den Kopf, dass Gale wirklich ein Vorgefühl kommenden Unheils gehabt haben müsse, und er zitterte vor Wut über die unglaubliche Frechheit eines solchen Überfalls am helllichten Tage. Sicher hatte er von solchen Vorfällen gelesen, aber in den dreiundzwanzig Jahren seiner Tätigkeit hatte er niemals etwas Ähnliches erlebt. Er konnte einfach nicht glauben, dass er seine augenblickliche Lage dem besonderen Geschäft zu verdanken habe, das ihn nach London geführt hatte.

Kendrick hatte durchaus nicht den Kopf verloren.

»Ich habe keine Ahnung, was Sie zu finden hoffen«, meinte er mürrisch. »Dieser Laden enthält eigentlich nichts, was Sie interessieren könnte, und in meiner Brieftasche habe ich nur einige Pfund.«

»Schon gut, Mr. Kendrick«, sagte der große Mann in gelassenem Ton. »Wir wissen, was wir suchen. Sie setzen sich jetzt an Ihren Schreibtisch, legen Ihre beiden Hände auf die Platte und lassen sie dort liegen, damit ich sie im Auge behalten kann. Und vor allen Dingen fangen Sie nicht an zu schreien. Es würde mir sehr leid tun, wenn ich grob werden müsste.«

In seinem dünnen blauen Regenmantel machte der wohlbeleibte Mann einen durchaus freundlichen und vertrauenerweckenden Eindruck. Mit seinem feisten Gesicht und dem dünnen Schnurrbart, Marke Zahnbürste, sah er wie ein gutmütiger Landedelmann aus. Zwei Goldzähne glänzten im Licht der Lampe, wenn er sprach. Der andere Mann sah ganz und gar unauffällig aus - nichts als ein ängstlicher Zuschauer, mit einem mageren, glattrasierten Gesicht und kleinen, ruhelosen Knopfaugen.

Mr. Kendrick war sich natürlich nicht klar darüber, dass ihm ein bemerkenswert vornehmer Besucher die Ehre gab. Frederick Charles Brody war einer der schlauesten Gauner in ganz Europa. Von Geburt Australier, mit langjährigen Erfahrungen in den Vereinigten Staaten, betrachtete er die großen europäischen Hauptstädte als sein Haupttätigkeitsfeld. Brody war so klug, dass Scotland Yard ihn noch niemals hatte erwischen können, und nur die Wiener Polizei besaß Akten über ihn. Vor acht Jahren war er dort einmal unvorsichtig gewesen und in Verdacht geraten. Aber selbst damals hatte man ihn nicht überführen können. Mr. Brody umgab sich mit Luxus und lebte wie ein reicher Mann, der er auch tatsächlich war. Seinen Reichtum bezog er von seinen zahlreichen, klug ausgewählten Opfern. Ted Willis, sein Begleiter, war nichts als ein treuer Sklave.

»Ich habe nicht die Absicht, Sie lange aufzuhalten, Mr. Kendrick«, erklärte Brody im gleichen herausfordernd gelassenen Plauderton. »Sie brauchen mir nur den Borgia-Kopf auszuliefern. Das ist alles, was Sie zu tun haben.«

Kendrick zuckte unmerklich zusammen.

»Den Borgia-Kopf?«, wiederholte er erstaunt.

»Ganz richtig.«

»Und was, wenn Sie mir die Frage erlauben wollen, ist der Borgia-Kopf?«

»Ruhe, Ruhe, mein Lieber, leugnen hilft gar nichts!« Brody lächelte jetzt breit. »Ich würde so was Dummes gar nicht erst versuchen, wenn ich Sie wäre. Wir vertrödeln nur unsere Zeit. Sie wissen ebenso gut wie ich, was der Borgia-Kopf ist, und außerdem haben Sie ihn hier in Ihrem Büro.«

»Was mich zu dem Geständnis zwingt, dass Sie mehr wissen als ich«, gab Kendrick freundlich zurück.

Brody fing sichtlich an, seine Herzlichkeit zu verlieren. »Sie glauben wohl, dass Sie mich aufhalten können, bis Dodd kommt, wie?«, sagte er. »Jawohl, ich weiß alles über Mr. Preston Dodd«, fuhr er fort, als er Kendrick auffahren sah. »Der kommt aber nicht vor einer Viertelstunde. Wie Sie sehen, habe ich die Zeit für meinen Besuch mit großer Sorgfalt gewählt.«

Kendrick machte mit den Händen eine ungeduldige Bewegung, aber seine Augen hatten jetzt einen außerordentlich besorgten Ausdruck.

»Das ist ganz einfach lächerlich...«, fing er an.

»Ganz meine Meinung«, zischte Brody und hob die Pistole. »Lächerlich ist das richtige Wort. Hände auf den Tisch, Mr. Kendrick, und keine überflüssigen Bewegungen, wenn ich bitten darf!«

»Und was sollte ich wohl für Bewegungen machen?«, erkundigte sich Kendrick mit mühsam bewahrter Geduld. »Bilden Sie sich ein, dass ich mit Revolvern in den Taschen umherlaufe, oder erwarten Sie von mir, dass ich Sie mit bloßen Fäusten anfalle? Sie haben mich in der Hand, und ich muss mich fügen, aber das ändert gar nichts. Was immer Sie glauben, hier in diesem Raum gibt es keinen Borgia-Kopf.«

»Langsam vergeht mir die Geduld«, bemerkte Brody kalt. »Ich komme doch nicht einfach hierher, ohne mich genauestens zu informieren. Wenn Sie meinen, dass Ihre geschäftlichen Transaktionen in der letzten Zeit geheim geblieben sind, dann irren Sie sich, Mr. Kendrick. Solche Sachen sprechen sich herum, und ich weiß, dass Sie für einen Ihrer Kunden, Mr. Preston Dodd, den Erwerb des Borgia-Kopfes betrieben haben. Er ist hier - der Kopf, meine ich und Mr. Dodd wird gleichfalls bald hier sein, um ihn abzuholen, wie er glaubt. Aber vorher werde ich ihn abgeholt haben. Ganz einfache Sache, wie Sie sehen. Und nun: Wo ist der Kopf?«

Der kleine Kunsthändler war viel bestürzter, als er sich nach außen hin anmerken ließ. Brodys Informationen waren vollständig richtig. Kendrick hatte, bei einem seiner seltenen Besuche in London, vor zwei Monaten in seinem Klub Mr. Dodd kennengelernt, den großen Mr. Preston Dodd, der Amerikaner, Multimillionär, Präsident des Dodd-Stahl-Konzerns und leidenschaftlicher Kunstsammler war. Sie waren ins Gespräch gekommen, und Dodd hatte die Gerüchte über den sagenhaften sogenannten Borgia-Kopf - eine Skulptur aus dem sechzehnten Jahrhundert - erwähnt. Man flüsterte sich in Kunstkreisen zu, dass er, nach einem der großen Luftangriffe auf das Kloster Monte Cassino, unter einer zusammengestürzten Mauer gefunden worden sei. Jawohl, hatte Kendrick bestätigt, er habe von diesen Gerüchten gehört. Er glaube auch, dass es mehr als Gerüchte seien. Er habe viele Verbindungen auf dem Kontinent und sei überzeugt, dass er den Kopf kaufen könne - allerdings zu einem phantastischen Preis. Darauf hatte ihn Preston Dodd sofort beauftragt. Er sei mit jedem Preis einverstanden, ohne Einschränkungen. Er hatte tausend Pfund angezahlt und später von Kendrick erfahren, dass dieser Erfolg gehabt hatte und nun fünfzigtausend Pfund fordere. Heute Abend sollte das Kunstwerk endlich in seine Hände gelangen. Mr. Preston Dodd wollte um acht Uhr mit einem Scheck über neunundvierzigtausend Pfund erscheinen.

Kein Zweifel, Brody war einwandfrei unterrichtet und hatte auch die Zeit seines Besuches mit großem Geschick gewählt. Er wusste ja, dass er den Borgia-Kopf in Amerika unter der Hand ohne jede Schwierigkeit verkaufen konnte - und zürn gleichen Preis wie Kendrick. Dies war das Geschäft seines Lebens, und dazu noch das einfachste und gefahrloseste Unternehmen, das er jemals gestartet hatte.

»Diese ganze Angelegenheit ist wirklich sehr betrüblich«, meinte Old Gus. Er versuchte seiner Stimme - nicht ganz erfolgreich - Festigkeit zu geben. »Ich kann nur annehmen, dass Sie falsch informiert wurden. Es ist wahr, dass ich eine Verabredung mit Mr. Dodd habe - dieser Teil Ihrer Information ist durchaus korrekt -, aber ich weiß nicht das geringste über Ihren sogenannten Borgia-Kopf!«

»Schwach, Mr. Kendrick, ganz schwach«, erwiderte Brody. »Was Antiquitäten betrifft, wissen Sie mehr als alle Kunstkenner und Fachleute Londons zusammen, und wenn Sie mir erzählen, dass Sie niemals etwas über den Borgia-Kopf gehört haben, verraten Sie sich nur selbst.«

»Habe ich gesagt, dass ich niemals davon hörte? Selbstverständlich habe ich davon gehört. Es muss übrigens ein bemerkenswertes Beispiel italienischen Kunsthandwerks des sechzehnten Jahrhunderts sein, wenn die Gerüchte über diese Arbeit nicht übertreiben. Die Borgia-Dokumente enthalten einige vage Hinweise, und es scheint, dass diese Hinweise durch einen Brief bestätigt werden, den Benvenuto Cellini im Jahre 1552 schrieb und von dem nicht bezweifelt werden kann, dass er authentisch ist. Aber wie dem auch sei, der Kopf ist seit Jahrhunderten verschwunden und verschollen, und ich habe wirklich keinen Grund zu der Annahme, dass er kürzlich wieder aufgetaucht ist, wie Sie sich einzubilden scheinen. Irgendjemand hat Sie gründlich an der Nase herumgeführt, mein Freund. Hier ist wirklich kein Borgia-Kopf.«

»Hut ab vor Ihrem Mut und Ihrer Ruhe«, gab Brody lächelnd zurück. »Sie sind ein meisterhafter Spieler, Mr. Kendrick. Ich würde Sie auch liebend gern weitersprechen lassen, aber leider - die Zeit drängt. Geben Sie mir den Schlüssel zu Ihrem Geldschrank.«

»Lass mich den lieber aus seiner Tasche holen«, ließ sich Willis zum ersten Mal vernehmen. Er sprach schnell und leise. »Er könnte irgendeine faule Sache versuchen, wenn du ihm erlaubst, die Hände vom Tisch zu nehmen.«

»Oh, Himmel, was ist das bloß für eine alberne Geschichte«, sagte Kendrick in ergebenem Ton. »Der Schlüssel zum Safe ist nicht in meiner Tasche. Er liegt in einer Schublade. Hier, in der linken Schublade des Schreibtisches. Es wäre mir schrecklich unangenehm, Ihnen unnötige Mühe und Scherereien zu verursachen.«

Willis trat vor und zog die von Kendrick bezeichnete Lade auf. Im gleichen Augenblick versuchte Old Gus mit einer schnellen, zielsicheren Bewegung den darin befindlichen Revolver zu ergreifen.

»Achtung!«, schrie Willis.

Brody reagierte augenblicklich und tatsächlich mehr oder weniger automatisch. Ehe Kendricks Finger sich um die Waffe schließen konnten, gab Brodys Pistole einen sonderbaren, gedämpften Ton von sich, eine leichte, scharf riechende Rauchwolke verbreitete sich im Zimmer, und Mr. Francis Augustus Kendrick sackte über seinem Schreibtisch zusammen. Der einzige Ton, den er von sich gab, war ein merkwürdiger Seufzer. Dann wurde es totenstill.

»Himmlische Gerechtigkeit!«, stöhnte Willis.

Brody steckte die Pistole in seine geräumige Manteltasche. Schweißperlen glänzten auf seinem feisten Gesicht. Er atmete schwer, und seine Goldzähne glitzerten im Lampenlicht.

»Üble Sache«, sagte er mit eiskalter Stimme. »So was bringt einen garantiert in Scherereien. Ist aber noch lange kein Grund, so verstört auszusehen, Ted. In drei Minuten sind wir draußen. Wir haben nichts angefasst - und Handschuhe haben wir auch beide an.«

»Du hättest ihn nicht umlegen sollen«, murmelte der schlotternde Willis. »Das hättest du nicht machen dürfen, Charlie. Warum hast du das bloß getan? In meinem ganzen Leben hab’ ich noch nichts mit Mord zu tun gehabt. So was bringt einen an den Galgen, Charlie.«

»Hör auf zu stottern, du furchtsames Kaninchen«, fuhr ihn Brody an, indem er ihn gleichzeitig kräftig schüttelte. »Reiß dich doch zusammen, Mensch! Er hat’s ja einfach herausgefordert, der Kerl, oder meinst du, dass ich ihn an seine Kanone ranlassen durfte? Eine Sekunde später, und er hätte mich erschossen. Das war kein bloßer Angeber. Ein verdammt geistesgegenwärtiger alter Knabe war das. Um ein Haar hätte er mich erwischt. Da muss doch selbst ein solcher Idiot wie du einsehen, dass es nur darum ging, wer zuerst schießt.«

»Aber Mord bleibt es trotzdem, Charlie«, winselte der andere. Er konnte die Augen nicht von der zusammengesunkenen Gestalt am Schreibtisch abwenden. »Niemals, niemals vorher sind wir so weit gegangen. Mord ist das, sage ich dir - wir müssen raus hier«, setzte er in jäh ausbrechender Panik hinzu.

»Wir hauen hier ab, wenn wir gefunden haben, was wir suchen«, antwortete Brody verächtlich. »Ich hab’ wirklich nicht gewusst, dass du ein so feiger Hund bist! Los, mach dich ran, hilf mir das Zimmer absuchen! Wir müssen uns beeilen.«

»Ist ja gut, Charlie.« Willis riss sich mit Mühe zusammen. »Herrgott, ich wünschte, ich hätte deine Nerven!«

Brody war tatsächlich so kühl und ruhig, als wenn sich nichts ereignet hätte. Es stellte sich heraus, dass in der Schublade keine Schlüssel lagen. Ohne zu zögern und mit sicheren Händen untersuchte Brody Kendricks Taschen so geschickt, dass die Lage des Leichnams kaum verändert wurde. Die festanliegenden Handschuhe schienen ihn überhaupt nicht zu behindern.

Kendricks Schlüsselbund war schnell gefunden, und danach war es das Werk einer Minute, den großen, altmodischen Safe aufzuschließen, der in einer dunklen Ecke des Raumes stand. Brody fing zuversichtlich und entschlossen an, den Safe zu durchsuchen, aber je länger es dauerte, desto hastiger und nervöser wurden seine Bewegungen.

Der Safe enthielt einige verhältnismäßig wertvolle Gegenstände, aber nichts von besonderem Interesse. Zwei Bündel Ein-Pfund-Noten, einige antike Goldmünzen, drei oder vier seltene Erstausgaben und ein paar vielbenutzte Kontobücher, aber nichts, was nur im Entferntesten dem von Brody gesuchten Gegenstand ähnelte.

»Verdammt - nichts! Wo, zum Teufel, kann das Ding bloß stecken? Es muss doch hier im Zimmer sein!«

Ziemlich aufgebracht, besah er sich die verschiedenen Gegenstände, mit denen das Büro angefüllt war. Die Zeit drängte. Er hatte fest damit gerechnet, den Borgia-Kopf im Safe zu finden.

»Dieser alte Geheimniskrämer! Was, zum Teufel, kann er damit angestellt haben? Durchsuch den Schreibtisch, Ted, während ich mir die Regale vornehme. Dreh einfach alles um.«

»Was ist mit seinen Taschen?«, erkundigte sich Ted zögernd.

»Herrgott, wie kann man nur so ein armer Irrer sein? Das Ding hat Lebensgröße. Wie soll er es denn in die Tasche geschoben haben? Vermutlich hat er es in irgendeiner Kiste oder Schachtel versteckt. Nach so was musst du dich umsehen.«

Und weiter ging die Suche - je mehr Zeit verstrich, desto wilder und verzweifelter wurde ihr Tempo.

»Das Ganze ist einfach unwahrscheinlich«, stöhnte Brody, nachdem er einen alten Schreibtisch wiederum vergeblich durchwühlt hatte. »Das Ding kann doch in kein Mauseloch geraten sein, es ist ja viel zu groß. Es steckt bestimmt hier in diesem Raum, starrt uns vermutlich an und lacht uns aus, verflucht noch mal. Im Traum wäre mir nicht eingefallen, dass wir solchen Ärger kriegen.«

»Wir hätten früher kommen sollen«, beklagte sich der schlotternde Willis. »Es ist fast acht Uhr, Charlie.«

»Na und? Wir werden den Kopf schon noch finden, ehe Mr. Dodd eintrudelt«, gab Brody mit einem sonderbaren Lachen zurück. »Wir müssen ihn finden. Und außerdem kann er nicht rein - die Tür ist zugeschlossen.«

Ted Willis machte plötzlich ein ziemlich dummes Gesicht.

»Aber...«

»Es ist so verdammt blödsinnig«, unterbrach ihn Brody. »Die Zeit war prima angesetzt, und Kendrick musste den Kopf da haben. Mitten auf dem Schreibtisch, hab’ ich gedacht, würde er stehen.«

Und wiederum sah er sich im Raum um. Es war einfach gewesen, den alten Schreibtisch und den Safe durchzuwühlen, aber der Raum war vollgestopft mit Möbeln, und es würde viel Zeit kosten, sie alle zu durchsuchen.

Brody fing langsam an zu begreifen, dass der schlaue Mr. Kendrick den Borgia-Kopf meisterhaft versteckt hatte, obwohl er seinen reichen Kunden um Punkt acht Uhr erwartete. Er machte einen großen Schrank auf und leuchtete das Innere mit seiner Taschenlampe ab, er suchte in den verschiedensten antiken Kommoden und Behältern herum.

»Einfach nicht da«, stöhnte er. »Diese ganze Angelegenheit ist völlig unmöglich. Alles war bestens vorbereitet. Der Alte musste ganz einfach den Kopf hier haben, nachdem er Dodd um acht Uhr erwartete. Ich sage dir, der Kopf ist hier irgendwo ganz in der Nähe.«

»Vielleicht im Laden?«, schlug Willis vor.

»Heiliger Himmel! Wie stellst du dir das vor? Um den Laden abzusuchen, brauchen wir einen Monat.« Brody geriet langsam in Schweiß. »Und außerdem ist er nicht im Laden«, fügte er wütend hinzu. »Hier ist er, weil er hier sein muss. Hölle, Tod und Teufel, all dieser Ärger und...«

Rrrr!

Die Klingel schnarrte im Büro, so nah, so unerwartet, dass die beiden Männer in wildem Schrecken zusammenfuhren. Willis klappte buchstäblich zusammen und musste sich am Schreibtisch festhalten.

»Was ist das?«, stieß er heiser hervor.

»Die Türklingel, du Idiot«, erklärte ihm Brody, aber auch in seinen Zügen malten sich Bestürzung und Erstaunen. »Ich kann gar nicht verstehen, wieso... Warte! Es muss einen Weg geben. Bleib von der Tür weg, verdammt noch mal. Dein Schatten fiel eben genau auf das Glasfenster...«

Er brach ab und lief zu einer hölzernen Schiebetür in der Wand, die er schon vorher bemerkt und deren Zweck er sofort erraten hatte. Sie diente dazu, dass Kendrick, ohne von seinem Schreibtisch aufzustehen, in den Laden sehen konnte. Eine ausgezeichnete Methode, die Kunden unbemerkt zu beobachten. Die Ladentür hatte ein Oberteil aus Glas, und Brody konnte im abendlichen Zwielicht den Helm eines Polizisten dahinter erkennen. Der Beamte war offensichtlich bemüht, die Tür zu öffnen.

»Das Licht!«, zischte Willis. »Großer Gott, wir haben das Licht vergessen. Wir müssen es ausmachen.«

Er griff nach dem Schalter der Schreibtischlampe, aber Brody fiel ihm wütend in den Arm.

»Und ich hatte mir eingebildet, du wärst ein kluger Bursche. Ein Feigling und Dummkopf, das bist du, Ted. Der haut vielleicht ab, wenn er nichts Verdächtiges entdeckt, aber was glaubst du, das er macht, wenn das Licht plötzlich ausgeht?«

»Aber wir können doch nicht hierbleiben«, protestierte Willis. »Nicht nach dem...« Er musste schlucken und starrte gebannt auf den zusammengesunkenen Körper am Tisch. »Nicht nach dem, was passiert ist«, brachte er endlich heraus.

Brody fluchte leise, aber kräftig.

»Stimmt, hierbleiben ist nichts«, gab er zu. »Viel zu gefährlich. Aber es muss doch eine Hintertür geben, und wenn es sie gibt, dann werden wir sie finden.«

In dieser verzweifelten Lage hatte er seine eiskalte Gelassenheit wiedergefunden. Er wusste, es ging um Sekunden. Sie mussten fort, und zwar sofort. Jeden Augenblick konnte es dem eifrigen Polizisten da vorn einfallen, um das Haus herumzugehen.

Brody warf einen letzten Blick auf das altmodische Büro mit seinen alten Möbeln, seiner einsamen, abgedunkelten Lampe auf dem Schreibtisch und seinem toten Besitzer. Äußerlich war er vollkommen ruhig, aber innerlich hatte der Verlauf dieser Angelegenheit ihm doch einen heftigen Stoß versetzt. Ein Misserfolg! Und die ganze Zeit hatte er daran gedacht, dass der Raub des Borgia-Kopfes der müheloseste Erfolg seiner Karriere werden würde.

Schon vorher hatte er eine schmale Tür hinten im Raum entdeckt; jetzt ging er auf sie zu und öffnete sie. Sie führte auf einen schmalen Gang. Das Haus war alt, und der Gang hatte viele Windungen, aber - und das war für die beiden das wichtigste - er führte wenigstens zur Hintertür. Sie war verriegelt, und eine Kette hing davor. Im Nu hatte Brody sie geöffnet. Draußen wurden sie vom ersten dumpfen Donnergrollen empfangen. Sie befanden sich auf einem kleinen Hof.

»Charlie«, flüsterte Ted Willis verzweifelt, »hier geht’s nirgends weiter. Wir sind hin. Wir kommen nicht raus aus diesem Hof.«

Brody gab keine Antwort. Ein schneller Blick hatte ihn sofort den Ausweg erkennen lassen. Er zog sich links an der Hofmauer hinauf und spähte hinüber. Wie erwartet, sah er drüben eine schmale Gasse. Sie war menschenleer. Im Handumdrehen war er auf der Mauer und ließ sich auf der anderen Seite hinuntergleiten. Ted Willis folgte.

»Ruhe jetzt«, murmelte Brody. »Geh gefälligst so, als ob wir nichts als einen Verdauungsspaziergang im Sinn hätten, und mach um Himmels willen bloß nicht so ein Gesicht, dass jeder Idiot im Dunkeln erkennen kann, was für eine Angst du hast.«

Sie verließen die Gasse, ohne jemandem zu begegnen, und kamen in eine stille Seitenstraße.

Fünf Minuten später tauchten sie auf dem Piccadilly Circus in der Menge unter.

»Was nun?«, fragte Willis, der seine Haltung so weit wiedergefunden hatte, dass er wieder normal aussah. »Was willst du jetzt machen? Glatter Reinfall. All unser Ärger für nichts. Der alte Kendrick tot für nichts...«

»Mensch, halt’s Maul! Musst du so ein blödes Zeug quasseln, mit der ganzen Menschenmenge rundherum?«, fuhr ihn Brody an. »Kendrick ist dran gewesen mit Sterben, und sein Geheimnis hat er mitgenommen. Aber ich bin noch lange nicht am Ende meiner Weisheit. Jetzt erst recht nicht, sage ich dir.«  

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Polizeiwachtmeister Jack Bradley war das schwache Licht in den hinteren Räumen der Galerie Kendrick aufgefallen. Der ruhige und kluge Beamte pflegte im Dienst Verstand und Augen gut zu gebrauchen. Trotzdem verlief seine Streife meist recht ereignislos. Durch die Sackville Street war er schon viele hundert Male zu allen Tages- und Nachtstunden gekommen, ohne jemals etwas Verdächtiges zu entdecken.

Auch jetzt hatte er keinen Verdacht. Er fand es nur auffallend, dass das Licht brannte. Wie für diese Tagesstunde üblich, war der Laden offensichtlich geschlossen. Aber warum hatte Gale im Büro Licht gelassen? Er kannte Michael Gale recht gut, hatte oft mit ihm einen Schwatz gehalten und mochte den alten Knaben gern. Von ihm wusste er auch, dass Old Gus Kendrick, der Besitzer des Ladens, sich seit Jahren von den Geschäften zurückgezogen hatte und auf dem Lande lebte.

Manchmal blieb Gale länger im Geschäft, aber dann ließ er immer auch das Licht im Laden brennen. Dieses Licht im Büro war etwas anderes. Niemand hatte auf sein Klingeln geantwortet, es war ihm nur so vorgekommen, als habe er einen Schatten auf der Glasscheibe in der Tür gesehen. Wenn Gale noch da war, warum reagierte er dann nicht auf das Läuten?

Sonderbar, dachte Bradley. Sieht dem alten Knaben gar nicht ähnlich, wegen nichts und wieder nichts Licht brennen zu lassen. Hoffentlich ist ihm nicht schlecht geworden, und er liegt hilflos in dem stickigen, kleinen Büro.

Was den Schatten auf der Scheibe betraf, so war er nicht ganz sicher. Möglicherweise hatte er sich geirrt. Wohl die meisten Beamten hätten unter diesen Umständen ihre Streife fortgesetzt und die ganze Sache mit einem Achselzucken abgetan. Nicht so der eifrige und pflichtbewusste Bradley. Er klingelte noch einmal und wartete etwa zehn Minuten ab. Dann ging er zur nächsten Telefonzelle, rief sein Revier an, das sich ganz in der Nähe befand, und meldete den Vorfall.

Inspektor Hammond war am Apparat und hörte sich Bradleys Meldung an.

»Sie haben ganz richtig gehandelt, Bradley«, sagte er. »Gut möglich, dass nichts dahintersteckt, aber es kann nicht schaden, sich davon zu überzeugen. Ich kenne Mr. Gale persönlich. Er ist ein pedantischer alter Kauz. Sieht ihm gar nicht ähnlich, wegzugehen und einfach Licht brennen zu lassen. Ich komme gleich rüber und schaue mir die Sache mal an. Auf bald also!«

»Vielen Dank, Sir«, sagte der Wachtmeister erfreut und hängte ein. Dann ging er zurück zur Galerie Kendrick.

Hätte Jack Bradley nicht eine so scharfe Beobachtungsgabe besessen, wäre der Mord erst am anderen Morgen entdeckt worden. Wenn Bradley jedoch gewusst hätte, dass Mr. Kendrick selbst in London war, wäre die Meldung wahrscheinlich ganz unterblieben. Er hätte dann sicher angenommen, dass Kendrick nicht gestört werden wolle und darum das Läuten nicht beachtet habe.

Als er auf den Laden zusteuerte, bemerkte er einen Mann, der die Tür mit Fäusten bearbeitete, und beschleunigte seine Schritte. Der Fremde erwies sich als ein großer, schlanker älterer Herr mit weißem Haar, das unter der Krempe seines weichen Hutes hervorquoll. Er war glattrasiert und trug eine randlose Brille. Ganz offensichtlich waren er und sein gutsitzender Anzug amerikanischer Herkunft.

Die ersten Regentropfen fingen an zu fallen.

Der weißhaarige Fremde hämmerte mit der Faust an die Tür, während ein Finger der anderen Hand auf den Klingelknopf drückte.

»Hat keinen Zweck, solchen Lärm zu schlagen, Sir«, sagte Bradley gutmütig. »Es ist längst Geschäftsschluss. Ich glaube nicht, dass jemand da ist. Die Galerie ist für heute geschlossen.«

»Ich weiß«, gab der andere ungeduldig zurück, »aber ich habe eine Verabredung mit Mr. Kendrick für acht Uhr.«

»Gerade acht Uhr vorbei, Sir«, sagte Bradley. »Eine Verabredung mit Mr. Kendrick?« fügte er erstaunt hinzu. »Aber Mr. Kendrick ist ja gar nicht hier. Er hat sich schon vor Jahren zurückgezogen und lebt auf dem Lande.«

Der alte Mann machte eine ungeduldige Bewegung.

»Mein Gott, das weiß ich doch. Aber heute ist er in London. Er hat mich vor ein oder zwei Stunden angerufen und sich mit mir für heute Abend verabredet. Er sagte mir auch, dass der Laden für den Kundenverkehr geschlossen sein würde, dass er die Tür aber offenlassen wolle und ich nur direkt hineingehen solle. Jetzt kann ich weder hinein, noch ist die Tür offen - und niemand antwortet auf mein Klingeln.«

»Das ist natürlich eine andere Sache, Sir«, sagte der Beamte. »Ich wusste nicht, dass Mr. Kendrick in London ist, und habe gerade eine Meldung über das Licht im Büro gemacht. Vielleicht war das ganz überflüssig. Mr. Kendrick könnte die Zeit vergessen haben...«

»Ganz unmöglich«, unterbrach ihn der Fremde. »Kendrick ist nicht der Mann, der vergisst, wie spät es ist. Meine Verabredung mit ihm ist von größter Wichtigkeit. Kendrick ist nur nach London gekommen, um mich zu treffen. Zum Teufel, was ist hier los? Die Sache gefällt mir nicht.«

In diesem Augenblick erschien ein Polizeiwagen mit Inspektor Hammond und einem Beamten in Uniform. Hammond streifte den weißhaarigen Fremden mit einem schnellen, forschenden Blick.

»Was Neues, Bradley?«

»Nichts, Sir. Es meldet sich immer noch niemand.«

»Wer ist dieser Herr?«

»Er sagt, er habe sich für acht Uhr mit Mr. Kendrick verabredet.«

»Aber Mr. Kendrick ist seit Jahren nicht mehr im Geschäft...«

»Das weiß ich doch längst«, unterbrach ihn der Fremde. »Darf er denn sein eigenes Geschäft nicht mehr betreten, wenn’s ihm Spaß macht? Meine Verabredung mit ihm ist von größter Bedeutung. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum er nicht hier ist. Er hat mir ausdrücklich acht Uhr gesagt und dass die Tür offen sein würde und ich direkt hineingehen solle.«

Der Fremde sah jetzt ganz bekümmert aus. »Ich bin fünf Minuten zu spät gekommen. Er kann doch nicht angenommen haben, dass ich nicht mehr komme, und die Tür verschlossen haben. Das wäre doch einfach blödsinnig.«

»Schon gut, schon gut, Sir. Gar kein Grund, sich aufzuregen«, beschwichtigte ihn Hammond. »Wenn Sie mir nur sagen würden, wer Sie sind.«

»Mein Name ist Dodd, Preston Dodd. Ich wohne im Piccadilly-Hotel, gleich um die Ecke. Darum bin ich zu Fuß.«

In Inspektor Hammonds Benehmen trat eine merkliche Veränderung ein. Preston Dodd - Piccadilly-Hotel. 

Dodd war Millionär, Präsident des riesigen Dodd-Stahl-Konzerns in Amerika, seit einigen Wochen im Piccadilly-Hotel abgestiegen und ein sehr anspruchsvoller Gast. Er hatte einen großen Koffer deponiert und galt als ein leidenschaftlicher Kunstsammler.

»Es wird schon alles in Ordnung sein, Mr. Dodd.« Hammonds Ton war jetzt außerordentlich höflich. »Sicher gibt es eine ganz einfache Erklärung für diese Verzögerung.«

»Ich hoffe zu Gott, dass Sie recht haben«, erwiderte Dodd in besorgtem Ton. »Sie haben ja keine Ahnung, warum ich hier bin. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Ich sage Ihnen, wenn diesem Kopf etwas passiert...«

»Wem bitte, Sir?«

»Ach, ganz egal. Ich will zu Kendrick. Es ist gleich acht Uhr zwanzig, und ich versprach - Pfui Teufel! Habt ihr immer so ein Sauwetter hier?«

Der Regen hatte jetzt richtig eingesetzt - ein regelrechter Wolkenbruch -, und es blitzte und donnerte heftig. Mr. Preston Dodd flüchtete in den Schutz der Türöffnung und blickte durch das Glas nach dem schwachen Lichtschein hinten im Geschäft.

Hammond drückte auf die Türklinke. »Verschlossen«, stellte er fest. »Und Sie konnten keine Antwort kriegen, Bradley? Was ist denn mit dem Hintereingang? Wird doch hoffentlich einen geben, wie? Irgendwie müssen wir ja rein. Mir gefällt die Sache ganz und gar nicht.«

»Vielleicht durch die Seitengasse«, schlug Bradley vor. »Das Haus muss eine Hintertür haben. Ich weiß nur nicht, ob man dran kann.«

»Versuchen Sie’s doch mal, Bradley. Wenn es nicht anders geht, müssen Sie eben über ein paar Mauern steigen. Aber richten Sie mir keinen Schaden an. Mr. Kendrick kann schnell für fünf Minuten rausgegangen sein, und wir würden schön dastehen, wenn wir ihm inzwischen seine Tür eingeschlagen hätten.«

Der Wachtmeister verschwand, und Hammond läutete noch einmal. Der aufgeregte Millionär und er konnten die Glocke leise anschlagen hören.

»Kendrick ist bestimmt nicht nur für Minuten rausgegangen, wie Sie meinen«, erklärte Dodd in äußerster Besorgnis. »Passt gar nicht zu ihm. Ich habe fürchterliche Angst, dass was passiert ist. Mein Gott! Und mein Kopf...«

»Das ist das Gewitter, Sir.«

»Was?«

»Das Gewitter. Ich meine, viele Leute kriegen Kopfweh bei Gewitter.«

»Wovon, zum Kuckuck, reden Sie eigentlich?«, fuhr ihn Preston Dodd ungeduldig an. »Das einzige Kopfweh, das ich spüre, stammt von meiner Sorge um Kendrick. Er muss den Kopf hier im Laden haben.«

»Ach, den Kopf meinen Sie! Den, von dem Sie vorhin auch schon sprachen«, sagte Hammond. »Ich dachte, Sie meinten - Oh, hallo! Da kommt ja endlich jemand.«

Sie konnten durch die Scheibe erkennen, dass hinten im Laden eine Bewegung entstand. Die Bürotür hatte sich geöffnet, und ein Mann kam durch den langen, dunklen Laden auf die Vordertür zu.

»Dem Himmel sei Dank!«, rief Dodd erleichtert aus.

Aber eine Minute später dankte er dem Himmel nicht mehr, denn der Mann, der die Tür aufschloss, war Polizeiwachtmeister Bradley - und eine Veränderung war mit ihm vorgegangen. Bradley war ganz blass geworden.

»Mord«, stieß er heiser hervor.

»Zusammenreißen, Bradley!«, fuhr Hammond ihn an.

»Sehr wohl, Sir. Bin gut reingekommen, Sir. Die Hintertür war offen, das heißt unverschlossen«, meldete Bradley abgehackt und atemlos. »Mr. Kendrick ist im Büro - am Schreibtisch umgekippt und tot, Sir. Erschossen. Dachte erst, er hätte einen Schlaganfall, aber dann, wie ich näher kam und das Blut sah...«

»Mein Kopf!« jammerte Preston Dodd außer sich. »Wenn sie Kendrick ermordet haben, dann nur darum. Der Borgia-Kopf! Himmlische Gerechtigkeit! Wenn ich nur rechtzeitig dagewesen wäre, ich hätte verhindern können...«

»Ruhe, Ruhe, Sir«, unterbrach ihn der Inspektor beschwichtigend. »Hat keinen Zweck, die Fassung zu verlieren. - In Ordnung, Bradley«, wandte er sich dann an seinen Untergebenen. »Wir wollen reingehen. Aber was ist denn mit Ihnen los? Haben Sie noch keinen Toten gesehen?«

Bradley errötete beschämt. Er war noch nicht lange im Dienst und stand vor seinem ersten Mordfall. Mit ziemlich dummem Gesicht und ganz nüchtern, folgte er seinem Vorgesetzten durch den Laden. Mr. Dodd zögerte einen Augenblick auf der Schwelle, dann schloss auch er sich den Beamten an. In New York hätte man ihm zweifellos bedeutet, draußen zu bleiben, aber offenbar verfügte die englische Polizei über bessere Manieren.

Nachdem sie das Büro betreten hatten, blieb Hammond stehen und zog die Luft ein.

»Kordit«, stellte er sachlich fest und ließ seinen Blick auf Kendricks Leiche ruhen, die in dem Licht der Lampe gut erkennbar war.

»Kann nicht viel mehr als eine Viertelstunde her sein, weniger vielleicht.«

Er nahm eine kurze Untersuchung vor.

»Einwandfrei tot«, stellte er fest. »Genau durchs Herz geschossen. Der arme alte Herr musste auf der Stelle hinüber gewesen sein.« Er wandte sich ab und sah Bradley fragend an. »Sie waren doch vor einer Viertelstunde draußen, Bradley. Haben Sie den Schuss gehört?«

»Nein, Sir, ich habe nichts gehört.«

»Der Mörder kann natürlich einen Schalldämpfer benützt haben«, räumte der Inspektor ein und ließ seine Blicke durch den Raum schweifen. »Ziemliche Unordnung hier. Fassen Sie nichts an, Bradley.«

Sehr behutsam, um nur ja keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, hob er den Telefonhörer ab und wählte Whitehall 1212. Er hatte jetzt nur einen Wunsch: Er wollte Scotland Yard erreichen und die Verantwortung für diesen Fall auf andere Schultern abschieben. Sein Bericht am Telefon war kurz und sehr anschaulich und setzte die Maschinerie von Scotland Yard unverzüglich in Bewegung. So kam es denn, dass Bill Cromwell und Johnny Lister, die nach einem harten, arbeitsreichen Tag nach Hause gehen wollten, wenig später mit einer unerwarteten und unerwünschten Arbeit dasaßen, die sie noch viel Zeit und Mühe kosten sollte.

Bis zu ihrem Eintreffen in Kendricks Büro wurde Mr. Dodd dort langsam lästig, aber da es sich um einen von Kendricks Kunden handelte, den die Tragödie persönlich anging, und da dieser Kunde ein außerordentlich reicher Besucher aus Übersee war, warf ihn Hammond nicht hinaus.

»Mein Kopf, mein Kopf ist weg!«, schrie er in fürchterlicher Aufregung. »Sie haben ihn gestohlen - Kendrick ermordet und den Kopf gestohlen.«

Dabei rannte er im Büro herum, suchte in allen Ecken und zwang Hammond, dauernd hinter ihm herzulaufen.

»Sie müssen sich jetzt allen Ernstes fassen, Sir«, redete ihm Hammond beruhigend zu. »Nein, nein, Sir, Sie dürfen nichts berühren. Bitte nicht. Es darf nichts angefasst werden.«

»Wollen Sie sich denn nicht überzeugen, ob etwas gestohlen ist«, fragte Dodd in fieberhaftem Ton. »Der Kopf kann ja noch hier sein.« Und wieder blickte er sich wild nach allen Seiten um, in der Hoffnung, etwas zu entdecken.

»Machen Sie doch Licht! Warum zum Teufel, kann man hier nicht mehr Licht machen?«

»Kein schlechter Gedanke«, meinte Hammond bedächtig und knipste die Deckenbeleuchtung an. »So, das ist schon viel besser. Aber Sie dürfen wirklich nichts berühren«, wiederholte er. »Ich nehme an, Sir, dass Sie Kendrick gut gekannt haben.«

»Nicht gut. Nicht näher, meine ich. Ich kannte ihn als Kunsthändler, das ist alles«, gab Dodd zurück, der immer noch ruhelos im Raum herumwanderte und alles durchsuchte. »Mein Gott! Jemand muss gewusst haben, dass er den Borgia-Kopf für mich gekauft hat und dass der Kopf heute Abend hier sein würde. Es ist mein Kopf«, fügte er hartnäckig hinzu. »Ich sage Ihnen, dass er mir gehört. Ich habe tausend Pfund angezahlt und hier in meiner Tasche ist ein Scheck...«

»Hat Mr. Kendrick Ihnen gegenüber angedeutet, dass er in Gefahr sei?« unterbrach der Inspektor schnell den Redestrom.

»Gefahr? Unsinn! Natürlich nicht. Warum hätte er annehmen sollen, dass er in Gefahr sei?« Dodd war gar nicht interessiert und kam sofort auf seine einzige Sorge zurück. »Der Kopf gehört mir, hören Sie! Sie müssen ihn herbeischaffen.« Beinahe hätte er Hammond bei den Rockaufschlägen gepackt. »Ich habe gehört, dass ihr hier auf der Höhe seid in England. Also los, jetzt zeigt doch, was ihr könnt. Der Borgia-Kopf ist weg! Ihr müsst ihn schnellstens finden! Warum geschieht denn nichts? Was lümmelt dieser Mann da an der Tür herum und tut nichts?« Der Mann war Bradley, der an der Tür Wache hielt. »Warum wird nicht gesucht?« Dodds Stimme überschlug sich fast.

»Bitte, Sir«, sagte Hammond mit bewundernswerter Selbstbeherrschung, »Sie sind aufgeregt und sehr in Sorge. Sie werden sich noch schaden, Sir. Wie wäre es, wenn sie ins Hotel zurückgingen? Sie können uns die Sache hier ruhig überlassen.«

»Ich will nicht ins Hotel zurück!«, erklärte Dodd wie ein eigensinniges Kind. »Ich mache mir Sorge, jawohl, aber es ist albern, zu behaupten, dass ich aufgeregt bin. Ich hatte erwartet, um diese Zeit im Besitz des Borgia-Kopfes zu sein. Und was ist jetzt? Kendrick ermordet und der Kopf gestohlen. Da, sehen Sie sich das mal an.« Er zog seine Brieftasche und entnahm ihr ein Bündel Banknoten. »Für Sie, Inspektor, wenn sie mir den Kopf beschaffen... Es ist mir egal, was es kostet und...«

»Stecken Sie das Geld weg, Mr. Dodd«, sagte Hammond ungehalten. »Nicht einen Penny kann ich davon annehmen.«

Mr. Dodd war maßlos erstaunt. »Warum denn nicht?«

»Weil wir das in London nicht machen, Sir«, sagte Hammond mit scharfer Betonung. »Wenn es einen Weg gibt, Kendricks Eigentum sicherzustellen, so wird das geschehen, keine Sorge.«

Preston Dodd suchte weiter in dem Zimmer herum. Des leidenschaftlichen Sammlers brennendes Bedürfnis nach Besitz schien ihn zu verzehren, und der Gedanke, das heißbegehrte Stück verloren zu haben, und das wenige Minuten, bevor es ihm endgültig gehört hätte, versetzte ihn in helle Verzweiflung.

»Halt mal! Halt!«, schrie er plötzlich, und sein Gesicht nahm einen neuen Ausdruck an. »Der Safe! Fällt mir eben erst auf... sehr komisch...«

»Was ist komisch, Sir?«

Mr. Dodds Hut war längst abhandengekommen. Jetzt fuhr er sich wild durch das graue Haar.

»Jemand hat was von dem Kopf gewusst - und von meiner Verabredung mit Kendrick«, folgerte er, große Mühe darauf verwendend, langsam und deutlich zu sprechen. »Ist das klar?«

»Scheint so, Sir.«

»Dieser Jemand ist kurze Zeit vor meinem Eintreffen gekommen und hat Kendrick umgebracht. Auch klar! Und dann? Was geschah dann? Der Dieb hat doch den Borgia-Kopf gesucht und erwartete, ihn im Safe zu finden. Sie sehen ja, der Safe ist offen.«

»Das weiß ich alles, Mr. Dodd...«

»Ja, aber, Menschenskind, verstehen Sie denn gar nichts?« zeterte Dodd und erwischte den Inspektor diesmal wirklich bei den Rockaufschlägen. »Er war gar nicht im Safe, der Kopf. Wenn er im Safe gewesen wäre, wäre der Dieb sofort gegangen. Aber er ist nicht gegangen. Er hat noch den ganzen Raum durchsucht.«

Der Millionär machte eine bezeichnende Bewegung mit der Hand. »Der Kopf war nicht im Safe. Das ist der Grund für dieses Durcheinander hier. Bei der Suche ist der Dieb dann gestört worden, als dieser Polizist da läutete. Kapiert, was ich meine?«

»Nicht ganz, Mr. Dodd.«

»Ich meine, dass die allergrößte Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Kopf überhaupt nicht gestohlen wurde«, erklärte Preston Dodd. »Der Dieb hat ihn nicht finden können. Er wurde durch die Türglocke gestört und musste türmen. In diesem Fall ist der Kopf noch hier.« Die Augen des Millionärs glänzten gierig. »Kendrick hat ihn hier irgendwo versteckt. Er gehört mir. Ich fordere mein Eigentum.«

»Mein sehr verehrter Mr. Dodd, das alles müssen Sie zur richtigen Zeit und am entsprechenden Ort mit Mr. Kendricks Anwälten besprechen«, sagte der Inspektor mit kaum verhohlener Wut. »Wenn dieser wertvolle Kopf hier ist, werden wir ihn finden, aber Sie dürfen nicht glauben, dass Sie ihn dann unter den Arm nehmen und als stolzer Besitzer hier herausspazieren können.«

»Ich habe doch den Scheck in meiner Tasche«, rief Dodd in wieder steigender Erregung. »Hier sehen Sie!« Und schon wieder erschien die Brieftasche, aus der Mr. Dodd diesmal ein längliches Stück Papier herausnahm und damit herumfuchtelte. »Mein Scheck über neunundvierzigtausend Pfund.«

»Tun Sie ihn weg, Sir«, sagte der Inspektor, dessen Geduld jetzt am Ende war. »Mr. Kendrick ist tot, und ob der Kopf nun hier ist oder nicht, Sie kriegen ihn bestimmt nicht. Sie müssen sich mit Kendricks Erben und seinen Anwälten auseinandersetzen. Das geht mich überhaupt nichts an. Und jetzt gehen Sie bitte in Ihr Hotel«, setzte er hinzu. »Ihre Gegenwart, Sir, stört.«

Mr. Dodd hörte überhaupt nicht zu.

»Da fällt mir gerade ein, dass Kendrick überhaupt nicht gesagt hat, er habe den Kopf hier«, murmelte er nachdenklich vor sich hin. »Er rief mich heute Abend an und verabredete sich mit mir. Kendrick war ein vorsichtiger Mann. Er hat vielleicht geahnt, dass etwas durchgesickert ist. In diesem Fall«, schloss Mr. Dodd mit einem tiefen Atemzug, »ist der Kopf in seinem Hotel oder bei seiner Bank deponiert. Natürlich! Er hat mir nicht gesagt, dass er ihn hier hat. Wenn er hier gewesen wäre, hätte er ihn in den Safe geschlossen. Er war nicht im Safe, sonst würde der Dieb nicht den Raum durchsucht haben.«

»Ich glaube, wir missverstehen uns, Mr. Dodd«, erklärte Hammond, der jetzt endgültig genug hatte. »Sie suchen diesen Kopf und können von nichts anderem reden. Ich suche Mr. Kendricks Mörder und pfeife auf Ihren verdammten Kopf. Von mir aus kann ihn gern der Teufel holen!« wetterte er plötzlich los. »Und jetzt gehen Sie bitte hier raus, ich will arbeiten.«

Preston Dodd verstummte. Er war namenlos verblüfft und starrte Hammond mit plötzlich erwachtem Respekt an. Aber er ging nicht weg. Er suchte sich ganz einfach den nächsten Stuhl, ließ sich hineinfallen und wischte sich die Stirn mit einem großen Taschentuch.

Der Inspektor wandte sich an Bradley. »Die Leute von Scotland Yard müssen jede Minute hier sein. Sie werden Ihnen eine Menge Fragen über Kendrick stellen, Bradley. Haben Sie Kendrick gut gekannt?«

»Mr. Kendrick? Nein, Sir.«

»Aber Sie sind doch schon längere Zeit in diesem Revier?«

»Ich kenne Mr. Gale ganz gut, Sir«, sagte der Wachtmeister. »Habe mich oft mit ihm unterhalten, wenn ich vorbeikam. Er leitet jetzt die Firma. Seit vielen Jahren schon. Mr. Kendrick ist fast nie mehr nach London gekommen.«

»Wissen Sie, ob Kendrick Verwandte hat?«

»Darüber kann ich nichts sagen, Sir.«

»Wenn er welche hat, muss man sich mit ihnen in Verbindung setzen«, meinte Hammond »Wie heißt Mr. Gale mit Vornamen?«

»Ich glaube Michael. Ja, natürlich, Michael Gale. Sehr feiner alter Herr.«

Hammond sah im Telefonbuch nach. Jawohl, Michael Gale hatte Telefon. Er wohnte in Balham. Aber ehe der Inspektor anrufen konnte, hörte man Schritte im Laden. Die Beamten von Scotland Yard waren angekommen.

Chefinspektor Cromwell sah verschlossen und mürrisch aus, während er sich von Hammond berichten ließ. Kriminalsergeant Johnny Lister stand dabei und zog es vor, intelligent dreinzuschauen. Andere Beamte machten sich geschäftig und schweigend an die Arbeit.

»Danke«, brummte Ironsides endlich. »Sie wissen also nur, dass Kendrick einen Herzschuss bekam, und zwar ungefähr zu der Zeit, als der Wachtmeister zum ersten Mal läutete. Vielleicht auch etwas vorher. Niemand hat den Schuss gehört, niemand hat den Mörder gesehen, der vermutlich durch die Hintertür entkommen ist. Ziemlich wenig, Hammond.«

»Ich weiß, Mr. Cromwell.«

»Und wer ist dieser Herr?«, fragte Ironsides, der schon mehr als einmal Mr. Dodd interessiert angesehen hatte.

Der Millionär schnellte wie ein Stehaufmännchen von seinem Stuhl.

»Mein Name ist Dodd - Preston Dodd, und ich möchte Sie nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass es mein Kopf ist«, sagte er in bestimmtem Ton. »Ich nehme an, dass Sie von Scotland Yard kommen, und kann Ihnen nur sagen, dass ich immer großen Respekt vor dem Yard gehabt habe. Ich will hoffen, dass Sie mich nicht enttäuschen. Es ist an Ihnen, meinen Kopf zu finden...«

»Scheint mir mehr Ihre Aufgabe zu sein, nachdem Sie ihn so offensichtlich verloren haben«, warf Cromwell bissig ein. »Wohl Amerikaner, was?«

»Sie wissen ganz genau, dass ich nicht von meinem eigenen Kopf spreche«, fuhr Dodd beleidigt auf. »Der Zeitpunkt für Witze scheint mir nicht besonders gut gewählt. Jawohl, ich bin amerikanischer Bürger«, setzte er würdevoll hinzu.

»Mr. Preston Dodd ist ein Kunde von Mr. Kendrick«, erklärte Hammond. »Er wohnt im Piccadilly-Hotel. Mr. Kendrick hatte sich für acht Uhr mit ihm verabredet, aber als Mr. Dodd hier ankam, war alles zu und Mr. Kendrick bereits tot.«

»Danke, schon gut«, sagte Ironsides. »Wir kommen noch zu den Einzelheiten. Was ist das für eine Geschichte, dass etwas gestohlen sein soll, irgendein Kopf oder was?«

»Der Borgia-Kopf«, fiel Dodd atemlos ein. »Er gehört mir. Mr. Kendrick wurde von mir beauftragt und hat ihn für mich besorgt. Ich gab ihm eine Anzahlung von tausend Pfund, den Rest wollte ich ihm heute bezahlen.«

»Den Rest?«

»Dieser Kopf muss ziemlich wertvoll sein«, warf Inspektor Hammond erklärend ein. »Der Preis betrug anscheinend fünfzigtausend Pfund.«

»Wenn der Kopf Mr. Dodd fünfzigtausend Pfund wert ist, wird er vermutlich für andere den gleichen Wert besitzen, und das ist ein völlig ausreichendes Motiv für den Mord«, brummte Cromwell und sah sich im Raum um. »Wird irgend so ein Kuriosum sein, vermutlich?«

Johnny Lister räusperte sich diskret.

»Nun?«, fragte Ironsides.

»Sie haben doch sicher schon etwas über den Borgia-Kopf gehört«, meinte Johnny. »Jahrhundertelang hat man ihn für eine Art Sage gehalten. Es gab keinen schlüssigen Beweis dafür, dass er jemals existierte. Lucrezia Borgia soll ihn einem Mann namens Benvenuto Cellini in Auftrag gegeben haben. Dieser Cellini war nämlich so was wie ein Fachmann auf dem Gebiet. Aber das Ganze ist eben eine Sage.«

»Bis vor kurzem«, warf Preston Dodd ein und sah Johnny anerkennend an. »Ich freue mich, dass Sie so gebildet sind, junger Freund. Kurz nach dem letzten Krieg, als man die Ruinen des Klosters Monte Cassino untersuchte, wurde eine erstaunliche Entdeckung gemacht.«

»Also gut, Sir«, unterbrach Cromwell trocken. »Dieser sagenhafte Kopf existiert wirklich nach dem, was Sie mir sagten, und Kendrick hat ihn für Sie erworben. Es scheint, dass jemand anders davon gewusst hat und Ihnen zuvorgekommen ist.«

»Aber ist dieser Jemand mit dem Kopf auf und davon?« fiel Dodd ein. »Das ist die Frage. Wie ich gerade dem Inspektor auseinandersetzte, scheint mir die Unordnung hier sehr bedeutsam zu sein. Der Mörder muss verzweifelt gesucht haben, was vermuten lässt, dass der Kopf nicht im Safe gewesen ist. Er wurde dann durch das Läuten gestört, und es ist möglich, dass er mit leeren Händen fliehen musste. Ist das klar? Und wenn das so ist, dann ist der Kopf noch hier - und gehört mir. Sie müssen sich das ein für alle Mal merken. Er gehört mir!«

»Wenn er noch hier ist, Mr. Dodd, wird er Ihnen nur dann gehören, wenn Mr. Kendricks Erben bereit sind, ihn zu verkaufen«, sagte Cromwell. »Mr. Kendrick ist tot, und Ihr Geschäft mit ihm ist hinfällig geworden. Aber das ist Ihre Angelegenheit.« Er wandte sich an Hammond und ließ Dodd einfach stehen. »Haben Sie eine Ahnung, ob Kendrick Erben hat, Verwandte, mit denen wir uns in Verbindung setzen können?«

»Als Sie ankamen, wollte ich gerade einen Mr. Gale anrufen«, antwortete der Inspektor. »Mr. Gale leitet das Geschäft, seit Kendrick sich zur Ruhe setzte. Vermutlich kann er über alles Auskunft geben. Er hat Telefon.«

»Dann los, rufen Sie ihn an.«

Der Inspektor musste einige Minuten warten, bis die Beamten das Telefon nach Fingerabdrücken untersucht hatten. Und während dann Hammond Mr. Gale von der Tragödie in Kenntnis setzte, wandte sich Ironsides wieder an Preston Dodd.

»So wie Sie sich ausdrückten, Sir, hatte ich erwartet, einen abgeschlagenen Kopf hier herumliegen zu sehen«, meinte er mit gereizter Stimme. »Was ist nun dieser Kopf wirklich, und warum ist er so wertvoll? Fünfzigtausend Pfund ist sehr viel Geld.«

Dodd war glücklich, sprechen zu können. »Eine Menge Geld!«, rief er wegwerfend aus. »Kendrick war verrückt, einen so geringen Preis zu fordern. Ich hätte hunderttausend Pfund bezahlt, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Borgia-Kopf ist einmalig. Das Hauptstück meiner Sammlung soll er werden. Es ist der Fund meines Lebens.«

»Sehr schön, aber wie sieht er aus? Eine Goldskulptur, die mit Brillanten gepflastert ist?«

Preston Dodd schauderte. »Großer Gott, nein. Nichts dergleichen. Er gehört zu den ersten Goldschmiedearbeiten von Cellini. Cellini war erst achtzehn Jahre alt, als er den Auftrag von Lucrezia Borgia erhielt, die übrigens ein Jahr später starb. Man sagt, dass sie von seiner Geschicklichkeit gehört hatte und sich wünschte, eine Arbeit von ihm zu besitzen.«

»Und wer, bitte, war Lucrezia Borgia?«

»Um Himmels willen, Old Iron«, protestierte Johnny schockiert. »Jeder Mensch weiß, wer Lucrezia Borgia war. Die Schwester des berühmten Cesare Borgia. Die Geschichte weiß einen Haufen über die Borgias zu sagen. Es heißt, sie waren Giftmörder von der Sorte: Setz dich zum Essen mit den Borgias oder trink ein Glas mit ihnen, und du bist ein Kind des Todes. Neuere Geschichtsforscher sind zu anderen Schlüssen gekommen, scheint es. Die Borgias sollen gar nicht so schlimm gewesen sein...«

»Hör zu, Johnny«, unterbrach ihn Ironsides mit unheimlicher Freundlichkeit, während seine Augen unter den buschigen Brauen wütende Blitze schossen, »wenn ich eine Geschichtsstunde nehmen will, kann ich zum Britischen Museum hinübergehen.«

»Aber der junge Mann hat vollständig recht«, sagte Preston Dodd. »Er hat die Geschichte ganz richtig im Kopf. Lucrezia Borgia beauftragte den jungen Cellini kurz vor ihrem Tod, diesen Kopf für sie zu bilden. Cellini war damals noch Lehrling bei einem berühmten Goldschmied in Florenz. Unglücklicherweise scheinen alle Goldschmiedearbeiten von Cellini verloren und vernichtet worden zu sein - mit einer Ausnahme. Das heißt, einer Ausnahme, bevor dieser Kopf gefunden wurde. Die Ausnahme, deren Echtheit nicht bezweifelt werden kann, ist das große Salzfass, das jetzt zum Wiener Kronschatz gehört. Cellini machte es für Franz den Ersten von Frankreich. Er hat auch Medaillen und Münzen und verschiedene Bildwerke in Bronze und Marmor geschaffen. Da ist zum Beispiel seine berühmte Perseus-Figur, das große Kruzifix im Escorial, seine Nymphe von Fontainebleau die zurzeit im Louvre...«

»Schon gut, Sir, schon gut«, schaltete sich Cromwell ein. »Cellinis Kunst und Können sind in Ordnung. Aber wir wollen uns jetzt mit dem Kopf beschäftigen.«

»Natürlich, natürlich - ganz einverstanden«, sagte Dodd, der etwas außer Atem schien. »Seit Jahrhunderten haben sich Geschichtsforscher mit einigen unbestimmten Andeutungen in Lucrezia Borgias erhaltenen Briefen beschäftigt und, vor allen Dingen, mit Hinweisen, die in Briefen von Cellini selbst enthalten sind. Es besteht kein Zweifel darüber, dass Lucrezia dem jungen Cellini den Auftrag gab, ihr einen Totenkopf aus Gold anzufertigen - ein, den Überlieferungen nach, entsetzliches Ding, fürchterlich anzuschauen, das sie einem ihrer Feinde zu schicken wünschte. Aber bis vor kurzem war dieser Kopf nicht mehr als eine Sage. Dann kamen die Bombenangriffe auf den Monte Cassino, und Jahre nach dem Krieg, im vorigen Jahr genau, wurde ein herrliches Kunstwerk, ein Totenkopf aus getriebenem Gold und geradezu erschreckend anzusehen, unter den Trümmern einer Mauer gefunden. Von der Entdeckung wurde nur im Flüsterton gesprochen. Kunstkenner aller Länder, darunter auch Kendrick, hatten den Kopf geprüft und endgültig als das Werk von Benvenuto Cellini anerkannt. Die Arbeiter, die den Kopf gefunden hatten, verunglückten kurze Zeit darauf tödlich, und ein berühmter italienischer Kunsthändler, der den Kopf erwarb, starb vor wenigen Monaten an den Folgen eines Verkehrsunglücks in Rom.«

Es wurde still im Büro. Das unheimliche Grollen des Gewitters draußen unterstrich noch das Schweigen in dem kleinen Raum.

»Und jetzt ist Kendrick, der augenblickliche Besitzer des Borgia-Kopfes, ermordet worden«, unterbrach Johnny Lister die Stille. »Ziemlich bedeutsam, finde ich. Auf dem grässlichen Ding scheint ein Fluch zu liegen.«

»Jedenfalls wird ihm nachgesagt, dass es jedem, der es besitzt, zum Verhängnis wird«, sagte Preston Dodd mit einer Befriedigung, die etwas Dämonisches an sich hatte. »Wo immer der Kopf auftaucht, bringt er den Tod. Das ist ein Grund, den die Historiker für sein Verschwinden angegeben haben. Er war ein Gegenstand der Furcht und des Schreckens und ist deshalb eingemauert worden. Er ist böse, sieht böse aus und schafft Böses.«

Bill Cromwell bewegte sich unbehaglich, als wollte er den Eindruck dieser Erzählung von sich abschütteln.

»Nach dem, was heute Abend hier geschehen ist«, meinte er rau, »sollte man annehmen, dass Sie nicht sonderlich daran interessiert sein können, das verdammte Ding zu kaufen. Kendricks tragischer Tod scheint die Fluch-Geschichte zu bestätigen, wenn ich auch nicht an solchen Nonsens glaube. Ich bin nicht abergläubisch - nie gewesen«, fügte er mit einer wegwerfenden Handbewegung hinzu.

»Vielleicht ist es ein Zufall, vielleicht auch nicht«, sagte Dodd mit einem sonderbaren Ausdruck in den Augen. »Ich weiß es nicht, will es auch gar nicht wissen. Dieselben Geschichten hat man über das Grab des Tut-anch-amun und den Hope-Diamanten erzählt, wie Sie sich erinnern werden, und wer könnte sagen, was an so einer Geschichte dran ist. Ich habe keine Angst vor Flüchen«, fügte er eigensinnig und herausfordernd hinzu. »Kendricks Tod ändert nichts an meinen Wünschen. Ich will den Borgia-Kopf. Jeder Sammler in Amerika wird mich beneiden. Der Kopf gehört mir. Ich habe das Geschäft mit Kendrick abgeschlossen, er hat meine Anzahlung angenommen, und hier bin ich, um den Rest zu bezahlen. Der Borgia-Kopf ist also mein Eigentum.«

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Bill Cromwell hatte keine Lust, Mr. Preston Dodd noch einmal auseinanderzusetzen, dass er den Kopf nur mit der Zustimmung von Kendricks Erben erhalten könne. Selbstverständlich hatte das Geschäft durch Kendricks Tod jede Rechtskraft verloren.

»Sie sollten versuchen, uns zu helfen«, forderte der Chefinspektor den Amerikaner auf. »Haben Sie eine Vermutung - irgendeinen Verdacht ~, auf welche Weise ein Außenstehender von Ihrem Übereinkommen mit Mr. Kendrick gehört haben könnte?«

Preston Dodd nahm die Brille ab, fuhr sich durch seine graue Mähne und schüttelte den Kopf.

»Ich jedenfalls habe keine Menschenseele eingeweiht«, sagte er. »Ich hatte viel zu große Angst. Sie müssen begreifen, Mr....?«

»Cromwell, Sir - Chefinspektor Cromwell.«

»Vielen Dank. Also Sie müssen begreifen, Mr. Cromwell, dass es bei einer solchen Sache auf strengste Geheimhaltung ankommt. Sobald etwas bekannt wird, stürzen die Kunsthändler der ganzen Welt wie die Aasgeier auf den fetten Bissen und versuchen, einem Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Es ist deshalb auch höchst unwahrscheinlich, dass Kendrick etwa nicht dichtgehalten haben sollte.«

»Und doch muss unser Mörder Witterung bekommen haben und war noch schneller als Sie«, stellte Ironsides fest. »Wir wollen hoffen, dass wir bald eine brauchbare Spur finden, die uns zu ihm hinführt.«

»Meinen Sie Fingerabdrücke?«

»Nein, Sir, dazu sind die Verbrecher heute viel zu schlau. Aber bei Gewaltverbrechen, ich meine bei Raubüberfällen oder Morden, stößt man oft auf eine Art Firmen-Logo. Bestimmte Verbrecher haben ihre eigenen Methoden.«

»Ich will von ganzem Herzen hoffen, dass Sie bald eine Spur entdecken, die zu diesem Schuft führt«, sagte Preston Dodd nachdrücklich. »Mein Gott! Wenige Minuten bevor ich den Schatz meines Lebens, den Borgia-Kopf, besessen haben würde, geht so ein Kerl auf und davon damit; das heißt, wenn er wirklich mit ihm davon ist. Ich habe das Gefühl, dass der Kopf noch hier ist. Sie müssen diese Bude einmal durchsuchen.«

Johnny Lister wandte sich angewidert ab. Nicht ein Wort des Mitgefühls für das unglückliche Opfer hatte dieser Dodd gefunden. Er war ganz und gar erfüllt und besessen von seinem Verlust. Kendricks Tod bedeutete für ihn nur, dass man ihn um den Besitz einer seltenen alten Skulptur gebracht hatte.

»Gewaltverbrecher sind immer hinter großen Geldbeträgen her - Lohngeldern einer Fabrik oder so was«, meinte Johnny nachdenklich. »Aber was kann der Kerl mit diesem Borgia-Kopf anstellen. Der ist doch viel zu heiße Ware. Wer würde denn den Teufelskopf zu kaufen wagen?«

Preston Dodd machte ein äußerst erstauntes Gesicht.

»Wer ihn zu kaufen wagen würde, junger Mann?«, wiederholte er. »Ich kann Ihnen sofort mindestens sechs Leute nennen. Reiche Amerikaner, die genauso wilde Sammler sind wie ich. Die alle hab ich überrunden wollen, jetzt wird vermutlich einer von ihnen mich überrunden. Der Dieb braucht meinen Kopf nur nach Amerika zu schaffen, und er kann ihn im Handumdrehen verkaufen - und zwar für den doppelten Preis! Sie müssen sich nämlich vorstellen, mein Lieber, dass der größte Teil dieser Sammler mehr oder weniger verrückt ist. Ich bin so die Mittelsorte. Ich sammle mein Zeug auf geradem Weg und in ehrlicher Weise; aber ich kann Ihnen drei oder vier Männer nennen - und ich sage Ihnen, es sind normalerweise feine Kerle -, die sich den Teufel darum scheren, mit welchen Mitteln sie das Zeug erbeuten. Hauptsache, sie kriegen es. Es gibt regelrechte Hamsterer. Die kaufen ein bekanntes Kunstwerk, von dem sie wissen, dass es unredlich erworben ist, und verstecken es, um sich ganz allein daran freuen zu können. Glauben Sie mir, der Gauner, der den Borgia-Kopf erwischte, hat ein Vermögen in den Händen - und er weiß es.«

»Sie haben natürlich recht«, stimmte ihm Cromwell erbittert zu. »Was ein wirklich wilder Sammler ist, der hat keine Skrupel. Er hat keine Zeit, sein Mitgefühl an einen armen Kerl zu verschwenden, der ermordet wurde.«

»Wie bitte?«, stieß Dodd hervor.

»Jawohl!«

»Was, zum Teufel, soll das heißen?«, erkundigte sich der Millionär in scharfem Ton. »Wenn Sie damit mich meinen...«

»Wenn Sie sich getroffen fühlen...?«, kam es augenblicklich zurück, und nach einer kleinen, gespannten Pause: »Ich will Ihnen genau sagen, was ich meine. Ich pfeife auf Ihren verdammten Kopf. Mich interessiert an dieser ganzen Sache nur die Person, die diesen harmlosen alten Mann kaltblütig umgelegt hat. Wenn dies verflixte Ding überhaupt nicht mehr auftaucht, in Gottes Namen, mir soll’s recht sein.«

Zum Glück für die erheblich erhitzten Gemüter ergab sich in diesem Augenblick eine Unterbrechung. Michael Gale erschien im Büro, ein zitternder, schwer getroffener alter Mann.

»Es ist also doch wahr«, rief er aus, nachdem er einige Worte mit Cromwell gewechselt hatte. »Natürlich, es muss ja wahr sein, sonst hätte man mir nicht eine solche Nachricht gegeben... Verzeihen Sie, ich bin ganz durcheinander. Armer alter Gus! Er war gesund und rüstig und hätte sicherlich noch viele Jahre gelebt. Hat er - hat er sich wohl sehr quälen müssen?«

»Er hat einen Herzschuss bekommen und war sofort tot.«

»Gott sei dafür gedankt! Es ist eine Beruhigung, wenigstens das zu wissen. Wenn ich irgendetwas helfen kann...«

»Ich würde gern einige Fragen stellen, Mr. Gale, wenn Sie sich nicht zu angegriffen fühlen. Was wussten Sie zum Beispiel über dieses Geschäft?«, erkundigte sich Cromwell.

»Welches Geschäft? Ich wusste nur, dass Kendrick hier in London einen Kunden treffen wollte.«

»Dieser Herr hier ist der Kunde«, erklärte Ironsides, auf Dodd weisend. »Er verhandelte mit Mr. Kendrick über den Erwerb eines Gegenstandes, der unter Bezeichnung Borgia-Kopf bekannt ist.«

Michael Gale riss seine wässerigen Augen weit auf.

»Großer Gott! Der Borgia-Kopf!«, flüsterte er überwältigt. »Das war’s. Ich hatte keine Ahnung, nicht den blässesten Schimmer hab’ ich gehabt. Ich wusste, dass er eine große Sache plante, aber Kendrick war nie sehr mitteilsam, müssen Sie wissen. Er hatte die unglückliche Angewohnheit, alles für sich zu behalten.« Der alte Mann machte ein vorwurfsvolles Gesicht. »Diesmal hätte er mich wirklich ins Vertrauen ziehen können.«

»Hat er denn überhaupt nichts angedeutet?«

»Ich weiß nicht recht - angedeutet schon... Heut’ Abend hat er etwas gesagt. Warte, Michael, sagte er mehrmals, bei dieser Sache springt auch für dich was raus, und nicht zu knapp, und dann lachte er. Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass ich an dem Geschäft verdient hätte. Er war immer sehr großzügig, und ich habe manche unverdiente Gratifikation erhalten. Also der Borgia-Kopf! Und ausgerechnet Kendrick hat diesen legendären Schatz erwischt. Sieht ihm ähnlich. Ich will nicht hoffen, dass der Kopf gestohlen wurde...«

»Wir wissen es nicht«, fuhr Dodd dazwischen. »Es ist nicht festzustellen, ob sich der Kopf tatsächlich hier befand. Der Safe war geöffnet, aber trotzdem ist der ganze Raum durchwühlt. Warum sollte der Mörder das getan haben, wenn der Kopf im Safe war. Haben Sie vielleicht beobachtet, dass Kendrick, als er heute ankam, einen Gegenstand im Safe eingeschlossen hat?« Dodd hatte Gale beim Arm gefasst und starrte ihn voller Hoffnung an.

»Wenn Kendrick einen Anfall von akuter Geheimniskrämerei hatte, ließ er sich nicht beobachten. Und außerdem war ich beim Mittagessen, als er kam.« Gale schüttelte bedauernd den Kopf. »Den anderen Angestellten ist es nicht erlaubt, sein Büro zu betreten«, fügte er nach kurzer Pause hinzu.

»Verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf, dass der Raum durchsucht worden ist, Mr. Dodd«, sagte Cromwell barsch, »und unterbrechen Sie mich gefälligst nicht.« Dann wandte er sich wieder an Gale. »Vielleicht können Sie uns etwas über Kendricks Verwandtschaft sagen. Hat er Angehörige? Man müsste sie ja unverzüglich in Kenntnis setzen, nicht wahr?«

»Um des Himmels willen, natürlich«, rief Gale erschrocken aus. »Verwandte? Ich kenne nur seine Nichte. Ein bezauberndes Mädchen, Vicky heißt sie. Das wird ein furchtbarer Schlag für sie sein, armes, armes Kind! Sie lebt bei ihm in Cumberland, müssen Sie wissen - lebte, muss ich jetzt wohl sagen. Es ist unbegreiflich, dass er tot ist.«

»Und ist diese Nichte seine einzige Verwandte?«

»So viel mir bekannt ist, ja. Jedenfalls hat er niemals andere Verwandte erwähnt, und ich kenne ihn seit zwanzig Jahren.«

»Wir müssen uns mit ihr in Verbindung setzen«, erklärte Cromwell. »Wissen Sie die Adresse in Cumberland?«

»Selbstverständlich. Ich habe Mr. Kendrick zweimal wöchentlich geschrieben. Mere Croft heißt sein Besitz; Mere Croft, Buttermere, genügt. Ich bin ein paarmal dort gewesen. Ein zauberhaftes Haus auf einem Hügel mit dem Blick auf das Meer. Es liegt sehr einsam. Mr. Kendrick hat Tausende für sein Heim ausgegeben - ich nehme an, alles dem Kind zuliebe. Er hat sie sehr geliebt.« Gale lächelte jetzt traurig. »Als er sie adoptierte, war sie noch ein Kind. Das war vor zwölf Jahren. Lieber Himmel, wie die Zeit vergeht. Vicky muss zwanzig sein - beinahe schon erwachsen.«

»Sie sprechen von ihr, als hätten Sie sie lange nicht gesehen.«

»Ich war vor drei Jahren zum letzten Mal in Mere Croft. Da besuchte sie noch die Schule«, erklärte Gale. »Ihr Vater war Sir Hubert Kendrick, der berühmte Herzspezialist«, fuhr er fort. »Er und Lady Kendrick sind im Rhonetal bei einem Flugzeugunglück umgekommen. Ich habe immer schon gedacht, dass mir das Fliegen nicht gefallen würde.« Der alte Mann wiegte sinnend den Kopf hin und her. »Man behauptet ja, dass es ganz sicher sei; es gibt Statistiken, die das beweisen. Aber ich sage mir, bei einem Eisenbahnunglück oder einem Schiffsunglück werden nur einige Leute getötet. Bei einem Flugzeugunglück sind immer alle tot.«

»Vollkommen richtig, Sir, man kann auch diesen Standpunkt einnehmen«, stimmte Ironsides mit einem nachsichtigen Lächeln zu. »Aber wir sprachen nicht von Flugzeugunglücken. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Safe und Schreibtisch und überhaupt den ganzen Raum jetzt überprüfen würden. Vielleicht können Sie uns sagen, ob irgendetwas fehlt - irgendetwas außer diesem Unglückskopf natürlich.«

»Unglückskopf ist eine unzutreffende Bezeichnung«, widersprach Gale bedächtig. »Der Borgia-Kopf ist die Sensation der ganzen Kunstwelt, obwohl vermieden wurde, die Presse davon zu verständigen. Wenn Mr. Kendrick es wirklich fertiggebracht hat, dieses Wunderding zu erwerben, hat er damit das Geschäft seines Lebens gemacht. Ich kann es gut verstehen, dass er noch viel heimlicher zu Werke ging als sonst.«

Hier konnte Preston Dodd sich nicht mehr zurückhalten. »Wie kommen Sie dazu, wenn zu sagen«, verwies er Gale mit ärgerlicher Stimme. »Kendrick hatte den Kopf, er rief mich an und sagte mir, dass er ihn habe. Er verabredete sich mit mir für acht Uhr, aber irgendein dreckiger Gauner...«

»Ganz richtig, Mr. Dodd, wir wissen das jetzt alle auswendig«, schnitt Ironsides dem Millionär das Wort ab. »Ich glaube wirklich, es wäre besser, wenn Sie jetzt in Ihr Hotel zurückgingen. Sie können hier nichts helfen.«

Mr. Preston Dodd machte nur ein eigensinniges Gesicht, aber er rührte sich nicht. Es gab zweifellos nur einen einzigen Weg, ihn loszuwerden: Gewalt. Aber selbst Cromwell, der sich bereits eine äußerst schlechte Meinung über Dodd gebildet hatte, war nicht besonders versessen darauf, einen reichen Amerikaner mit so drastischen Maßnahmen zu verärgern. Leute in seiner Stellung und mit seinem Einfluss konnten die Hölle über Scotland Yard loslassen, wenn man sie nicht zu nehmen wusste.

Inspektor Hammond gab zu verstehen, dass er Cromwell einen Augenblick allein sprechen wolle, und sie zogen sich in den Laden zurück.

»Keine Fingerabdrücke, Mr. Cromwell. Und nirgends eine Spur von dem verdammten Kopf. Keine charakteristischen Merkmale, die auf einen der bekannten Gauner weisen. Dem Mann, der heute Abend hier gewesen ist, sind wir noch nie begegnet - meiner Meinung nach.«

»Eine Erkenntnis, die uns entschieden weiterhilft«, stellte Ironsides leicht ironisch fest. »Wie steht es mit dem Geschoss?«

»Muss noch rausgeholt werden, Sir, und solange wir nicht wissen, welche Waffe benutzt wurde, bringt uns das auch nicht weiter.«

Michael Gale gesellte sich zu ihnen und berichtete, dass ein oder zwei Kleinigkeiten aus dem Safe und vom Schreibtisch fehlten. Wenigstens käme es ihm so vor. Sicher sei er nicht. Ein wertvoller Skarabäus, ein kleines Goldkästchen, eine chinesische Brosche und noch einiges andere. Natürlich könne sie auch Kendrick fortgenommen haben.

»Mit anderen Worten, Mr. Gale, es ist unmöglich, zu behaupten, dass der Mörder diese Sachen mitgenommen hat«, stellte Cromwell fest. »Hat er sie wirklich, könnte uns das weiterhelfen, denn wenn er versucht, die Dinger loszuwerden, kommen wir ihm auf die Spur. Riesenhoffnungen sind das!«, schnaufte er verächtlich. »Aber trotzdem sollten Sie uns eine genaue Liste und Beschreibung dieser Dinge geben. Wir werden den gewohnten Weg verfolgen und jedes Leihhaus in England verständigen.«

»Die Tatsache, dass diese Gegenstände fehlen, überzeugt mich davon, dass der Mörder auch den Borgia-Kopf mitgenommen hat«, verkündete Hammond. »Der Kopf lag auf Mr. Kendricks Schreibtisch zur Übergabe an Mr. Dodd bereit. In der obersten Schublade des Schreibtisches liegt ein alter Revolver, und ich denke, dass der Mord sich ungefähr folgendermaßen zugetragen hat: Kendrick ließ den Mörder ein. Er glaubte, sein Kunde wäre etwas früher gekommen, und erkannte seinen Irrtum zu spät. Daraufhin hat er wahrscheinlich versucht, den Revolver aus der Schublade zu holen, und wurde hierbei erschossen. Der Mörder öffnete nun den Safe, durchwühlte den Raum und raffte so viele Wertgegenstände zusammen, wie er irgend tragen konnte. Auf Bradleys Läuten verduftete der Kerl durch die Hintertür.«

»Könnte richtig sein«, stimmte Cromwell nachdenklich zu.

In diesem Moment wurde Ironsides’ und Hammonds Aufmerksamkeit durch eine frische, junge Frauenstimme abgelenkt, die sich von der Ladentür her vernehmen ließ. Der Beamte, der dort Wache hielt, schien sich mit der Dame nicht einigen zu können.

»Tut mir leid, Miss«, hörten sie ihn sagen, »aber Sie dürfen nicht rein.«

»Selbstverständlich darf ich rein«, gab die sympathische Stimme zurück. »Was ist denn überhaupt hier los? Onkel Gussy wird doch nicht beraubt worden sein?«

»Großer Gott!«, flüsterte Ironsides entgeistert. »Die Nichte! Ich denke, sie lebt in Cumberland. Und wie vergnügt sie noch ist! Hat keine Ahnung, was hier los ist. Was für eine verdammte Situation.«

Dann raffte er seinen ganzen Mut zusammen - er wusste ja, dass ihm niemand diese schreckliche Aufgabe abnehmen konnte - und ging auf die Ladentür zu.

»Geht in Ordnung - die junge Dame kann hereinkommen!«, rief er dem Beamten zu. Dann wandte er sich sehr ernst an die unerwartete Besucherin. »Miss Kendrick? Mein Name ist Cromwell - von Scotland Yard.«

»Hu, wie aufregend, Scotland Yard ist auch da«, rief das junge Mädchen. »Kein Wunder, dass Onkel Gussy mich versetzt hat. Hier ist’s ja viel interessanter. Ich wette, dass er wie ein brüllender Löwe in seinem Büro herumrennt. Stimmt’s? Ist er im Büro? Ich muss ihn doch trösten gehen.«

Tief in seinem Polizeiherzen fluchte Bill Cromwell heftig. Da hatte er nun ein fröhliches, hübsches Mädchen in einem zauberhaften Abendkleid vor sich, das keine Ahnung von der fürchterlichen Wahrheit hatte, die er ihr jetzt sagen musste.

Aber bevor Ironsides den Mund aufmachen konnte, merkte sie, wie ernst er war, und ihre blauen Augen öffneten sich weit.

»Ist meinem Onkel etwas passiert?«, fragte sie schnell. »Bitte, sagen Sie es mir gleich. Versuchen Sie nicht, mich zu schonen.«

»Ich danke Ihnen, dass Sie mir meine schwere Aufgabe erleichtern, Miss Kendrick«, sagte Cromwell. »Ja, es ist etwas geschehen. Mr. Kendrick ist tot.«

Vicky Kendrick blieb regungslos stehen. Die Nachricht hatte sie einen Augenblick gelähmt, aber in diesem Augenblick zerriss ein greller Blitz den Himmel, tauchte die ganze Ladenfront in ein gespenstiges blauweißes Licht, und gleichzeitig donnerte es, als wäre eine schwere Bombe neben ihnen eingeschlagen. Der plötzliche Lärm riss Victoria Kendrick aus ihrer Betäubung.

»Was ist geschehen?«, fragte sie tonlos. »Hat er einen Schlaganfall gehabt? Wo ist er? Oh, wo ist er? Im Büro? Ich muss ihn sehen.«

»Ja. Miss.«

»Ich bin froh, dass es nicht auf der Straße geschah. Bitte, ich will ihn sehen.« Sie hatte sich hoch aufgerichtet, und ihre Augen waren feucht, hatten aber einen entschlossenen Ausdruck angenommen. »Ich habe keine Angst«, sagte sie ruhig, »aber ich muss ihn sehen.«

Und mit diesen Worten lief sie an Cromwell vorbei, ehe der lange, gelenkige Mann auch nur eine Bewegung machen konnte, um sie aufzuhalten. Er verfluchte seine Ungeschicklichkeit.

»Miss Kendrick, warten Sie, Sie wissen ja nicht...«, rief er ihr nach.

Aber Vicky beachtete ihn gar nicht. Sie stürzte durch den langen, dunklen Laden auf das Büro zu und lief mit vollem Schwung Johnny Lister in die Arme, der gerade nachsehen wollte, was im Laden vorging.

»Festhalten, Johnny!«, befahl Ironsides.

»Festhalten?«, wiederholte der verblüffte Johnny, »aber verdammt noch mal - Oh, Verzeihung, Miss, aber der Chefinspektor sagt...«

»Ihr Onkel starb nicht an einem Schlaganfall, Miss Kendrick«, teilte ihr Cromwell mit, als er die beiden erreicht hatte, und legte seine große Hand beruhigend auf ihren Arm. »Er wurde mitten durchs Herz geschossen. Verzeihen Sie mir, dass ich Ihnen so brutal die Wahrheit sage, aber es ist besser so. Er ist ermordet worden, Miss Kendrick, und ich glaube nicht, dass Sie ihn sehen sollten.«

»Ermordet?«, flüsterte Vicky Kendrick, und ihre Stimme war erfüllt von Grauen. »Wie entsetzlich! Von wem? Das kann ja gar nicht sein! Er sagte mir, dass er mit Mr. Dodd etwas besprechen wolle. Es würde etwa eine Stunde dauern. - Er hatte doch Theaterkarten für uns besorgt. Wir wollten uns im Theater treffen, und dann kam er nicht. Ich habe mich nicht einen Augenblick gesorgt, weil er immer alles vergisst. Ich nahm ein Taxi und bin hergekommen... Armer Onkel Gussy! Ermordet! Ich kann es einfach nicht fassen.«

Sie warteten schweigend, bis Vicky den ersten Schrecken überwunden hatte. Johnny und Ironsides bewunderten ihre tapfere Haltung. Kein hysterischer Anfall - kein Tränenstrom, nur das hübsche, eben noch so fröhliche Gesicht war jetzt vor Kummer verzerrt.

»Ich hatte mich so auf diese London-Fahrt gefreut«, erzählte sie mit tonloser Stimme. »Es war ein seltenes Vergnügen für mich. Mein Onkel nahm mich nicht oft mit, und bei uns in Buttermere ist es sehr still...« Sie schüttelte verständnislos den Kopf, und ihr schönes, blondes Haar leuchtete golden im Lampenlicht. »Es ist grauenvoll, dass ganz plötzlich so entsetzliche Dinge geschehen. Ich war im Taxi noch aufgebracht über Onkel Gussy, weil er nicht gekommen war. Ich wollte ihn tüchtig zusammenschimpfen, und nun...«

Sie brach mit einem trostlosen, trockenen Schluchzen ab, wandte sich um und bemerkte gerade noch, dass der schlanke junge Mann einen schnell aufgerafften Regenmantel über die Gestalt geworfen hatte, die auf dem Schreibtischstuhl saß. Es ist sehr fraglich, ob Johnnys rücksichtsvolle Tat ihren Zweck erfüllte, denn der formlose Haufen unter dem Regenmantel sah eigentlich noch grauenvoller aus als Old Gus Kendricks lebloser Körper.

»Diese junge Dame...«, begann Preston Dodd, verstummte aber wieder.

»Mr. Kendricks Nichte«, brummte Cromwell. »Kennen Sie den Kunden Ihres Onkels, Miss Kendrick?« fügte er in ganz anderem Ton hinzu. »Das ist Mr. Preston Dodd.«

»Nein, wir haben uns niemals gesehen. Ich wusste, dass mein Onkel um acht Uhr mit einem Mr. Dodd verabredet war. Er sagte mir, dass wir dann noch zum zweiten Akt zurechtkommen würden.« Vicky brach ab und drückte das Taschentuch an die Augen, fand aber ihre Fassung gleich wieder. »Es tut mir schrecklich leid, Mr. Dodd, auch für Sie muss Onkel Gussys Tod ein furchtbarer Schreck gewesen sein.«

»Und was das für ein Schrecken war, mein liebes Kind«, stimmte Dodd eifrig zu. »Ich habe einen Scheck über neunundvierzigtau- send Pfund in der Tasche, und ich rechnete fest damit, dass ich um diese Zeit längst der Besitzer des Borgia-Kopfes sein würde.«

»Zur Hölle mit dem Borgia-Kopf!« explodierte Cromwell. »Wie können Sie es wagen, Miss Kendrick in diesem Augenblick mit Ihrem dreimal verfluchten Kopf zu kommen. Fällt Ihnen überhaupt nichts anderes ein?«

Vicky war bei Cromwells Ausbruch erschrocken zusammengefahren.

»Ich verstehe gar nichts«, sagte sie einfach.

»Ihr Onkel hatte von Mr. Dodd den Auftrag erhalten, ein altes Kunstwerk für ihn zu erwerben, den sogenannten Borgia-Kopf«, erklärte Cromwell, Dodd mit wütenden Blicken durchbohrend. »Nach allem, was man hört, ein außerordentlich interessantes Stück.«

»Ein einmaliger Schatz, der Kauf seines Lebens«, fiel Mr. Gale ein. »Flat Ihr Onkel Ihnen davon erzählt, Miss Vicky?«

»Oh, Mr. Gale«, rief das Mädchen, und ein Lächeln erhellte einen Augenblick ihr trauriges Gesicht. »Ich hab’ Sie Ewigkeiten nicht gesehen. Nein, mein Onkel hat mir nichts erzählt.« Sie brach ab, und plötzlich breitete sich ein Ausdruck des Verstehens über ihr Gesicht.

»Jetzt weiß ich auch, warum er in den letzten Wochen so ruhelos und aufgeregt war - die ganze Zeit seit dem Besuch des italienischen Herrn. Er war in freudiger Erwartung wie ein Kind vor Weihnachten, und wenn ich ihn fragte, was er vorhabe, wollte er niemals mit der Sprache heraus. Er hat mir immer nur gesagt, dass ich bald eine große Überraschung erleben würde. Daraus schloss ich, dass er irgendein großes Geschäft plante. Mehr weiß ich nicht. Mein Onkel war sehr zurückhaltend, was seine Geschäfte anging. Seit Jahren wusste ich, dass es zwecklos war, ihn auszufragen.«

»Sie haben einen Italiener in Buttermere zu Besuch gehabt?«, erkundigte sich Cromwell aufhorchend.

»Ja, vor drei Tagen. Er blieb über Nacht und fuhr am nächsten Tag ab. Ein kleiner, dürrer älterer Mann, der nur wenig Englisch konnte.«

»Der Kurier aus Italien«, sagte Gale. »Das ist natürlich der Mann gewesen, der den Kopf gebracht hat. Ihr Onkel muss den Kopf also heute mit nach London genommen haben, um ihn Mr. Dodd zu übergeben.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Vicky ohne jedes Interesse zu. »Ist das so wichtig? Offen gestanden, es ist mir ganz egal, was mit dem Unglückskopf geschehen ist.«

»Wie groß ist er denn eigentlich?«, erkundigte sich Cromwell. »Hat einer von Ihnen eine Ahnung?«

»Lebensgröße und höchstwahrscheinlich sehr schwer, da er aus Gold ist. Vielleicht ist er innen hohl, aber auch dann muss er ein anständiges Gewicht haben.«

»Lebensgröße«, überlegte Ironsides laut, »und dann wird so ein Wertobjekt doch sicherlich noch gut verpackt, mit viel Papier und so... Da müsste also schon ein Koffer sein. Ist hier ein Koffer gefunden worden?«

»Aber Onkel Gussy hatte keinen Koffer mit«, sagte Vicky, deren Interesse wider Willen erwacht war, »er hatte nur eine kleine Aktentasche.«

»Sind Sie ganz sicher, Miss Kendrick?«

»Ganz sicher. Wir sind zusammen hergefahren«, antwortete sie. »Er sagte mir noch zu Hause, dass wir im Savoy-Hotel übernachten würden, und ich habe ihn dann gefragt, ob er Pyjama, Zahnbürste und Rasierzeug mithätte. Er behauptete, dass alles in der Aktentasche sei, aber ich kann es mir kaum vorstellen, Jedenfalls war sie ganz dünn, die Aktentasche.«

»In Aktentaschen geht oft mehr hinein, als man von außen sehen kann«, meinte Cromwell.

»Großer Gott!« Dodd hielt es nicht mehr aus. »Der Kopf ist nicht in einer Aktentasche transportiert worden. Es ist albern, so etwas auch nur in Betracht zu ziehen. Kendrick hat ihn nicht mit nach London gebracht. Er hat ihn einfach in Buttermere gelassen. Da ist er noch - und nicht gestohlen. Hören Sie zu, Miss Kendrick, der Kopf gehört mir. Ich habe das Geschäft mit Ihrem Onkel abgeschlossen.«

»Aber natürlich ist der Kopf zu Hause«, stimmte Vicky zu. »Ist denn das jetzt so wichtig? Mein Onkel ist tot. Wie kann man sich da überhaupt mit diesem Kopf beschäftigen.«

»Miss Kendrick«, sagte Dodd sehr langsam und bestimmt, »ich bedaure sehr, dass Sie mich für gefühllos halten. Diese Polizeileute hier sagen mir das schon seit einer Stunde. Sie müssen sich aber auch in meine Lage versetzen. Ich kannte Ihren Onkel kaum. Für mich war er der Kunsthändler, der mir den Borgia-Kopf besorgen sollte. Ich bedauere diese Tragödie aufrichtig, bedauere Sie als seine nächste Anverwandte und bedauere auch ihn, aber ich habe mit Mr. Kendrick ein Geschäft eingeleitet, und wenn der Kopf in Buttermere ist, will ich ihn haben. Geschäft bleibt Geschäft, und ich bin Geschäftsmann. Haben Sie den Kopf eigentlich jemals gesehen?«

»Nein, ich wusste nicht einmal etwas davon. Der Italiener hatte eine große Kiste mit, und diese Kiste hat mein Onkel bestimmt nicht mit nach London gebracht. Folglich muss sie noch zu Hause sein. Dabei fällt mir etwas ein. Kurz vor seiner Abreise hat mein Onkel noch etwas zu Mrs. Broughton gesagt.«

»Und wer ist Mrs. Broughton?«

»Oh, unsere Haushälterin«, beantwortete Vicky Cromwells Zwischenfrage. »Er sagte, dass wir einen Gast aus London mitbringen würden, der ein oder zwei Tage bleiben wolle, und bat sie, das Gästezimmer zurechtzumachen.«

»Hatte Mr. Kendrick Sie nach Buttermere eingeladen, Mr. Dodd?«, erkundigte sich Cromwell.

»Nein. Ich hatte gedacht, dass ich den Kopf hier in Empfang nehmen könnte.«

»Echt Kendrick«, unterbrach Gale eifrig. »Immer so geheimnisvoll wie möglich. Natürlich hatte er Angst, den Borgia-Kopf nach London zu transportieren. Viel zu großes Risiko. Wüsste man nur, ob er einen bestimmten Verdacht hatte. Es sieht doch beinahe so aus. Er wollte also Mr. Dodd nach Buttermere mitnehmen, und die Übergabe sollte dort erfolgen. Dann wäre es Mr. Dodds Sorge gewesen, den Kopf fortzuschaffen.«

»Sehr wahrscheinlich hat er diesen Plan gehabt«, stimmte Cromwell zu. »Aber das ist Ihre Angelegenheit, Miss Kendrick - und Mr. Dodds natürlich. Was in Buttermere geschah und was für geschnitzte, getriebene oder goldene Köpfe dort herumstehen, geht mich überhaupt nichts an. Ich untersuche diesen Mordfall und...«

»Aber auch in dieser Beziehung ist jetzt eines klar«, sagte Dodd mit Überzeugung. »Der Kopf wurde nicht gestohlen. Der Mörder hat sein Ziel nicht erreicht. Das erklärt, warum das Büro durchsucht wurde. Der Kopf ist in Kendricks Landhaus. Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin.«

»Es tut mir leid, Mr. Dodd, ich möchte Sie nicht enttäuschen, aber ich würde nicht zu sehr erleichtert sein, wenn ich Sie wäre«, meinte Vicky. »Ich glaube nämlich nicht, dass wir den Borgia-Kopf je finden werden.«

»Und warum um des Himmels willen nicht?«, erkundigte sich Dodd maßlos verblüfft. »Der Kopf ist dort, muss da sein. Er liegt natürlich in Buttermere im Safe.«

»Wir haben keinen Safe in Mere Croft«, erwiderte Vicky mit besorgtem Kopfschütteln. »Es gibt nur einen Ort, wo der Borgia-Kopf versteckt sein könnte, und das ist die Schwarze Höhle.«

 

 

 

Viertes Kapitel

 

 

Die Männer in Old Gus Kendricks Büro starrten Vicky in äußerster Verwunderung an. Draußen hatte das Unwetter noch nichts von seiner Kraft verloren. Es blitzte fast ununterbrochen, und der Donner war so heftig, dass die Fenster klirrten.

Johnny Lister hatte Vickys Bemerkung nicht besonders aufgeregt. Überhaupt hatte er nur wenig Interesse für den Borgia-Kopf. Viel mehr berührte ihn die Selbstbeherrschung, mit der dieses junge Mädchen der Tragödie begegnete, die einen Schlußstrich unter ihr ganzes bisheriges Leben zog. Er bewunderte Vicky schrankenlos. Es kam schließlich nicht alle Tage vor, dass man einem so wunderhübschen Mädchen begegnete. Vicky war klein und zierlich und von einer zarten, blonden Schönheit, dass es ihm fast den Atem benahm. Aber hauptsächlich war es ihre tapfere Haltung, die ihn so für sie einnahm. Das tragische Unglück hatte sie schwer getroffen, aber in einer Lage, die bei anderen Mädchen nur hysterische Weinkrämpfe hervorgerufen haben würde, hatte sie sich fest in der Hand und begegnete der Situation mit Entschlossenheit und Mut.

Wie nicht anders zu erwarten, war es Mr. Preston Dodd, der das Schweigen brach.

»Die Schwarze Höhle?«, wiederholte er verständnislos.

»Ich weiß, es klingt albern, aber...«

»Es klingt völlig unwahrscheinlich«, unterbrach Dodd sie sichtlich gereizt. »Sie können den Borgia-Kopf nicht finden, weil er in der Schwarzen Höhle steckt. Wenn das nicht verrückt ist!«

»Es ist wirklich nicht verrückt - aber muss das alles jetzt sein?«, sagte Vicky mit einem flehenden Blick auf Cromwell und einer verzweifelten, hilflosen Handbewegung, »muss das jetzt sein, während mein armer Onkel dort liegt...«

»Sie sollten Mr. Dodd vielleicht doch eine kurze Erklärung geben«, meinte Ironsides. »In gewisser Weise hat er ja recht. Vielleicht sind wir etwas ungerecht gegen ihn. Mr. Kendricks Tod betrifft ihn nicht persönlich. Seine ganze Sorge gilt dem Borgia-Kopf, von dem Sie behaupten, dass er niemals gefunden wird, weil er, ganz wie im Märchen, in einer Schwarzen Höhle verborgen sei. Ich hasse Zeitverschwendung, aber Sie könnten Mr. Dodd sicher in wenigen Worten mitteilen, was das heißt.«

»Ach, das ist ein alter Familienscherz. Seit meiner Kindheit existiert er schon«, erzählte Vicky. »Mrs. Broughton, Trimble und ich hatten uns das ausgedacht, das heißt, ich glaube, es war Trimble, der den Namen Schwarze Höhle zum ersten Mal gebrauchte.«

»Trimble?«

»Trimble ist unser Butler. Ein lieber alter Mann. Er ist viel länger bei Onkel Gussy gewesen als ich; er sorgte schon für ihn, als mein Onkel noch in London lebte. Später, als Onkel Gussy mich dann adoptierte, fand er das Haus hier für ein Kind zu ungesund, und da er sich sowieso zurückziehen wollte, hat er dann Mere Croft gekauft und für einen Haufen Geld instand setzen lassen. Ja - und seitdem lebten wir eben dort.«

»Gut und schön, aber wann kommen wir denn nun zu Ihrer Schwarzen Höhle?« drängte der ungeduldige Dodd.

»Jetzt gleich, ich wollte gerade davon sprechen«, sagte Vicky. »Auch nachdem wir aufs Land gezogen waren, hat mein Onkel niemals aufgehört, sich für Kunstschätze zu interessieren. Von Zeit zu Zeit reiste er ins Ausland - nach Paris, nach Wien oder nach Kopenhagen - und brachte irgendeinen Gegenstand zurück, an den er sein Herz gehängt hatte. Dann saß er nachts in seinem Arbeitszimmer - manchmal stundenlang - und betrachtete seinen Schatz. Ich habe ihn immer damit aufgezogen. Irgendwann einmal fuhr er natürlich doch nach London und verkaufte ihn, aber bis dahin, solange wir das Ding im Haus hatten - lag es in der Schwarzen Höhle.«

»Leider kann ich noch immer nichts begreifen...«, fing Dodd an.

»Das ist es ja gerade, Mr. Dodd«, fiel Vicky schnell ein. »Ich nämlich auch nicht. Mein Onkel war ein schrecklicher Geheimniskrämer. Aus den geringsten Kleinigkeiten konnte er ein wahres Mysterium machen. Wir wussten nur, dass er seine Schätze an einem Geheimplatz versteckte, wahrscheinlich irgendwo im Haus. Aber wir haben niemals herausbekommen, wo, ob im Erdgeschoss oder oben oder gar im Keller oder auf dem Boden. Was habe ich alles angestellt, um etwas über seine seltsame Schwarze Höhle, wie ich sie immer nannte, aus ihm herauszuholen. Er hat dann meistens ganz verschmitzt gelacht und mir erklärt, dass ich sie niemals, auch in hundert Jahren nicht, finden würde. Er schwor hoch und heilig, dass niemand außer ihm das Versteck kenne und jemals kennen würde.«

»Ziemlich sonderbarer Mensch, Ihr Onkel«, bemerkte Ironsides.

»Ja, aber nur in dieser Beziehung«, erwiderte Vicky schnell. »In jeder anderen Richtung war er der liebste, beste Mensch auf Erden. Nur mit seinen Kunstschätzen tat er immer so geheimnisvoll - überhaupt mit Wertsachen jeder Art«, fügte sie nach kurzer Überlegung hinzu. »Wenn wir schon mal über Nacht ausblieben, was alle Ewigkeiten einmal vorkam, habe ich ihn immer ausgelacht, weil er alle Wertsachen, sogar dumme Kleinigkeiten wie Kragenknöpfe und silberne Löffel versteckte.«

»Aber, liebes Kind, wenn Sie das wussten, müssen Sie ihn dabei doch irgendwann einmal beobachtet haben«, entrüstete sich Dodd. »Sie müssen doch wenigstens wissen, in welches Zimmer er ging...«

»Sie können meinem Onkel wirklich nur ganz flüchtig gekannt haben, Mr. Dodd«, unterbrach Vicky ihn mit leichtem Kopfschütteln. »Nie in seinem Leben wäre er auch nur in die Nähe der Schwarzen Höhle gegangen, wenn wir dabei waren. Das machte er mitten in der Nacht, oder wenn zufällig niemand im Haus war. - Vielleicht existiert diese Schwarze Höhle auch gar nicht«, fügte sie hinzu. »Er lachte sehr, als wir den Scherz erfanden, und mag ihn vielleicht nur unseretwegen mitgemacht haben. Mein Onkel war so lustig, er hatte immer Freude am Humor, an jedem Scherz - und... er wird mir so entsetzlich fehlen«, setzte sie mit zitternder Stimme hinzu und brach in Tränen aus. »Müssen wir noch darüber sprechen«, bat sie leise, um dann aber gleich mit wiedergewonnener Fassung fortzufahren: »Die dumme, alte Schwarze Höhle kann ebenso gut seine Schreibtischschublade gewesen sein. Ich sagte Ihnen ja, es war ein Familienscherz.«

Preston Dodd sah keineswegs befriedigt aus.

»Ganz richtig, aber ob es nun eine Schublade oder eine Höhle unter dem Fußboden oder in den Dachsparren ist, die Tatsache bleibt bestehen, dass der Borgia-Kopf irgendwo im Haus Ihres Onkels steckt und - Er gehört mir!«, rief er mit wilder Beharrlichkeit aus. »Ich werde Sie nach Cumberland begleiten und...«

»Ich bedauere außerordentlich, Mr. Dodd, aber Sie werden nichts dergleichen tun«, unterbrach ihn Vicky empört. »In einer Woche vielleicht, wenn die Beerdigung vorbei ist und alle etwas zur Ruhe gekommen sind... Dann können Sie nach Mere Croft kommen, wenn Sie wollen. Aber jetzt nicht. Ich werde es nicht dulden.«

»Saubere Abfuhr«, brummelte Johnny begeistert, und er bemerkte auch in Cromwells Augen vollste Zustimmung.

»Aber mein Scheck...«

»Sie hörten doch, was die junge Dame sagte, Mr. Dodd«, fuhr ihn Ironsides an. »Sie müssen sich gedulden - und überhaupt sehe ich nicht ein, dass Sie uns hier noch länger aufhalten. Johnny, bitte begleite Mr. Dodd zur Tür.«

»Mit Vergnügen«, war Johnnys prompte Antwort. »Wenn ich bitten darf, Mr. Dodd.«

Der Millionär zog schon wieder seine Brieftasche, holte den Scheck heraus und gestikulierte wild damit in der Luft herum.

»Lassen Sie mich Ihnen wenigstens diesen Scheck übergeben, Miss Kendrick«, drängte er. »Neunundvierzigtausend Pfund. Damit wäre das Geschäft perfekt. Ich werde warten. Es macht mir gar nichts aus zu warten. Aber mit dem Scheck in Ihren Händen hätte ich ein ruhigeres Gefühl.«

Vicky wandte sich flehend an Cromwell, und dieser drängte Mr. Dodd mitsamt seinem Scheck schleunigst zur Bürotür hinaus. Mit einem erschütterten und verängstigten Blick auf die formlose Masse am Schreibtisch verließ auch Vicky Kendrick den Raum.

Um sicherzugehen, dass Mr. Dodd wirklich verschwand, begleitete Cromwell ihn hinaus. An der Tür blieben sie stehen, denn es goss immer noch in Strömen.

»Dieses Mädchen hat Schneid, und ich bewundere es«, sagte Dodd, »aber ich befürchte, dass sie Schwierigkeiten machen wird. Sie wird mich sicherlich an Kendricks Anwälte verweisen, und das bedeutet Verzögerungen und ewigen Ärger. Ich hasse Anwälte!«

»Wir haben alle unsere Sorgen, Mr. Dodd«, bemerkte Ironsides trocken. »Meine Sorge ist augenblicklich, Kendricks Mörder zu finden. Und ich glaube, dass Sie mich lange genug aufgehalten haben.«

Dodd überhörte die Spitze. Er schien einen Einfall zu haben, und schon wieder erschien die Brieftasche in seiner Hand. Dieses Mal entnahm er ihr ein Paket Fünfpfundnoten.

»Da, alter Freund, stecken Sie das ein«, sagte er leise. »Nur eine Kleinigkeit für besondere Gelegenheiten, und ich werde noch fünftausend Pfund - Pfund, nicht Dollar dazulegen, wenn ich den Borgia-Kopf von Ihnen kriege.«

»Was Sie ganz sicher kriegen werden, ist ein Jahr Gefängnis für Beamtenbestechung, Mr. Dodd, wenn Sie so weitermachen«, knurrte Ironsides. »Weg mit dem Geld.«

»Was? Sie wollen es nicht haben?«, fragte Dodd in fassungslosem Staunen.

»Nein.«

»Und wenn es gar keine Bestechung ist, nur ein Geschenk?«

»Nicht berechtigt, Geschenke anzunehmen«, fuhr ihn Cromwell an. »Guten Abend.«

Er drehte sich auf dem Absatz um, knallte die Ladentür zu und überließ es Mr. Dodd, allein durch den Regen in sein Hotel zu finden. Im Laden trat Johnny Lister zu ihm.

»Irgendjemand sollte Miss Kendrick in ihr Hotel bringen, Old Iron«, sagte er leise. »Sie hält sich phantastisch, aber die Reaktion muss jeden Augenblick kommen. Armes Kind! Und sie hat niemanden, der sich um sie kümmern kann.«

»Was ist denn mit Gale?«, fragte Ironsides ebenso leise. »Gale ist bestimmt verheiratet und hat irgendwo ein gemütliches Haus. Für sie war’ das jetzt bestimmt besser als irgend so ein kaltes Hotel. Vielleicht kann er sie mitnehmen. Alles in allem, Johnny, es ist doch ein Höllenleben!«

»Heh?«, erkundigte sich Johnny und starrte Cromwell mit Besorgnis an.

»Dieser Dodd hat mir gerade noch fünftausend Pfund angeboten, wenn ich ihm seinen blöden Kopf herbeizaubere«, schimpfte der Chefinspektor. »War ich jetzt Sherlock Holmes oder Hercule Poirot oder ein anderer dieser berühmten Detektive, hätt’ ich einen feinen Auftrag in der Tasche. Wie konnte ich nur diesen Beruf ergreifen! Was für ein Leben, Johnny!«

Sie fanden Michael Gale und Vicky hinten im Laden, und es war nur natürlich, dass die Unterhaltung der beiden sich ausschließlich um Old Gus Kendrick drehte. Cromwells Vorschlag, dass Vicky bei Gale übernachten solle, wurde von diesem mit Begeisterung angenommen.

»Selbstverständlich, ganz selbstverständlich!«, rief er aus. »Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin! Meine Frau und meine Tochter werden alles tun, um es gemütlich für Sie zu machen, Miss Vicky. Es ist ganz ausgeschlossen, dass Sie jetzt allein ins Hotel gehen.«

Vicky bedeckte ihre Augen mit der Hand.

»Das ist furchtbar lieb von Ihnen«, sagte sie mit unsicherer Stimme. »Ich möchte wirklich sehr gern mit Ihnen gehen, Mr. Gale. Wenigstens für eine Nacht, denn morgen - morgen werde ich ja die Beerdigung vorbereiten müssen.«

»Mr. Kendricks Anwälte werden alles besorgen«, sagte Gale. »Wir gehen morgen zusammen hin und besprechen das.«

»Ich werde meinen Onkel nach Cumberland überführen lassen«, sagte Vicky. »Er hat mir oft gesagt, dass er dort begraben werden will. Er liebte die Cumberlander Seenplatte - jeden Hügel und jeden kleinen See.« Einen Augenblick schien sie sich in Erinnerungen zu verlieren, aber sie nahm sich schnell wieder zusammen.

»Ich kann so gar nicht mit Ihnen gehen, ich muss erst zurück ins Hotel, um mich passender anzuziehen. Ich habe ja noch mein Abendkleid an.«

»Deine Aufgabe, Johnny«, fiel Cromwell prompt ein. »Vor der Tür steht unser Wagen. Fahr Miss Kendrick in ihr Hotel, bleib da, bis sie alles erledigt hat, und bring sie wieder her. In der Zwischenzeit werden Mr. Gale und ich das Büro noch einmal durchsehen.«

In diesem Augenblick erschien Inspektor Hammond.

»Ich habe eben mit Sergeant Beckett gesprochen«, sagte er. »Er hat eine Frau entdeckt, die Hausmeister-Frau, von dem Haus gegenüber. Sie sagt, dass sie kurz nach halb acht Uhr aus dem Fenster gesehen hat, und da wären gerade zwei Männer hier in diesen Laden gegangen.«

»Das ist wenigstens etwas«, meinte Cromwell. »Jedenfalls stimmt die Zeit. Noch was?«

»Leider herzlich wenig. Sie meint, ihr wäre das komisch vorgekommen, weil der Laden geschlossen war, und sie hat am Fenster gewartet, aber die Männer sind nicht wiedergekommen. Und dann blitzte es, und sie erschrak so, dass sie schleunigst vom Fenster weglief.«

»Zwei Männer also«, überlegte Cromwell. »Das kann stimmen. Ich dachte mir gleich, dass nicht nur einer hier war. Konnte sie die Männer beschreiben?«

»Nur sehr ungenau. Einer war ziemlich groß, und sie glaubt, dass er einen dunklen Regenmantel und einen weichen Hut hatte. Der andere war kleiner.«

»Ist das alles?«

»Alles, Mr. Cromwell.«

»Gut, ich werde mich gleich selbst mit ihr unterhalten. Ihr fahrt jetzt am besten los, Johnny. Gute Nacht, Miss Kendrick. Es kann sein, dass ich schon fort bin, wenn Sie wiederkommen.«

Sie schüttelten sich die Hand, und Johnny führte das Mädchen auf die Straße. Es goss noch immer, so dass sie im Laufschritt in den Wagen flüchteten.

Johnny fuhr ziemlich schnell, während Vicky stumm und verkrampft neben ihm saß. Im Stillen betete der junge Mann, dass sie nicht gerade jetzt zusammenklappen würde. Allein mit einem schluchzenden Mädchen in einem Wagen eingesperrt zu sein - wie entsetzlich!

»Gott sei Dank, dass das Gewitter losgebrochen ist«, bemerkte er, als sie den Piccadilly Circus überquerten. »Das gibt wenigstens frische Luft.« Er sprach, nur um zu sprechen. Es fielen ihm auch nur Gemeinplätze ein, aber alles war besser als dieses lastende Schweigen. »Wahrscheinlich wird es jetzt die ganze Nacht regnen«, fuhr er fort. »Ein Polizeiwagen wird Sie und Mr. Gale nach Balham bringen. Es war doch Balham, wo er wohnt, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Vicky teilnahmslos.

Sie bogen in den Haymarket ein, und das Mädchen starrte mit blicklosen Augen aus dem Fenster. Ein Autobus bog vor ihnen in die Fahrbahn ein, und Johnny musste langsam fahren.

Plötzlich beugte sich Vicky vor und preßte ihr Gesicht an die Scheibe. »Halt!«, rief sie atemlos.

»Wie bitte? Geht nicht - mitten im Verkehr.«

Er sah verwundert zu ihr hinüber und bemerkte, dass sie auf den Rücken eines großen, jungen Mannes im Regenmantel starrte, der gerade vorbeiging.

»Das ist jemand, den ich kenne«, sagte sie. »Wenigstens glaube ich, dass...«

Sie brach ab, da der junge Mann plötzlich in einem Gebäude verschwand. Dann lachte sie etwas nervös auf und ließ sich in den Sitz zurückfallen.

»Zu dumm von mir«, meinte sie. »Ich muss mich geirrt haben. Er ist gar nicht in London.«

»Wenn Sie sich überzeugen wollen...«

»Nein, nein, bitte fahren Sie weiter. Ich bin nur völlig durcheinander. Es muss der gleiche Mantel gewesen sein, das ist alles«, sagte Vicky. »Außerdem spielt es auch keine Rolle.« Sie lächelte, als sie sah, dass er sie besorgt beobachtete.

Johnny stellte keine Fragen.

Er wartete am Savoy-Hotel, bis sie - viel schneller als er gedacht hatte - wieder herunterkam. Sie trug jetzt ein leinenes Sommerkostüm, darüber einen durchsichtigen Nylonregenmantel und an den Füßen feste Straßenschuhe. In der Hand hielt sie einen kleinen Reisekoffer.

Als sie einstieg, stellte Johnny mit großer Erleichterung fest, dass sie viel gefasster war. Entweder hatte er eine ungewöhnlich gefühlsarme junge Dame vor sich, überlegte er, oder Victoria Kendrick verfügte über ganz besondere Charakterstärke. Persönlich neigte er zu der zweiten Möglichkeit.

Mr. Gale wartete schon, als sie in der Sackville Street ankamen. Ein Polizeifahrer nahm Johnnys Platz am Steuer ein, und der Wagen fuhr ab.

»Gott sei Dank! Endlich allein!«, stöhnte Bill Cromwell, als Johnny das Büro betrat. »Vielleicht können wir jetzt ein bisschen Arbeit hinter uns bringen. - Übrigens, wie hält sich das Mädchen?«, erkundigte er sich kurz.

»Prima!«

»Dacht’ ich mir. Die ist aus gutem Holz geschnitzt. War die beste Lösung, sie mit Gale nach Hause zu schicken.«

Johnny war zufrieden, dass Cromwell seine Meinung teilte.

»Was Neues?«

»Nichts. Ich habe mit der Hausmeister-Frau gesprochen. Ganz dumme Person«, brummte Cromwell verächtlich. »Ist nicht in der Lage, die Männer zu beschreiben. Dabei hat sie sie mindestens eine Minute gut gesehen. Na schön, sicher ist, dass die beiden diesen Laden kurz nach halb acht betreten haben - und das ist die entscheidende Zeit.«

»Irgendwas hier drinnen zu finden?«

»Hoffnungslos. Viel zu schlaue Brüder. Kein einziger Fingerabdruck. Gale sagt, dass ein paar Kleinigkeiten fehlen, aber auch das ist nicht sicher. Vollgepropft ist diese Bude mit dem alten Krempel aller Erdteile. Ich glaube, Johnny, wir müssen uns damit abfinden. Wir haben einen Verbrecher ohne eine einzige brauchbare Spur, und wir stecken fest, ehe wir angefangen haben.«

Zur gleichen Zeit ungefähr betrat Mr. Frederick Charles Brody ein Zimmer im dritten Stock des Piccadilly-Hotels, wo er bereits seit einigen Wochen wohnte, zunächst, weil es ein teures Hotel war und er gern gut untergebracht war, und dann auch, weil es sich ganz in der Nähe der Sackville Street befand.

Ted Willis, der im Zimmer auf und ab ging und nervös an einer Zigarette zog, fuhr bei Brodys Eintritt herum.

»Was, zum Teufel, hast du so lange gemacht?«

»Reg’ dich doch ab, Ted«, sagte Brody. »Informationen habe ich gesammelt. Ich weiß jetzt, dass der Kopf in Kendricks Landhaus an den romantischen Gestaden des Buttermere-Sees verborgen ist, wohin wir uns begeben werden.«

»Wie hast du das herausgebracht?«

Brody erklärte es ihm lang und breit.

 

 

 

Fünftes Kapitel 

 

 

Vicky Kendrick stand vor der Tür von Mere Croft und schaute sinnend auf die friedliche Landschaft. Vor ihr lag der Buttermere-See still und zauberhaft im Abendsonnenschein. Hinter dem See erhoben sich die Berge, in deren tiefen Schluchten die Bäche rauschten, die sich zu Vickys Füßen in den See ergossen. Im Westen ballten sich schwarze Wolken.

Vicky fröstelte trotz der Hitze.

»Hoffentlich kriegen wir kein Gewitter, Mrs. Broughton«, sagte sie. »Es würde mich an die schreckliche Nacht in London erinnern.«

»Ich fürchte, Liebes, Sie werden noch oft an diese Nacht erinnert werden«, gab die freundliche alte Frau zurück, die mit Vicky vor der Tür stand.

»In diesem Sommer hatten wir hier oben täglich ein Gewitter. Und der August ist sowieso der schlimmste Monat. Ich sage immer, dass die Hügel schuld sind. Sie ziehen den Regen an. Und trotzdem - ich liebe dieses Land. Mehr Regen als wir jemals brauchen können, das ist richtig, aber, Gott sei Dank, das schlechte Wetter hält nie lange an. Schnell gekommen und schnell vorüber und viel, viel Sonne zwischendurch.«

Vicky hörte gar nicht zu. Sie hatte sich in den fünf Tagen, die seit dem Unglück vergangen waren, erholt und sah gesund und lebenssprühend aus. Wenn sie auch innerlich noch schwer an ihrem Kummer trug, so zeigte sie es doch nicht und war bereit, vernünftig in die Zukunft zu sehen.

»Wir werden wohl nicht mehr lange hier bleiben, Mrs. Broughton«, sagte sie plötzlich.

»Ich weiß, Miss Vicky«, erwiderte die alte Frau, »das hatte ich mir schon gedacht...«

»Aber sagen Sie doch selbst«, unterbrach das Mädchen sie lebhaft, »warum soll ich mich hier in dieser Bergeinsamkeit vergraben? Mein Onkel ist tot, und ich bin ganz allein. Ich konnte es ihm niemals sagen, wie schwer es für ein junges Mädchen ist, in dieser ländlichen Stille zu leben. Ich wollte ihm nicht wehtun. Aber jetzt gibt es doch überhaupt keinen vernünftigen Grund mehr, warum ich hier bleiben sollte. Ich will nach London.«

»Auch das habe ich gewusst«, sagte Mrs. Broughton lächelnd. »Sie werden es einige Zeit in London aushalten, Miss Vicky, aber nicht lange, und Sie bekommen wieder Sehnsucht nach dem Lande.«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber wohin ich auch gehen werde, ich brauche Sie, liebe Mrs. Broughton«, sagte Vicky, sich an die alte Frau schmiegend. »Wir müssen morgen noch darüber sprechen. Jetzt muss Mr. Murray jede Minute kommen. Finden Sie es schlecht, von mir, dass ich tanzen gehe? So bald nach der Beerdigung, meine ich?«

»Unsinn, Kind«, entgegnete Mrs. Broughton herzlich. »Ich halte gar nichts von diesen altmodischen Sitten, dass man nirgends hingehen darf, wenn man um einen lieben Menschen trauert. Im Gegenteil, Sie müssen etwas unternehmen, damit Sie wieder klare Augen kriegen. Mr. Murray ist ein sehr netter junger Mann und ein sehr guter Tänzer.«

»Ach, er tanzt himmlisch«, sagte Vicky mit Gefühl.

»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass Sie auf sich aufpassen müssen. Sie sind ja ein vernünftiges Kind«, sagte die alte Frau gütig. »Aber Sie kennen Mr. Murray erst seit vierzehn Tagen, seit er im Old-England-Hotel auf Ferien ist. Er scheint auch eine Menge Geld zu haben, aber, Kindchen, Sie werden vorsichtig sein, nicht wahr?«

Vicky lachte. »Wenn du nicht vorsichtig sein kannst, sei brav«, zitierte sie fröhlich. »Schon recht, Mrs. Broughton, ich werde fürchterlich vorsichtig sein und schrecklich brav. Sind Sie jetzt zufrieden?«

Eine kurze Pause entstand.

»Haben Sie etwas aus London gehört, Miss Vicky?«, erkundigte sich Mrs. Broughton, das Thema wechselnd. »Hat man schon eine Ahnung, wer der Mörder ist?«

»Ich weiß nur, dass die Polizei im Dunkeln tappt. Sie haben keine Ahnung, wer der Täter ist, und ich fürchte, sie werden niemals eine Ahnung haben. Jedenfalls irgendwer, der glaubte, dass Onkel Gussy diesen Borgia-Kopf in seinem Büro hatte, und der ihn stehlen wolle. Ein schrecklicher Gedanke, dass Onkel Gussy sinnlos ermordet wurde.«

»Die Polizei tut immer wer weiß wie klug, aber wenn es darauf ankommt, ist nicht viel los mit ihr«, erklärte Mrs. Broughton mit strenger Missbilligung. »Diesen Kerl hätten sie längst fassen sollen. Man weiß wirklich nicht mehr, wo das noch hinführt auf dieser Welt. Überfälle und Morde alle Tage! Jetzt brechen sie sogar schon ein, um Fernsehapparate zu stehlen!«

»Es ist eine merkwürdige Sache mit dem Borgia-Kopf«, verfolgte Vicky ihren Gedankengang weiter. »Mein Onkel kann ihn nicht nach London mitgenommen haben, und hier im Haus ist er auch nicht. Er muss einfach in unserer Schwarzen Höhle sein.«

Vicky hatte mit Mrs. Broughton zusammen am Vortag Stunden damit zugebracht, das Haus vom Keller bis zum Boden zu durchsuchen. Old Gus Kendricks Arbeitszimmer war besonders sorgfältig geprüft worden. Sie hatten jedes Möbelstück abgerückt, jeden Schrank Stück für Stück geleert. Vicky selbst hatte mit Hilfe von Trimble den Teppich aufgehoben und die Fußbodenbretter untersucht, nur um festzustellen, dass sie alt und dick und seit Jahren nicht entfernt worden waren.

»Wir haben immer im Spaß von Mr. Kendricks Schwarzer Höhle geschwatzt, meinte Mrs. Broughton, »aber ich glaube nicht mehr daran. Ich lebe hier, seit Mr. Kendrick das Haus übernahm, und wenn jemand etwas wissen müsste, dann bin ich es.«

Die Unterhaltung wurde jetzt durch die Ankunft eines eleganten Aston-Martin-Sportwagens mit einem gutaussehenden, hutlosen jungen Mann am Steuer unterbrochen. Die schmale Straße, die am See entlangführte, lag etwas unterhalb des Hauses. Eine kurze Privatauffahrt führte zum Hausportal. Der Wagen hielt, und Vicky lief ihm schnell entgegen.

»Hallo, Vicky!«, rief der junge Mann und sprang aus dem Wagen. »Unser erstes Wiedersehen seit... Mein Gott, mir kommt es vor, als seien Wochen und Monate vergangen.« Er betrachtete sie kritisch und besorgt. »Sie sehen besser aus, als ich erwartete.«

»Den ersten Schock habe ich jetzt überwunden«, erwiderte das Mädchen ruhig. »Es war lieb von Ihnen, gestern und Montag anzurufen, aber ich konnte wirklich erst heute. Erst war die Beerdigung, und dann kam Mr. Spink, der Anwalt. Gott sei Dank, ich habe keine Minute Zeit zum Nachdenken gehabt, und jetzt bin ich froh, dass Sie mich mitnehmen. Finden Sie es sehr herzlos, dass ich mich auf das Tanzen freue?«

»So’n Unsinn, Dummchen«, sagte Harold Murray schnell. »Genau das brauchen Sie jetzt. Deshalb bitte schnell einsteigen!«, fügte er fröhlich lachend hinzu.

Harold Murray war groß, braungebrannt und sah bemerkenswert gut aus. Er hatte dunkles, welliges Haar, und wenn er lachte, zeigte er zwei Reihen herrlicher, schneeweißer Zähne, die genau so echt wie die Wellen auf seinem Kopf waren. Er trug tadellose graue Flanellhosen, ein weißes Hemd mit weichem Kragen und einen marineblauen Pullover mit dem Abzeichen seines Cricket-Clubs auf der Brusttasche.

Murray wendete geschickt, und sie fuhren in der gleichen Richtung davon, aus der er gekommen war. Die Straße führte am Buttermere-Arms-Hotel vorbei. Etwas weiter zurück an einem kleinen Abhang lag noch ein Hotel, aber Murray bog rechts in die Straße nach Keswick ein, die über den Newlands-Pass führt. Zwei spazierengehende Feriengäste sahen dem Wagen nach, als er an ihnen vorbeibrauste.

Vicky und ihrem Begleiter bedeuteten die Männer nichts, aber für diese beiden war zum mindesten Vicky von größter Wichtigkeit.

»Dies, mein lieber Ted, war Victoria Kendrick«, stellte der größere der beiden etwas einseitig vor.

Wie man sieht, haben wir es hier mit alten Bekannten zu tun: Mr. Frederick Charles Brody und Mr. Edward Willis, diese Woche in Buttermere-Arms-Hotel abgestiegen, wo sie sich den Reizen eines Ferienaufenthalts an den Cumberland-Seen hingeben - allerdings als Mr. Henry Simpson, Federhändler, und Mr. George Ryder, Großhändler. Sie waren im eigenen Wagen gekommen und verbrachten ihre Zeit mit Ausflügen an den See und leichten Klettertouren in den Bergen.

Brody hatte also sein Versprechen gehalten. Er war dem Borgia-Kopf zu seinem wahrscheinlichen Versteck nachgefahren. Als außerordentlich hartnäckiger Bursche, der in keiner Weise gewillt war, eine Niederlage hinzunehmen, war er auch mindestens ebenso vorsichtig und überlegt, wenn ihn nicht unerwartete Ereignisse zu drastischen Maßnahmen zwangen.

Im Augenblick sah er keinen Grund zu besonderer Eile. Ohne sich von vornherein auf einen bestimmten Plan festzulegen, wollte er zunächst die Lage peilen und prägte sich jede Einzelheit der Landschaft gründlich ein.

»Sie sah nicht besonders gebrochen aus, Charlie«, bemerkte Willis. »Lachte über das ganze Gesicht.«

»Du kannst von einem jungen, hübschen Mädchen nicht verlangen, dass es wie eine Trauerweide herumläuft, nur weil ihr Onkel nicht mehr mitmacht«, meinte Brody mit einem Achselzucken. »Mit der müssen wir rechnen, Ted. Sieht ganz so aus, als ob sie weiß, was sie will. Man hat schon viel zu großen Lärm um den verdammten Kopf gemacht. Sie wird ihn mit aller Kraft festhalten, um den Preis in die Höhe zu treiben.«

»Wenn sie weiß, wo er ist.«

»Idiot! Im Haus natürlich - und sie hat ihn. In London ist er nicht, das wissen wir. Er kann nur hier sein. Manchmal wird man mit Männern besser fertig als mit Frauen, aber wenn diese halbe Portion von einem Mädchen glaubt, sie kann mich übers Ohr hauen, wird sie verdammt schnell umlernen müssen.«

Inzwischen hatte Harold Murrays Wagen den Newlands-Pass längst hinter sich und fuhr im Abendsonnenschein durch Keswick. Um den Windermere-See zu erreichen, musste man einen Umweg fahren, da die steilen Hügel und Schluchten unpassierbar waren. Von Buttermere nach Windermere gab es keine direkte Verbindung. Man war gezwungen, über Keswick nach Ableside und Bowness zu fahren, wo das Old-England-Hotel am äußersten Ende des Windermere-Sees liegt.

Murray parkte seinen Wagen.

»Tanzen kann man erst in ungefähr einer Stunde«, sagte er, »aber eins von den Motorbooten legt gerade an. Wollen wir nicht eine kleine Fahrt auf dem See machen? Wir werden Ruhe haben, denn ich muss mit Ihnen sprechen.«

Es waren nicht viele Leute an der Anlegestelle, und das Boot legte bald wieder ab. Es fuhr nach Lakeside und würde in etwa einer Stunde nach Bowness zurückkehren - eine schöne Fahrt durch den kühlen Abend.

Vicky und ihr Begleiter hatten ein einsames Plätzchen an der Reling gefunden. Die meisten anderen Passagiere waren auf dem Oberdeck und rekelten sich in den Liegestühlen.

»Hier ist’s fein«, meinte Murray. »Hier können wir in Ruhe reden. Ist der See nicht zauberhaft bei dieser Beleuchtung?«

Vicky war schweigsam. Sie kannte Harold Murray erst seit vierzehn Tagen, dies war jetzt seine dritte Ferienwoche im Old-England-Hotel. Sie hatte ihn dort kennengelernt. Irgendjemand aus Windermere, der mit ihm verwandt war, hatte ihn ihr vorgestellt. Seine gute Erscheinung und sein fröhliches Lachen hatten ihr von Anfang an gefallen. Sie betrachtete ihn jetzt von der Seite. Ob er nicht doch zu hübsch war? Sie wusste nichts von ihm. Murray schien eine Menge Geld zu haben und es leicht und gern auszugeben. Er interessierte sich ganz offensichtlich für sie und hatte mit allen Mitteln versucht, sich ihr immer wieder zu nähern. Umso dankbarer war sie ihm für die taktvolle Zurückhaltung, die er in den letzten fünf Tagen gezeigt hatte. Er hatte sie wohl zweimal angerufen und ihr damit sein Mitgefühl gezeigt, aber bis heute nicht versucht, sie zu sehen. Das sprach für ihn.

Murray hatte ihr erzählt, dass er Architekt sei bei einer bekannten Londoner Firma, und eine gute Stellung habe. Aber das wusste sie nur von ihm, und sie erkannte zum ersten Mal, wie sie so neben ihm an der Reling stand, dass er kaum mehr als eine Ferienbekanntschaft war. Vicky hatte ein sehr stilles Leben in Mere Croft geführt, und wenn sie auch ein selbständiger Mensch war und einen ausgeprägten Charakter besaß, so hatte sie doch sehr wenig Erfahrung mit jungen Männern. Harold Murrays Aufmerksamkeit schmeichelte ihr, aber mit einem sechsten Sinn spürte sie, dass sie vorsichtig sein müsse.

Völlig ohne Grund fühlte sie sich unbehaglich. Vielleicht lag es am Wetter. Eine Schwüle lag über dem See - wie an jenem Abend, da ihr Onkel ermordet worden war.

Die leichte Brise, die sie ab und zu spürten, entstand nur durch die Bewegung des Schiffes, sonst war es vollkommen windstill. Der helle Sonnenschein war einer unheimlichen und ungemütlichen Gewitterbeleuchtung gewichen. Die Bäume an den Seeufern standen regungslos, kein Blättchen rührte sich. Es war bleiern schwül, und über den Claife-Höhen ballten sich schwere, schwarze Wolken zusammen.

»Ich hoffe, dass wir zurück sind, ehe es losgeht«, sagte Vicky, die sich plötzlich verlassen und verschüchtert fühlte.

»Hier kann uns nichts passieren, wenn es losgeht. Massenhaft Platz unter Deck.« Murray betrachtete den Himmel mit kritischen Blicken. »Vermutlich zieht das Wetter in Richtung Coniston ab. Aber hier in den Bergen weiß man es nie. Wir sind jedenfalls für die nächste Zeit sicher.« Plötzlich wurde auch ihm die unbehagliche Stimmung bewusst. »Was ist los, Vicky? Traurig?«

»Ich habe ein schlechtes Gewissen«, gab sie mit scheuem Lächeln zurück. »Wegen des Tanzens, meine ich. Vielleicht sollte ich Sie doch bitten, mich...«

»Aber natürlich, Kind. Wenn Sie so darüber denken, ist der Fall für mich erledigt. Es wird ziemlich dämmrig sein, wenn wir zurückkommen, und wir können uns still in den Hotelgarten setzen. Ehrlich gestanden, mir wäre das sogar...«

»Ach nein, wir wollen doch lieber tanzen«, fiel Vicky schnell ein, als sie das Zittern in seiner Stimme bemerkte.

»Wie ist’s gegangen in London?«, erkundigte sich Murray, das Thema ohne Überleitung wechselnd. »Ich las in der Zeitung, dass Chefinspektor Cromwell den Fall bearbeitet. Er soll der beste Mann im Yard sein.«

»Jedenfalls sieht er nicht so aus«, erklärte Vicky mit einer komischen kleinen Grimasse. »Er brummt die ganze Zeit und ist schrecklich kurz angebunden, und außerdem trägt er einen blauen Anzug, der überall glänzt und seit Jahren in den Ruhestand gehört. Trotzdem - ich mag ihn gern, und sein Adlatus ist ein ganz hinreißender junger Mann. Sie würden niemals glauben, dass er Kriminalbeamter ist, wenn Sie ihn sähen.«

»Und der geschäftliche Kram? Die Rechtsanwälte, meine ich. Ich hoffe doch, dass gut für Sie gesorgt ist, Vicky?«

»Mr. Spink, er ist der Chef der Firma Spink und Tutmouse in Lincolns Inn, war sehr freundlich zu mir und sehr geduldig«, sagte sie warm. »Er hat die Beerdigungsformalitäten erledigt und mich zu Onkel Gussys Bank begleitet. Nur mit dem Borgia-Kopf, das ist eine komische Geschichte, Harold«, fuhr sie nachdenklich fort und legte ihre hübsche Stirn in ernste Falten. »Er muss im Haus sein. Ich weiß doch, dass mein Onkel ihn nicht mit nach London genommen hat, und ich bin ziemlich sicher, dass dieser Italiener ihn nach Mere Croft brachte. Mein Onkel fuhr drei oder vier Tage vor dessen Ankunft nach London, und Sie wissen ja, was er da machte.«

»Woher in aller Welt soll ich das wissen?«

»Er hat fünfunddreißigtausend Pfund abgehoben«, sagte Vicky mit feierlicher, ehrfurchtsvoller Stimme. »Mr. Spink meint, das sei sonst nie vorgekommen. Mein Onkel soll immer größere Beträge per Scheck bezahlt haben. Aber dieses Mal hob er fünfunddreißigtausend Pfund ab, Harold.«

»Die hat der Italiener für den Kopf bekommen, das ist klar«, warf Murray ein, »es sei denn, das Geld ist noch im Haus.«

»Aber es ist nicht da«, unterbrach ihn Vicky. »Wir haben es jedenfalls nicht gefunden. Es könnte in der Schwarzen Höhle sein, aber auch das ist unwahrscheinlich. Er hat den Borgia-Kopf damit bezahlt und sollte fünfzigtausend Pfund von Mr. Dodd dafür bekommen.«

»Macht fünfzehntausend Pfund Provision für ein einziges Geschäft. Ganz nettes kleines Taschengeld.«

»Nicht wahr? Es kommt einem schrecklich viel vor. Aber vielleicht hatte mein Onkel schon vorher eine Summe hinterlegt. Ich weiß nur eines sicher, einen hübschen Teil dieser Provision wollte er mir schenken. Wie oft hat er mir in den letzten Wochen erzählt, dass ich eine Überraschung erleben würde...« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Mein Gott! Eine Überraschung habe ich erlebt, und was für eine. Armer Onkel Gussy! Und nichts hat er erreicht, nur sein Vermögen um fünfunddreißigtausend Pfund verringert.«

»Das kann man noch nicht sagen, Vicky. Der Unglückskopf muss ja im Hause sein, und wenn Sie ihn finden, wird Mr. Dodd sofort bezahlen.« Murrays Augen glänzten vor Erregung. »Ach, Vicky, ich würde mich so gern in Mere Croft umsehen. Ich mit meinen Architektenaugen könnte vielleicht etwas entdecken, was Ihnen entgangen ist, eine Unstimmigkeit in den Mauern etwa.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht!«, rief Vicky lebhaft aus. »Würden Sie das übernehmen, Harold?«

»Natürlich, sagte ich doch eben, mit Begeisterung. Feine Sache! Der Schatz von Mere Croft... Und ich werde nach ihm graben«, fügte er in jungenhaftem Enthusiasmus hinzu. »Ich reg’ mich jetzt schon maßlos auf. Aber von den fünfunddreißigtausend Pfund abgesehen, Vicky, Sie sind doch einigermaßen gesichert?«, erkundigte er sich mit forschendem Blick.

»Mr. Spink sagt, dass mein Onkel mir alles vermacht hat, Mere Croft, die Galerie und einen unvorstellbar großen Haufen Geld auf der Bank. Mr. Spink behauptet, dass ich reich bin.«

Murray sah sehr befriedigt aus.

»Das ist ja prächtig«, sagte er mit deutlicher Erleichterung. »Ich hatte Angst, dass der alte Knabe seine ganzen Ersparnisse abgehoben hätte, um diesen blöden Kopf zu kaufen und dass Sie mehr oder weniger in den Mond schauen müssten. Mein Gott, Vicky, das freut mich wirklich.«

Sie sah in sein gerötetes und erregtes Gesicht und fühlte wieder einmal leise Zweifel in sich aufsteigen. Seine offensichtliche Freude über ihre gute Vermögenslage löste ein Warnsignal in ihr aus. Wirklich, sie wusste einfach nichts von ihm, nichts außer dem, was er ihr selbst erzählt hatte...

»Darf ich morgen rüberkommen?«, fuhr Murray eifrig und ahnungslos fort. »Ich finde, weitere fünfunddreißigtausend Pfund schaden niemandem. Dieser Amerikaner nimmt den Kopf mit Handkuss, lassen Sie mich morgen rüberkommen und alles ansehen.«

»Es ist zu dumm«, sagte Vicky. »Diese alte Schwarze Höhle. Der Name allein ist schon kindisch. Aber ich war ja noch ein Kind, als wir ihn erfanden, um Onkel Gussy aufzuziehen. Jetzt fange ich an zu zweifeln, ob dieses Geheimversteck überhaupt existiert. Ich habe überall gesucht.«

»Das Haus ist doch sehr alt, nicht wahr?«

»Zwei- oder dreihundert Jahre wahrscheinlich. Es war ganz verfallen, als Onkel Gussy es kaufte. Damals war ich noch klein und habe es im ursprünglichen Zustand nicht gesehen. Aber ich weiß, dass er Tausende für die Instandsetzung ausgegeben hat. Es ist vollständig renoviert worden.«

»Und dabei kann er leicht einen Geheimtresor angelegt haben. Sie wissen nur nichts davon, weil Sie nicht da waren, als das Haus umgebaut wurde. Das gleiche gilt für Mrs. Broughton und das Personal.«

»Natürlich, Sie können recht haben«, stimmte Vicky zu. »Wenn Onkel Gussy an Altersschwäche gestorben wäre oder an irgendeiner Krankheit, hätte er mir sicher gesagt, wo die Schwarze Höhle ist. Oder er hätte Mr. Spink eingeweiht. Aber als wir jetzt nach London fuhren, war er frisch wie ein Fisch im Wasser und voller Lebensfreude und guter Laune. Wie sollte er ahnen, dass er in den Tod fuhr. Natürlich hat er niemandem etwas gesagt. Er hat nicht einmal ein Testament gemacht. Ich erbe sein Vermögen, weil niemand anderes da ist. Ich bin seine einzige Verwandte.«

»So ein plötzlicher Tod ist fürchterlich«, sagte Murray mitfühlend. »Aber wir müssen nun zusehen, wie wir ohne die Hilfe Ihres Onkels zurechtkommen. Ich will wirklich nicht angeben, Vicky, aber es könnte doch sein, dass ich etwas sehe, was Ihnen niemals aufgefallen wäre. Dabei fällt mir ein - was ist denn mit dem Architekten, der den Umbau vornahm? Der müsste doch eigentlich etwas über die Schwarze Höhle wissen.«

Vicky schüttelte den Kopf. »Mr. Spink hat daran gedacht und sich mit der Firma in Verbindung gesetzt. Nichts zu machen. Sie haben meinem Onkel auf Verlangen sämtliche Pläne ausgehändigt und wissen nichts.«

»Dann muss einer der Handwerker das Versteck eingebaut haben.«

»Auch daran hat Mr. Spink gedacht«, gab Vicky lächelnd zurück, »aber die Arbeiten wurden vor dem Krieg ausgeführt, und die Baufirma hat jetzt lauter neue Leute und kein Ahnung, wo sie die alten finden könnte, die damals hier waren. Die meisten sind im Krieg gewesen, einige wahrscheinlich gefallen. Sie sehen, dass wir alles versucht haben, aber es ist bis jetzt nichts dabei herausgekommen.«

»In diesem Fall«, sagte Murray mit verändertem Optimismus, »müssen wir die blöde Höhle selber finden. Ich darf doch morgen kommen, Vicky?«

Sie konnte nur Zusagen, und bis zum Schluß der Fahrt war Murray freudig erregt und voller Tatendrang.

Der Rest des Abends verging sehr schnell und angenehm für Vicky. Der Tanzabend im Old-England-Hotel war eine fröhliche, übermütige Veranstaltung. Die Feriengäste, meistens junge Leute, vergnügten sich und lachten. Der Saal war schön, die Musik ausgezeichnet und der ganze Abend voll unbeschwerter Ferienstimmung. Für Vicky genau die richtige Umgebung, alle ihre Zweifel zu vergessen.

Harold Murray tanzte ausgezeichnet, und sie hatte das Gefühl, durch den Ballsaal zu schweben. Als sie das Hotel verließen, war sie sehr glücklich und angenehm müde, und die kühle Luft erfrischte ihr erhitztes Gesicht. Mitternacht war vorüber, und eine kleine Brise hatte sich erhoben. Es blitzte so heftig, dass es aussah, als würde der Himmel in zwei Teile gespalten. Ein langer, grollender Donner folgte. Man konnte die ersten schweren Regentropfen fallen hören.

»Sieht so aus, als ob wir es jetzt gründlich abbekommen sollten«, sagte Murray, als er Vicky unterhakte, um sie zum Wagen zu führen.

Das Gewitter war offenbar um den See herumgezogen. In den letzten Stunden hatte es Windermere verschont, aber jetzt rächte es sich dafür mit doppelter Gewalt. Die beiden hatten kaum den Wagen erreicht, als ein Wolkenbruch herunterprasselte.

»Puh! Das war Rettung in letzter Minute«, rief Vicky atemlos. »Wir wären bis auf die Haut nass geworden. Können Sie bei diesem Wetter überhaupt fahren, Harold?«

Er lachte. »Kinderspiel gegen das, was ich letztes Jahr beim Rennen in Monte Carlo erlebte«, sagte er wegwerfend.

»Waren Sie dabei? Jede Wette, dass Sie als letzter ankamen.«

»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, als erster«, sagte Murray mit offensichtlicher Verlegenheit, die er mit Forschheit zu verdecken suchte. »Tut mir leid, Sie zu enttäuschen.«

Einen Augenblick kam es ihr in den Sinn, dass er aufschneiden könne. Sie besaß keine Möglichkeit, seine Angaben zu prüfen. Von der Monte-Carlo-Fahrt hatte sie nur ganz unbestimmte Vorstellungen. Es schien ihr eine Angelegenheit zu sein, bei der eine Anzahl geistig minderbemittelter Leute in sinnlos unbequemer Weise durch Europa rasten, und sich und andere totfuhren.

Aber zum mindesten bewies Murray jetzt, dass er ein erstklassiger Fahrer war. Er steuerte den Aston-Martin-Sportwagen mit überlegener Gelassenheit in der losgelassenen Hölle dieser Gewitternacht durch Keswick, über den gefährlichen Pass und hinunter nach Buttermere. Der Sturm raste mit fast unglaublicher Wut, während sie die schlimmsten Stellen des Passes überquerten, aber Murray blieb ungerührt und behielt den Wagen mühelos in der Hand. Vicky konnte die Straße nicht mehr erkennen. Die Wassermassen, die an der Windschutzscheibe herniederströmten, nahmen jede Sicht. Murray schien das nicht zu stören. Hin und wieder fuhr er etwas langsamer, das war alles.

Als sie endlich in Mere Croft ankamen, hatten Donner und Blitz aufgehört, aber der Sturm trieb noch immer den strömenden Regen vor sich her. Vicky kroch aus dem Wagen und rannte zur Haustür. Murray erreichte sie gerade, als sie ihren Schlüssel gefunden und die Tür aufgeschlossen hatte.

»Himmlische Heerscharen«, stöhnte Vicky atemlos und stürzte in die schwach erleuchtete Diele. »Schnell, Harold, kommen Sie herein, und machen Sie die Tür zu.«

Er kam der Aufforderung nach, hatte aber einige Mühe, die Tür zu schließen. Als er sie endlich ins Schloss gedrückt hatte, und Sturm und Regen ausgeschlossen waren, atmete er auf und sagte mit einem verlegenen Lächeln: »War nicht vorgesehen, dass ich noch reinkommen sollte - jedenfalls nicht um diese Stunde, noch dazu, wo alle schon schlafen.«

»Ich habe Mrs. Broughton gesagt, dass sie nicht auf mich warten

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Authors/Apex-Verlag.
Bildmaterialien: Giorgio Bettin (Model: Chiara Kia Giustinani.
Cover: Giorgio Bettin/Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Irene von Berg, Wulf Bergner, Rosmarie Kahn-Ackermann und Christian Dörge.
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2210-5

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /