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Leseprobe

 

 

 

 

ROBERT L. FISH

 

 

In Rio droht Gefahr

 

Roman

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

IN RIO DROHT GEFAHR 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

In Rio findet eine Konferenz der OAS statt. Botschafter und Außenminister vieler Länder werden erwartet.

Nacio Madeira Mendes, ein Auftragskiller, wird von Portugal nach Rio geschickt: Für die Summe von zwanzig Millionen Cruzeiros soll er Juan Dorcas, den Delegierten Argentiniens, aus dem Weg räumen....

 

Der Roman In Rio droht Gefahr des US-amerikanischen Schriftstellers Robert L. Fish (* 21. August 1912 in Cleveland, Ohio; † 23. Februar 1981 in Trumbull, Connecticut) erschien erstmals im Jahr 1967; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  IN RIO DROHT GEFAHR

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Die See war trügerisch ruhig gewesen, als der Frachter Santa Eugenia einen Teil seiner Ladung in Salvador de Bahia gelöscht hatte. Nun wurde sie immer rauer, und weiße Gischtfahnen wehten über die zunehmende Dünung, während das Schiff mit Südkurs an der brasilianischen Küste entlangfuhr. Der Morgenhimmel überzog sich mit drohenden schwarzen Wolken. Die auffrischende Brise brachte einen Hauch Kälte mit, und die rostigen Stahlplatten des Schiffsrumpfes protestierten knarrend, wenn der Bug in ein schwärzlich-grünes Wellental tauchte, als suche der Frachter dort den Grund für den plötzlichen Aufruhr der Elemente. In der kleinen Kombüse geriet das Geschirr ins Rutschen, und Töpfe klapperten. Im Mannschaftslogis schwankten die schwachen Glühbirnen gefährlich an den Litzen und warfen monströs verzerrte Schatten über die Kojen.

Auf der kleinen, offenen Brücke vor dem Ruderhaus stand Enrique Juvenal, der Kapitän der Santa Eugenia und studierte die letzte Funkmeldung über den Sturm, dessen Zentrum immer näher kam. Besorgt schüttelte er den Kopf. Kapitän Juvenal war ein vorsichtiger Mann. Er wusste, dass seine geliebte Santa Eugenia weder neu noch besonders robust war. Er wusste ferner, dass nun, nachdem ein Teil der Fracht in Salvador de Bahia gelöscht worden war, die Ladung nicht mehr gleichmäßig verstaut war. Vor allem wusste er, dass diese plötzlich auftretenden Tropenstürme zwar selten, aber dafür äußerst heimtückisch waren.

Er beugte sich über das Schanzkleid der Brücke und beobachtete den Ersten Offizier, der sich geschickt über das schwankende Deck bewegte. Geschäftig dirigierte er die Verlagerung der wenigen auf Deck verstauten Frachtstücke, um wenigstens auf diese Weise einen gewissen Balanceaus gleich zu schaffen. Kapitän Juvenal kratzte sich das bärtige Gesicht. Er saugte heftig an einem schwarzen Zigarillo, und der Rauch wurde von den harten Windstößen davongetrieben. Der Kapitän drehte sich um, als ihm jemand respektvoll auf die Schulter tippte. Es war der Funker, der eine neue Wettermeldung brachte. Juvenal entließ den Mann mit einem Kopfnicken und überflog den Zettel. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, und sein Gesicht verfinsterte sich. Er beugte sich erneut über das Schanzkleid, und die weißen Zähne, die das Zigarillo hielten, blitzten.

»Miguel!«

Der Erste Offizier blickte auf. Er gab den an Deck arbeitenden Leuten rasch noch ein paar Instruktionen, damit sie nicht die Gelegenheit benützten und verschwanden, um Kaffee zu trinken. Dann stapfte er den schmalen Niedergang hinauf. Oben angekommen, blieb er kurz stehen und betrachtete die immer schwärzer werdende Kimm, dann tippte er an den Mützenschirm.

»Kapitän?«

»Wie klappt die Arbeit?«

Der Erste Offizier zuckte mit den Achseln.

»Es geht nur langsam voran.« Sein Ton verriet deutlich, dass er die ganze Mühe für nutzlos hielt. Er blickte dem Kapitän fest in die Augen. »Die Ladung auf Deck macht uns ja weiter keine Schwierigkeiten. Die riesigen Generatoren im Laderaum bilden das eigentliche Problem. Sie sind für Buenos Aires bestimmt. Mit unserem Ladegeschirr können wir sie auf See nicht anders platzieren.«

»Ich weiß.« Der Kapitän saugte heftig an seinem Zigarillo und dachte nach. Er überflog noch einmal die Meldung, die er in der Hand hielt, dann blickte er wieder auf. »Wieviel Fracht löschen wir in Rio, und wieviel in Santos?«

Der Erste Offizier starrte den Kapitän zunächst verständnislos an, doch dann begriff er und lächelte. Er zog das dicke Bündel Konnossemente aus der Tasche, befeuchtete den Zeigefinger und blätterte die Frachtpapiere durch. Als er wieder aufsah, verriet sein Gesicht deutliche Genugtuung.

»Nur sehr wenig. Es wäre ohne weiteres möglich, diese Frachtstücke via Montevideo zu verschiffen. Oder wir löschen sie auf der Rückfahrt, falls das möglich ist.«

»Und wie steht es mit den Passagieren?«

»Da gibt es kein Problem. Drei gehen in Montevideo von Bord, und der vierte in Buenos Aires.«

»Verstehe.« Kapitän Juvenal musterte nachdenklich das Ende des Zigarillos, wog sorgfältig alle vorhandenen Möglichkeiten ab. Sein Blick schweifte zum Horizont. Er runzelte noch einmal die Stirn, dann hatte er seinen Entschluss gefasst. Mit einer energischen Bewegung schob er die Wettermeldung in die Tasche des Bordjacketts und nickte. »Wir laufen weder Rio noch Santos an. Auf diese Weise werden wir dem ärgsten Sturm entgehen. Die Reederei und die Agenten in Rio werde ich über Funk verständigen. Hängen Sie eine entsprechende Notiz ans Schwarze Brett.«

»In Ordnung, Kapitän«, antwortete der Erste Offizier zufrieden.

»Und dann kümmern Sie sich weiter um das Festzurren der Ladung auf Deck«, fügte der Kapitän sarkastisch hinzu. »Wir wollen ja nicht gleich einen Umweg über Afrika machen, um der Schlechtwetterzone auszuweichen. Wir werden also trotzdem noch ordentlich durchgeschaukelt werden.«

»Jawohl, Kapitän!«

 

Den vier Passagieren, die mit der Santa Eugenia reisten, machte die Änderung der Route nicht viel aus. Wer mit einem Frachtdampfer fuhr, rechnete sowieso mit einer längeren Reisedauer, und Pläne, die durch die Änderung ernstlich gestört worden wären, hatte keiner. Auch die Mannschaft nahm die Nachricht gelassen auf. Vor zwei Tagen war die Santa Eugenia aus Salvador de Bahia ausgelaufen, nun waren die Taschen leer und alle Bedürfnisse, die ein Seemann haben konnte, wieder für eine Weile gestillt. Und welcher vernünftige Seemann beklagte sich schon, wenn der Kapitän eines Schiffes, dessen Ladung nicht gleichmäßig verstaut war, einem Sturm ausweichen wollte.

Nur einem Besatzungsmitglied versetzte die Ankündigung am Schwarzen Brett einen gewaltigen Schock. Nacio Madeira Mendes, der Steward der vier Passagiere und der Schiffsoffiziere, befand sich allein in dem kleinen Speisesalon, als Miguel fröhlich pfeifend eintrat und die Bekanntmachung an die Sperrholzplatte heftete, die als Schwarzes Brett diente. Nachdem der Erste Offizier sein Werk betrachtet und für gut befunden hatte, kehrte er auf Deck zurück. Neugierig trat Nacio an das Schwarze Brett und las die für ihn so verhängnisvollen Worte. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich der vollen Tragweite bewusst war. Dann aber wich das Blut aus seinem Gesicht, und er stand wie gelähmt da.

Nacio Madeira Mendes hatte in Lissabon nur aus einem einzigen Grund auf der Santa Eugenia angemustert: Er wollte unauffällig nach Rio de Janeiro gelangen. Hätte er die Reise als Passagier per Schiff oder Flugzeug angetreten, wäre sein Pass zweifellos aufgefallen; denn es war eine schlechte Fälschung. Aber er hatte für den Pass nicht mehr bezahlen können. Für einen Steward reichte er allerdings aus, denn Flunkis waren knapp, da achtete man in den Heuerbüros nicht weiter auf die Papiere. In Rio hatte Nacio keine Schwierigkeiten erwartet. Die Mannschaft hätte den normalen Landurlaub bekommen, und er wäre ganz einfach nicht an Bord zurückgekehrt. Er wäre frei gewesen, und in seinem Heimatland hätte man ihn wohl kaum jemals wieder ausfindig gemacht. Den falschen Pass hätte er vernichtet - oder besser noch verkauft. Der Pass lautete ja nicht auf den Namen Mendes, und das Lichtbild hätte für jeden Mann zwischen zwölf und sechzig Verwendung finden können. Nacio biss die Zähne zusammen. Es wäre alles so einfach gewesen - und nun dies!

Nacio Madeira Mendes war mittelgroß, hatte eine kurze, spitze Nase und hohe Geheimratsecken, so dass die breite Stirn von dem tiefreichenden Haaransatz geteilt wurde. Auf diese Weise wirkte das schmale Gesicht einigermaßen attraktiv, und da es kaum Falten aufwies, machte der Mann trotz seiner zweiundvierzig Jahre einen bedeutend jüngeren Eindruck. Nur die Kälte seiner Augen verriet denjenigen, die darauf achteten, dass dieser Mann nicht so jung war, wie er wirkte, und auch kein sorgloses Leben geführt hatte.

Nacio stand mit leicht gebeugten Knien vor dem Schwarzen Brett, glich automatisch die Schlingerbewegungen des Schiffes aus. Verbitterung stieg in ihm auf, und sein Gesicht überzog sich mit einer tiefen Röte. Er ärgerte sich über den Kapitän, der die für ihn so verhängnisvolle Entscheidung getroffen hatte. Am meisten aber ärgerte er sich über seine eigene Dummheit. Hätte er das Schiff doch nur schon in Bahia verlassen! Dort hatte er sich bereits auf brasilianischem Boden befunden, hätte Rio de Janeiro ungehindert mit einem Pau de arara erreichen können. Wer kontrollierte schon einen mit Bänken ausgestatteten Lastwagen, mit dem die Armen reisten. Ja, normalerweise wurden nicht einmal die Omnibusse von der Polizei kontrolliert. Aber er war in seiner Beschränktheit so sicher gewesen, dass die Santa Eugenia Rio anlaufen würde, dass er in Bahia seine Zeit in einer lächerlichen Bar mit zwei lächerlichen Mädchen verplempert hatte. Und danach war er wie ein Vollidiot an Bord zurückgekehrt! Nun hatte sich das Schiff, das ihn über seinen Bestimmungshafen hinaustrug, in sein Gefängnis verwandelt.

Die blutlosen Lippen bildeten einen schmalen Strich, während der Steward auf das Schwarze Brett starrte. Sebastian hatte ihm in Lissabon gesagt, dass ihn die Chance seines Lebens erwarte: Für wenige Minuten Arbeit könne er sich eine phantastische Summe verdienen. Und nun saß er hilflos an Bord dieses Schilfes! Er versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken und ruhig über seine Lage nachzudenken, doch es war unmöglich. Bei dem vorgesehenen Umweg würde das Schiff frühestens in vier Tagen Montevideo erreichen, und Sebastian hatte ihm ausdrücklich klargemacht, dass er spätestens am Sechsten des Monats in Rio de Janeiro eintreffen müsse, wenn er an dem Geschäft interessiert sei. Und morgen war der Sechste! Es war zum Verzweifeln! Warum hatte ihn sein Schutzheiliger im Stich gelassen, hatte ihn nicht erleuchtet, das Schiff in Salvador de Bahia zu verlassen?

Mit finsterem Gesicht und leeren Augen starrte er auf die Mitteilung. Seine Gedanken überstürzten sich. Erst als er am Arm gepackt wurde, wachte er aus seiner Grübelei auf.

»Schlechte Neuigkeiten, Steward?«

Völlig benommen blickte Nacio den Passagier an. Es war ein kleiner, rundlicher Mann mit vollem Gesicht und einem dünnen Bärtchen unter der kleinen Knollennase. Der Mann hieß Dantas oder Dumas oder Dortas oder so ähnlich. Er hatte glänzende, unergründliche Augen, und das spärliche graue Haar wirkte wie aufgemalt. Nacio starrte ihn verständnislos an.

»Señor?«

Der kleine Dicke war die Geduld in Person. »Ich sagte, die Mitteilung am Schwarzen Brett scheint Ihnen einen Schock versetzt zu haben.«

»Die Mitteilung?« Nacio bemühte sich, nicht länger an die unheilschwangere Nachricht zu denken und nahm die leicht servile Haltung an, die man von einem Steward erwartete. »Nein, Señor. Ich war nur etwas überrascht. Es macht mir wirklich nichts aus.«

Der kleine Dicke betrachtete nachdenklich Nacios Gesicht, dann wechselte er die Taktik. Seine Stimme klang plötzlich vertraulich.

»Sie sind doch Brasilianer, stimmt’s?«

Es war unmöglich, diese Tatsache zu bestreiten. Nacios Akzent verriet ihn bei jedem Wort, und selbst einem Passagier, der das gutturale Spanisch des Rio Plata sprach, musste dies auffallen.

»Brasilianer? Ja, Señor, ich bin Brasilianer.«

»Und da ist es Ihnen gleichgültig, wenn wir Rio nicht anlaufen?«

»Gleichgültig?« Fast hätte Nacio die Selbstbeherrschung verloren, denn gleichgültig war ein völlig unzulänglicher Ausdruck. Erneut stieg Verbitterung in ihm auf. Doch dann zuckte er die Achseln und zwang sich zu einem schiefen Lächeln. »Natürlich, Señor. Für einen Brasilianer ist auf der ganzen Welt keine Stadt so schön wie Rio. Und wenn man dann in die Nähe kommt und kann es nicht einmal sehen...«

»Wirklich schade.« Die kleinen, unergründlichen Augen musterten ihn abschätzend. »Ich bewundere Sie, Steward. Ich bewundere die Ruhe, mit der Sie diese - äh - Enttäuschung tragen.« Der kleine Dicke zog die runden Schultern in die Höhe. »Ich glaube, ich an Ihrer Stelle könnte es nicht so ruhig hinnehmen.«

Nacio wusste nicht, was er antworten sollte, und nahm zu einer Redensart Zuflucht.

»Señor, was sich nicht ändern lässt, soll man mit Fassung tragen.«

Wenn ich es nur könnte! dachte der Steward traurig.

»Nicht alles ist unabänderlich.« Der kleine Mann betrachtete den abgetretenen Teppich, dann blickte er wieder auf. »Ein kluger Mensch findet immer einen Ausweg, um sein Ziel zu erreichen. Wenn ich zum Beispiel an Ihrer Stelle wäre«, fuhr er im Plauderton fort, »würde ich trotz allem nach Rio kommen. Zumindest würde ich es versuchen.« Er schwieg kurz und sah Nacio fest an. »Aber ich würde mein Vorhaben noch heute ausführen...«

»Noch heute?« Nacio versuchte den Ausdruck in den Augen des anderen zu deuten, denn offensichtlich wollte ihm der kleine Dicke einen Wink geben. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Oder machte sich der Kerl etwa lustig über ihn? Dieser Gedanke verbitterte Nacio. »Wie denn, Señor? Soll ich vielleicht nach Rio schwimmen?«

»Nein«, erwiderte der Mann leise. »Sie müssten krank werden.«

Die schwache Hoffnung, dass der Passagier tatsächlich einen brauchbaren Plan hatte, schwand. Offenbar war der Mann nicht ganz richtig im Kopf. Nacio war im Moment nicht in der Stimmung, sich mit derartigen Albernheiten abzugeben.

»Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, Señor...«

Eine kleine Hand schoss vor und packte Nacio am Arm. Sie war kräftiger, als der Steward vermutet hatte.

»Krank!«, sagte der Mann energisch. »Ernstlich krank! Der Kapitän sieht nicht so aus, als würde er zulassen, dass ein Besatzungsmitglied leidet, ja sogar stirbt, nur weil er wegen des stürmischen Wetters einen Umweg machen möchte.«

Nacio kniff die Augen zusammen. Langsam begann er zu verstehen. Immerhin, die Idee war nicht schlecht. Die Idee war vielleicht sogar verteufelt gut.

»Aber was für eine Krankheit...?«, murmelte er.

»Ich würde sagen - Blinddarmentzündung.« Der kleine Dicke blickte den Steward fest an, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Nun sagen Sie doch mal die Wahrheit: Sie fühlen sich nicht gut, oder?«

Nacio musterte den anderen sorgfältig. »Nein, Señor. Ich fühle mich gar nicht gut.«

»Ausgezeichnet! Ich meine vielmehr - es tut mir leid, dies zu hören. Und Sie haben natürlich schreckliche Schmerzen in der Leistengegend.«

Nacio legte unwillkürlich die Hand auf den Bauch.

»Etwas mehr zur Seite und ein wenig tiefer«, riet der Passagier und schob Nacios Hand an die richtige Stelle. Dann begutachtete er die Wirkung. »So ist es schon besser.«

»Aber...«

»Und natürlich Brechreiz.« Dorcas oder Dantas oder Dumas oder wie dieser Mann auch hieß, betrachtete das verkniffene Gesicht des Stewards und nickte. »Ich habe zwar schon kränkere Leute gesehen, aber ich denke, es genügt. Am besten legen Sie sich sofort in Ihre Koje. Mit einer Blinddarmentzündung ist nicht zu spaßen.«

»Aber da ist noch...«

»Ich werde der Schiffsleitung Bescheid sagen.«

Die kleine Hand packte Nacio und schob ihn zur Tür. Doch der Steward drehte sich noch einmal um. Offensichtlich wünschte dieser Dantas - oder Dumas oder Dortas oder so ähnlich - selbst aus einem triftigen Grund, dass die Santa Eugenia Rio anlief. Ich bin für ihn also nichts weiter als Mittel zum Zweck! dachte Nacio. Immerhin ist es auch in meinem eigenen Interesse - aber trotzdem!

»Warum tun Sie das für mich, Señor?«

»Warum?« Der kleine Dicke lächelte. »Sagen wir, dass auch ich schon unter Heimweh gelitten habe und deshalb Verständnis habe, wenn es anderen ähnlich geht. Aber wenn es Ihnen lieber ist, können wir auch sagen, dass ich einen seltsamen Humor besitze und gern einen Streich spiele. Man könnte natürlich auch sagen, dass ich erkenne, wenn jemand krank ist«, fügte er bissig hinzu, und sein Gesicht war plötzlich todernst. »Und ich bin der Meinung, dass Sie sich sofort in Ihre Koje legen. Sofort!«

Er schob Nacio zur Tür, und der schlanke Steward wehrte sich nicht länger. Ganz gleich, welche Motive der andere auch haben mochte - es blieb die Tatsache, dass auf diese Weise sein eigenes Problem zu lösen war. Der Steward verzog das Gesicht, stöhnte laut, und presste die Hand auf die Leistengegend.

Er nickte. »Wenn Sie jetzt gestatten, Señor...«

»Aber selbstverständlich«, erwiderte der kleine rundliche Passagier freundlich.

Er blickte gedankenverloren dem Steward nach, seufzte und ging hinaus auf das Deck. Der Himmel hatte sich weiter verdunkelt, hatte außerdem einen Stich ins Gelbliche angenommen, was zu dieser Morgenstunde besonders bedrohlich wirkte. Die Gewalt des Windes hatte weiter zugenommen. Er pfiff um Ladebäume und Stagen und ließ Regen ahnen. Der dicke Passagier stieg vorsichtig über die Taue, die sich über das schwankende Deck ringelten. Schließlich entdeckte er den Ersten Offizier und tippte dem kräftigen jungen Mann ein wenig herrisch auf die Schulter.

»Ihr Steward ist schwer krank«, rief der Passagier laut, um das Heulen des Sturms zu übertönen. Seine Worte klangen ein wenig vorwurfsvoll - als sei es die Schuld des Schiffsoffiziers, dass ein Mann der Besatzung erkrankt war.

»Krank? Der Steward?«

Miguel war überrascht, dass dieser Passagier sich überhaupt für irgendetwas interessierte - besonders überrascht aber war er, dass sich der Passagier ausgerechnet für die Gesundheit der Besatzung interessierte. Während der ganzen Reise hatte er sich abgesondert, hatte während des Essens fast nie am Tischgespräch teilgenommen und auch nicht an den wenigen Vergnügungen, die das Bordleben bot. Nach Eintritt der Finsternis fand man ihn am Bug, wo er an der Reling lehnte und in die Finsternis starrte.

»Krank!«, wiederholte der kleine Dicke ungeduldig. »Er hat große Schmerzen. Offensichtlich leidet der Mann an einer fortgeschrittenen Blinddarmentzündung.«

Der Schiffsoffizier starrte den kleinen Dicken an, dann zuckte er die Achseln und wandte sich wieder seiner Arbeit zu, erteilte den Seeleuten einen Befehl. Der Passagier runzelte die Stirn, und seine Stimme wurde eisig.

»Haben Sie nicht verstanden? Ich sagte...!«

»Schon gut!«, unterbrach ihn Miguel und sah zum Himmel auf, doch die zerfetzten Wolken zeigten auch keine Lösung des Problems. »Ich werde mir den Mann einmal ansehen.«

Er gab noch einige Anordnungen, dann drehte er sich um und schüttelte angewidert den Kopf. Stewards! dachte er, während er über das schwankende Deck nach vorn zur Back stampfte. Und Passagiere! Wahrscheinlich hatte der Steward lediglich zu viel Wein probiert. Oder - was noch wahrscheinlicher war - er war durch das starke Schlingern des Schiffes ganz einfach seekrank geworden. Und während es auf Deck eine Menge Arbeit gab, durfte er bei dem Steward Händchen halten!

Er öffnete die niedrige Luke der Back, bückte sich und spähte den Niedergang hinab, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Ein gequältes Stöhnen drang an sein Ohr, das sich mit dem Schnarchen der Freiwache und dem Knarren des Schiffsrumpfes vermischte, das in dem engen Mannschaftslogis bedrohlicher klang als oben auf Deck. Miguel tappte vorwärts und starrte stirnrunzelnd in das junge und gleichzeitig alt wirkende Gesicht auf der Koje. Nacio starrte aus großen Augen zurück. Der Fuß des Ersten Offiziers stieß gegen ein Blechgefäß, und gleichzeitig nahm er einen säuerlichen Geruch wahr.

»Wie ich höre, sind Sie krank...?«

Nacio fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen.

»Ich weiß nicht, was los ist. Mir ging es prächtig. Ich räumte das Geschirr ab. Und urplötzlich...«

Das bleiche Gesicht verzerrte sich, der Steward begann zu würgen.

Miguels Verärgerung verflog schlagartig. Dieser Mann war tatsächlich ernstlich krank. Er hatte nicht zu viel Wein getrunken, und er war auch nicht seekrank. Für einen Ersten Offizier, der eines Tages ein guter Kapitän sein wollte, gehörte es zu den vornehmsten Pflichten, sich um das Wohlergehen der Mannschaft zu kümmern. Besorgt beugte er sich vor.

»Haben Sie Schmerzen?«

Der Steward wollte sich aufrichten, doch als er sich auf die Ellbogen gestützt hatte, beugte er sich rasch zur Seite, weil es ihn wieder im Hals würgte. Nach einigen Sekunden sank er erschöpft zurück.

»Mein Bauch...« Seine Hand fuhr auf der dünnen Decke zur Leistengegend, die andere Hand umklammerte unter der Decke eine Flasche Brechmittel, die er aus der Schiffsapotheke gestohlen hatte. »Ich habe schreckliche Schmerzen...«

Der Erste Offizier richtete sich auf, musterte besorgt das bleiche Gesicht. »Sie kommen schon wieder in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden sehen, was wir für Sie tun können. Ich bin gleich wieder zurück.«

Er stieg den Niedergang hinauf, blieb einen Moment nachdenklich stehen. Das Schiff wurde von einer gewaltigen Windsee geschüttelt, und er musste sich festhalten. Dann marschierte er das schwankende Deck entlang. Eine böse Geschichte! dachte er. Die Schiffsapotheke reichte gerade aus, um einen Matrosen zu behandeln, der sich beim Landurlaub den Magen verdorben hatte. Zur Not konnte man auch bei einem Knochenbruch Erste Hilfe leisten. Miguel wusste außerdem, dass sich unter den Passagieren kein Arzt befand. Ein entzündeter Blinddarm konnte also zu ernsten Komplikationen führen.

Kapitän Juvenal blickte seinem Ersten Offizier entgegen, der den Niedergang zur Brücke heraufkam. An dem finsteren Gesicht und den hochgezogenen Schultern erkannte er sofort, dass etwas geschehen sein musste, was Miguel Sorgen bereitete.

»Na, wo drückt denn der Schuh?«

»Es handelt sich um den Steward.« Der Erste Offizier stützte sich auf die Reling. »Er ist krank. Ich glaube, es ist der Blinddarm. Und zwar äußerst schlimm.«

Der Kapitän runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher?«

»Leider.« Miguel schüttelte den Kopf. »Der Mann hat alle entsprechenden Symptome: Schmerzen im rechten Unterbauch, Erbrechen...« Er schalt sich, nicht nachgeprüft zu haben, ob der Steward Fieber hatte. Doch ein Mensch, der so krank war, musste auf jeden Fall Fieber haben. Er seufzte. »Er ist in äußerst schlechter Verfassung.«

Kapitän Juvenal musterte den schwarzen Himmel. In der Ferne wurden die tiefhängenden Wolken von aufzuckenden Blitzen zerrissen. Seine riesige Hand umklammerte das Schanzkleid. Den Gedanken, der ihm unwillkürlich gekommen war, ließ er sofort wieder fallen.

»Nein, es hat keinen Sinn. Wir können trotz allem Rio nicht anlaufen. Die Sturmwarnungen lauten von Mal zu Mal ungünstiger.« Er rieb sich mit dem Handrücken über das bärtige Gesicht. »Wenn der Mann aber eine Blinddarmentzündung hat, und es käme zur Perforation...« Er brach ab und kaute an der Unterlippe.

»Was sollen wir also tun?«

Kapitän Juvenal seufzte. »Vermutlich das einzige, was man in einer solchen Situation tun kann. Wir werden die Küstenwacht verständigen. Vielleicht können die uns helfen.« Er überlegte kurz, spie in hohem Bogen in das aufgewühlte Wasser, ging zur Tür des Funkraums und klopfte energisch. Sofort erschien der Kopf des Funkers. »Setzen Sie einen Funkspruch an die nächste Seenotstation ab. Das Verzeichnis haben Sie ja. Melden Sie, dass wir einen Schwerkranken an Bord haben, wegen des Sturmes aber Rio nicht anlaufen können. Geben Sie unsere genaue Position und...«

»Bei dem hohen Seegang wird es nicht leicht sein, den Mann auf ein anderes Schiff zu überführen«, unterbrach ihn der Erste Offizier.

»Das ist nicht unser Problem. Die werden besser wissen, was in einer solchen Situation zu tun ist.« Kapitän Juvenal wandte sich wieder an den Funker. »Geben Sie durch, dass wir acht bis zehn Knoten laufen.« Er schätzte kurz. »Es herrscht Seegang von fünf bis acht Metern. Man soll sich beeilen. Die Windstärke nimmt laufend zu. Aber das dürften sie selbst wissen...«

»Vielleicht können sie einen Arzt schicken«, meinte der Funker.

Der Kapitän schüttelte energisch den Kopf. »Wo die Santa Eugenia derartig schlingert? Wie sollte er denn operieren? Nein. Der Mann muss von Bord geholt werden. Und zwar schnellstens.« Er schwieg und starrte den Funker an, und plötzlich machte sich das Gefühl der Hilflosigkeit in einem Zornausbruch Luft. »Nun, worauf warten Sie noch?«

Der Funker zog blitzartig den Kopf zurück und schloss die Tür. Der Kapitän wandte sich an den Ersten Offizier.

»Sagen Sie dem Steward, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht. Wir haben bereits eine Hilfsaktion in die Wege geleitet. Und dann kümmern Sie sich wieder um die Ladung auf Deck«, fügte er energisch hinzu. »Verstanden?«

»Jawohl, Kapitän!«, erwiderte Miguel und polterte den Niedergang hinab.

 

Mannschaft und Passagiere lehnten sich über die Reling. Die Ölmäntel boten nur wenig Schutz vor dem strömenden Regen, aber niemand wollte sich das Schauspiel entgehen lassen. Über ihren Köpfen schwebte wie ein vorsintflutliches Ungeheuer ein großer Hubschrauber. Er hob sich deutlich gegen den schwarzen Himmel ab, und aus seinem Rumpf glitt ein Seil herab. Das Stahlseil pendelte im Sturm, schlug gegen die Aufbauten und drohte, sich an einem Ladebaum zu verwickeln.

Dreimal wurde der Hubschrauber durch die Gewalt des Sturmes abgetrieben, und es dauerte bange Sekunden, bis er wieder über dem schwankenden Deck schwebte. Es bedurfte aller Künste des Piloten, das Stahlseil frei herabhängen zu lassen. Nacio hing, auf einer Krankentrage festgeschnallt, an dem schwankenden Seil. Nicht zum ersten Mal verwünschte er den Augenblick, in dem er sich auf diesen verrückten Plan eingelassen hatte. Er war gewiss nicht feige, aber es war doch ein unheimliches Gefühl, von der relativen Sicherheit des Schiffes in einen sturmumtobten Hubschrauber gezogen zu werden. Er schluckte schwer, kämpfte gegen die Übelkeit an, die nichts mit dem eingenommenen Brechmittel zu tun hatte. Er schloss die Augen und betete mit verzweifelter Verbissenheit.

Nacio vernahm einige Kommandos, als das Stahlseil über Deck schleifte, und verspürte einen scharfen Ruck, als die Krankentrage blitzschnell festgemacht worden war. Die Männer sprangen zur Seite. Nur Kapitän Juvenal beugte sich noch einmal zu der angeschnallten Gestalt hinab, und sein Bart berührte die Schutzplane. Er sprach schnell, denn seine Worte konnten jederzeit von einer Bö davongetragen werden.

»Sie kommen bestimmt wieder in Ordnung. Auf der Rückfahrt holen wir Sie ab. Setzen Sie sich mit unserem Agenten in Verbindung...«

Nacio öffnete die Augen und starrte benommen in das bärtige Gesicht, Ich soll wieder in Ordnung kommen? dachte er. Da oben in dieser Blechkiste, die vom Sturm gebeutelt wird - da soll alles in Ordnung sein? Bei einem Narren wie mir? Wie, um alles in der Welt, kam ich bloß auf die irrsinnige Idee, dass die Santa Eugenia wegen eines kranken Seemannes Rio anläuft? Ich muss völlig verrückt gewesen sein! Und dieser kleine Dicke ebenfalls!

Immerhin bereitete es Nacio eine gewisse Genugtuung, dass der kleine dicke Passagier keinen Nutzen davon hatte, obwohl er doch offensichtlich mit seinem Plan einen Zweck verfolgt hatte. Doch dann fiel ihm die eigene gefährliche Lage wieder ein, und er schloss die Augen. Die Dunkelheit hinter den geschlossenen Lidern war wohltuend, ließ ihn hoffen, das Abenteuer zu überstehen, ohne den Verstand zu verlieren. Nur undeutlich vernahm er einige Kommandos, das Rotorgeräusch über ihm schwoll an, und sein Magen krampfte sich zusammen, als er vom Deck abgehoben und an dem Drahtseil nach oben gezogen wurde. Unwillkürlich riss er in panischem Schrecken die Augen auf. Er stemmte sich gegen die Riemen, mit denen er festgeschnallt war. Die Krankentrage schwenkte gerade über die Reling, und Nacio hatte das Gefühl, dass die graue, aufgewühlte See mit gierigen Fingern nach ihm griff. Regen peitschte ihm ins Gesicht, kalt und stechend. Er schloss die Augen, doch gleich darauf starrte er wieder nach unten.

Die sich am Drahtseil drehende Krankentrage begann zurückzuschwingen, und in dem kurzen Moment, bevor die Winde das Seil einholte, blickte Nacio in die unergründlichen Augen des kleinen dicken Passagiers. Dortas hieß er - oder Dumas oder Dantas oder so ähnlich.

Der kleine Dicke mit dem runden Gesicht und dem Haar, das wie aufgemalt wirkte, starrte durch den Regen hinauf zu Nacio. Es ging zwar alles sehr schnell, aber Nacio hatte bei dem anderen einen enttäuschten Gesichtsausdruck erwartet, Doch er konnte nichts dergleichen entdecken. Im Gegenteil! Dieser Mann schien Nacios gefährliche Luftreise mit heimlicher Belustigung zu beobachten.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Kommissar José da Silva, Chef des brasilianischen Zweigbüros von Interpol, trat auf die Bremse und brachte seinen roten Jaguar zum Stehen. Mit mürrischem Gesicht starrte er durch die regennasse Windschutzscheibe des Sportcoupés.

Die lange, schmale Entrada vor dem Haupteingang des Santos Dumont Airport war restlos vollgeparkt. Der Regen peitschte die großen Palmen am Rande der Promenade, trommelte ungeduldig auf das Kunststoffdach des Convertible. Er schien den Kommissar aufzufordern, endlich auszusteigen und sich ebenso durchnässen zu lassen wie alles andere auch. Kommissar da Silva war nicht etwa deshalb schlecht gelaunt, weil die Autos vor dem langgestreckten Empfangsgebäude verbotswidrig geparkt waren.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Robert L. Fish/Apex-Verlag. Successor of Robert L. Fish.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx (Model: Victoria Borodinova).
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Korrektorat: Dr. Birgit Rehberg.
Übersetzung: Heinz Otto und Christian Dörge (OT: Always Kills A Stranger).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 21.08.2022
ISBN: 978-3-7554-1924-2

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