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Leseprobe

 

 

 

 

JOHN CASSELLS

 

 

Eine Schwäche für Frauen

Ein Fall für Solo Malcolm

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

EINE SCHWÄCHE FÜR FRAUEN 

ERSTER TEIL 

ZWEITER TEIL 

DRITTER TEIL 

 

 

Das Buch

Es war einer dieser seltsamen Nachmittage, wie sie manchmal selbst Mitte Oktober noch vorkommen, sogar in London. Strahlende Sonne schien vom leuchtend blauen Himmel hernieder, und die Luft umschmeichelte einen milde und warm. Unwillkürlich musste man sehnsüchtig an endlose, faule Sommertage denken; an sengende Hitze und blendend weißen Sandstrand. An Sizilien und die Riviera, an Monte Carlo, Cannes, St. Tropez oder auch die Costa Brava. An Stunden, in denen einem der Winter so unendlich weit entfernt erschienen war. An denen man vergessen hatte, dass er einen bald schon, wahrscheinlich gleich nach der Rückkehr nach Hause, überfallen würde. Dass England mit Nebel und Kälte und eintönigen, grauen Tagen unausweichlich vor der Tür stand...

 

Der Roman Eine Schwäche für Frauen um den Privatdetektiv Solo Malcolm aus der Feder des schottischen Schriftstellers John Cassells (ein Pseudonym von Bestseller-Autor William Murdoch Duncan - * 18. November 1909; † 19. April 1975) erschien erstmals im Jahr 1963; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1964.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

  EINE SCHWÄCHE FÜR FRAUEN

 

 

 

 

 

 

 

 

  ERSTER TEIL

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

Es war einer dieser seltsamen Nachmittage, wie sie manchmal selbst Mitte Oktober noch vorkommen, sogar in London. Strahlende Sonne schien vom leuchtend blauen Himmel hernieder, und die Luft umschmeichelte einen milde und warm. Unwillkürlich musste man sehnsüchtig an endlose, faule Sommertage denken; an sengende Hitze und blendend weißen Sandstrand. An Sizilien und die Riviera, an Monte Carlo, Cannes, St. Tropez oder auch die Costa Brava. An Stunden, in denen einem der Winter so unendlich weit entfernt erschienen war. An denen man vergessen hatte, dass er einen bald schon, wahrscheinlich gleich nach der Rückkehr nach Hause, überfallen würde. Dass England mit Nebel und Kälte und eintönigen, grauen Tagen unausweichlich vor der Tür stand. – Und nun dies Wetter!

Ich lungerte im chinesischen Restaurant, wo ich fast alle meine Mahlzeiten zu mir nahm, herum und vertrieb mir müßig die Zeit. Charlie Choice Brendall, der Besitzer des Tai Tung und einer meiner ältesten Freunde, schilderte mir gerade weitschweifig und genussvoll eine Schlägerei, zu der es vor ein paar Tagen drüben im Wilden Eber gekommen war.

»Ein Jammer, dass du das verpasst hast, Solo! Dieser Waner ist mal wieder gründlich aus der Haut gefahren und hat den schönsten Streit vom Zaun gebrochen. Du erinnerst dich doch an Waner? Diesen kleinen, mageren Burschen? Damals, bei Ausbruch des Krieges, denk doch mal nach! Boxer – Federgewicht. War nie wirklich Klasse, der Kerl.«

»Oh ja! Ich weiß genau, wen du meinst. Und was war dann weiter? Los – erzähl schon!«

»Na, also. Dieser Waner sprang doch plötzlich auf und ging auf Sailor Mulcahey los. Aber Mulcahey ist nicht der Typ, der sich so ohne weiteres auf die Matte legen lässt, darauf kannst du dich verlassen. Kurz und gut, er versetzt Waner einen rechten Haken, der nicht von schlechten Eltern war. Und der – nicht faul – taumelt doch glatt gegen den nächsten Tisch und reißt ihn im Fallen mit um. Und damit noch nicht genug, die zwei Kumpel, die daran saßen, nahm er gleich auch noch mit. Woraufhin die nicht lange zögerten und sich ebenfalls die Ärmel hochkrempelten. Taffy Evans und Joe Picknell nahmen sich gemeinsam zunächst einmal Mulcahey vor. Lumpen lassen sich die Jungs nicht. Und schon war die schönste Saalschlacht im Gange. Erstklassig, sage ich dir! Das Mobiliar flog einem nur so um die Ohren. Bis es dann jemand zu dumm wurde und er die Funkstreife alarmierte.«

»Was dann das Ende vom Lied war und die erhitzten Gemüter schlagartig beruhigte.«

»Hast du gedacht! Die ganze Gesellschaft wurde vor das Amtsgericht in der Dicey Street geladen und zu je zwei Pfund plus Übernahme der Gerichtskosten verdonnert. Geschieht ihnen ganz recht!«

»Und was hat Waner so auf die Palme gebracht?«

Charlie zuckte die Achseln.

»Im Grunde eine Bagatelle. Irgendjemand bemerkte, Waner habe mal wieder einen Mordsrausch beisammen. Woraufhin ein Dritter seine Klappe nicht halten konnte und grölte, das sei doch bei Waner nachgerade schon ein Dauerzustand – oder so ungefähr. Ein Wort gab das andere. Wenn du mich fragst, die beiden Großmäuler hatten ja im Prinzip sogar recht. Daran ist doch nicht zu rütteln. Wenn Waner getrunken hat, wird er ekelhaft. Dann bekommt er einen richtiggehenden Koller. Wahllos beleidigt er jeden, der ihm gerade über den Weg läuft. Und dann kennt er keine Grenzen mehr.«

Charlie griff nach dem Krug, stand auf und ging zur Bar hinüber.

»Für mich nicht mehr, Charlie, danke!«, rief ich ihm nach. »Wieso nicht? Was ist denn los? Du bist doch nicht etwa krank? Unter vier tust du es doch sonst nie!«

»Für heute reicht’s«, blieb ich standhaft. »Mich erwartet nachher noch ein Job. Und zwar eine ganz tolle Masche, wie es den Anschein hat. Ich bin ins Hotel Tupperman bestellt. Schon mal davon gehört?«

»Tupperman?«, murmelte Charlie in seinen Bart und dachte nach. »Nee – höre ich zum ersten Mal. Wo soll’s denn liegen?«

»Earls Court«, erwiderte ich. »Locke Street. Schätze, ich nehme am besten die U-Bahn.«

Ich warf einen Blick auf meine Uhr.

»Wenn ich mich beeile, kann ich es gerade noch schaffen.«

»Dann mach dich mal schleunigst auf die Socken!«, befahl Charlie energisch.

Drohend wedelte er mir mit seinem Geschirrtuch unter der Nase herum und scheuchte mich hinaus wie eine lästige Wespe. Charlie ist ein Bursche, für den das Geschäft immer an erster Stelle kommt. Und wenn es sich dabei noch um meine Geschäfte handelt, kennt er schon gar kein Erbarmen.

Ich machte mich also auf den Weg zur nächsten U-Bahn-Station. Wieder fiel mir auf, wie ungewöhnlich mild es heute für Mitte Oktober war. Selbst unten im U-Bahn-Tunnel, wo doch normalerweise eine grabesfeuchte Kühle herrscht, schlug einem heute drückende Schwüle entgegen.

Ich brauchte nicht lange zu warten. Gleich den ersten Zug, der einlief, konnte ich nehmen. Am Leicester Square stieg ich um in Richtung Piccadilly. Dann lehnte ich mich bequem zurück und begann, über die Dame mit dem blauen Hut nachzudenken. Ganz richtig, die Dame mit dem blauen Hut! Was sie wohl von mir wollte? Was erwartete mich? Worauf ließ ich mich ein? Wieso hatte sie mich ins Tupperman bestellt?

Und weshalb – vor allem – hatte sie sich am Telefon so geheimnisvoll als die Dame mit dem blauen Hut bezeichnet? Mehr wusste ich nicht von ihr. Mehr wusste ich überhaupt nicht. Außer, dass sie kurz verächtlich aufgelacht hatte, als ich zu erwähnen wagte, dass in meiner Branche die Honorarfrage eine erhebliche Rolle spielte, die ich gern vorab zu klären pflegte.

»Das dürfte wohl bis nachher Zeit haben, Malcolm!«, hatte sie kühl gemeint. »Aber, wenn es Sie beruhigt, daran soll es gewiss nicht scheitern. Dieser Punkt ist für mich vollkommen nebensächlich.«

»Für mich aber nicht!«

»Dann erwarte ich Sie also um drei Uhr«, überging sie meinen Einwand mit betonter Gleichgültigkeit. »Und pünktlich, wenn ich bitten darf! Sie finden mich in der Halle. Ich trage einen blauen Hut – als Erkennungszeichen sozusagen. Damit wäre wohl alles klar? – Ich bin die Dame mit dem blauen Hut.«

»Na, schön.«

»Gut«, meinte sie und legte auf.

So – und da war ich nun. Nachdenklich stieg ich die Stufen der Station Earl Court hinauf. War meine neue Klientin exzentrisch? Schon möglich. Allerdings, nur auf das Telefongespräch hin wäre es vorschnell gewesen, ein Urteil zu fällen. Aber ich würde sie mir genau ansehen und mir meine Meinung bilden, bevor ich sie ansteuerte. Im Augenblick war ich fast geneigt, sie mir in einem strengen, im Herrenschnitt geschneiderten Kostüm, mit Weste und Krawatte, und schmalen, fest zusammengekniffenen Lippen vorzustellen. Ungefähr so, wie die mysteriöse Unbekannte in der ersten Fortsetzung der nervenzermürbenden Fernsehserie Der schwarze Homburg. Denn diese Dame mit dem blauen Hut hatte, bei Gott, höchst mysteriös geklungen. Und geheimnisvolle Damen, ja überhaupt atemberaubende Geheimnisse, sind – ganz im Gegensatz zur allgemeinen Meinung – etwas höchst Seltenes in unserem Beruf. Bei uns regiert die kühle Logik, während bei einem Thriller wie dem Schwarzen Homburg der Drehbuchautor meist bei Schluss der ersten Sendung selbst noch nicht einmal ahnt, wie es in der zweiten weitergehen soll. Weil er nämlich – noch daran schreibt.

Die Locke Street war nicht schwer zu finden. Es war eine dieser kurzen Nebenstraßen, und sie lag keine fünf Minuten von Earls Court entfernt. Zu beiden Seiten standen von der Zeit angenagte, ehemals höchst repräsentable, im gleichen vornehmen Weiß gekalkte Villen, mit schmiedeeisernen Gittern, reichverschnörkelten Gartentoren und weitausladenden, von schlanken Säulen getragenen Balkons. Tuppermans Hotel fand ich ebenfalls ohne langes Suchen. Es sah bedeutend besser erhalten als die anderen Häuser aus. Mit einem energischen Ruck setzte ich die Drehtür in Bewegung und betrat eine zwar nicht allzu große, aber helle und elegant möblierte Halle. Über allem lag ein altmodischer, aber behaglicher Glanz. Der Boden war mit grünem Velours ausgelegt, hier und dort prangte darüber eine bunte Brücke. An den Wänden hingen einige recht ordentliche Bilder. Und die Sessel, zweisitzige Sofas mit kleinen, runden Glastischen davor, waren ansprechend über den Raum verteilt.

In einer Ecke direkt am Fenster las ein Glatzkopf die Daily Express. Bei meinem Eintreten sah er flüchtig auf, und in seinem Blick lag – so schien es mir wenigstens – fast so etwas wie Verwunderung. Aber dies vorübergehende Interesse an seiner Umwelt verflog ebenso schnell, wie es aufgeflackert war, und er vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Ich ging an ihm vorbei bis zu einem Tischchen in der Nähe des Kamins und setzte mich. Meine Uhr zeigte vierzehn Uhr achtundfünfzig. Ich war mit mir zufrieden. Das hatte ich wieder einmal ausgezeichnet hinbekommen. Und noch während ich mir selbst freizügig Lob spendete, betrat sie die Halle. – Die Dame mit dem blauen Hut.

Als ich sie hereinkommen sah, stand ich auf. Sie war auffallend hochgewachsen, blond und unleugbar eine blendende Erscheinung. Früher einmal, und zwar vor noch gar nicht so langer Zeit, musste sie verdammt hübsch gewesen sein. Ich schätzte sie auf etwa Mitte Vierzig. Dabei hatte sie die Figur einer Zwanzigjährigen. Sie trug einen einreihigen, taillierten, eierschalenfarbenen Mantel und dazu einen leuchtend blauen Hut. Handtasche und Handschuhe waren im Ton genau darauf abgestimmt. Sekundenlang stand sie, ohne sich zu rühren, und blickte lediglich zu mir herüber.

Ich wartete ab, geduldig, was sich nun ereignen würde.

Langsam, jedoch ohne zu zögern, kam sie auf mich zu. Als sie meinen Tisch erreicht hatte, sprach sie.

»Sie sind Malcolm, nicht wahr?«, erkundigte sie sich.

Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ihre Art zu sprechen war die eines Menschen, der Geld hat – und der sich dessen bewusst ist. Sie kennen diese Art, jeden mit seinem Nachnamen anzureden, als ob er keinen Vornamen besäße. Wie einen Dienstboten. Und ergebene Dienste erwartete sie. Sie war reich. Sie besaß einen ausgezeichneten Geschmack. Sie schien es ihr Leben lang gewohnt zu sein, andere Menschen nur als etwas, dessen sie sich bediente, zu betrachten.

All das erkannte ich auf den ersten Blick. Hätten noch Zweifel bestanden, wären diese mir bei ihrer Begrüßung verflogen. Für sie standen jederzeit eine Zofe, die sie Jackson oder Purvis nennen würde, oder ein Butler, der für sie nur Peters oder Kelver war, bereit. Ich schätzte sie von Anfang an für einen Teufelsbraten ein.

Für einen verdammt hübschen Teufelsbraten, wohlgemerkt. Wahrscheinlich obendrein noch für einen äußerst wohlrenommierten.

»Ja – mein Name ist Malcolm. James Malcolm – oder, für meine Freunde – Solo Malcolm«, stellte ich mich vor. »Und wer sind Sie?«

Leichte Röte stieg ihr in die Wangen. Schweigend ließ sie sich in einen Sessel fallen. Ich stand. Sie hatte mich nicht aufgefordert, Platz zu nehmen.

Aber ich stand nicht lange. Es bedurfte für mich keiner großen Überlegung, mich ebenfalls zu setzen. Aufmerksam betrachtete ich sie weiter. Vorhin, von weitem, hatte ich sie für Anfang Vierzig gehalten. Jetzt revidierte ich mein Urteil – Ende Dreißig höchstens. Mit einer selbstverständlichen Bewegung knöpfte sie ihren Mantel auf. Dann öffnete sie die Handtasche. Ihre lange, schlanke, behandschuhte Hand holte ein goldenes Zigarettenetui mit einem glitzernden Monogramm darauf heraus. Brillanten, schätzte ich. Na, neun Monate Arbeit würde es mich mindestens kosten, das Geld für ein derartiges Spielzeug zusammenzubringen. Sie nahm eine Zigarette heraus und sah mich abwartend an.

Ich wusste genau, worauf sie wartete. Diese Puppe da hätte sich in ihrem Leben noch keine Zigarette selbst angesteckt. Zumindest nicht, soweit sich im Umkreis von einer Meile ein Mann aufhielt.

Ich hatte jedoch nicht die Absicht, es ihr leichtzumachen. Keinen Schritt kam ich ihr entgegen. Ich wartete.

»Haben Sie vielleicht Feuer, Malcolm?«, fragte sie nach einer sich endlos dehnenden Minute.

»Schon«, antwortete ich.

Sie beugte sich in ihrem Stuhl vor, mir entgegen.

»Aber ich gebe Ihnen keins.«

Sie zuckte zusammen, und ihr Kopf fuhr mit einem Ruck hoch. In ihren strahlend blauen Augen glomm ganz tief ein kleiner, gefährlicher Funke.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»War ich nicht deutlich genug? Ich werde Ihnen kein Feuer geben. Ich mag es nicht, wenn Frauen rauchen. Und wenn sie es trotzdem tun, dann sollen sie sich ihre Zigaretten auch selbst anzünden.« Sekundenlang starrte sie mich schweigend an.

»Ihre Manieren lassen erheblich zu wünschen übrig«, bemerkte sie dann.

»Das mag schon sein – aber was haben Sie von einem Privatdetektiv anderes erwartet?«

Jetzt erwartete ich eigentlich, dass sie aufstehen und gehen würde. Und, um ehrlich zu sein, war das genau, was ich beabsichtigte. Es würde mich nicht im Geringsten gestört haben.

Sie tat jedoch nichts dergleichen. Sie blieb sitzen, wie sie saß. Leger, die langen, schlanken Beine lässig übergeschlagen. Mit einer ruhigen Bewegung fischte sie ihr goldenes Feuerzeug aus der Handtasche und gab sich selbst Feuer. Dann knipste sie es zu und ließ es ebenso gleichgültig wieder zurückfallen. Immer noch schweigend lehnte sie den Kopf nach hinten und inhalierte genussvoll den Rauch. Endlich geruhte sie, sich an meine Anwesenheit zu erinnern.

»In gewisser Weise mögen Sie recht haben. Vielleicht kann man von einem Privatdetektiv tatsächlich nichts anderes erwarten. Gut möglich. Andererseits, wenn man...«

Es reichte nur. Ich stand auf.

»Ich darf mich wohl verabschieden, Madam.«

Zur Hälfte war ich schon um den Tisch herum.

Sie nahm die Zigarette aus dem Mund und verlor zum ersten Mal ihre selbstbeherrschte Ruhe.

»Wohin, zum Teufel, wollen Sie?«

»Zurück in mein Büro, wenn Sie gestatten. Es ist jetzt genau fünfzehn Uhr sechs. Um fünfzehn Uhr sechs pflege ich immer in meinem Büro zu sitzen. Speziell dienstags. Haben Sie etwas dagegen?«

»Ja, Allerdings. Ich wünsche Sie zu verpflichten.«

»Ich rate Ihnen, es nur jemand anderem zu versuchen, Madam.«

»Ja, weshalb wollen Sie mich denn nicht einmal anhören?«

»Weil Sie mir nicht liegen. Sie und ich – wir sind aus zweierlei Holz geschnitzt. Ich bin gewohnt, mich in allen Lebenslagen auf meine Intuition zu verlassen. Und meine Intuition sagt mir, dass Sie und ich niemals ein gutes Team abgeben können. Ich arbeite nur für Leute, die mir sympathisch sind. Sagen wir, ich bin wählerisch. Gott sei Dank kann ich mir das leisten. Tja – so bin ich nun mal. Und ich habe auch nicht vor, mich in absehbarer Zeit zu ändern.«

Sie saß regungslos da und musterte mich schweigend. Dann holte sie tief Atem.

»Ich denke, Sie sind der geeignete Mann für mich. Wie hoch ist üblicherweise Ihr Satz?«

»Zehn Pfund pro Tag – zuzüglich Spesen«, knurrte ich. »Und damit möchte ich mich endgültig verabschieden, Madam.«

Damit setzte ich mich in Richtung Tür in Bewegung.

Erst als ich bereits gut die Hälfte der geräumigen Halle durchquert hatte, ertönte hinter mir ihre kühle, spröde Stimme.

»Fünfzehn«, sagte sie. Mehr nicht.

Ohne zu zögern, setzte ich meinen Weg fort.

Meine Hand fasste bereits nach der Drehtür.

»Zwanzig!«, erschallte es hinter mir.

Ich blieb stehen, machte kehrt und ging zurück.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

 

Sie saß immer noch in der gleichen Haltung da, so, als habe sie sich inzwischen überhaupt nicht gerührt, und sah mir mit ihren eiskalten Augen entgegen. Sie wartete, bis ich den Tisch erreicht hatte.

»Setzen Sie sich, Mr. Malcolm. Lassen Sie doch diese Dummheiten. Schließlich sind wir nicht zusammengekommen, um uns hier wie zwei unreife Kinder aufzuführen.«

Ich blickte auf sie hinunter.

»So klingt es schon bedeutend besser. – Mister Malcolm.«

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie derart empfindlich sind.«

»Der empfindlichste Pinkerton Londons.«

»Dann bitte ich vielmals um Entschuldigung.«

»Das klingt noch besser«, bemerkte ich.

Den Bruchteil einer Minute zögerte ich noch. Dann setzte ich mich endlich. Ihre Brauen bildeten jetzt ein kleines, spitzes V über der Nasenwurzel. Und ihr Mienenspiel stellte eine Mischung aus leichter Verwirrung und kühl abwägender Skepsis dar. Dann traf sie ihren Entschluss – kurz und schmerzlos.

»Also, Mr. Malcolm, nochmals – ich glaube, Sie sind der geeignete Mann für mich.«

»Und darf ich mich erkundigen, wie Sie zu dieser schmeichelhaften Meinung kommen?«

»Ich besitze eine ausgesprochen gute Menschenkenntnis«, versetzte sie trocken.

Während sie sprach, tanzte ein Sonnenstrahl über ihr Gesicht. Mehr noch als zuvor wurde mir klar, dass sie noch vor ganz kurzer Zeit bildschön gewesen sein musste. Sie konnte auch jetzt noch für eine schöne Frau gelten, aber der erste Schmelz der Jugend war dahin. Trotzdem geriet so manchem Mann auch heute noch bestimmt bei ihrem Anblick das Blut in Wallung. Abermals lehnte sie den Kopf etwas zurück und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette.

»Wie dem auch sei, kommen wir jetzt endlich zur Sache, Mr. Malcolm. Ich möchte, dass Sie einen Auftrag für mich übernehmen.«

»Um was handelt es sich denn... Ehestreitigkeiten?«, erkundigte ich mich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Sehe ich so aus, als ob ich Eheschwierigkeiten bekommen könnte?«, fragte sie zurück.

»Nein, wohl kaum, muss ich zugeben.«

»Danke.«

Sie lächelte flüchtig. Und das Lächeln erhellte ihr ganzes Gesicht. Aber sie wurde schnell wieder ernst.

»Ich werde Ihnen den Auftrag jetzt näher erläutern.«

»Zunächst einmal, Madam – wollten Sie mir vermutlich Ihren Namen sagen.«

»Nein. Nicht, bevor ich nicht sicher bin, dass Sie den Auftrag auch übernehmen.«

Sie wusste, was sie wollte.

»Die Angelegenheit erfordert ein Höchstmaß an Diskretion. Wenn Sie annehmen – müssen und werden Sie alle Details erfahren. Lehnen Sie ab – muss ich mich nach einem anderen Privatdetektiv Umsehen. Und in diesem Fall wäre es mir angenehm, wenn Sie nicht mehr über meine Person wissen, als das im Augenblick der Fall ist.«

»Ich verstehe.«

Nun dachte ich einen Augenblick nach.

»Deshalb haben Sie sich auch hier mit mir verabredet? Und aus diesem Grund das Theater mit dem blauen Hut, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Ja. Ich bin gezwungen, vorsichtig zu sein.«

Wieder herrschte ein kurzes Schweigen. Wir musterten uns gegenseitig und versuchten den Gegner abzuschätzen. Schließlich machte ich den Anfang.

»Also schön. Ich weiß nichts von Ihnen – Sie ebenso wenig von mir. Deshalb will ich versuchen, Ihnen klarzumachen, worum es mir geht. Ich liebe meinen Beruf. Aufträge kommen mehr auf mich zu, als ich annehmen kann – das gibt mir die Möglichkeit, wählerisch zu sein. Scheidungsangelegenheiten lehne ich prinzipiell ab – ganz gleich, was mir dafür geboten wird. Ebenso wenig mache ich mir die Finger mit einer anrüchigen Sache schmutzig.«

»Angst?«

»Ganz weich in den Knien vor Angst.«

Sie lächelte.

»Lügner! Ich habe meine Erkundigungen über Sie eingezogen. Es war nicht schwer. Man erzählt sich allerhand über Sie. Ich war neugierig, ob ein Bruchteil davon stimmen konnte. Jetzt würde ich sagen – ja. Und, um ehrlich zu sein, ich hoffe es.«

»Um was für einen Job geht es also?«, erkundigte ich mich.

Sie griff in die Tasche, holte eine weitere Zigarette aus dem goldenen Etui und zündete sie an dem Stummel der alten an. Erst nachdem sie die Kippe sorgfältig im Aschenbecher ausgedrückt hatte, sah sie auf.

»Ich habe einen Sohn. Er ist dabei, sich wegen eines Mädchens, das meiner Meinung nach eine ganz billige, kleine Schlampe ist, zum Narren zu machen. Über diese Person wünsche ich so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Mehr noch – alles. Verstehen Sie?«

»Schon. Aber die Sache gefällt mir nicht.«

»Sie sind doch Privatdetektiv, oder?«

»Das stimmt zwar, Madam. Aber ich war früher sogar einmal Kriminalbeamter. Schmutzige, klebrige Arbeit liegt mir nicht – ich schlage deshalb vor, Sie sehen sich nach einem anderen, bereitwilligeren Detektiv um. Was Saiten Sie davon?«

Ihr Blick blieb kühl und unbeteiligt.

»Vielleicht lassen Sie mich erst einmal ausreden, Mr. Malcolm. Nach allem, was mir zu Ohren gekommen ist, hat es das Mädchen nur auf sein Geld abgesehen. Darüber hinaus soll sie sogar mit verschiedenen, in Verbrecherkreisen bekannten Subjekten befreundet sein; ausgesprochen kriminellen Elementen, wie es beißt. Ich muss in Erfahrung bringen, ob das zutrifft. Sollte es zutreffen, übernehme ich alles weitere selbst.«

»Und wenn sich Ihre Erwartungen nicht erfüllen sollten?«

»Dann Sie überlegte einen Augenblick. »Nun, dann – ist es seine Angelegenheit.« Sie nagte an ihrer vollen Unterlippe. »Keine Mutter sieht es gern, wenn ihr Sohn sich zum Narren macht. Vor allem nicht, wenn es wegen eines Mädchens geschieht. Nun, jedenfalls, so stehen also die Dinge. Was meinen Sie dazu?«

»Derartige Aufträge habe ich bisher stets abgelehnt. Und mir gefällt das alles, muss ich schon sagen, nach wie vor nicht. Könnten Sie die Sache nicht selbst in Ordnung bringen?«

Sie schüttelte nur den Kopf.

»Und wie steht es mit Ihrem Mann?«

»Er ist tot. Gefallen im Krieg.«

»Tut mir leid«, meinte ich. »Aber ich neige trotzdem zu der Ansicht, dass dies eine Affäre ist, die man am besten selbst ins reine bringt. Weshalb überlegen Sie es sich nicht noch einmal in Ruhe?«

»Es geht dabei um eine Menge Geld«, erklärte sie ruhig. »Alles in allem um fast eine Million. Könnte auch dieser Umstand Sie nicht bewegen, Ihre vorgefasste Meinung zu revidieren?«

Ich starrte sie an.

»Um eine Million?«

»Ja. In etwa.« Sie sah mich ohne mit der Wimper zu zucken an. »Und zwar um meine Million. Es handelt sich einwandfrei um mein persönliches Vermögen. Mein Vater besaß eine kleine chemische Fabrik in Mittelengland. Der Krieg verhalf uns zu einem unerwarteten, raketenhaften Aufstieg. Und, bei weitem erstaunlicher, der Erfolg hält unvermindert an. Die Kurve führt steil nach oben. Würde ich alle meine Effekten realisieren, brächte mir das zum heutigen Tageswert schätzungsweise ein und eine Viertel Million. In zehn Jahren dürfte sich diese Summe, bei unveränderter Wirtschaftslage, verdoppelt haben. Begreifen Sie nun endlich meinen Standpunkt?«

»Ja. Das ändert allerdings einiges.«

Unbewegt fuhr sie in ihrer beherrschten, kühlen Art fort. »Mein Sohn hat in gewisser Weise immer schon ein Problem für mich bedeutet. Im Lauf der Zeit habe ich das eingesehen. Mehr noch, gelernt, mich damit abzufinden. Ich war schon früher gezwungen, ihn aus peinlichen Situationen freizukaufen. Es würde mir nichts ausmachen, es auch diesmal wieder zu tun. Aber, was ich nicht will, ist, dass er diese Person heiratet. Nicht, wenn das, was ich über sie gehört habe, der Wahrheit entspricht. Und ich bin leider fest davon überzeugt, dass es so ist.«

»Die Jugend liebt es nun einmal, von Blüte zu Blüte zu flattern. Später, mit zunehmendem Alter, legt sich dieser Sturm und Drang, diese Periode der wahllosen Unbeständigkeit dann von selbst.«

»Ich weiß. Das hoffe ich bei ihm ja auch. Aber – genau genommen, zählt er gar nicht mehr zur Jugend, wie Sie es nennen.«

»Wie alt ist er denn?«

»Siebenundzwanzig.«

»Du liebe Güte!«, entfuhr es mir. »Sie haben einen siebenundzwanzigjährigen Sohn! Und ich hatte angenommen, Sie sprechen von einem Bürschchen, das noch nicht ganz trocken hinter den Ohren ist.«

Ich warf ihr möglichst unauffällig einen prüfenden Blick zu. Nein, es war wirklich kaum zu glauben!

Sie musste meinen Blick gespürt haben. Oder sich gedacht haben, was mir durch den Kopf ging, denn abermals glitt ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht.

»Ich habe mit zweiundzwanzig geheiratet. Jetzt bin ich zweiundfünfzig«, sagte sie.

Ich äußerte nichts dazu. Aber ich wusste, dass sie meine Gedanken lesen konnte. Dass ich nach wie vor der Ansicht war, sie könnte ohne weiteres zehn Jahre jünger sein. Von meiner stattlichen Höhe herunter betrachtete ich sie immer noch verwundert, als sie bereits wieder zur Sache kam.

»Ja, so liegen die Dinge also. Mein Sohn ist von diesem Mädchen total behext, und – was am schlimmsten ist – schon seit geraumer Zeit. Sie tritt in einem Nachtclub auf. Und nach allem, was ich herauszufinden in der Lage war, muss sie vor ihm ein paar höchst eigenartige Freunde gehabt haben.«

»Zum Beispiel?«

Spöttisch blitzten ihre kühlen Augen auf.

»So leicht mache ich es Ihnen nun doch nicht, Mr. Malcolm. Das eben sollen Sie ja für mich herausfinden. Wenn Ihre Nachforschungen das, was ich bisher weiß und für die Wahrheit halte, erhärten, dann kann ich alles weitere allein, auf meine Weise, regeln. Ich halte mich für eine ziemlich gute Geschäftsfrau. Und ich werde mit so gut wie jeder Situation fertig.«

»Das heißt mit anderen Worten, Sie wollen das Mädchen auszahlen. Oder Ihren Sohn freikaufen, wenn Sie so wollen.«

Sie lächelte – aber nur mit den Lippen.

»Weshalb nicht? Was haben Sie dagegen einzuwenden? Ich habe in den letzten Jahren bereits drei Mädchen ausgezahlt, wie Sie es zu nennen belieben. Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.«

»Na, Ihr Sohn scheint mir ja ein reizendes Früchtchen zu...«

Sie nickte.

»Ich weiß. Man kann seine Augen auf die Dauer derartigen Tatsachen gegenüber nicht verschließen. Es ist sinnlos, sich selbst und anderen beteuern zu wollen, derartige Anschuldigungen seien Unsinn, wenn man verdammt gut weiß, dass sie ins Schwarze treffen. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Manche Männer trinken – andere spielen. Ob nun Roulette, Bakkarat, der Alkohol – oder Affären. Man kann sich nicht dagegen stemmen. Man muss es nehmen, wie es kommt. Ich habe es gelernt.«

Sie zog die Augenbrauen abermals zu einem scharfen, spitzen V zusammen.

»Also – sind Sie bereit, den Auftrag anzunehmen?«

Ich zögerte immer noch.

»Zwanzig Pfund pro Tag«, erinnerte sie. Gleichzeitig ließ sie die Handtasche aufschnappen und holte ein Päckchen funkelnagelneuer Geldscheine heraus. Alles Fünfpfundnoten. Bedächtig zählte sie zwanzig davon ab. Dann legte sie sie vor sich auf den Tisch.

»Hundert Pfund. Sie brauchen sie nur an sich zu nehmen. Ich erwarte keine Wunder von Ihnen. Ich rede Ihnen nicht in Ihre Arbeitsmethoden hinein. Und ich gedenke, Ihnen eine angemessene Prämie zu zahlen, wenn ich mit dem Ergebnis zufrieden bin.«

»Sie meinen, wenn ich genügend Schmutz ausgrabe?« Sekundenlang glitzerten ihre Augen böse und wenn möglich noch härter als sonst. Dann schüttelte sie den Kopf.

»So würde ich es nicht formulieren. Mein Sohn ist siebenundzwanzig und kann heiraten, wann er will, wen er will – und ohne mich zu fragen. Morgen schon. Oder in einem Jahr. Aber die Hand auf dem Geld habe ich, Mr. Malcolm! Und ich gedenke auch nicht, sie so schnell fortzunehmen. Es ist mein sehnlichster Wunsch, ihn gut und glücklich verheiratet zu sehen. Wenn es seine Frau aber nur auf sein Geld abgesehen hat – werden beide höchst enttäuscht sein.« Dazu hatte ich nichts zu sagen. Gelassen hielt ich ihrem prüfenden Blick stand, bis sie weitersprach.

»Das wäre also die Lage, Mr. Malcolm. Und nun – ja oder nein?«

»Ja«, stimmte ich zu. »Also schon, Mrs....?«

»Sheldon. Valerie Sheldon.« Sie legte eine Visitenkarte neben das Geld. Ich griff hinüber und nahm sie auf.

 

Mrs. Valerie Sheldon

29 Cardale Place

Chelsea

 

»Wohnt Ihr Sohn bei Ihnen?«

»Er hat in der Etage über mir eine eigene Wohnung. Allerdings macht er nicht häufig davon Gebrauch. Außerdem besitzt er noch ein Appartement in Raeburn Gardens. Nummer 69.«

Ich notierte die Adresse auf der Rückseite ihrer eigenen Visitenkarte.

»Und wie steht er zu der ganzen Angelegenheit?«

»Von ihm dürfen Sie keine Hilfe erwarten«, konstatierte sie gelassen. »Lawrence ist sensibel und leicht erregbar. Im Notfall rettet er sich in beleidigtes Schweigen. Man könnte ihn fast als Schwächling bezeichnen. Wie die meisten labilen Menschen steigert er sich leicht in eine verbohrte Dickköpfigkeit hinein. Aber im Allgemeinen werde ich ganz gut mit ihm fertig.«

»Und diesmal nicht?«

»Diesmal auch – wenn es sein muss.« Sie lächelte. »Wenn es zu einem Kampf kommen sollte, sind die schweren Geschütze auf meiner Seite. Aber so weit wird es ja hoffentlich nicht kommen. Er ist eben nur geradezu verrannt, starrköpfig – äußerst starrköpfig. Aber es hat keinen Zweck, deswegen böse zu sein. Es hat ihn eben mächtig erwischt.«

Ich sparte mir jede Bemerkung.

Sie begann ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen.

»Wie lange, schätzen Sie, werden Sie brauchen?«

»Nicht allzu lange, Madam«, legte ich mich nicht näher fest. »Immerhin ist es mein erster Auftrag dieser Art. Wie heißt das Mädchen übrigens?«

»Sandford. Fay Sandford. Sie singt in der Kolibri-Bar. Kennen Sie sie?«

»Ja. Ich war ein- oder zweimal dort. Sie gehört Tom Denny. Gegen ihn ist nichts zu sagen. Er hat, soweit ich weiß, einen tadellosen Ruf.«

Sie stand auf, und ich erhob mich ebenfalls.

»Mag sein. Aber ich muss es genau wissen.«

Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

»Auf Wiedersehen, Mr. Malcolm. Wenn Sie etwas in Erfahrung gebracht haben – rufen Sie mich an. Wenn nicht – machen Sie sich keine Kopfschmerzen deswegen. Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit.«

»Das sollte reichen.«

Sie lächelte ein letztes Mal und ging. Ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen. Das letzte, was ich von ihr sah, war der blaue Hut, der draußen vor der großen Fensterscheibe entlangzuschweben schien.

Ich starrte leicht benommen das Geld an. Dann ließ ich es in meiner schwindsüchtigen Brieftasche verschwinden.

Drüben am Fenster blätterte der Alte gerade wieder raschelnd eine Seite seiner Daily Express um. Und anstelle des blauen Hutes sah ich jetzt den Helm eines Schutzmannes draußen die Scheibe entlangtanzen. Und noch etwas sah ich. Genauso prägnant und deutlich. Nämlich, dass ich im Begriff stand, mich auf etwas einzulassen, das entschieden außerhalb meines gewohnten Niveaus und Standards lag. Wie weit – das konnte ich im Augenblick noch nicht übersehen. Nun, wie auch immer, zunächst einmal war es wohl das Beste, ins Büro zurückzufahren, um dort einigermaßen Ordnung zu schaffen.

 

 

 

Drittes Kapitel

 

 

Als ich vor meinem Büro in der Adrian Walk anlangte, zeigte meine Uhr genau halb fünf. Einige dringende Briefe waren zu beantworten. Ein Bericht wartete darauf, geschrieben zu werden. Etliche Telefongespräche lagen an. Mein letzter Anruf galt Jack Schnalz, der mir einen Auftrag in Aussicht gestellt hatte.

»Die Sache ist noch nicht ganz spruchreif, Solo. Wenn es soweit ist, melde ich mich wieder, und du übernimmst das Steuer, ja?«

»Geht in Ordnung, Jack. Passt mir prima in meinen Kram.«

»Du scheinst ein anderes Eisen im Feuer zu haben?«

»Stimmt. Aber nur ’ne Kleinigkeit, so mal eben zwischendurch.«

»Sei vorsichtig!«, mahnte Jack und legte auf.

Erleichtert, das dringendste erledigt zu haben, knallte ich ebenfalls den Hörer auf die Gabel.

In diesem Augenblick ertönte unvermutet von der Tür her Maxie Lewis’ Stimme.

»Sieh da! Sieh da! Unser großer Maestro an der Arbeit! Wie fühlt man sich denn so, Solo, immer hart am Ball?«

Betont langsam drehte ich mich um. Maxie Lewis ist Kriminalinspektor, und zwar einer, der Karriere machen wird! Wenngleich man ihm das auf den ersten Blick kaum zutrauen würde. Vielversprechend sah er wirklich nicht aus – wie er so vor mir stand. Mehr als ein Meter achtzig brachte er sicher nicht zusammen. Und obendrein war er noch mager wie ein verhungerter Spatz. Ein Windstoß müsste ihn glatt umpusten, so kläglich wirkte er. Erstaunlicherweise jedoch gab es in seiner Abteilung keinen Mann, der es gewagt hätte, sich mit ihm anzulegen. Maxie ist ausdauernd und elastisch wie eine Bogensehne. Dabei flink und behände wie ein Wiesel. Aufziehende Gefahr wittert er auf mindestens zwanzig Meilen im Umkreis, wie ein Steppenhund. Ich jedenfalls würde jede Wette darauf eingehen, dass er über kurz oder lang von Scotland Yard angefordert wird, um dort einen raketenhaften Aufstieg zu beginnen.

Im Moment allerdings saß er noch in der Abteilung von Chefinspektor Nick Bogardus. Sozusagen im Schatten des mächtigen, unerschütterlichen Rückens seines Chefs. Doch das ist für einen Mann niemals ein Schaden. Bei Nick Bogardus lernt man sein Handwerk von der Pike auf – aber man lernt es! Für mich steht fest, dass Nick der fähigste und untadeligste Kriminalbeamte Londons ist. Was sage ich – überhaupt! 

Nun also, jetzt stand Maxie vor mir, zündete sich eine Zigarette an und paffte den Qualm vor sich hin wie eine Dampflokomotive. Komisch, wie so jeder seine festen Angewohnheiten hat.

»Der Teufel soll es holen, Solo! Seit fünf Jahren schwöre ich mir, dem ganzen elenden Rummel den Rücken zu kehren, ein für alle Mal. Jetzt scheint es endlich soweit zu sein.«

»Fällt mir schwer zu glauben«, gab ich zurück. »Dazu ist es, meiner unmaßgeblichen Meinung nach, zu spät. Du hast einmal Blut geleckt, da ist nichts mehr zu machen.«

Er schlenderte nachdenklich näher und machte es sich ungeniert auf meinem Schreibtisch bequem. Achtlos schob er einen Stapel unerledigter Post zur Seite. Dann runzelte er verblüfft die Stirn.

»Hallo? Was sehen meine erstaunten Augen? Du tippst deine Briefe selber? Gott sei mir gnädig, das hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Was für eine Augenweide! Warte nur, bis ich es Nick erzähle!«

»Dann vergiss aber nicht zu berichten, dass ich die zwei dringendsten schon fertig habe, mein Guter! Und leserlich obendrein!«

»Einfingersystem?«

»Du unterschätzt mich – einer von jeder Hand.«

»Na, da kannst du es immerhin genauso gut wie ich«, gab er grinsend zu. »Solo – was du brauchst, ist eine Sekretärin. Die dir all diesen zeitraubenden Kram abnimmt. Du könntest dir doch, weiß Gott, eine leisten. Weshalb richtest du dir dein Leben nicht etwas bequemer ein?«

»Das meiste gebe ich ja ohnehin zur Acme Agentur zur Erledigung. Es ist ja nur diese Woche, dass...«

Maxie gähnte unverhohlen.

»Wenn du es sagst. Was soll’s auch. Ich bin ja nicht gekommen, um mich mit dir über die Abwicklung deines Bürobetriebes zu unterhalten. Erinnerst du dich an einen Burschen namens Adair? Tim Adair?«

»Natürlich.«

Maxie warf mir einen zufriedenen Blick zu.

»Er hat sich eine hübsche Suppe eingebrockt. Raubüberfall in Primrose Hill. Jemand ist auf einen Wagen gesprungen und hat den Bankboten niedergeschlagen. Dabei hat er vierzehnhundert in bar erbeutet. Alle bisher vorliegenden Anzeichen deuten auf Adair hin! Uns ist bekannt, dass Adair früher häufig mit Whitney Marsh zusammengearbeitet hat. Wir suchen beide. Du könntest mal ein bisschen deine Fühler ausstrecken.«

»Tja«, meinte ich. »Das könnte ich.«

»'Das hielte ich für eine ausgezeichnete Idee«, bemerkte Maxie. »Du würdest uns eine Menge unnötige Arbeit ersparen. Whitney ist ja ein alter Bekannter von dir. Nick wird es bestimmt würdigen.«

Das bezweifelte ich keine Sekunde. Nick Bogardus war für alles dankbar, was ihm Arbeit abnahm. Ich nickte. Dann kam mir eine Idee.

»Ich will sehen, was ich machen kann, Maxie. Ich hätte dann allerdings auch etwas für dich.«

»So etwas hatte ich mir schon fast gedacht«, gab Maxie trocken zurück. »Na mal raus mit der Sprache, Alter. Worum geht’s denn diesmal?«

Schicksalsergeben zündete er sich eine neue Zigarette an.

»Ist dir ein Täubchen namens Fay Sandford ein Begriff?«

»Nie gehört. Wo gehört sie denn hin?«

»Sie ist Sängerin im Kolibri.«

»Das ist doch Dennys Bar! Du – gegen Denny ist nichts zu sagen.«

Maxie balancierte auf der Schreibtischkante, baumelte mit den Beinen und sah mich abwartend an.

»Was natürlich nicht besagen muss, dass dies auch für deine Puppe zutrifft. Was willst du von ihr? Womit hat sie sich denn dein schmeichelhaftes Interesse zugezogen?«

»Ich muss alles nur Denkbare über sie herausfinden. Hintergrund, Vergangenheit, dunkle Punkte, alles.«

Und dann erklärte ich ihm, warum – mit Einschränkungen allerdings.

Er seufzte.

»Und du wirst dafür bezahlt, Solo?«

»Mit Spesen sogar. Und bei einer so undurchsichtigen Angelegenheit wie dieser werden die Spesen nicht von schlechten Eltern sein, Maxie. Verlass dich darauf!«

»Aha, ich verstehe. Du wirst in harter Ausübung deiner Berufspflichten in die Kolibri-Bar gehen müssen. Und in dem feinen Laden kostet es ja bereits einen Fünfer, nur um die Nase hineinstecken zu dürfen.«

»Man wird sehen. Was sein muss – muss sein. Aber eigentlich hatte ich an etwas anderes gedacht, Maxie. Ich frage mich, wie es wohl mit einer kleinen Hilfestellung unter ehemaligen Kollegen aussieht? Was meinst du? Eine Hand wäscht die andere. Nicht, dass ich die Hände in den Schoß legen wollte und warten, bis mir die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Du kennst mich. Das ist nicht meine Art. Aber ich schätze, ihr habt doch sicher einen Mann, der sozusagen Sachverständiger für Nachtlokale und so weiter ist. Wie wäre es, wenn du den mal ein bisschen anzapfen würdest?«

»Ich werde es im Auge behalten.«

»Schön, und ich kümmere mich inzwischen einmal um diesen Ganoven Adair. Ich schau dann morgen mal bei euch vorbei, und wir tauschen unsere Resultate aus, okay?«

Maxie seufzte abermals.

»Du bist schon ein harter Brocken, Solo. Na, warte, bis ich Nick berichtet habe – weißt du, was er sagen wird? Er wird wettern, dass...«

»Danke – das brauchst du mir nicht zu erzählen«, unterbrach ich ihn. »Der alte Nick macht sich doch immer auf die gleiche Weise Luft. Es ist haarsträubend! Man sollte solche Ausdrücke bei einem Polizeibeamten nicht für möglich halten. Diese Sammlung stammt auch noch aus seiner Soldatenzeit. Aus den Wellington-Kasernen. Wenn du oder ich es uns erlauben würden, auf der Straße solche Worte zu gebrauchen, wir landeten hundertprozentig für drei Tage im Bau.«

Maxie glitt von meinem Schreibtisch.

»Daran kann schon etwas Wahres sein. So, aber jetzt muss ich machen, dass ich weiterkomme. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann. Ganz so einfach, wie du es dir vorstellst, ist es ja nun auch wieder nicht. So etwas hat meistens einen Haken. In diesem Fall heißt der Haken Colin Fletcher – mal sehen, ob er gerade seinen guten Tag hat. Na ja – Alter. Jedenfalls ist dein Baby bei mir in besten Händen. Aber wenn ich dir etwas raten darf, geh in den Kolibri und nimm das Mädchen selbst unter die Lupe.«

»Stell dir vor, auf die Idee war ich schon von allein gekommen. Aber ich weiß nicht so recht. Ich treibe mich im Allgemeinen nicht in Nachtclubs herum. Denny kennt mich und weiß das. Wenn ich jetzt plötzlich dort aufkreuze, wird man sich wundern, weshalb.«

»Nimm doch ein Mädchen mit«, schlug Maxie vor.

»Ach, die kennen mich doch viel zu gut. Ich stehe schließlich nicht umsonst in dem Ruf, der größte Frauenfeind Londons zu sein. Die trauen mir doch keinen Meter weit über den Weg. Noch mehr kann ich sie ja gar nicht mit der Nase darauf stoßen, dass ich dort etwas suche.«

Maxie zuckte die Achseln.

»Zum Donnerwetter noch mal! Privatdetektive sind doch keine Automaten. Selbst sie haben einmal menschliche

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: William M. Duncan/Apex-Verlag/Successor of William M. Duncan.
Bildmaterialien: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Cover: Christian Dörge/Apex-Graphixx.
Lektorat: Mina Dörge.
Korrektorat: Mina Dörge.
Übersetzung: Ingrid von Blücher (OT: Label It Murder).
Satz: Apex-Verlag.
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2022
ISBN: 978-3-7554-1839-9

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